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Feilkode 418

Arbeitstitel PFÄLZER GAU

Arbeitstitel PFÄLZER GAU · Krimi und Spannung

3.Krimi mit Fiona Donelly und ihrer Familie. Zwei Leichen tauchen zeitgleich auf, genetisch verwandt, aber 50 Jahre trennen die Todesfälle.

Hva vil du med boka?

Krimis dienen meiner Meinung nach in erster Linie der Unterhaltung. Wenn man dabei noch ein paar Fakten lernt, historisch, medizinisch oder wie auch immer und vielleicht ab und zu schmunzeln muss, umso besser. Dies ist das dritte ungewöhnliche Abenteuer für die Tierärztin Fiona Donelly und ihre Großfamilie. Die Geschichten sind in sich abgeschlossen und mit jedem Buch rückt ein anderes Familienmitglied etwas mehr in den Vordergrund. In diesem Band ist es Oma Erna, die schon als Kind eine Zeit lang während des Krieges in Fionas Heimatdorf im Pfälzer Wald gelebt hat und mit ihren Erinnerungen dazu beiträgt, weitere Morde aufzuklären. Der erste Teil dieser Serie, SÄNGERHERZEN, diente mir dazu einen Einstieg ins Schreiben zu finden, was auch ganz gut gelungen ist. Der eigentlich Grund warum ich mit dem Schreiben begonnen habe, ist die Geschichte, die ich im zweiten Band IM SCHWARZEN WALD erzähle und deren Geistern ich vor vielen Jahren im Schwarzwald selbst begegnet bin. Seit der Zeit hat mir diese "Begegnung" keine Ruhe gelassen, bis dem Opfer, einer jungen erhängten Frau, mit dem Buch eine Art Gerechtigkeit widerfahren war. Und jetzt mache ich einfach weiter, weil es Spaß macht und meine Leser auf Nachschub warten.

Om forfatteren

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»Falk? Faalk?« Wo steckte er jetzt schon wieder? Sie wollten bald aufbrechen und Fiona konnte ihren neugewonnenen Herzallerliebsten nirgendwo im Haus entdecken. Sie stieg die Treppe in den ersten Stock ihres alten Holzhauses hinauf, um oben auf der Empore auf ihre Mutter Erna zu treffen.

»Hast du was verloren?«, fragte diese ihre Tochter mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. »Na ja, solange es nicht die Unschuld ist...«

»Sehr lustig. Hast du Falk gesehen? Wir wollten eigentlich demnächst los, damit wir rechtzeitig zum Mittagessen bei ihm ankommen. Seine Kinder wollen für uns kochen.«

»Gesehen nicht, aber gehört.« Erna legte den Kopf ein wenig schief und streckte so ihr linkes Ohr leicht nach vorne. Fiona konnte nicht gleich folgen. Was meinte ihre Mutter? In der soeben entstandenen Pause hörte sie es jetzt auch. Ein Juchzen drang aus dem Garten bis nach hier oben an ihre Ohren, die sich jetzt auch Mühe mit dem Lauschen gaben, um sich nicht von einer mehr als achtzigjährigen alten Dame ausboten zu lassen. Vom Flur in der ersten Etage hatte Fiona das Fenster in ihrem Schlafzimmer mit wenigen Schritten erreicht, das seit heute Morgen geöffnet war. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie sich an die erste viertel Stunde ihres neuen Tages zurückerinnerte. Da hatte sie schon einmal an diesem Fenster gestanden und hinaus in den Garten geblickt. Falk war währenddessen, von ihr unbemerkt, aus dem gemeinsamen Bett gestiegen. Sie hatte ihn erst wahrgenommen, als mit einem leisen Geräusch der Schlüssel ihrer Zimmertür von ihm umgedreht wurde, um die Tür für ungebetene Gäste zu verschließen. Diese Aktion hatte eine sensationelle Reaktion in ihrem Nervenkostüm ausgelöst, an die sie sich noch lange mit einem wohligen Schauer zurückerinnern würde. Danach war er, wie Gott ihn erschaffen hatte – und da hatte er wahrlich etwas Feines geschaffen – hinter sie getreten, um über ihre Schulter hinweg auch hinaus in den Garten zu schauen. Seine Hände hatte er, wie selbstverständlich, auf ihre Hüften gelegt und sie so einen Schritt zurücktreten lassen. Es war Fiona schwergefallen Ruhe zu bewahren und das Ganze hatte damit geendet, dass Falk seine Hand über ihren Mund legen musste, damit sie nicht versehentlich laut aus dem offenen Fenster schrie. Dafür hatte sie ihn letztendlich in den Finger gebissen, was ihm wiederum einen unterdrückten Aufschrei entlockt hatte.

Erna klemmte sich einen vollen Wäschekorb unter den Arm, um ihn aus Fionas Zimmer zu tragen. »Es ist so ein schöner Tag heute. Ich war auch schon früh draußen, um die Hühner rauszulassen und die Eier einzusammeln.« Damit entschwebte sie, samt Wäschekorb, die Treppe hinunter.

Fiona hatte von ihrem Fenster aus einen exzellenten Blick auf den Hühnerstall. Und vice versa. Da war ihr Blick am Morgen wohl verklärt gewesen, da sie sich nicht daran erinnern konnte, ihre Mutter im Garten gesehen zu haben. Nicht schön der Gedanke, sich von der eigenen Mutter beim Sex am offenen Fenster beobachten zu lassen. Aber was sollte es. Schließlich war sie schon ein paar Tage älter als achtzehn, hatte ein bewegtes Leben hinter sich und fünf Kinder, die auch alle mal irgendwie entstanden sein mussten. Ihr Blick fiel auf die kleine Menschenansammlung, die auf der Wiese vor dem Hühnerstall, welche zur Zeit dank des eifrigen Einsatzes ihres Sohnes Connor mit dem Rasenmäher auch schön kurz war, Fußball spielte. Helen stand im Tor, dessen äußere Abmessungen ihrer Größe angepasst und mit Steinen aus einer Beetumrandung markiert waren. Ihre Zwillingsschwester Lena, ihr Bruder Connor und Falk bildeten zwei Mannschaften, wobei Lena und Falk zusammen zwar zahlenmäßig überlegen waren, technisch aber Connors fußballerischem Können nicht viel entgegenzusetzen hatten. Der überließ großzügig seinen Gegnern auch ab und an den Ball, so dass seine beiden Zwillingsschwestern jauchzend mit den Männern mithalten konnten.

Fiona wurde ganz warm ums Herz. Nie hätte sie gedacht, dass ein neuer Mann an ihrer Seite sich so reibungslos in ihren Alltag würde einfügen können. Das lag vermutlich vor allem daran, dass Falk ein eher ruhiger Vertreter seines Geschlechts war, sich nirgendwo aufdrängte, aber trotzdem aufmerksam genug war und seine Hilfe ohne großen Umstand anbot, wenn sie gebraucht werden konnte. Vor allem Erna, Fionas Mutter war ganz begeistert vom neuen Familienzuwachs. Obwohl so ein neues Familienmitglied, noch dazu männlich, beim Mittagessen reichlich was verdrücken konnte. Aber das hatte Erna, die fast täglich für das leibliche Wohl der Großfamilie sorgte, schnell im Griff. In puncto Kochkunst konnte ihr so leicht niemand das Wasser reichen, wie auch Falk schnell herausgefunden hatte und sich gerne von ihr verwöhnen ließ. Dafür revanchierte er sich, indem er sofort zur Stelle war, wenn er meinte, irgendeine haushaltliche Tätigkeit wäre zu schwer für die alte Dame und sei es nur Kartoffelwasser abgießen. Die Oma der Familie genoss diese Sonderbehandlung sichtlich. So sehr, dass Fiona sich zwischenzeitlich schon gefragt hatte, ob sie ihrer betagten Mutter nicht vielleicht ein bisschen zu viel zugemutet hatte, indem sie sie so in ihrem Haushalt eingespannt hatte. Sollte Erna mit ihren dreiundachtzig Jahren nicht doch ein wenig kürzer treten? Daher hatte Fiona sie vor zwei Tagen, als sie sie zufällig abends alleine vor dem Fernseher erwischte, direkt darauf angesprochen, ob ihr die Hausarbeit und die Kocherei für die Familie inzwischen nicht doch ein bisschen zu viel wäre. Erna hatte gelacht.

»Mein liebes Kind, was sollte ich den sonst den ganzen Tag anstellen, wenn ich mich hier nicht um euch kümmern könnte? Powershoppen und endloses Kaffeetrinken mit meinen Freundinnen vielleicht? Du glaubst gar nicht, wie sehr die mich darum beneiden, dass ich diese wunderbare Familie um mich herum habe. Wenn es mir zu viel wird, sag ich dir schon Bescheid. Und mit meiner neuen Haushaltshilfe geht doch alles doppelt so leicht von der Hand. Da hast du dir wirklich mal einen tollen Kerl an Land gezogen. Ach, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre...«

»Mama! Du würdest hoffentlich nicht der eigenen Tochter den Mann ausspannen?«

»Das vielleicht nicht. Aber vielleicht würde ich mir selber nochmal einen suchen. Abwarten, vielleicht kommt ja doch noch einer im Rollator des Weges gerollt. Wenn er nur halb so attraktiv wäre wie dein Falk, würde ich ihn mir vermutlich schnappen.«

»Schnappen geht ja noch. Solange du nicht heiraten willst.« Erna hatte an dieser Stelle des Gesprächs den Kopf zur Seite gelegte und mit einem koketten Augenaufschlag gemeint:

»Auch eine hervorragende Idee. Nochmal so ein richtig rauschendes Fest, drei Tage lang. Das würde mir schon gefallen, bevor ich mich endgültig verabschiede.« Mit versonnenem Blick schien sie sich an vergangene Feste, vielleicht auch ihr eigenes Hochzeitsfest zu erinnern.

»Mama, du verabschiedest dich noch lange nicht. Und für ein ordentliches Fest finden wir bestimmt auch einen anderen Anlass.«

Nicht, dass Fiona ihrer Mutter keinen Mann mehr gönnen würde, aber die Vorstellung, dass sie selbst mit ihren fast fünfzig Jahren vielleicht nochmal einen Stiefvater bekommen könnte, war schon gewöhnungsbedürftig.

Falk hatte die letzten zwei Wochen in Fionas Haus verbracht. Das konnte er sich leisten, da er offiziell noch Schonung nach einer überstandenen Herzmuskelentzündung brauchte und daher seine Großtierpraxis vor kurzem seinem Sohn überlassen hatte. Er hatte festgestellt, dass die beste Medizin für sein überlastetes Herz sowieso seine neue Liebe zu Fiona war. Bis vor kurzem hätte er nicht geglaubt, sich jemals wieder ernsthaft zu verlieben. Er war der Meinung, diese Kapitel wäre mit dem Tod seiner Frau Belinda vor sieben Jahren endgültig für ihn abgeschlossen. Aber manchmal hielt das Leben doch noch Überraschungen bereit.

Er hatte seine neue Herzensdame erst vor wenigen Wochen in einem kleinen Zwangsurlaub, den ihm seine Kinder aufgrund seiner prekären gesundheitlichen Situation aufgedrängt hatten, kennengelernt. Ihr gemeinsamer Start war eher holprig gewesen, was nicht zuletzt seiner Stoffeligkeit geschuldet war. Aber dann hatte sich in ihrer Bekanntschaft und auch in dem Abenteuer, das sie zusammen gemeistert hatten, doch noch alles zum Guten gewendet. Und jetzt war er hier und spielte mit dreien von Fionas fünf Kindern Fußball in ihrem Garten und fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Er spürte ein ganz feines Kribbeln im Nacken, was ihn dazu veranlasste sich umzudrehen und seinen Blick nach oben auf das Fenster im ersten Stock zu richten. Da stand sie, seine neue Liebe und sah zu ihm hinunter. Auch Falk erinnerte sich sofort zurück an den Morgen gleich nach dem Aufstehen und spürte, wie sich eine Röte vom Hals zu seinem Gesicht hocharbeitete. Wie bei einem Schuljungen und seiner ersten Liebe. Wie albern. Da der Gegner durch die Sirene am Fenster dermaßen abgelenkt war, hatte Connor ein leichtes Spiel um Falk herum zu dribbeln und den Ball im imaginären Tor zu versenken.

»Tor! Tor! Tor! Dreiundzwanzig zu Null!«, freute Connor sich lautstark.

»Das ist ja völlig demoralisierend. Ich fürchte wir müssen Schluss machen für heute. Ich muss eure Mutter noch zum Essen ausführen. Aber beim nächsten Mal will ich eine Revanche.«

»Alles klar alter Mann. Vielleicht spielen wir Schach, dann hast du eventuell mal eine Chance. Owohl, wenn wir die Zwillinge wieder mitspielen lassen sehe ich da auch schwarz.«, meinte Connor mit einem milden Lächeln, nicht ganz ohne Stolz auf seine Schwestern. Die Zwillingsmädchen Lena und Helen waren schwerhörig zur Welt gekommen und hatten eine wirklich anstrengende Kindheit hinter sich, die im Übrigen auch für Fiona keine leichte Zeit gewesen war. Dafür hatten sie aber ungewöhnliche Begabungen wie Klavier- und Schachspielen entwickelt, die sonst niemand in der Familie beherrschte.

So in den Senkel gestellt trollte sich Falk ins Haus, um sich von Fiona ein wenig aufbauen zu lassen und seine Tasche zu packen. Schließlich wollte er es sich nicht mit seiner eigenen Familie verscherzen, indem er und Fiona zu spät zum Essen auftauchten.

2.

Die vereinten Bemühungen seiner Kinder Isabell und Tim sowie Tims langjähriger Freundin Katharina und Isabells neuem Freund Fritz, hatten dazu geführt, dass alle sechs zusammen ein ausgiebiges Mittagsmahl in Falks altem Gutshaus genossen hatten. Sie hatten viel erzählt und noch mehr gelacht. Jetzt lagen Falk und Fiona schläfrig in der überdimensionierten Hängematte, die zwischen zwei alte Apfelbäume im hinteren Ende des Gartens gespannt war. Träge schaukelten sie sacht in der leichten Brise, die aufgezogen war und brauchten sich gar nichts mehr zu erzählen, um glücklich zu sein. Lange sollte dieser köstliche Zustand leider nicht andauern. Tim war zusammen mit Katharina schon vor einiger Zeit aufgebrochen, um einer gebärenden Kuh Beistand zu leisten. Zum Glück hatte Katharina Spaß daran, ihrem Partner bei den nicht selten vorkommenden Notfällen in der Nutztierpraxis Hilfe zu leisten. Tim hatte großes Glück gehabt. Es war nicht unbedingt jede Frau bereit dazu, die knappe Freizeit mit dem Freund in einem Kuhstall zu verbringen. Aber Katharina war von der handfesten, anpackenden Sorte. Bevor sie unnütz Zeit mit Jammern vergeudete, warf sie sich lieber in ihre Gummistiefel und freute sich darüber, die Zeit zusammen mit Tim sinnvoll zu nutzen. Sie sah ihre Einsätze in der Praxis auch ganz praktisch als nette Abwechslung zu ihrem Lehramtsstudium und der Buchhaltungstätigkeit, die sie freiwillig für Tim übernahm, nicht zuletzt um ihm Zeit zu sparen, was wiederum beiden zugutekam.

Daher ahnte Falk nichts Gutes, als er Isabell mit dem Mobiltelefon in der Hand auf die Hängematte zu durch die Wiese stapfen sah. Anders als bei Fiona im Garten hatte hier nämlich noch niemand gemäht.

»Papa, sorry, dass ich störe, aber Bauer Steiger ist am Telefon. Er fragt, ob jemand zu ihm rauskommen kann. Er hat eine tote Kuh auf der Weide liegen und er meint, jemand hätte sie erschossen.«

»Erschossen? Eine Kuh? Und die ist jetzt tot? Was soll ich denn da noch machen. Das ist ja wohl eher ein Fall für die Polizei und den Abdecker. Gib mal her.« Unwillig nahm Falk das Telefon entgegen und wechselte ein paar kurze Sätze mit dem Bauern. Als er das Gespräch beendet hatte, schaute er Fiona mit gerunzelter Stirn an.

»Es tut mir leid, aber ich glaube, da fahr ich doch lieber mal kurz hin. Ich kenne den Steiger schon lange, das ist ein ganz besonnener Mann. Der war völlig durcheinander. Kein Wunder, wenn einem jetzt schon die Kühe auf der Weide erschossen werden. Er hat gesagt, es wäre irgendetwas komisch mit ihrem Bauch, aber tragend sei sie nicht gewesen. Die Polizei hat er auch schon informiert, aber das dauert noch, bis die rauskommen können. Es gab wohl einen größeren Unfall auf der Autobahn, da sind jetzt alle im Einsatz. Kommst du mit?«

»Natürlich, obwohl ich auch glaube, dass bei erschossenen Kühen nicht mehr viel zu machen ist.«

Der Bauer hatte Falk erklärt, auf welcher Weide er zu finden sei und keine halbe Stunde später hatten sie das Gatter erreicht. Steigers alter Geländewagen parkte neben dem Tor und zeigte Falk, dass er die richtige Weide gewählt hatte. In einiger Entfernung konnten sie die Umrisse einer liegenden Kuh und des auf- und ab- gehenden Mannes ausmachen. In weiser Voraussicht hatte Falk eine Tasche mit den gängigen Instrumenten für eine Untersuchung mitgenommen und trug diese nun hinaus auf die Weide.

Die Kuh war tot, das war beiden sofort klar, als sie die Stelle erreicht hatten. Mit gebrochenen trüben Augen und verdrehtem Kopf blickte sie hinauf in den Himmel, vielleicht in ihren letzten Sekunden ahnend, dass das ihr Weg sein würde. Zwar war Falk kein Jäger, erkannte aber trotzdem, dass das Loch in der linken Brustwand vermutlich durch eine Schusswaffe verursacht worden war, deren Kugel mit ziemlicher Sicherheit auch sofort das Herz durchdrungen haben musste. Eine schmale Blutspur war aus dem Loch gesickert und auf den Boden getropft, also war anzunehmen, das das Tier sofort an Ort und Stelle zusammen gebrochen und gestorben war. Der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Kuh auf dem Bauch lag. Ob sie beim Wiederkäuen erschossen worden war? Das Blut sah aus wie eingetrocknetes Brombeergelee. Auf der linken Seite war das Gras neben der Kuh auf einer Fläche von ca 2 Quadratmetern niedergedrückt. Hatte sie sich im Todeskampf vielleicht doch noch hin und her gewälzt? Ein eigenartiger Geruch stieg von der Fläche auf.

Fiona ging in die Hocke und strich mit der Hand über das platt gedrückte, feucht klebrige Gras. »Hier riech mal. Was ist das?« Sie hielt Falk ihre Hand unter die Nase, der gerade das tote Tier einmal umrundet hatte. Falk schnupperte an ihrer Hand. »Ich würde sagen Panseninhalt.«

»Stimmt. Jetzt wo du´s sagst.« Sofort viel Fiona der Geruch wieder ein, der von den frischen Kuhmägen ausging, die sie gelegentlich an ihre Hunde verfütterte. Hier draußen an der frischen Luft war der Geruch nur längst nicht so intensiv und vielleicht auch schon zum größten Teil verflogen, daher hatte sie ihn nicht gleich erkannt. »Aber wie kommt Mageninhalt auf die Wiese? Kühe spucken doch beim Wiederkäuen nichts aus.«

»Ich finde ihr Bauch sieht irgendwie merkwürdig aus.«, warf jetzt Bauer Steiger ins Gespräch ein. Er hatte bis dahin etwas abseits gestanden und kaum etwas gesagt. »So aufgedunsen.«

»Das passiert schnell bei toten Tieren.«, antwortete Fiona.

»Ich weiß, ich hab ja schon tote Kühe gesehen. Aber die lagen dann auch länger. Die hier sieht irgendwie anders aus. Und sie ist auch nicht trächtig.« Bauer Steiger sollte es wissen, er kannte seine Tiere genau und sah mindestens einmal am Tag nach ihnen, auch wenn sie auf der Weide standen. »Das ist meine älteste Kuh. Die ist quasi schon in Rente. Ich habe es bis jetzt noch nicht übers Herz gebracht sie schlachten zu lassen. Na, das hat sich ja jetzt von alleine erledigt.«, fügte er brummelnd hinzu. Sie war bei der Kontrolle gestern Abend noch völlig normal gewesen, also konnte sie frühestens in der vergangenen Nacht getötet worden sein, ließ er Fiona und Falk noch wissen. Falk drückte dem armen Vieh mit seiner Faust auf den Bauch, der war allerdings steinhart. Totenstarre wie es aussah. Er öffnete seine Tasche und holte einen langen Untersuchungshandschuh hervor.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Fiona. »Eine tote Kuh rektalisieren?«

»Steiger hat Recht. Irgendetwas ist hier merkwürdig.«, gab Falk zur Antwort. Er hatte den orangen Plastikhandschuh, dessen Ärmel ihm bis hinauf zur Schulter reichte, schon übergestreift. Jetzt wurde es allerdings kompliziert. Fiona hatte eine Idee. Sie nahm die große Gummischürze, die sie in Falks Tasche gesehen hatte, heraus und breitete sie hinter der toten Kuh aus.

»Bitteschön«, sagte sie und wies mit einer einladenden Geste auf die saubere, trockene Liegefläche. Falk lies sich nicht lange bitten und sank hinter dem Tier auf die Knie. Um seinen Arm in klassischer Kuhdoktormanier im Tier verschwinden zu lassen, musste er sich allerdings tatsächlich der Länge nach auf die Schürze legen. Wenigstens blieb er halbwegs sauber und trocken bei dieser Prozedur. Nachdem sein Arm gänzlich in der Kuh verschwunden war, befühlte er einen Augenblick mit konzentrierter Mine das Innenleben seines toten Patienten. Fiona verfolgte seinen Gesichtsausdruck aufmerksam. Daher entging ihr auch nicht, wie er schlagartig kreideweiß wurde und gleichzeitig seinen Arm förmlich aus dem Darmausgang der Kuh riss. Schnell krabbelte er rückwärts zwei Meter vom Tier weg und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf den Kadaver. Sogar Bauer Steiger blieb vor Staunen der Mund offen stehen. So erschrocken hatte er seinen langjährigen, immer recht besonnenen Tierarzt noch nie erlebt.

3.

Theresa konnte ihr Glück noch gar nicht so recht fassen. Erst vor einem dreiviertel Jahr hatte sie beschlossen, ihre Stellung in dem alteingesessenen Frankfurter Maklerbüro aufzugeben und sich in ihrer Heimat selbständig zu machen. Die vielen Stunden, die sie unter der Woche auf der Autobahn, und vor allem dort auch im Stau verbracht hatte, waren bei dieser Entscheidung durchaus ausschlaggebend gewesen. Der Job als Maklerin, der ihr immer noch großen Spaß machte, brachte es mit sich, dass sie auf ihren Wegen zu den Häusern und ihren Klienten, viel Zeit im Auto zubrachte. Sie fand es auch nach Jahren immer noch spannend, täglich neue Anwesen kennenzulernen und Zutritt auch zu den verstecktesten Winkeln und Kellern zu bekommen. Aber die viele Fahrerei wurde von Jahr zu Jahr lästiger und anstrengender. Zudem wohnte sie knapp hundert Kilometer entfernt vor den Toren von Frankfurt. Einen Umzug in die Stadt wollte sie nicht, mal ganz abgesehen davon, dass sie sich eine anständige Wohnung in Frankfurt von ihrem Gehalt kaum hätte leisten können. Aber sie lebte sowieso viel lieber auf dem Land. Eine Tatsache, für die die meisten ihrer Arbeitskollegen kein Verständnis aufbrachten. Sie wohnte noch immer in einem kleinen hessischen Dorf in ihrem Elternhaus. Dort hatte sie zusammen mit ihrem langjährigen Freund Max eine abgetrennte eigene Wohnung, konnte aber trotzdem ein wachsames Auge auf ihre in die Jahre gekommenen Eltern haben.

Eines Abends saß sie mit Max bei einem Glas Wein im spätsommerlichen Garten und es graute ihr davor, sich am nächsten Morgen erneut in die lange Schlange auf den Weg in die City einzureihen. Mit dem Zug zu fahren war auch keine Option, da sie ein Auto für ihren Job brauchte und ihr Arbeitgeber sich weigerte, für jeden Mitarbeiter ein eigenes Firmenfahrzeug anzuschaffen. Das lag vermutlich weniger an den Kosten, sondern eher an der allgemeinen Parkplatzsituation in der Innenstadt. Für eine große Flotte war einfach kein Platz.

So gefrustet hatte sie sich in eine Decke aus schlechter Laune gehüllt, bis Max plötzlich sagte: »Warum kündigst du nicht?«

Theresa hatte ihren Liebsten erschrocken angesehen: »Bist du verrückt? Dann bin ich arbeitslos. Was soll ich denn dann den ganzen Tag machen? Gärtnern?« Das tat sie zwar sehr gerne, aber doch bitte nicht hauptberuflich. Verständnislos hatte sie ihren Kopf geschüttelt. »Ich liebe meinen Job, wie du vielleicht weißt.«, hatte sie noch vorwurfsvoll hinzugefügt.

Max hatte seine Freundin lange mit einem nachdenklichen Blick gemustert, einen großen Schluck aus seinem Weinglas genommen und ihr dann vorgeschlagen: »Erst letztens hast Du mir erzählt, dass der Trend eindeutig dahin geht, dass es immer mehr Städter wieder aufs Land zieht. Du bist fleißig und kreativ und kennst eine Menge Leute hier bei uns. Mach dich selbständig.«

Im ersten Moment war Theresa schockiert von diesem verwegenen Vorschlag, aber je länger sie darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde sie. Warum eigentlich nicht? Was hatte sie zu verlieren? Max hatte eine gut bezahlte, sichere Stelle bei einer soliden Firma für Landmaschinen, sie hatten noch keine Kinder, für die sie verantwortlich waren und selbst Miete mussten sie nicht zahlen. Das Haus ihrer Eltern war längst abgezahlt und diese lebten sorgenfrei von ihren Renten. Finanziell gab es also kaum ein Risiko. Warum nicht?

Den Rest des Abends hatten sie damit verbracht, Pläne zu schmieden für dieses neue Abenteuer. Gleich am nächsten Morgen hatte Theresa ein langes Gespräch mit ihrem Chef geführt, bevor sie es sich wieder anders überlegen würde. Innerhalb von drei Monaten war alles unter Dach und Fach und Theresa war Unternehmerin. Und der Laden lief, erstaunlich gut sogar. Max hatte recht gehabt. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie als heimatverbundene Person schon immer viele Kontakte geknüpft und auch gepflegt hatte. Sie war Mitglied in mehreren Vereinen und auch bei den zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen auf den Dörfern immer gerne zugegen. Man kannte sie einfach und das erleichterte ihr den Start ins neue Unternehmen ungemein.

Und jetzt war auch noch auf der vorletzten Gemeinderatssitzung die Umwidmung eines großen Stücks Ackerland in Bauland beschlossen worden. Eine Neubausiedlung für zirka vierzig bis fünfzig Häuser sollte am Rande des Nachbardorfs entstehen, zusammen mit einem kleinen Versorgungskomplex aus Supermarkt und Tankstelle. Theresa hatte innerlich gejubelt, als sie gleich am nächsten Tag vom Bürgermeister höchstpersönlich davon erfahren hatte.

Die betroffenen Bauern, denen die Äcker im Planungsgebiet gehörten, konnten ihr Glück kaum fassen. Das kam einem Sechser im Lotto gleich und sie hatten noch nicht einmal gespielt. Theresa hatte bereits mit zwei von drei Parteien Kontakt aufgenommen. Bei den beiden Familien war sie mit den Kindern der Höfe zur Schule gegangen und auch heute noch gut befreundet. Deshalb war es überhaupt kein Problem für sie gewesen, den Eigentümern ihre Hilfe als Maklerin und Mittlerin anzubieten. Die Bauern waren sogar recht dankbar, dass sie sich nicht um die ganze Abwicklung selbst kümmern mussten, und sahen in Theresa eine Vertraute, der sie auch ihren Gewinn gönnten. Geld würde ja bald in ausreichender Menge fließen.

Nur die dritte Partei bereitete Theresa noch etwas Kopfzerbrechen. Der Hof wurde schon seit Jahren nicht mehr bewirtschaftet und die dazugehörigen Felder waren verpachtet. Das Anwesen gehörte einer älteren Frau, Annelie Rieser und ihren zwei Söhnen Manfred und Gerhard. Nachdem der Vater der Familie vor vielen Jahren einfach über Nacht das Weite gesucht, und seine Frau mit den halbwüchsigen Söhnen alleine zurückgelassen hatte, war die Landwirtschaft schnell den Bach runter gegangen. Die Mutter, und später auch die Söhne hatte Arbeiten in verschiedenen Geschäften der Umgebung angenommen und bewirtschafteten nur noch einen kleinen Gemüsegarten für den eigenen Bedarf. Sie galten eigentlich schon immer als Sonderlinge, wie sie jedes Dorf so hat. Bereits als der Vater noch auf dem Hof wohnte, lebten sie sehr zurückgezogen. Es war allgemein bekannt, dass sowohl der Vater wie auch später seine Sprösslinge sehr dem Alkohol zugetan waren. Es war auch bekannt, dass der Vater seine Frau und die Söhne quälte und schlug, besonders wenn er zu viel getrunken hatte. Aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Wer hätte das auch machen sollen? Diese Aufgabe wäre vielleicht in vergangenen Zeiten dem Dorfpfarrer zugefallen. Heutzutage wechselten die Pfarrer häufig, waren in der Regel für mehrere Gemeinden gleichzeitig zuständig und hatten auch längst nicht mehr die Autorität, die früher von allen akzeptiert wurde. Manche Dinge wurden hingenommen und blieben unangetastet, besonders auf dem Land. Später, als der Vater schon lange verschwunden war, fielen Gerhard und Manfred auf den Dorffesten eher unangenehm auf. Wenn sie ihr Alkoholpensum intus hatten und anfingen, laut zu werden, wurden sie meist von den Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr freundlich aber bestimmt nach Hause komplimentiert. Die Mutter, längst im Rentenalter, hatte schon seit Jahren niemand mehr in der Öffentlichkeit gesehen.

Daher war es nicht verwunderlich, dass Theresa jetzt mit einem etwas unbehaglichen Gefühl vor dem maroden Gartenzaun des Anwesens stand. Kurz hatte sie sogar überlegt, ob sie nicht vielleicht auf Maxs Heimkehr von der Arbeit warten sollte, damit er sie auf diesen ersten Besuch begleiten konnte. Aber dann kam ihr das doch albern vor. Schließlich war helllichter Tag und sie wollte der Familie ja nur zu ihrem unverhofften Glück gratulieren und ihre Hilfe beim Verkauf der Äcker anbieten. Entschlossen schob sie das Gartentor zur Seite, das nur noch an einer Angel hing und dementsprechend wackelte. Nach dem Öffnen konnte sie das Tor an einen großen Stein anlehnen, der den Anfang des zugewucherten Gartenweges begrenzte. Sie hoffte inständig, dass kein pflichtbewusster Hund das Grundstück bewachte, aber soweit sie wusste, hatte es hier noch nie irgendwelche Tiere gegeben. Bis auf ein paar ältere ausgemusterte Reitpferde, die auf einer verpachteten Wiesen und in einer dazugehörigen kleinen Scheune untergestellt waren. Theresa wusst davon, weil sie eine Freundin ein paarmal begleitet hatte, wenn diese ihr Pferd versorgte. Das ehemalige Turnierpferd hatte hier eine Zeit lang sein Gnadenbrot gefressen, bis ihre Freundin Ruth eine bessere Unterbringung organisiert hatte. Aber das war schon Jahre her und die Pferde hatten den Riesers nicht gehört. Theresa konnte sich beim besten Willen auch nicht vorstellen, dass die Familie sich anständig um Tiere kümmern würde. Sie konnten sich ja nicht einmal ordentlich um sich selbst und ihren Hof kümmern, wie es aussah. Das ganze Anwesen war doch sehr verwahrlost und die Gebäude schienen baufällig, wie sie mit ihrem geübten Blick schon von weitem festgestellt hatte.

Neben der Haustür stand eine wackelige Gartenbank, die früher einmal grün gestrichen sein musste, doch jetzt war die Farbe fast vollständig abgeblättert. Theresa suchte nach einer Klingel, fand aber nichts. Ob diese sich wohl am Gartentor befand und sie hatte sie übersehen? Egal. Hoffentlich war überhaupt jemand zu Hause, es war so still hier. Sie würde jetzt klopfen und wenn niemand aufmachte, konnte sie immer noch später wiederkommen. Zusammen mit Max. Aber Frau Rieser verließ ja nie das Haus.

Beherzt klopfte Theresa mit den Fingerknöcheln an die Haustür. Sie war selbst überrascht, wie laut der Widerhall war. Die Tür war wohl nicht besonders massiv. Und noch etwas passierte. Die Tür öffnete sich und bewegte sich ein kleines Stück nach innen.

Wie in einem schlechten Gruselfilm, schoss es ihr durch den Kopf und automatisch trat sie einen Schritt zurück.

Also, jetzt mach aber mal ´nen Punkt. Die Tür war nur angelehnt, das kann ja mal passieren.

Theresa trat wieder einen Schritt nach vorne und drückte die Tür mit ihrer linken Hand ein Stückchen weiter auf.

»Hallo? Ist jemand zu Hause? Frau Rieser? Hier ist Theresa Tannschneider, Sie kennen mich bestimmt noch von früher.«

Theresa drückte die Tür noch weiter auf und konnte jetzt in den dunklen Flur sehen. Abgestandene Luft wirbelte ein paar Staubflocken auf als sie sich mit einem frischen Luftzug von draußen vermischte. Sonst gab es nicht viel mehr zu sehen, außer einer Reihe von Pappkartons, die entlang der Wände aufgestapelt waren. Nicht sehr einladend.

»Frau Rieser? Manfred? Gerd?« Nicht´s rührte sich. Ein letzter Versuch, dann würde sie wieder gehen und an einem anderen Tag wiederkommen. »Ich bin hier im Dorf zuständig für das neue Bauland und helfe den Bauern beim Verkauf der Felder.«

Gerd und Fred waren nicht die Hellsten und ein wenig geflunkerter Verkaufsoptimismus zur Geschäftsförderung ihrerseits würde ihnen bestimmt nicht auffallen. Bei Frau Rieser war sie nicht so sicher. Aber es war ja nicht wirklich gelogen. Sie wollte den Bauern schließlich helfen und sie gab sich immer Mühe, ihren Job gut zu machen und allen Parteien gerecht zu werden.

Es schien tatsächlich niemand da zu sein. Ob sie einen Blick hinter das Haus in den Garten werfen sollte? Gerade wollte sie die Tür wieder in die ursprüngliche Stellung zuziehen, als ihr der Türgriff förmlich aus der Hand gerissen wurde. Mit einem entsetzten Aufschrei machte sie einen Satz zurück und blickte in das Gesicht von Gerhard, der jetzt im Türrahmen stand.

»Hast du mich erschreckt!« Theresa Herz raste, als sie zu ihm aufblickte. Hatte er die ganze Zeit hinter der Tür gestanden?

»Hallo. Ich hab dich rufen hören. Was gibt´s?«, brummelte er in seinen stoppeligen Drei-Tage-Bart, der bei ihm aber nicht trendy, sondern nur ungepflegt aussah. Das dreckige T-Shirt, das sich über einen deutlich hervortretenden Bauch spannte, und die ungewaschenen, viel zu langen Haare taten ihr Übriges, um dieses Erscheinungsbild zu vervollständigen.

»Hallo Gerd.« Theresas Professionalität gewann schnell wieder die Oberhand. Schließlich war sie geübt darin auch skeptische Kunden durch Freundlichkeit und kompetente, neutrale Beratung, meist auf ihre Seite zu holen. Ohne Umstände unterbreitete sie ihm ihr Anliegen und fragte dann gleich noch nach seiner Mutter.

»Die ist nicht da.«, kam die einsilbige Antwort zurück.

»Können wir vielleicht trotzdem reingehen? Dann könnte ich dir schon mal die Pläne zeigen. Wann kommt deine Mutter denn zurück? Ist der Manfred da? Den betrifft es ja auch. Du wirst erstaunt sein, was ihr für den Quadratmeter Bauland verlangen könnt.«

»Ist nicht aufgeräumt.« Gerhard hatte die Haustür wieder komplett hinter sich zugezogen. »Wir haben uns außerdem schon erkundigt. Wir verkaufen nicht stückweise. Wir verkaufen nur alles oder gar nicht.«

»Wie, alles? Nicht nur das Feld auf dem gebaut werden darf? Eure anderen Felder auch?«, fragte Theresa erstaunt. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet.

»Alles. Auch das Haus.«

»Ach.« Theresa sah sich auf dem verwahrlosten Grundstück um. Unkraut soweit das Auge reichte und Sperrmüll stapelte sich in den verschiedensten Ecken. Da hieß es wohl die Ärmel hochkrempeln. »Tja, das kriegen wir auch hin, wird aber vielleicht ein bisschen dauern. Aber wo wollt ihr dann wohnen?«

»Wir ziehen sowieso weg.«

»Und eure Mutter? Will die jetzt im Alter auch nochmal umziehen?« Vielleicht in eine Seniorenresidenz, überlegte Theresa. Geld genug wäre dann da.

»Die ist schon länger ausgezogen. Die wohnt in Spanien. Südspanien. Die wollte schon immer dahin wo es warm ist.«

»Tatsächlich?! Das ist ja ein Ding. Das wusste ich gar nicht. Und da ist sie ganz alleine hingezogen?«

»Nein, sie hat jemanden kennen gelernt, der hat da ein Haus.«

»Wie spannend. Na, auf jeden Fall schön für sie, dass sie nochmal ganz was Neues macht im Alter. Respekt. Na ja, wenn dann die Papiere unterzeichnet werden müssen und für den Notartermin kann sie ja mal kurz zurückgeflogen kommen. Wenn sie einverstanden ist, können wir vorher schon alles organisieren und unterschriftsfertig machen. Aber wie gesagt, wenn ihr das Haus mitverkaufen wollt, wird es etwas länger dauern. Und ihr müsstet vielleicht auch noch ein wenig aufräumen.« Theresa blickte sich demonstrativ noch einmal im Garten um.

»Machen wir nächste Woche. Ich hab noch zu tun. Bis dann.«

Mit diesen Worten drehte er sich um, verschwand im Haus und drückte die Haustür deutlich hörbar ins Schloss.

Theresa stand ratlos einen Moment vor der verschlossenen Tür, bevor sie sich abwandte und über den unebenen Weg zurück zum Gartentor ging, mit dem sicheren Gefühl im Rücken, durch eines der blinden Fenster beobachtet zu werden.

4.

Zweieinhalb Stunden waren seit dem ersten Anruf von Bauer Steiger bei Falk vergangen, als der erste Polizeiwagen am Weidegatter eintraf. Falk, Fiona und der Bauer erwarteten die Beamten dort bereits. Der Bauer war inzwischen sogar kurz zurück zu seinem Hof gefahren, um den bei seiner Frau georderten Kaffee in zwei großen Thermoskannen abzuholen. Fiona und Falk hatten derweil, in ihrem Auto wartend, die Stellung gehalten. Allen war klar, dass sie sich auf einen längeren Aufenthalt auf der Kuhweide einrichten mussten.

Nachdem Falk sich und Fiona den beiden Streifenpolizisten vorgestellt hatte, berichtete er von seinem Verdacht. Die Polizisten trauten ihren Ohren nicht. Es war aber auch schwer zu glauben, was der Viehdoktor da behauptete. Der jüngere von beiden erkundigte sich daher direkt nach Falks heutigem Alkoholkonsum, während der Ältere die Weide hinaufging, um sich selbst ein Bild von der toten Kuh zu machen. Natürlich war von außen nicht viel zu erkennen, daher gesellte er sich schnell wieder zu den anderen.

»Wir haben das Tier nicht weiter bewegt. Ich dachte, dass vielleicht zuerst die Spurensicherung erfolgen muss?« Falk sah die uniformierten Beamten fragend an.

»Wissen Sie eigentlich, was Sie da für einen Polizeiapparat in Bewegung setzen wollen?« Der ältere Beamte, der sich inzwischen als Polizeihauptmeister Götze vorgestellt hatte, kratzte sich ratlos am Kopf. »Was glauben Sie, was passiert, wenn ich den ganzen Komplex in Bewegung setze, und es ist falscher Alarm. Dann werden Sie zunächst einmal wegen Behinderung von Polizeiarbeit, oder so etwas ähnlichem, zur Rechenschaft gezogen.«

»Ich will Ihre Arbeit ja gar nicht behindern, im Gegenteil. Was glauben Sie was passiert, wenn ich Recht behalte und wir jetzt die Kuh hier von der Weide ziehen. Dann möchte ich nicht in ihrer Uniform stecken.« Falk schüttelte seinen Kopf. »Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber sie können mit vertrauen. Ich bin Arzt und ich mache diesen Job jetzt seit fast dreißig Jahren. Ich weiß, was ich gefunden habe.«

»Also gut.« Götze hatte einen Entschluss gefasst. Er atmete einmal tief durch, zückte sein Telefon und ging ein paar Schritte in Richtung Streifenwagen, so dass die anderen das folgende Telefongespräch nicht mithören konnten. Sein jüngerer Kollege Steffen Krause bediente sich derweil dankbar an dem ihm angebotenen Kaffee aus den Thermoskannen. Der Verdacht, dass man ihn vielleicht vergiften wollte, kam ihm wohl nicht. Allerdings hielten auch Falk und Fiona bereits jeweils eine Tasse in ihren Händen.

Falk kam kurz in den Sinn, dass Götze mitnichten seine Kollegen von der Kriminalpolizei verständigte, sondern eventuell ein paar kräftige Männer in weißen Kitteln mit einer Zwangsjacke zu Hilfe rufen würde. Krause, der inzwischen seinen Kaffee ausgetrunken hatte, schlug seinem Kollegen nach dem Telefonat vor, dass er ja mal einen kurzen Erkundungsgang rund um die Weide machen könnte. Vielleicht würde ihm irgendetwas Verdächtiges dabei auffallen. Götze hielt das für eine gute Idee, beschloss aber, dass er selbst hier am Gatter mit dem Bauern und den Tierärzten auf das Eintreffen seiner Kollegen warten würde. Falk vermutete, dass ihm ihre kleine Gesellschaft sehr suspekt war und er keinen von ihnen aus den Augen lassen wollte.

Eine gute halbe Stunde später trafen erneut Polizeifahrzeuge bei der Weide ein, diesmal gleich eine kleine Kolonne. Aus einem Bus stiegen fünf Personen, die direkt begannen die obligatorischen weißen Schutzanzüge überzuziehen und diverse Koffer aus dem Fahrzeug zu räumen. Zwei Beamte in Zivil wurden von PHM Götze begrüßt und den Wartenden als die Kriminalkommissare Dirk Wächter und Sabrina Selbrink vorgestellt.

Aus dem dunkelen Mercedes, der als letztes Auto eingetroffen war, stieg ein sportlicher, jugendlich wirkender Mann, der vielleicht gerade vom Golfplatz oder einer ähnlichen Aktivität weggerufen worden war. Als Erstes holte er ein paar Gummistiefel aus seinem Kofferraum, die er, ohne allzu große Eile, gegen seine weißen Sneaker tauschte. Bei näherer Betrachtung wurde deutlich, dass er die Vierzig doch schon überschritten haben musste. Falk war gleich klar, dass er hier den diensthabenden Pathologen vor sich hatte. Dieser Mann betrat die Szenerie mit der Ausstrahlung selbstverständlichen Wissens, dass ohne ihn hier niemand irgendwomit anfangen würde.

»Allseits einen schönen Samstag.«, wünschte er gutgelaunt in die Runde. Wie es schien, ein Mediziner, dem sein Job auch an einem Wochenende Spaß machte, mutmaßte Falk.

»Na, was haben wir hier? Wie ich hörte eine tote Kuh mit dubioser Füllung? Da bin ich ja mal gespannt. Wer hat das Tier gefunden?«

»Das war ich. Ich bin der Besitzer der Herde.«, meldete sich Bauer Steiger zu Wort. »Und dann habe ich meinen Tierarzt angerufen.«

»Doktor Von Auwald. Guten Tag.«, Falk reichte dem Pathologen seine Hand, die dieser enthusiastisch schüttelte und den Gruß erwiderte mit einem offenen »Hallo Herr Kollege. Jens Bestermann. Ich bin der Pathologe. Tierarzt wäre ich auch gerne geworden, aber ich habe keinen Studienplatz bekommen damals. Da musste ich mich mit dem Zweitbesten zufriedengeben. Na ja, auch sehr interessant. Auf jeden Fall bin ich hier Ihr bester Mann.« Er lachte laut, aber trotzdem nicht unsympathisch oder überheblich über seinen eigenen Wortwitz, der ihm vermutlich zu einem gängigen Ritual geworden war. Alle Umstehenden schmunzelten und die bis dato etwas angespannte Atmosphäre lockerte sich spürbar. »Lassen Sie uns mal zu ihrer verstorbenen Patientin gehen, dann können Sie mir auf dem Weg dahin berichten.«

Fiona war erstaunt. In der Regel wurden Tierärzte nicht so kollegial von Humanmedizinern begrüßt, sondern eher abwertender behandelt. Hier war aber offensichtlich mal jemand ohne Standesdünkel zugegen, der Ahnung von der Materie hatte. Da hätte Falk das »Von« und den »Doktor« ruhig weglassen können. Fiona wusste, dass er sich Fremden normalerweise nur mit »Auwald« als Nachnamen vorstellte. Den »Graf« vor dem »von« benutzte er nur in Ausnahmefällen. Wahrscheinlich wollte er von Anfang an klar stellen, dass seine medizinische Kompetenz nicht anzuzweifeln war. Auch nicht von einem Pathologen. Platzhirschgerangel, dachte sie sich. Das wäre aber gar nicht nötig gewesen, die beiden schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen, wie sie da in angeregter Unterhaltung den Hang hinauf stapften. Fiona und die beiden Kriminalkommissare folgten mit kurzem Abstand. Plötzlich blieb Falk stehen und sah sich mit schuldbewusster Mine zu Fiona um.

»Schatz, das tut mir leid. Ich war so in Gedanken, ich hab total vergessen, dich vorzustellen. Jens, das ist Fiona Donelly, meine Liebste. Übrigens auch Tierärztin.«

Ach du liebe Güte, sie waren schon beim DU.

»Freut mich.«, gab Fiona zur Antwort und schüttelte nun auch die Hand des Pathologen. Auf Falks Wangen konnte sie einen Anflug von Röte entdecken, geschuldet entweder seinem Versäumnis oder der Tatsache, dass er sie als seine »Liebste« vorgestellt hatte. Welches von beidem wusste sie nicht genau, aber die »Liebste« fand sie auf jeden Fall entzückend. Weiter ging es nach diesem kleinen Intermezzo zur Kuh, die unverändert in ihrer Position auf der Weide verharrte. Etwas anderes war ihr auch nicht mehr möglich.

Die Kommissare und der Pathologe umrundeten das Tier in ähnlicher Manier, wie zuvor schon Falk und betrachteten die tote Kuh und den Untergrund auf dem sie lag von allen Seiten. Fiona und Falk waren in einigem Abstand stehen geblieben und warteten auf weitere Anweisungen. Aus der Ferne sahen sie den jungen Polizeimeister Krause über die Weide auf sich zu kommen. Er näherte sich mit deutlicher Eile und berichtete leicht außer Atem, von einem Fund, den er in ein paar hundert Metern Entfernung am Rand der Weide in einem Gebüsch gemacht hat. Er gab an eine unbestimmbare Masse gefunden zu haben, auf die er nur durch das laute Gesumme der fetten Schmeißfliegen aufmerksam geworden war, die sich darüber hermachten.

Das Team der Spurensicherer wurde aufgeteilt und auf Geheiß von Kommissar Wächter begleiteten zwei Leute in weißen Overalls den Polizisten zurück zum Fundort.

Derweil hockte Falk neben seinem neu gewonnen Freund hinter der Kuh und die beiden beratschlagten, wie am besten vorzugehen wäre. Bei allem Interesse an der Tiermedizin wollte Jens doch lieber darauf verzichten die tote Kuh erneut zu rektalisieren. Von der Weide holen konnte man das Tier nur mit schweren Geräten, einem Traktor oder einem Gabelstapler, was für die Spurensicherung vermutlich fatale Folgen haben würde. Also schlug Falk vor, die Kuh erst einmal auf die Seite zu drehen. Dann würden sie auch endlich herausfinden, wie die Unterseite des toten Tieres aussah. Mit vereinten Kräften und Fionas Hilfe gelang es den beiden Männern, das Tier in Seitenlage zu bringen. Die Kommissare hielten sich bei dieser Aktion vornehm zurück.

Schnell war klar, dass sich der Verdacht der Tierärzte nun erhärtete. In der Mitte des Kuhbauchs war bei genauem Hinsehen eine Naht zu erkennen. Mit einem Faden, der schwarzer Zwirn zu sein schien, war der Kuhbauch ordentlich vernäht.

»Ich nehme an, du hast das Tier nicht vor kurzem operiert?«, wandte sich Jens fragend an Falk.

»Nein, bestimmt nicht. Ein Tierarzt hätte bei einer OP auch bestimmt eine andere Nahttechnik verwendet. So ein langer Schnitt wird normalerweise nicht fortlaufend vernäht. Höchstens in der Pathologie, wie du vermutlich weißt. Wir könnten vorsichtshalber Bauer Steiger nochmal fragen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine älteste Kuh operieren lässt.«

Die Spurensicherer hatten bereits fleißig Fotos vom freigelegten Kuhbauch gemacht, jetzt war es an der Zeit Licht ins Dunkle zu bringen.

»Hast du ein Schere und eine Pinzette dabei?«, fragte Jens seinen Begleiter. Fiona hatte bereits Falks Koffer geöffnet und schnell das Gewünschte gefunden. Gerade als der Pathologe die Schere an den Zwirn setzen wollte, tauchten die Spurensicherer zusammen mit Steffen Krause hinter der Kuh auf. Hinter sich her zogen sie einen großen blauen Plastiksack, der offenbar zu schwer zum Tragen war.

»Könnte einer der Tierärzte vielleicht einen Blick hier rein werfen?«, fragte der Polizist. Fiona stand am nächsten und sah in den Müllsack, den die Spurensicherer ihr aufhielten. Das war eindeutig und auch für eine Kleintierärztin leicht zu identifizieren.

»Wie es aussieht, die Innereien einer Kuh.«, bestätigte Fiona.

Jens schnitt jetzt beherzt den dicken Faden, der den Kuhbauch zusammenhielt an mehreren Stellen durch. Nachdem er die Fadenstücke mit der Pinzette entfernt und in einen bereitgehaltenen Plastikbeutel gegeben hatte, klaffte der Bauch auch schon ein Stück auseinander. Als das letzte Fadenstücke gezogen war, sprang ihm ein Fuß entgegen, so als wäre er froh, endlich seinem engen Gefängnis zu entkommen und bereit wieder einen Schritt zu tun.

Dass dieser Fuß keine Schritte mehr tun würde, war allen umstehenden klar. Auch wenn sie auf diesen Fund vorbereitet waren, war die Szene mehr als gruselig. Hauptmeister Götze wendete sich mit einem stöhnenden Geräusch ab und man hörte ihn würgen. Der Fuß war fast schwarz, wie es aussah durch fortschreitende Verwesung und die Zehen zu unheimlichen Krallen verkrümmt. Selbst der Pathologe hielt einen Moment inne, bevor er sich daran machte, noch mehr Zwirn zu entfernen, um so den Schnitt maximal zu vergrößern. Falk half dabei, den eröffneten Bauch der Kuh auseinanderzuhalten und so einen Blick ins Innere zu ermöglichen. Das Licht der starken Taschenlampe, die einer der Beamten aus seinem Dienstfahrzeug geholt hatte, zeigte die gruseligen Details in allen Einzelheiten. Eine unbekleidete menschliche Leiche lag in fötaler Position zusammengefaltet im Innern der Kuh. Nur der eine Fuß hatte sich aus dieser Position befreit, als wolle er einen Schritt nach draußen machen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Leichnam geborgen und auf dem Weg in die Pathologie war. Es blieb die Frage, was mit dem erschossenen Tierkadaver zu tun war. Dass die Kuh erschossen worden war, daran zweifelte inzwischen niemand mehr. Jens weigerte sich standhaft, auch die Kuh in seinen aufgeräumten Arbeitsbereich überführen zu lassen. Nicht ganz unberechtigt gab er zu bedenken, dass seine Untersuchungstische gar nicht groß genug wären. Die nächste offizielle Untersuchungsmöglichkeit für tote Kühe, wäre die Pathologie der tiermedizinischen Universität Gießen, aber der Weg war weit und es war Wochenende. Nach einigem Hin und Her wurde beschlossen, dass das Tier samt seiner Innereien über Nacht in Bauer Steigers Scheune zwischengelagert werden würde, wo Falk und Fiona dann am nächsten Morgen eine etwas genauere Untersuchung des Kadavers vornehmen sollten. Die Kripobeamten erhofften sich von dem Prozedere vor allem, dass dabei das Geschoss gefunden wurde, mit dem die Kuh getötet worden war. Vermutet wurde etwas Kleinkalibriges, da auf den ersten Blick das Einschussloch nur klein und auch keine Austrittsöffnung zu sehen war.

Es war bereits dunkel, als Fiona und Falk im Auto saßen und den Heimweg antraten. Für die Hängematte war es inzwischen wohl zu kühl.

»Das ist ja schön hier bei dir auf dem Land und so ruhig. Geht das hier jedes Wochenende so?«, fragte Fiona nach einer kleinen Weile. »Ich frage nur, weil ich dann beim nächsten Besuch vielleicht mein altes Pathologiebuch aus Studientagen mitbringen würde. Das müsste ich noch irgendwo zu Hause herumliegen haben. Könnten wir morgen vielleicht gut gebrauchen.«

»Gute Idee. Ich müsste meins auch noch haben, fragt sich nur wo. Also normalerweise habe ich nicht besonders viele erschossenen Kühe. Eigentlich gar keine, wenn ich so darüber nachdenke. Schon gar nicht mit Füllung. Das war echt gruselig. Man konnte noch nicht einmal erkennen, ob es sich um eine weibliche oder eine männliche Leiche gehandelt hat, so eingefallen wie sie schon war. Die war bestimmt schon länger tot, wenn du mich fragst.«

»Ich frag dann mal lieber deinen neuen Freund Jens, der ist vermutlich kompetenter. Was glaubst du, wieso versteckt jemand eine Leiche in einer anderen Leiche? Was für ein Aufwand. Die mussten die Kuh ja erste einmal aufschneiden, ausweiden und dann auch noch wieder zunähen.«

»Wer sind denn DIE?«, fragte Falk.

»Das ist doch wohl klar, dass da mindestens zwei Leute am Werk waren. Einer alleine kriegt so etwas garantiert nicht hin. Alleine schon eine tote Kuh hin und her zu drehen. Und bewegt worden ist sie mit Sicherheit. Sie muss ja auf der Seite gelegen haben, damit man sie aufschneiden konnte. Und hinterher wieder auf den Bauch gewälzt. Also wenn da zwei Leute mal reichen!«

»Du hast recht. Eine einzelne Person würde das nicht schaffen. Es sei denn sie wäre grün und hieße Hulk.«

Falk hatte seinen angestammten Parkplatz in der offenen Remise neben seinem Gutshaus, die früher einmal richtige Kutschen beherbergt hatte, sich aber auch hervorragend als Carport eignete, erreicht. Die beiden stiegen aus und fanden im Haus nur Bodo, Falks alternden Weimaraner vor. Alle anderen waren ausgeflogen. Vielleicht waren Tim und Katharina auch noch bei der Arbeit und halfen gerade irgendeiner Kuh, ihr Kalb zu gebären. Falk hoffte sehr, dass sich den beiden dabei ein erfreulicher Anblick bieten würde als Fiona und er ihn heute erlebt hatten. Isabell und Fritz waren auf jeden Fall auch nicht da und so konnte Falk sich auf ein unaufgeregtes Abendessen mit Fiona am großen Küchentisch freuen. Dazu vielleicht ein Gläschen Rotwein. Auf jeden Fall musste er erst einmal duschen. Obwohl er Schutzkleidung und Handschuhe getragen hatte, fühlte er sich kontaminiert. Immerhin hatte er die Leiche als Erster berührt und das auch noch völlig ohne Vorwarnung. Es hatte ihn doch mehr schockiert, als er nach Außen hin zu erkennen gab. Das heiße Wasser spülte die Anspannung, die er jetzt erst so richtig bemerkte, langsam an ihm herunter. Was für eine kranke Idee, eine Leiche in einer Kuh zu verstecken. Und wie absolut respektlos. Fiona hatte recht, der Aufwand war riesig und es mussten mindestens zwei Leute am Werk gewesen sein. Was versprachen sich die Täter also davon? Normalerweise wird so ein totes Rindvieh in der Tierkörperbeseitigungsanstalt entsorgt. Wenn Bauer Steiger weniger aufmerksam gewesen wäre, hätte er das Tier vielleicht einfach mit dem Frontlader aufgegabelt, auf dem Wagen der TKB wieder abgeladen und beide Körper wären verbrannt worden, mit etwas Glück, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Immerhin handelte es sich um Steigers älteste Kuh, da war ein plötzlicher Tod auf der Weide nicht ganz unwahrscheinlich. War genau dieses Tier deshalb ausgewählt worden? Das hieße aber, dass die Täter sich gut mit Kühen auskannten. Aber mussten sie das nicht sowieso, wenn sie so vorbereitet auf der Weide eingetroffen waren, dass sie es sogar geschafft hatten, die Kuh ohne größere Spuren auszuweiden und alle Innereien aus dem Blickfeld zu beseitigen? Vermutlich mit Hilfe einer Schubkarre. Innerhalb kürzester Zeit wäre von den Eingeweiden auch nichts mehr übrig gewesen. Die Füchse, Marder und Krähen hätten sich gefreut. Die einzige Schwachstelle war der zugenähte Bauch der Kuh, aber Falk hatte erkannt, dass so etwas wie sehr dicker Zwirn verwendet worden war, als er Jens beim Öffnen des Kuhbauches über die Schulter gesehen hatte. Vielleicht Material aus einer Sattlerei? Er würde die Kommissare auf seine Beobachtung aufmerksam machen, wenn er sie das nächste Mal treffen würde. Vermutlich schon am kommenden Morgen, nachdem Fiona und er den Kuhkadaver näher untersucht hätten, eine Prozedur, auf die er sich nicht unbedingt freute.

5.

Erna hatte es sich mit einem zweiten Frühstück, bestehend aus einer Tasse Kaffee, einem ordentlich geviertelten Apfel und der Samstagszeitung am Küchentisch bequem gemacht. Herrlich, diese Ruhe im Haus und sie selbst hatte heute ausnahmsweise einmal absolut gar nichts vor. Für die umtriebige alte Dame ein Ausnahmezustand, der aber auch seinen Reiz hatte. Die Kinder waren inzwischen alle bei ihren verschiedenen Freunden zum Übernachten einquartiert, auch die Zwillinge, sie musste heute also nicht einmal kochen. Fiona und Falk hatten sogar vor ihrer Abfahrt die Hunde ausgiebig spazieren geführt, so dass sie sie später nur füttern musste, aber auch das hatte noch Zeit. Erna beschloss, heute alles ganz langsam angehen zu lassen. Deshalb würde sie als Erstes die Zeitung lesen, und zwar gründlich, Seite für Seite, von vorne bis hinten. Nun ja, den Sportteil konnte man vielleicht auslassen. Nach der ersten Hälfte erreichte sie den Lokalteil. Fast die gesamte erste Seite wurde von einem einzigen Artikel mit zwei Fotos eingenommen. KINDERSKELETT IN WALDBERGEN GEFUNDEN prangte in großen Lettern über dem Artikel. Auf dem größeren der beiden Fotos war ein Feld an einem Waldrand zu sehen, das Erna sofort erkannte, weil sie bei ihren ausgedehnten Spaziergängen oft daran vorbei kam. Es lag ein wenig außerhalb des Ortskerns, war aber keineswegs als abgelegen zu bezeichnen. In nicht allzu großer Entfernung befanden sich Häuser und auch die Bundesstraße führte ganz in der Nähe vorbei. Auf dem Foto war so etwas wie ein weißer Gartenpavillon am Rande des Feldes zu erkennen, eingerahmt von Polizeifahrzeugen. Ein paar vermummte Figuren in weißen Schutzanzügen vervollständigten die Szenerie. Ernas Blick wanderte zu dem zweiten Foto, das sich am Ende des Artikels unten rechts auf der Zeitungsseite befand. Auf einem hellen Hintergrund, vielleicht so etwas wie ein Tuch, lag eine feingliedrige goldenen Kette. Die Kette selbst war in mehreren Windungen zusammengelegt, wohl damit auf dem Foto genug Platz blieb, um den Blick auf das Hauptaugenmerk zu lenken, den Anhänger. Eine goldene Harfe.

Erna schloss ihre Augen. Sie sah das Schmuckstück so deutlich vor sich, wie sie es mit dem Blick auf ein Foto niemals vermocht hätte. Der Anblick der kleinen Harfe, die auf der weichen Haut unterhalb der Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen und dem schmalen Kinderhals ruht, hatte sich für alle Zeiten in Ernas inneres Auge eingebrannt. Hätte es sich nicht um den Hals ihrer besten Freundin aus Kindertagen gehandelt, wäre Erna vielleicht sogar ein wenig neidisch gewesen, so sehr hatte sie dieses Schmuckstück immer bewundert. Der fein geschwungene goldene Bogen, der den Harfenhals und darauf folgend den Korpus bildete, der kleine goldene Harfenkopf, verziert mit einem noch kleineren funkelnden Diamanten und dann die Saiten! Die Saiten hatten Erna am meisten fasziniert. Es waren hauchzarte goldene Fäden, die über die Miniaturharfe gespannt waren. Wie oft sie sich gefragt hatte, ob man diesen Saiten wohl auch so schöne Klänge entlocken könnte, wie Feodora es auf ihrer größeren Harfe vermochte. Als Erna damals danach gefragt hatte, hatte ihre Freundin bedauernd geantwortet, der Vater hätte verboten, es auch nur zu versuchen. Von ihm hatte sie die Kette mit dem Anhänger zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt bekommen, ein Jahr nachdem sie mit dem Harfenspiel begonnen hatte. Vermutlich hatte er befürchtet, dass das Schmuckstück so einer Behandlung nicht allzu lange unbeschadet standhalten würde. Sollte er sich geirrt haben? Hatte etwa genau dieses zarte goldene Gebilde mehr als ein halbes Jahrhundert im Ackerboden überdauert? Tränen stiegen Erna in die Augen. Nach all der Zeit!

Am Sonntagmorgen waren Fiona und Falk nicht allzu früh aufgestanden. Auch hatten sie sich ein kleines Frühstück in der immer noch verwaisten Küche des Gutshauses gegönnt, bevor sie in Richtung des Steigerschen Hofes aufgebrochen waren. Eine tote Kuh würde ihnen schließlich nicht mehr davonlaufen können. Falk hatte darauf verzichtet nach seinem alten Pathologiebuch aus Studientagen zu forschen. Auf die Suche nach einer Patronenhülse konnte er sich auch ohne Anleitung machen. Wo er das Herz in der Kuh finden würde, wusste er allemal. Wichtiger war es, geeignetes Werkzeug mitzunehmen. Er hatte ja keine Ahnung, was Steiger so in seiner Scheune vorrätig hielt.

»Fiona, was meinst du, was brauchen wir für die Obduktion der Kuh?«, fragte er die Frau an seinem Frühstückstisch.

»Erstmal noch einem Kaffee. Und dann vielleicht ein großes, scharfes Küchenmesser. Ich glaube, nur mit einem Skalpell bewaffnet sitzen wir heute Abend noch in der Scheune. Hast du einen Seitenschneider und vielleicht eine kleine Säge. Ich nehme an, eine oszillierende Knochensäge hast du nicht im Haus, oder?«

»Eine Knochensäge habe ich leider nicht, aber mir fällt gerade ein, dass ich ja eine kleine elektrische Trennscheibe habe, die nehmen wir auf jeden Fall mit. Ich hoffe, die ist auch da, wo sie sein sollte, und hat nicht wieder Beine bekommen. Seit meine Kinder erwachsen sind, hat sich in der Beziehung nicht allzu viel geändert. Die können alles gebrauchen und nichts räumen sie zurück. Ich geh mal nachsehen.« Falk erhob sich und verschwand Richtung Werkstatt, die sich in einem kleinen Nebengebäude befand. Fiona räumte derweil den Frühstückstisch ab und verstaute das gebrauchte Geschirr in der Spülmaschine. Nachdem sie noch ein paar Streicheleinheiten an die Hofkatze und Falks alten Weimaraner verteilt hatte, tauchte deren Herrchen auch schon wieder auf. Anscheinend hatte er alles Gewünschte gefunden, denn über seiner Schulter hing ein geräumiger, speckiger alter Lederbeutel, auf den er zweimal kurz mit der Hand klopfte.

»Also ich wäre jetzt optimal vorbereitet.«

»Na dann lass uns gehen. Ich ziehe mir eben noch meine Schuhe an. Hast du eigentlich ein paar Gummistiefel für mich? Und hast du eine Kamera, oder meinst du es reicht, wenn wir mit dem Handy Fotos machen?«, fragte sie ihn.

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Warte kurz, ich hole noch schnell meine Digitalkamera von oben. Und sieh mal in der Waschküche nach, da müssten mehrere paar Stiefel stehen, auch die von Isabell und Katharina. Schau mal, ob dir was davon passt. Wenn nicht kann ich dir gerne auch noch ein paar dicke Socken geben, dann must du eben ein Paar von mit tragen.« Zum Glück hatte Falk es sich zur Gewohnheit gemacht immer einen der beiden Wechselakkus seiner Kamera aufgeladen bereitzuhalten. Man wusste ja nie, wann man plötzlich eine Kamera brauchte. Zum Beispiel, um an einem Sonntagmorgen das Innenleben einer erschossenen Kuh zu fotografieren.

Gut zwei Stunden später war die Arbeit erledigt. Falk und Fiona legten die Metzgerschürzen aus Gummi ab, die sie bei der Zerlegung der Kuh getragen hatten. Falk hatte das Herz der Kuh im ganzen entnommen und festgestellt, dass in der inneren Herzwand eine Patronenhülse steckte, die er aber an Ort und Stelle beließ. Darum konnte sich vielleicht Jens Bestermann kümmern, der tatsächlich just in diesem Moment in seinem Mercedes auf den Hof fuhr.

»Perfektes timing, Herr Kollege.«, begrüßte Falk ihn, nachdem der aus seinem Auto gestiegen war. »Ich habe genau in diesem Moment an dich gedacht und überlegt, dass wir es dir überlassen, die Patrone aus dem Herz unserer armen Verstorbenen zu puhlen.« Mit diesen Worten deutete Falk auf die große geöffnete Plastiktüte, in der sich das Kuhherz befand und die auf dem provisorischen Instrumententisch, bestehend aus zwei Böcken und einem Holzbrett, lag. Da das Herz bereits in der Mitte aufgeschnitten war, konnte der Pathologe mit Hilfe einer Pinzette und einer Klemme das metallene Objekt, das im Muskel steckte, ohne Probleme herausziehen.

»Voila.«, sagte er, als er die Patrone mit der Klemme in die Höhe hielt, um sie im Morgenlicht zu betrachten. »Ich würde sagen Kaliber 22.«, ließ er noch verlauten, bevor er das Ding in einer kleinen Plastiktüte versenkte und in seiner Jackentasche verschwinden ließ. »Ich denke, das nehme ich auch besser mit.« Dabei deutete er auf das präparierte Herz. Jens verstaute die Tüte ohne viel Aufhebens in einer Plastikwanne in seinem Kofferraum und wendete sich wieder den beiden Tierärzten zu.

»Und, sonst noch was gefunden?«

»Nur, dass sämtlich Innereien aus dem Bauchraum fachmännisch entfernt worden sind. Dass so wenig Spuren davon auf der Weide zu sehen waren, lässt sich damit erklären, dass alle großen Blutgefäße und auch zum Beispiel der Ösophagus, also die Speiseröhre und auch der Enddarm ordentlich mit Bindfaden abgebunden wurden. Deswegen gab es keine größeren Verschmutzungen, als die Täter die inneren Organe herausgeräumt haben. Das in der Kuh übrig gebliebene Stück vom Enddarm war die Mühe wohl nicht wert. Deshalb konnte ich auch ohne Probleme den Leichnam ertasten.« Falk lief ein Schauer über den Rücken, als er daran zurückdachte, wie er den Kopf und auch einen Arm des toten Körpers im Kuhleib ertastet hatte. Zunächst hatte er natürlich doch ein Kalb vermutet, auch wenn der Bauer behauptet hatte, das wäre nicht möglich. Aber spätestens als er das Gesicht des Leichnams erreicht hatte, kamen ihm Zweifel.

»Das bisschen Blut, das aus der Wunde im Herzen geflossen ist, befand sich ausnahmslos im Brustraum, konnte man von außen also auch nicht sehen. Durch das kleine Einschussloch zwischen den Rippen sind nur ein paar Tropfen Blut nach außen gesickert. Alles in allem eine saubere Sache.«, bemerkte Falk abschließend. »Und bei dir? Oder darfst du nicht darüber reden?«

»Ich denke, da wir an diesem Fall ja quasi gemeinsam arbeiten und ich der Toten auch noch keinen Namen zuordnen kann, wird es wohl in Ordnung gehen, wenn wir einen fachlichen Gedankenaustausch führen.«, entgegnete Jens.

»Der Toten?«, mischte Fiona, die aufmerksam zugehört hatte, sich jetzt ins Gespräch ein. »Also hast du sie schon obduziert und es ist eine Frau?«

»Genau. Was gibt es Schöneres an einem Sonntagmorgen? Es handelt sich um eine ältere Dame und wie es aussieht, ist sie ohne Fremdeinwirkung gestorben.«

»Ach,« sagte Falk verdutzt. »Wieso macht sich jemand die Mühe eine Leiche so aufwändig zu verstecken, wenn es sich gar nicht um einen Mord handelt?«

»Das, mein Lieber, hat sie mir nicht verraten. Noch nicht.«, erwiderte Jens. »Ich warte noch auf die histologische Beurteilung einiger Gewebe. Das ist die Aufgabe meiner Assistenten, die Organe unter dem Mikroskop zu begutachten. Die müssen schließlich auch noch etwas zu tun haben. Leider haben sie sonntags frei, im Gegensatz zu ihrem Chef. Trotzdem bin ich mir sicher, dass die Dame an einer natürlichen Ursache gestorben ist. Sofern man Alkoholabusus als natürlich bezeichnen möchte. Massive Fettleber mit beginnender Zirrhose, wie es aussieht. Und die Nieren waren auch nicht mehr in allerbestem Zustand. Schon etwas geschrumpft. Im Dickdarm hatten sich bereits Tumore gebildet und auf den ersten Blick schien sie auch an einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung zu leiden. Sogar das Gehirn war schon angegriffen. Inwieweit wird die histologische Untersuchung zeigen.«

»Und das alles zusammen hat zu ihrem Tod geführt?«, fragte Falk.

»Nein, noch lange nicht. Damit hätte sie vermutlich noch ein paar Jährchen zu kämpfen gehabt. Ist es nicht ganz erstaunlich, was ein Körper so alles aushalten kann, bevor er kapitulieren muss? Ich bin immer wieder fasziniert wie krank man werden kann, bevor man stirbt.« Der Pathologe bekam glänzende Augen und seine Zuhörer konnten die leidenschaftliche Begeisterung für seine Profession aus dieser Rede heraushören. »Sie ist verblutet.«, fügte Jens mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme hinzu.

»Das verstehe ich nicht.« Falk runzelte seine Stirn. »Also doch ermordet?«

»Ösophagusvarizen.«, gab Fiona anstelle des Pathologen zur Antwort. Die beiden Männer drehten sich mit erstaunten Gesichtsausdrücken zu Fiona um.

»Respekt, Frau Kollegin. Ich wusste gar nicht, dass Tiere auch darunter leiden können.«, bemerkte Jens.

»Tun sie auch nicht. Aber ich umgebe mich ja nicht nur mit Tieren.«

»Moment,« warf Falk jetzt ins Gespräch ein. »Varizen sind doch Krampfadern.«

»Genau.«, gab Fiona zur Antwort. »Und die haben Alkoholkranke gerne mal in der Speiseröhre, bedingt durch den erhöhten Druck in den Gefäßen, wenn das Blut nicht mehr ungehindert durch eine zirrhotische Leber abfließen kann. Wenn so eine Krampfader platzt und anfängt zu bluten, dann must du schon großes Glück haben, es noch rechtzeitig ins nächste Krankenhaus zu schaffen. Und selbst wenn ist der Ausgang ungewiss.« Fionas Blick hing zwischen den beiden Männern im Leeren. Falk beobachtete Fionas Gesichtsausdruck und ihm war etwas unbehaglich zumute.

»Korrekt.«, fügte Jens hinzu. »Genau das ist dieser Dame widerfahren. Ihr Magen war randvoll mit Blut. Auch in die Lungen war einiges hineingelaufen. Ob sie an Herz-Kreislauf-Versagen durch die massive Blutung, oder durch Ersticken, Ertrinken müsste man es wohl eher nennen, verstorben ist, lässt sich schwer sagen. Vielleicht beides gleichzeitig. Erschwerend bei der Beurteilung kommt hinzu, dass der Leichnam noch eine Zeit lang eingefroren war, wie es aussieht. Das macht es uns nicht gerade leichter.«

»Wie bitte?! Das wird ja immer absurder.« Falk schüttelte seinen Kopf.

»Da wollte wohl jemand die Kosten für eine Beerdigung sparen.«, mutmaßte Fiona. »Oder weiter die Rente kassieren. Oder beides.«

»Könnte sein.«, bestätigte Jens. »Nun ja, nicht mein Problem. Darum kann sich die Polizei kümmern. Zum Glück hatte die Tote noch ein paar alte Amalgamfüllungen und sogar zwei Kronen im Mund. Mit dem Zahnstatus der alten Dame und dem Projektil aus eurem Kuhherzen werden sie ja hoffentlich die Identität des Opfers feststellen können. Obwohl ich vermute, dass es sich bei der Waffe, mit der das arme Vieh erlegt wurde, um ein Kleinkalibergewehr handelt. Das Einschussloch sieht auf jeden Fall danach aus und auch die Tatsache, dass die Kugel nicht besonders weit eingedrungen ist. Das dürfte schwierig werden.«

»Wieso?«, wollte Fiona wissen.

»Ein Kleinkalibergewehr findest du hier auf dem Land bald in jedem zweiten Haushalt. Dafür hat man früher keinen Waffenschein gebraucht, noch nicht mal eine Besitzkarte. Nach dem Krieg konnte jeder, der wollte, so ein Ding aus dem Otto-Katalog bestellen. Und viele von diesen Waffen liegen noch irgendwo auf dem Dachboden oder im Keller. Ich glaube, bei uns liegt auch noch eine, von meinem Opa.«, antwortete Falk.

»Und was haben die Leute damit gemacht?«

»Auf Katzen geschossen und Vögel, oder Kaninchen. Halt auf alles, was man in seinem Gemüsebeet nicht haben wollte.«

»Wie gruselig. Ich hoffe, man hat nicht auch auf unliebsame Nachbarn gezielt.« Fiona verzog das Gesicht. Vor Schusswaffen hatte sie sich schon immer gefürchtet. »Also war unser Einsatz hier, um die Kugel aus der Kuh zu holen, ganz umsonst?«

»Man wird sehen«, meinte Jens. »Immerhin wissen wir jetzt, dass die Täter sehr ordentlich und gewissenhaft vorgegangen sind, um so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. Sonst hätten sie die Kuh nicht so sorgsam ausgeweidet. Außerdem müssen sie auch über den nötigen Sachverstand verfügen. Ich glaube kaum, dass jemand, der noch nie ein Tierkadaver ausgenommen hat, das so sauber hinbekommen würde.«

»Da stimme ich dir zu, schon gar nicht bei so einem großen Tier wie einer Kuh. Außerdem haben sie wahrscheinlich auch genau gewusst, wo sie zwischen den Rippen hindurch mit dem Gewehr auf das Herz zielen mussten, damit der erste Schuss sitzt.«, nickte Falk. »Meinst du, wir sind jetzt hier fertig und Bauer Steiger kann die Kuh morgen abholen lassen?«

»Ich denke schon. Vielleicht sollten wir noch ein paar Fotos machen, bevor ihr zusammenräumt.«, überlegte Jens laut.

»Schon erledigt.«, bemerkte Fiona und hob Falks Kamera in die Höhe, die sie auf einem Strohballen abgelegt hatte. Sie öffnete den Speicher und zeigte dem Arzt die Aufnahmen, die sie vor kurzem gemacht hatte. Jens war damit vollends zufrieden und so packten sie Werkzeug und Instrumente zusammen und verließen die Scheune. Während Falk den Bauern suchte, warteten Fiona und Jens bei den geparkten Autos.

»Und, was fängst du jetzt noch mit deinem angebrochenen Wochenende an?«, fragte sie ihn.

»Eigentlich wollte ich später auf den Golfplatz, aber ich glaube, vorher fahre ich nochmal ins Institut. Ich habe am Freitag einen spannenden Fall auf den Tisch bekommen. Er ist zwar nicht besonders dringend, aber ich könnte heute vielleicht schonmal die Knochen sortieren und sehen, ob alles vollständig ist. Wir mussten sie zunächst einmal gründlich reinigen.«

»Knochen sortieren?« Fiona ahnte nichts Gutes.

»Ja, drüben in der Pfalz ist ein Kinderskelett gefunden worden. Ein Bauer beziehungsweise der Sohn des Bauern hat es beim Pflügen gefunden. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre es schon viele Jahrzehnte im Boden, daher nicht ganz so dringend.«

»Das ist doch sonderbar. Wenn es in einem Feld begraben war, warum ist es dann nicht schon viel früher entdeckt worden?«

»Der Altbauer, also der Vater des Finders, hatte die Angewohnheit nicht ganz bis an die Grenze seines Ackers zu pflügen. Nebendran läuft nämlich ein Wanderweg und der Alte war wohl der Meinung, die Wanderer würden ihm sowieso nur das Feld zertrampeln, deshalb hat er immer zwei Meter Feldrain wachsen lassen. Ganz vernünftig, wenn du mich fragst. Der Sohn hat dann mal ausgerechnet, wieviel mehr an Ertrag sie erwirtschaften würden, wenn sie die zwei Meter dazu nehmen. Das hat ihn wohl dazu veranlasst das Stück mit umzubrechen. An die ganzen Wildtiere und vor allem die Insekten, die die Ackerblumen brauchen, hat er dabei leider nicht gedacht. Na ja, aber so kam ein Kind ans Licht, das man sonst vielleicht niemals gefunden hätte.«

»Das ist ja schrecklich. In der Pfalz, sagst du? Da wohne ich auch. Bist du denn da auch zuständig? Hat Rheinland-Pfalz keine eigenen Pathologen?«

»Doch natürlich, die hocken in Mainz an der Uni. Aber erstens ist dort gerade Personalmangel, weil ein Kollege vor kurzem in Rente gegangen ist und außerdem bin ich so etwas wie eine Knochenkoriphäe.«

»Interessant. Paläontologe?«

»Versteinert sind die Knochen zum Glück noch nicht. Aber es scheint einige Besonderheiten zu geben, darum hat die zuständige Kollegin, die mir am Telefon etwas überarbeitet erschien, einfach mal alles zu mir nach Frankfurt schicken lassen.«

»Wo in der Pfalz war das denn? Ich hab noch gar nichts darüber gehört. Ich hoffe nicht bei uns in der Nähe.«

»Wundert mich nicht, die Knochen wurden erst am Freitagmorgen gefunden, in einem ganz kleinen Kaff namens Waldbergen.«

Fiona fiel die Kinnlade herunter und sie starrte Jens mit offenem Mund an.

6.

Die Mädchen liefen Hand in Hand über die große Wiese am Dorfrand. Die anderen Kinder spielten Ball, doch dazu hatten die beiden heute keine Lust. Meist waren die Jungs aus dem Dorf auch zu grob beim Abwerfen und besonders Erna, die jüngere und zartere von beiden, fürchtete sich ein wenig vor dem Spiel. Daher hatte sie der Freundin vorgeschlagen, bei dem schönen Wetter lieber einen Korb voller Blumen zu pflücken, um später kunstvolle Kränze daraus zu flechten. Feodora hatte zugestimmt, denn sie wusste, dass Ballspiele nicht die Lieblingsbeschäftigung von Erna waren. Fast zwei Jahre kannten die beiden sich jetzt schon, da lernte man so einiges über den anderen. Beide Kinder kamen aus der Großstadt und waren zu Verwandten aufs Land verbracht worden, um sie vor den regelmäßigen Bombenangriffen zu schützen, die in vielen Städten an der Tagesordnung waren. Feodora kam aus Frankfurt, während Erna im Ruhrgebiet aufgewachsen war, eine Gegend, in der eine Stadt nahtlos in die nächste überging und daher fraglos als größte Stadt im ganzen Land bezeichnet werden konnte. Mit ihrem Schicksal waren die beiden nicht alleine. In dem kleinen Dorf, in dem sie gelandet waren, gab es sogar ein Kinderheim, in dem Kinder aus ganz Deutschland aufgenommen und versorgt wurden. Wobei die Versorgung sich hauptsächlich auf regelmäßige, wenn auch spärliche Mahlzeiten und den Schulbesuch beschränkte. Erna und Feodora hatten da schon ein wenig mehr Glück gehabt, da beide privat untergebracht waren. Feodora bei Onkel und Tante, der Schwester ihrer Mutter, und Erna bei der Patentante ihres Vaters, von dem die Familie zur Zeit nicht viel mehr wusste, als dass er an der Ostfront stationiert war.

Den Krieg versuchten die Kinder, so gut es ging, aus ihren Gedanken zu verdrängen. Hier auf dem Land gelang das auch manchmal. Nur gelegentlich sah man Flugzeuge am Himmel, die die Wälder und das Dorf, das in ihnen versteckt lag, überquerten. Wohin sie flogen und was ihre Mission war, davon ahnten die Mädchen nichts. Erna wusste nur, dass ihr Vater Fallschirmjäger war, daher stellte sie sich manchmal vor, er würde in einem der Flugzeuge sitzen und über ihren Kopf hinweg fliegen. Was genau die Aufgabe eines Fallschirmjägers war, konnte sie nicht sagen, aber die Mutter hatte ihr erzählt, dass er in Flugzeugen flog und dann hinaussprang. Wie unglaublich mutig er sein musste!

Feodoras Vater war kein Soldat. Das Mädchen hatte ihrer neuen Freundin unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihr größtes Geheimnis anvertraut. Nämlich dass er sich die meiste Zeit in einem Keller versteckt hielt und höchstens nachts zu ihr, der Mutter und den beiden jüngeren Geschwistern nach oben in die Wohnung kam. Als Musiker war er früher häufig auf Konzertreisen unterwegs gewesen. Feodora hatte des Öfteren mit angehört, wie die Mutter den Nachbarn und auch zahlreichen Freunden und Bekannten versichert hatte, dass der Vater von der letzten Auslandsreise nicht mehr heimgekommen war. Doch das stimmte nicht. Er lebte versteckt vor der Welt im Keller. Irgendwann hatte die Mutter ihre Tochter dann unter Tränen in einen Zug gesetzt, der sie zur Tante bringen sollte, nicht ohne ihr vorher nachdrücklich einzubläuen, dass sie niemals über ihren Vater reden durfte. Das fiel Feodora sehr schwer. Sie liebte ihren Vater und vermisste ihn schrecklich, fast noch mehr als die Mutter. Am meisten fehlte ihr das gemeinsame Musizieren, eine Sache, die die beiden ganz besonders verband und die sie mit niemandem sonst teilen konnte. Bereits im Alter von fünf Jahren hatte der Vater ihr ihre erste kleine Harfe geschenkt und trotz der Kriegswirren eine Lehrerin für sie ausfindig machen können. Unsere heile Welt, hatte er das Musizieren mit der Tochter genannt, wenn Feodora auf ihrer Harfe spielte und er sie auf seiner Geige begleitete. In ihrem letzten gemeinsamen Jahr in ihrem Frankfurter Haus, hatte er nur noch sehr, sehr leise auf seiner Geige gespielt, aus Angst, dass man ihn draußen hören könnte. Da war er zum Meister der leisen Töne geworden. Feodoras einziger Trost war die Tatsache, dass sie ihre Harfe hatte mitnehmen können in das Haus von Tante und Onkel. Und sie übte täglich mindestens eine Stunde lang, damit ihr Vater ihre Fortschritte loben konnte, wenn sie endlich wieder zusammen spielen würden. Das machte sie in den Augen aller anderen zu einem sehr exotischen Geschöpf. Niemand sonst im Dorf spielte Harfe. Der Onkel hatte anfangs sogar überlegt, ob er so ein teures Musikinstrument nicht irgendwo verkaufen könne. Glücklicherweise fehlten ihm dafür aber die richtigen Verbindungen. Die Tante, die ansonsten bei ihrem despotischen Ehemann nie viel zu melden hatte, hatte sich ausnahmsweise schützend vor die Nichte und ihre Harfe gestellt, so dass Feodora ihr Instrument doch behalten konnte.

Erna liebte es, Feodora beim Üben zuzuhören. Sie konnte eine ganze Stunde lang still da sitzen und nur den wundervollen Klängen lauschen, die die Freundin der Harfe entlockte. Dabei störte es Erna auch nicht, wenn sie manche Passagen unermüdlich wiederholte, bis sie ihr endlich gut genug erschienen. Erna fand alles, was sie hörte wunderschön, auch die Stellen eines Musikstücks, mit denen Feodora noch nicht vollends zufrieden war. Aber auf diese Weise schulte Erna, ohne dass sie es groß bemerkt hätte, ihr Ohr für den Klang klassischer Musik. Damit war der Grundstein gelegt für eine Vorliebe, die ein Leben lang halten sollte.

Feodora war eine ganz besondere Freundin.

Umso verstörender war es für Erna, als Feodora im März neunzehnhundertfünfundvierzig von einem Tag auf den anderen verschwunden war.

Erna erinnerte sich genau. Es war ein Freitagabend gewesen. Die ersten Strahlen der Frühlingssonne hatten die Kinder tagsüber nach draußen gelockt, wo sie mit den anderen Dorfkindern ihre üblichen Spiele gespielt hatten. Gegen Abend, müde von der frischen Luft und der Bewegung, wollte Feodora nach Hause, um auch noch auf ihrer Harfe zu üben. Erna hatte sie begleitet, in der Stube auf dem alten Sofa gesessen und andächtig dem Harfenspiel gelauscht, während ihr immer mal wieder die Augen zufielen. Bei den himmlischen Klängen hatte Erna von vielen kleinen Engeln mit großen weißen Flügeln geträumt, die auf Wattewolken saßen und die Mädchen zu sich heranwinkten. Fast ein wenig unheimlich war ihr der Traum damals gewesen, auch wenn die Engel lieblich anzusehen waren. Die dick mit Griebenschmalz bestrichenen Brote und zwei Gläser Milch, die Feodoras Tante kurz darauf für die Mädchen hereinbrachte, ließen aber schnell alle mulmigen Gefühle verblassen.

Nach dem Abendbrot begleitete Feodora die drei Jahre jüngere Freundin nach Hause. Ein kurzer Weg, aber Erna hatte sich immer ein wenig gefürchtet, alleine auf der Straße nach Anbruch der Dämmerung. Feodora war viel furchtloser gewesen als sie selbst. Die Mädchen hatten sich vor der Haustür umarmt und sich gleich wieder für den nächsten Morgen, der ja schulfrei war, verabredet, bevor Erna im sicheren Haus verschwand. Das war das letzte Mal, dass sie ihre Freundin gesehen hatte.

Erna erhob sich von ihrem Platz am Küchentisch und trug die Kaffeetasse und den kleinen Teller, auf dem ihre Apfelspalten gelegen hatten, zur Spüle, um beides in die halb gefüllte Spülmaschine zu räumen. Dann griff sie doch noch einmal zu der Zeitung, um den letzten kurzen Abschnitt unterhalb des Fotos von der Kette zu lesen. Dort stand geschrieben, dass die abgebildete Halskette und ein paar metallene Beschläge, die bei dem Skelett gefunden wurden und möglicherweise von einer Art Koffer stammen könnten, die einzigen Fundstücke neben den Knochen waren. Außerdem stand dort, dass die Polizei nicht viel Hoffnung hatte, diese menschlichen Überreste anhand der Fundstücke identifizieren zu können, da die Knochen nach ersten Einschätzungen des Pathologen schon sehr lange an diesem Feldrand begraben waren.

Das war korrekt. Erna wusste vermutlich auf den Tag genau, wie lange schon. Und sie sah den mit Leder bespannten Harfenkoffer mit seinen Kanten und Verschlüssen aus Messing noch genau vor ihrem inneren Auge. Fast so deutlich wie den Kettenanhänger.

Sie musste unbedingt die Polizei kontaktieren. Aber nicht jetzt, es war ja Wochenende. Außerdem konnte sie sich nicht mehr genau an den Namen dieses sympathischen Kriminalbeamten erinnern, der schon ein paarmal in ihrem Haus gewesen war, damals als es diesen Mord in Fionas Chor gegeben hatte. Mit ihm würde sie gerne über ihre Freundin Feodora reden. Hieß er nicht Baumeister?

Sie würde warten, bis Fiona morgen Abend heimkam. Ihre Tochter wusste, wie der Kommissar hieß und sie hatte bestimmt auch noch seine Telefonnummer. Nach so langer Zeit würde es auf ein oder zwei Tage mehr nicht ankommen. Auch wenn es Erna auf einmal so vorkam, als hätte sie sich erst vor kurzem von ihrer Freundin verabschiedet. Diese Reise in ihre Kindheit hatte sie doch sehr angestrengt. Ganz gegen ihre Gewohnheit würde sie sich besser noch einmal ein wenig hinlegen und ausruhen.

7.

»Baumann, Mama. Er heißt Carlo Baumann.«

Fiona und Falk waren am Sonntagabend wieder zu Hause in Waldbergen eingetroffen, weil Fiona für Montag Termine in der Praxis gemacht hatte. Die Tierarztpraxis war in ihrem Wohnhaus untergebracht und sie konnte ihre Arbeitszeiten frei gestalten, wenn sie nicht gerade Notfälle zu versorgen hatte, was auch häufig vorkam. Sie war noch ganz aufgekratzt von dem erlebnisreichen Wochenende bei Falk im Taunus und hatte schon auf der Rückfahrt überlegt, wie viel sie ihrer Mutter Erna über den Leichenfund erzählen sollte. Falk war der Meinung, man sollte die alte Dame besser mit den gruseligen Einzelheiten verschonen.

Doch als die beiden eintrafen, stellt sich diese Frage erst einmal nicht. Fiona war richtig erschrocken, als sie ihre Mutter sah. Erna saß alleine im dunklen Wohnzimmer in ihrem Lieblingssessel und starrte vor sich hin. Erst nachdem Fiona sie an der Schulter berührt und zum zweiten Mal angesprochen hatte, bemerkte Erna ihre Tochter. Fiona hatte ihre Hände genommen, die ganz kalt waren, und erschrocken gerufen »Mama, was ist denn mit dir.«

Falk war sogleich an ihrer Seite und hielt es für dringend erforderlich sofort den Puls der alten Dame zu überprüfen. Das schien ihn etwas zu beruhigen, denn er zog einen zweiten Sessel zu sich heran und setzte sich erst einmal. »Erna, ist was passiert?«, fragte auch er jetzt.

»Ist was mit den Kindern?«, fügte Fiona mit leicht schriller Stimme hinzu. Erst jetzt drehte Erna ihren Kopf zu Fiona und schien langsam wieder in der Gegenwart anzukommen.

»Nein, nein. Alles in Ordnung. Die Zwillinge sind oben. Connor ist nochmal weg zu einem Freund und die anderen beiden sind noch gar nicht zu Hause, haben aber angerufen und gesagt, dass sie später kommen. Aber ihr wisst wahrscheinlich noch gar nicht, was hier im Dorf passiert ist.«

In der folgenden Stunde saßen die drei zusammen im Wohnzimmer und unterhielten sich über Ernas Kindheitserinnerungen aus Kriegstagen. Fiona wusste natürlich, dass ihre Mutter als Kind schon einmal in diesem Dorf gelebt hatte. Schließlich hatte sie selbst das alte Bahnhofshaus übernommen, das sich bereits seit Generationen im Besitz von Ernas Familie befand. Die alte Bahnstrecke war schon lange stillgelegt und das Haus auch längst kein Gasthof mehr, so wie früher, als Erna zum ersten Mal hier gelebt hatte.

Fiona hatte sich sofort in den Pfälzer Wald und die ganze Gegend verliebt, als sie vor Jahren einen Mutter-Tochter-Urlaub mit Erna verbracht, und auf dieser Reise auch Waldbergen besucht hatte. Hier war Erna zur Zeit der Kinderlandverschickung während des Zweiten Weltkrieges im Haus ihrer Tante untergebracht. Das Bahnhofshaus war zum Zeitpunkt der Reise schon seit längerem unbewohnt und einem langsamen Verfall preisgegeben. Nach einigen Recherchen stand für Fiona fest, dass diese Gegend durchaus eine Tierarztpraxis gebrauchen könnte. Das Gebäude bekam sie für einen guten Preis von der Erbengemeinschaft, die alle entfernte Verwandte, und froh war, dass von nun an jemand anderes die Verantwortung für das Haus übernehmen würde. Was dann folgte, waren mehrere Jahre Renovierungsarbeiten, die im Übrigen bis heute anhielten. Doch Fiona liebte das alte Gemäuer und hatte es inzwischen zu einem Schmuckstück werden lassen, das für ihre Familie ein gemütliches zu Hause und zugleich ihre Arbeitsstätte geworden war.

»Und du bist ganz sicher, dass der Anhänger auf dem Bild in der Zeitung so aussieht, wie der von deiner Freundin Feodora?«, fragte Fiona ihre Mutter ein letztes Mal unnötigerweise.

Erna nickte gedankenverloren. »Ganz sicher. Ich habe nie wieder auch nur ein ähnliches Schmuckstück gesehen. Das kann kein Zufall sein, schon gar nicht, da das Skelett hier im Dorf gefunden wurde. Was ist nur mit dem armen Kind passiert?«

Darauf wusste Fiona leider keine Antwort und auch Falk zuckte nur ratlos mit den Schultern und antwortete: »Was auch immer passiert ist, irgendjemand hat sie dort im Feld begraben, soviel dürfte feststehen.« Am nächsten Morgen rief Fiona als erstes Carlo Baumann von der Kriminalpolizei Ludwigshafen an. Seine Nummer hatte sie sogar noch in ihrem Handy gespeichert. Das lag daran, dass sie ihn Anfang des Jahres bei dem Mord an einem ihrer Chormitglieder kennen gelernt hatte. Kommissar Baumann hatte damals die Ermittlungen geleitet und war in dieser Funktion sogar häufiger zu Befragungen in ihrem Haus gewesen. Fiona hatte zu der Zeit den Eindruck, dass ihn nicht nur der Fall der ermordeten Freundinnen in ihr Haus getrieben hatte. Aber nachdem der Täter gefunden war, hatte der Kommissar ganz plötzlich den Kontakt zu ihr abgebrochen, obwohl sie sich ein oder zweimal sogar eher privat getroffen hatten. Beim letzten Mal abends auf ihrer Terrasse zu einem Glas Wein, alkoholfreiem Bier und einem angeregten Gespräch, das ihr noch gut in Erinnerung war. Das war der Abend gewesen, an dem der Täter ein allerletztes Mal zugeschlagen hatte. Die Ermittlungen konnten danach ad acta gelegt werden. Zwei Tage später hatte der Kommissar ein höfliches, aber doch sehr kurz angebundenes und geschäftsmäßiges Telefonat mit ihr geführt, um sie kurz über den Stand der Dinge zu informieren. Seitdem hatte er sich nie wieder bei ihr gemeldet. Vielleicht hatte Fiona doch zuviel in ihre Spaziergänge und Unterhaltungen hineininterpretiert und Carlo Baumanns Aufmerksamkeit ihr gegenüber war rein beruflicher Natur gewesen. Anfangs war sie etwas traurig über dieses abrupte Ende und hatte die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass er sich nach einer gewissen Zeit vielleicht doch noch einmal bei ihr melden würde, aber inzwischen waren Monate vergangen. Sie hatte den Kommissar durchaus interessant und auch attraktiv gefunden, aber gleichzeitig vermutet, dass er im zwischenmenschlichen Bereich kein einfacher Zeitgenosse war. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die jede Bemerkung dreimal hin und her wendete und endlos über die einzig wahre Bedeutung grübelte. Vielleicht machte gerade das einen guten Ermittler aus? Vermutlich stand ihm diese Eigenschaft in seinem Privatleben gerne mal im Weg.

Die aufregenden Ereignisse, in die Fiona im Verlauf des Sommers verwickelt wurde und nicht zuletzt ihre neu gefundene Liebe, ließen sie den Kommissar aber dann doch fast vergessen. Bis jetzt. Jetzt war es vielleicht ganz gut, dass sie einen Ansprechpartner bei der Polizei hatten

Nach dem dritten Klingelton nahm er ihren Anruf auf seinem Mobiltelefon entgegen. Als Fiona gerade zu einer Begrüßung ansetzen wollte kam ihr der Kommissar zuvor:

»Frau Donelly, wie schön, dass Sie anrufen.«, sagte er, offensichtlich erfreut über Fionas Anruf. Fiona war für einen kurzen Moment verbüfft und zögerte kurz mit ihrer Antwort. Da hatte er doch ganz offensichtlch ihre Nummer auch in seinem Telefon gespeichert, sogar mit ihrem Namen.

»Frau Donelly, hören Sie mich?«

»Äh, ja, ja, entschuldigung. Ich war gerade kurz abgelenkt. Hallo Herr Baumann. Ich finde es auch schön, Sie am Telefon zu haben. Hab ja lange nichts mehr von Ihnen gehört.«

»Tja, also, ich hatte ziemlich viel zu tun in der letzten Zeit.«, stammelte er, wie es sich anhörte ein wenig verlegen. »Was verschafft mir denn die Ehre ihres Anrufs?«

Dass es jemanden gab, der so etwas heutzutage noch sagte.

»Es geht um den Zeitungsartikel, das Kinderskelett, das hier bei uns am Freitag ausgegraben wurde.«

»Ja, der erste Bericht darüber liegt schon auf meinem Schreibtisch. Und wie kann ich da jetzt weiterhelfen?«

»Ich denke es ist eher so, dass ich Ihnen vermutlich weiterhelfen kann. Beziehungsweise meine Mutter. Sie erinnern sich an Erna?«

»Selbstverständlich erinnere ich mich an Ihre Mutter. Wir hatten schließlich ein paar nette Gespräche miteinander.«

»Genau. Und jetzt würde sie sich gerne nochmal mit Ihnen unterhalten. Es geht um den Kettenanhänger, den man bei dem Skelett gefunden hat. Meine Mutter glaubt ihn zu kennen.«

Jetzt war der Kommissar am anderen Ende der Leitung kurz sprachlos, fing sich aber schnell wieder. »Nun ja, ehrlich gesagt ist dieses alte Skelett nicht ganz oben auf meiner Prioritätenliste, aber ich unterhalte mich natürlich gerne mit Ihrer Mutter. Soll ich vorbei kommen? Heute Mittag könnte ich es einrichten. Nach dem Essen, so um drei?«

»Ja gerne, wir sind alle hier. Dann bis später.«

Pünktlich um fünfzehn Uhr traf das Auto von Baumann auf Fionas Parkplatz ein. Fiona begrüßte den Gast schon vor der Haustür. Auch ihre Hunde erkannten den Mann, der einige Male mit ihnen und ihrem Frauchen im Wald unterwegs gewesen war, und freuten sich überschwänglich. Nach dieser Begrüßungszeremonie setzte sich die kleine Gruppe Richtung Küche in Bewegung, wo der Rest der Familie noch versammelt war. Den Tisch hatten sie zwar schon abgeräumt, aber danach waren alle Kinder an ihre Plätze zurückgekehrt, um gespannt darauf zu warten, was ihre Oma erzählen würde. Sie wussten, dass der Besuch des Kommissars etwas mit der neusten Sensation im Dorf zu tun hatte. Was genau hatte Erna bisher verschwiegen, da sie die Geschichte nicht fünf Mal einzeln erzählen wollte und deshalb alle auf die Ankunft von Herrn Baumann vertröstet hatte.

»Wow, was für ein Empfangskommitee.«

Fiona merkte, wie ihr Gast ganz leicht in der Küchentür zögerte, als er aus mindestens sieben Augenpaaren angestarrt wurde. Sogar die Katzen hatten es sich auf den Küchenbänken und Kissen gemütlich gemacht und blickten nun zum Eingang.

»Die Kinder sind neugierig denn meine Mutter hat gestern Abend nur Falk und mir ihre Geschichte erzählt.«, erklärte Fiona in einem entschuldigenden Ton. »Herr Baumann, das ist Falk von Auwald.« Mehr sagte sie nicht zur Erklärung von Falks Anwesenheit beim Mittagessen der Familie. Falk erhob sich kurz von seinem Stuhl und streckte Baumann seine Hand zur Begrüßung über den Tisch entgegen, die dieser mit leicht angehobenen Augenbrauen ergriff. Danach schüttelte er mit einer angedeuteten Verbeugung Ernas Hand und sagte »Frau Wagenscheid.«

Was für ein gutes Gedächtnis, dachte Fiona, dass er sich sogar an Ernas Nachnamen erinnerte. Oder hatte er vielleicht vor seinem Besuch hier noch einmal die Akte zur Hand genommen, die zum Mord an ihren Mitsängerinnen gehörte? Diese schreckliche Geschichte, bei der sie den Kommissar überhaupt erst kennen gelernt hatten, war ihr immer noch lebhaft in Erinnerung. Das hatte Fionas Chorgemeinschaft im Frühjahr ganz schön aufgewühlt. Inzwischen hatten sich die Wogen wieder geglättet, aber die Erinnerungen an ihre beiden ermordeten Chormitglieder blieben bestehen.

»Ich weiß, dass Sie die Zwillinge bereits kennen gelernt haben, aber haben sie eigentlich den Rest der Familie auch schon getroffen?«, fragte Fiona. »Das sind Connor, mein Ältester, Sybil und Miranda. An Lena und Helen, unsere Starpianistinnen, werden sie sich erinnern.« Baumann hatte damals eine längere Unterhaltung über klassische Musik mit den beiden geführt.

»Natürlich.«, erwiderte Baumann. Mit einem »Hallo zusammen.«, grüßte er in die Runde. Dann richtete er seinen Blick erneut auf Falk. »Und Sie gehören auch zur Familie?«, fragte er unverfänglich.

Fiona entging nicht diese winzige Verschiebung der Energien in der Küche. Testosterone trafen aufeinander und sondierten das Terrain. Fiona, als aufmerksame Beobachterin, konnte förmlich spüren, wie sich die Körper der beiden erwachsenen Männer im Raum minimal streckten und das Blut ein wenig schneller durch ihre Adern floss. Sollte sie sich am Ende doch nicht in den Absichten des Kommissars getäuscht haben? Aber vielleicht bildete sie sich das auch alles nur ein, eitel wie sie war.

»Nicht direkt.«, erwiderte Falk. »Fiona und ich kennen uns erst seit diesem Sommer.«

Dass sie sich in einem Hotel im Schwarzwald unter dramatischen Umständen, bei denen sie gemeinsam den sicheren Tod einer jungen Frau verhindern konnten, kennen gelernt hatten, erwähnte er nicht. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«, fügte er noch hinzu, was die Machtverhältnisse an diesem Tisch ganz klar zu seinen Gunsten bestimmte. Fast hätte Fiona gelacht. Lag es an Falks adeligem Hintergrund, oder seinen erstklassigen Manieren, aber diese Runde ging schon mal an ihn.

Erna und die Kinder hatten von all dem nichts mitbekommen. Erna war schon den ganzen Tag in sich gekehrt und still gewesen, während die Kinder bereits mehrmals über die Herkunft des Skeletts im Feld wild spekuliert hatten. Jetzt, nachdem der Kommissar ihre Oma aufgefordert hatte, ihre Geschichte zu erzählen, saßen alle ganz still und hörten zu.

8.

Seit Theresa am Donnerstag mit Gerd Rieser gesprochen hatte, beschäftigte sie dieser Besuch. Schließlich hatte sie Max gebeten, am Sonntagnachmittag einen kleinen Spaziergang mit ihr zu unternehmen. Sie wollte gerne zum Hof der Riesers wandern, um die Gebäude und auch die Felder noch einmal zu begutachten, wenn auch nur aus der Ferne. Max hatte vorgeschlagen, lieber die Fahrräder zu nutzen, dann würden sie das Gelände deutlich schneller umrunden können.

Seit drei Tagen überlegte sie jetzt schon, wie sie es am besten anstellen sollte, erneut Kontakt zu den Rieser-Brüdern aufzunehmen. Am Freitag hatte sie ein altes Telefonbuch gewälzt und dann auch die Nummer gewählt, die sie dort gefunden hatte. Eigentlich hatte sie einen Termin zur Besichtigung der Gebäude vereinbaren wollen, aber eine Bandansage der Telekom verriet ihr, dass diese Nummer nicht vergeben sei. Wie es aussah, hatten die Riesers keinen Festnetzanschluss mehr. Das war heutzutage gar nicht so ungewöhnlich, vor allem, wenn die alte Frau Rieser nicht mehr auf dem Hof lebte. Viele Leute begnügten sich inzwischen mit ihren Mobiltelefonen. Leider war es deutlich schwieriger, da eine Nummer in Erfahrung zu bringen. Theresa machte sich eine Notiz in ihrer frisch angelegten Rieserakte, dass sie sich bei ihrem nächsten Besuch nach der Verfügbarkeit vom Internet erkundigen musste. Ein fehlender Internetanschluss war auf jeden Fall wertmindernd für die Immobilie. Allerdings würden im Zuge der Erschließung des Neubaugebietes auch neue Leitungen verlegt werden müssen, da könnte man den Rieserhof vielleicht mit anhängen. Am Montag würde sie im Bauamt anrufen und nachfragen, ob schon Pläne dahingehend zur Verfügung standen. Ein neues Glasfaserkabel wäre natürlich optimal. Solche Dinge sollte man ihrer Erfahrung nach so früh wie möglich in die Planung mit einbeziehen, das ersparte hinterher oft Ärger und unnötige Kosten. Auch dazu machte sie noch schnell eine Notiz auf ihrer to do Liste für die nächste Woche.

Heute würden sie sich das Ganze auf jeden Fall noch einmal unverfänglich aus der Ferne ansehen und vielleicht ergab sich ja auch zufällig ein Gespräch mit den Brüdern. Darauf hoffte sie insgeheim, da sie sich ein wenig gruselte bei der Vorstellung, alleine zum oder vielleicht sogar ins Haus zu gehen, um mit Gerd und Manfred zu reden. Mit Max an ihrer Seite wäre es deutlich entspannter.

Nach dem Mittagessen, dass sie, wie oft an einem Sonntag zusammen mit Theresas Eltern eingenommen hatten, machten sie die Räder startklar. Nachdem sie kurz abgestaubt und mit frischer Luft in den Reifen versehen waren, schwangen sich die beiden in die Sättel. Max trug den kleinen Wanderrucksack mit etwas Proviant und zwei Wasserflaschen auf dem Rücken. Theresa hatte auch nicht vergessen, noch ihre Digitalkamera dazu zu packen. Die machte mit einem Teleobjektiv aus der Entfernung bestimmt bessere Bilder als ihr Handy.

Zwanzig Minuten später hatten sie, leicht außer Atem, ihr Ziel erreicht. Die hügelige Landschaft des Taunus hatte es an manchen Stellen in sich, zumal weder Max noch sie selbst den Luxus eines Elektromotors an ihrem Rad genießen konnten. Theresa hielt sich auch für viel zu jung und zudem sportlich genug, um schon auf solche Hilfsmittel beim Radfahren zurückzugreifen.

Am klapprigen Tor, durch das Theresa vor ein paar Tagen den Garten betreten hatte, angekommen, hielten sie an und stiegen ab. Das Wohnhaus wirkte genauso unbewohnt und wenig einladend wie bei ihrem letzten Besuch. Auch hatte sich am Zustand der Vermüllung des Geländes noch nichts geändert. Ehrlich gesagt hatte Theresa das auch nicht erwartet. Falls die Brüder ernsthaft an einen Verkauf des Hauses dachten, würde sie vielleicht selbst aktiv werden und die Entrümpelung organisieren müssen. Aber mit Sicherheit erst, nachdem entsprechende Verträge unterschrieben waren. Theresa wusste, dass in manchen Fällen mehr als das übliche Maß an Einsatz nötig war, um Verkäufe einigermaßen zügig über die Bühne zu bringen. Aber so weit waren sie hier noch lange nicht.

Nachdem sie einen Moment verharrt hatten, um den Anblick des Grundstücks auf sich wirken zu lassen, meinte Max: »Komm, wir schieben ein Stück.«

Langsam passierten sie das Gartengelände entlang des morschen Zauns. Wie beim letzten Mal hatte Theresa das unbestimmte Gefühl, vom Haus aus beobachtet zu werden, auch wenn sie keinerlei Bewegungen hinten den Fenstern ausmachen konnte. Am Ende des Zauns angekommen blieb Max erneut stehen.

»Eigentlich kein schlechtes Fleckchen Erde, wenn man sich den ganzen Müll mal wegdenkt. Da könnte man was draus machen.«

»Schon, aber in die Gebäude muss ganz schön investiert werden. Ich glaube kaum, dass das Wohnhaus isoliert ist. Und sieh dir mal das Dach an. Das gehört auf jeden Fall neu gedeckt.«, bemerkte Theresa mit fachfraulichem Blick. »Die Scheune ist genauso baufällig und sogar nur mit Wellblech eingedeckt. Die könnte man höchstens noch als Garage nutzen. Oder vielleicht wieder als Stall.« Theresa runzelte kurz die Stirn, bevor ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht erschien. »Ja, das ist vermutlich der beste Ansatz. Pferdehaltung möglich. Die Leute sind verrückt nach Grundstücken, auf denen sie gleichzeitig ihre Pferde halten können. Und Weiden inklusive. Dass mir das nicht sofort eingefallen ist. Vielleicht entpuppt sich dieser marode Hof doch noch als wahre Goldgrube. Ich muss dringend nochmal mit den Brüdern sprechen.« Theresa war plötzlich ganz aufgekratzt vor lauter Tatendrang.

»Lass uns erst nochmal das gesamte Areal umrunden. Deswegen haben wir doch extra die Räder mitgenommen.«, meinte Max und schwang sich wieder in seinen Sattel. Ohne Eile fuhren sie an ein paar Feldern entlang, zum Teil Ackerland, das um diese Jahreszeit natürlich schon abgeerntet war. Bei anderen Flächen, die näher am Haus lagen, handelte es sich um brach liegende Wiesen, die zum Teil mit Elektrozaun umgeben und Rindern bestückt waren. Theresa bat Max, noch einmal anzuhalten. Zusätzlich zur Kamera hatte sie einen Flurplan im Rucksack verstaut. Beides kramte sie nun hervor, um sich zu vergewissern, dass sie auch die richtigen Grundstücke in Augenschein nahmen. Aber sie hatte die ganze Gegend bereits vorher mit einem der beiden anderen Klienten besichtigt, sie kannte die Flächen. MIt diesem sicheren Abstand zum Haus der Riesers machte sie nun ein paar Aufnahmen vom Hof und den Wiesen, die direkt an den Garten und die Scheune angrenzten. Währenddessen breitete Max die mitgebrachte Picknickdecke auf einer Wiese neben dem Weg aus und holte die Wasserflaschen, Äpfel und Kekse aus dem Rucksack.

»Ich finde es wirklich sehr schön hier.«, sagte er zu Theresa, nachdem sie sich auf der Decke niedergelassen hatten. »Schau mal, was für eine Aussicht. Die ist mir schon vorhin am Hof aufgefallen.«

Das stimmte natürlich. Von hier aus konnte man sanfte Hügel, zum Teil bewaldet und in der Ferne sogar die Skyline von Frankfurt sehen.

»Vielleicht sollten wir den Hof kaufen.«, meinte er mit einem scherzhaften Unterton, aber Theresa spürte, dass er auf ihre Reaktion gespannt war. »Ein bisschen mehr Platz könnte ja nicht schaden, vor allem wenn du bald dein Büro vergrößern must, bei all der Arbeit, die dir bevorsteht. Für Kinder wäre der Garten auch ideal.«

Theresa antwortete nicht sofort. Erst ließ sie Max Worte auf sich wirken. Dass er Kinder erwähnte, machte ihr keine Angst, sie wünschten sich beide welche, wenn die Zeit gekommen war. Darüber hatten sie schon häufiger gesprochen. Was den Platzbedarf anging, hatte er auch recht, momentan wohnten sie schon ziemlich beengt. Und ihre Eltern waren trotz des fortgeschrittenen Alters erstaunlich flexibel. Theresa würde sich nicht wundern, wenn sie nichts gegen einem Umzug hätten, um mit Max und ihr und dann vielleicht ihren Enkeln in ein neues, größeres Haus zu ziehen. Und trotzdem sträubte sich sofort alles in Theresa, als sie zum Hof hinüber blickte. Es war nicht der Gedanke an einen Umzug, es war dieses Haus.

»Max, ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Du hast schon recht, wir könnten mehr Platz gebrauchen, aber nicht in diesem Haus. Ich habe zwar noch nicht einmal einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, aber ich habe davor gestanden und hinein gesehen. Da ist es wirklich gruselig, glaub mir.«

»Gruselig? Seit wann gruselt es dich? Du lässt doch keinen Horrorfilm im Fernsehen aus. Und da gruselt es dich vor einem Haus?« Max schaute seine Freundin, die er sehr gut zu kennen glaubte, erstaunt an.

»Es wäre mir sehr lieb, wenn du mich bei meinem nächsten Besuch dort begleiten würdest, dann merkst du vielleicht auch, was ich meine. Und wenn nicht muss ich wenigstens nicht noch einmal alleine da hin. Schon als ich den ersten Schritt in den Garten gemacht hatte, hatte ich ein ganz komisches Gefühl. Und das ist mit jeder Minute, die ich vor der Tür gewartet habe schlimmer geworden. Genau genommen war ich froh, dass Gerhard mich nicht hineingebeten hat. Ich dachte erst es wäre Gerd, der mir Angst gemacht hat, aber das stimmt so gar nicht. Es war das Haus.«

»Jetzt mach aber mal ´nen Punkt. Du bist Immobilienmaklerin, du hast keine Angst vor Häusern. Das wäre wirklich kontraproduktiv und sehr berufsschädigend. Das wäre ja genauso als würde ich eine Vollernterphobie entwickeln.«, versuchte Max zu scherzen, um diesem Sonntagnachmittag seine ursprüngliche Leichtigkeit zurückzugeben.

»Ich habe ja auch keine Angst vor Häusern, ich habe nur Angst vor diesem Haus. Oder besser gesagt in diesem Haus. Obwohl ich noch nicht mal drin war. Ach ich weiß auch nicht. Komm einfach nächstes Mal mit, dann weißt du was ich meine.« Natürlich war längst nicht gewiss, dass Max das gleiche unheimliche Gefühl beschleichen würde. Sie würde abwarten müssen, ob er es auch spürte. Aber hier würde sie mit Sicherheit nicht leben wollen, so viel stand fest.

Nach dieser kleinen Verschnaufpause setzten sie ihren Weg um die Felder fort und landeten kurze Zeit später am Nachbarhof, einem deutlich einladenderen Anwesen, als das, was sie zuvor begutachtet hatten. Der Hausherr, den Theresa seid Kindheitstagen kannte, spielte im Hof mit seinen zwei Enkeln Fußball. Sie hielt an und stieg vom Rad. Max tat es ihr nach und sah sie dabei bedeutungsschwer an. Theresa musste lachen, denn sie wusste genau, was er gerade dachte. Genau so stellte er sich das Hofleben vor. Opa und Enkel spielen am Sonntag im Garten. Idyllisch. Natürlich wusste auch Max, dass das Leben eines Bauern an allen anderen Tagen ein Knochenjob war. Und selbst am Sonntag mussten die Tiere versorgt werden. Doch jetzt gerade hatte Bauer Steiger die Muße, um mit seinen Enkelkindern zu spielen.

»Theresa, wie schön! Kommst du uns besuchen?«, sprach er die langjährige Freundin seiner Tochter erfreut an. Dabei trat er aus dem Hoftor, nahm die Angesprochene kurz in den Arm und reichte Max die Hand. »Hallo Max. Na, hast du gerade irgendeinen richtig großen Traktor im Sommerschlussverkauf?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.

»Wieso, brauchst du einen? Ich müsste nachsehen. Bei uns steht bestimmt noch irgendwo ein Ladenhüter herum, den mein Chef dringend loswerden muss.«, erwiderte Max, ganz der passionierte Landmaschinenverkäufer.

»Schauen wir mal. Wollt ihr Kaffee? Ich wollte gerade reingehen und sehen, ob er schon fertig ist. Margret hat Kuchen gebacken. Sophie ist leider gerade nicht da.«, meinte er mit einer Spur von Bedauern in der Stimme zu Theresa gewandt. »Sie hat heute Morgen die Kinder bei uns abgeladen und ist dann mit Micha losgezogen, um den Tag in Frankfurt zu verbringen. Sie bräuchten mal wieder etwas Kultur, hat sie gesagt, damit Micha nicht völlig verbauern würde. Frechheit. Als wenn ich keine Kultur hätte. Nur weil ich mir nicht jedes Mal die neuste Ausstellung in der Schirn ansehe.«, meinte er, schon wieder mit einem Augenzwinkern. Theresa lachte. Sophie war ihre Freundin aus Kindheitstagen und Micha, ihr Mann, arbeitete seit der Hochzeit zusammen mit seinem Schwiegervater auf dem Hof. Das funktionierte wunderbar, obwohl, oder vielleicht gerade weil, die junge Familie nicht mit auf dem Hof wohnte, sondern zwei Kilometer entfernt ihr eigenes Heim hatte.

»Geht doch schon mal rein zur Oma und sagt, sie soll noch zwei Teller mehr auf den Tisch stellen. Wir haben Besuch.«, scheuchte der Bauer die Kinder vor sich her ins Haus. Nachdem die beiden johlend abgezogen waren, vermutlich voller Vorfreude auf den in Aussicht gestellten Kuchen, blieb ihr Opa wieder stehen. »Habt ihr schon gehört, was bei uns gestern passiert ist?«, fragte er seine Gäste, nicht ohne sich noch einmal zu vergewissern, dass die Jungs bereits außer Hörweite waren.

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