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Feilkode 418

EST MAGICAE

EST MAGICAE · Romane

Ein Junge in ärmlichen Verhältnissen entdeckt eines Tages besondere Fähigkeiten in sich. Er zieht aus, um sich seinem Schicksal zu stellen.

Hva vil du med boka?

Worum geht es in: ›EST MAGICAE‹? Der junge Gerbergeselle Jakob lebt ein entbehrungsreiches und hartes Leben im ausgehenden elften Jahrhundert. Der brutale Alltag als Leibeigener in einer Gerberei ändert sich jedoch plötzlich als seltsame Fähigkeiten in ihm erwachen. Zusammen mit einem fahrenden Magister begibt er sich auf eine lange Reise. Nach einigen Abenteuer kommt Jakob schließlich in Merseburg an. Hier gilt er für ihn, sich nicht nur seinen neuen Fähigkeiten zu stellen. Im Haus des Ratsherren muss er alles wagen, um nicht nur sein Leben zu retten. Mit welchem anderen Buch kann man ›EST MAGICAE‹ vergleichen? In einer Reihe mit vielen anderen Fantasyromane folgt man dem Protagonisten in einer Coming-of-Age-Geschichte. Einige Anleihen findet man in den bekannten Märchen der Sammlung der Gebrüder Grimm – gepaart mit beginnender Magie ala ›Grishaverse‹. Zeitgleich steckt auch genug Historiendrama darin, um in einer Welt wie der ›Wanderhure‹ spielen zu können. Was macht ›EST MAGICAE‹ so besonders? ›EST MAGICAE‹ spielt in einer ›Was-wäre-wenn‹-Welt. Die Zeit von vor 1.000 Jahre ist eher nur bruchstückhaft überliefert. Diese Lücken fülle ich mit Fantasy aus. Die Geschichte ist in sich abgeschlossen. Die meisten heutigen Fantasyromane sind längere Reihen. Vermehrt wünschen sich Leser jedoch einzelne für sich stehende Geschichten. Es spricht durchaus auch jüngerer Leser an.

Om forfatteren

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In einer kalten verschneiten Februarnacht 2014 fing Marcus Wächtler an, munter draufloszuschreiben. Seitdem hat er damit nicht mehr aufgehört. Allerdings beschränkt sich Wächtler nicht nur auf ein b...

Der Hof

 

War er noch am Leben?

Vorsichtig versuchte Jakob, seine Augen offen zu bekommen. Die Lider waren jedoch so unendlich müde und schwer. Überhaupt alles in ihm weigerte sich, funktionieren zu wollen. Nichts gehorchte ihm, wie es das eigentlich sollte. Wenn er aber tatsächlich noch lebendig war – warum? Was hatte er Gott getan, dass dieser ihn nicht zu sich rufen wollte? War das alles hier eine Strafe für etwas, an was er sich nicht erinnern konnte? Stimmte es vielleicht, was ihm Wirich einmal erzählt hatte: Musste er wegen den Sünden seiner Eltern all das hier erdulden? Auf ewig?

Eine fast schon zärtlich Berührung an seinem Arm rückte die Wirklichkeit immer mehr nach vorn. Ja, offensichtlich lebte er noch. Zunehmend nahm er sogar Geräusche wahr. Sehr zu seiner Enttäuschung war es der typische Lärm, den er nur zu gut kannte. In Jakob machte sich unvermittelt eine alles erdrückende Niedergeschlagenheit breit. Er war nach wie vor auf dieser Welt. Dabei hatte er doch bereits im Sterben gelegen. Eigentlich hätte er sich längst bei seinem Heiland Jesus Christus im Himmel befinden müssen. Das war es, weswegen die Menschen hier so viel Elend auf sich nahmen. Später sollte es ihnen allen besser ergehen. All das Leid, die Schmerzen und Demütigungen würden endloser Verzückung und dem ewigen Leben im Paradies weichen.

»Jakob, bist du wach? Ist alles gut mit dir?« Die zarte Berührung an seinem Arm verstärkte sich zu einem sanften Rütteln.

Es kostete ihn alle Kraft, nun doch die Augenlider zu öffnen. Nur ein Stück weit. Obwohl er in einer düsteren Baracke lag, stach das Licht schmerzhaft in seinen Pupillen. Die Arme zu erheben, um sich abzuschirmen, konnte er aber auch nicht. Selbst für diese einfache Geste war er viel zu schwach.

»Jakob, du lebst! Sag bitte etwas.«

Statt einer Antwort verließ nur ein müdes Krächzen seinen ausgedörrten Hals. Zunehmend gesellte sich zu alle den Schmerzen und Unannehmlichkeiten weitere Leiden hinzu. Es gab praktisch keine Stelle an seinem Körper, die ihm nicht unerträglich wehtat. Allein seine Kehle fühlte sich so an, als hätte er ein Pfund Schleifsand verschluckt.

»I … Ic … Wa … Wass …« Er schaffte es nicht, auch nur ein vernünftiges Wort zu formulieren. Die Zunge klebte am Gaumen peinigend fest.

Statt einer Antwort spürte er, wie sich eine Hand in den Nacken legte, um seinen Kopf zu stützen und leicht hochzudrücken. Bereits kurze Zeit später ran kaltes klares Wasser seinen Hals hinab. In dem Augenblick fühlte es sich für Jakob so an, als wäre es der süßeste und himmlischste Geschmack auf der Erde. Er glaube, noch nie zuvor etwas derartig Leckeres genossen zu haben.

»Bit … Bitte, mehr«, schaffte es Jakob endlich, sich verständlich auszudrücken.

»Ja, gleich. Ich hol dir Neues.« Schon entfernte sich die Stimme. »Bin gleich wieder da. Versprochen.«

Erneut hob Jakob seine Lider ein Stück weit. Diesmal ging es besser. Er konnte einen Schemen sehen, der davonrannte. Den Sprecher kannte er auf jeden Fall. Eigentlich konnte es nur Schie sein, der sich hier um ihn kümmerte. Auf der anderen Seite war es Tag. Entsprechend konnte Jakob sich nicht erklären, weshalb Meister Walram Schie erlaubt hatte, von der Arbeit wegzubleiben, um sich um ihn zu kümmern. Erst recht nicht nur wegen ihm.

Sonderlich lange konnte Jakob den Gedanken aber nicht festhalten. Viel zu sehr plagten ihn unerträgliche Schmerzen. Wirr blitzten verschieden Erinnerungen in seinem Kopf auf. Was war davon Traum, Albtraum und was Realität? Nun war er aber wenigsten in der Lage, mit leisem Stöhnen sein Leid nach Außen kundzutun. Den Versuch, sich aufzusetzen, musste Jakob jedoch gleich wieder abbrechen. Selbst für diese einfache Bewegung fehlte ihm gänzlich die Kraft. Mehr als nur dazuliegen, war ihm nicht möglich.

Stattdessen dämmerte er erneut in eine Art Ohnmacht hinüber. Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Allerdings spürte er abermals, wie eine Hand in seinen Nacken griff, um ihn leicht aufzurichten. Wiederum fühlte er das köstliche Nass auf seinen Lippen. Gierig versuchte Jakob, jeden einzelnen Tropfen aufzunehmen. Es verlangte ihn nach der Flüssigkeit wie nach neuem Leben.

Zu seiner Überraschung wurde das Gefäß mit dem Wasser unvermittelte zur Seite gestoßen. Zugleich spürte er den harten Griff eines Menschen, der ihn an seinen schwarzen Haaren nach oben zog. Jakob hatte gar keine andere Wahl, als der brutalen Aufforderung nachzukommen. Obwohl er eigentlich keine Kraft dafür hatte, folgte er der schmerzhaften Behandlung und setzt sich auf.

Zwei nicht minder derbe Schläge in sein Gesicht rüttelten ihn nun gänzlich auf. Allein die Wucht reichte aus, ihm die Tränen in die Augen zu treiben. Nichtsdestotrotz öffnete er deswegen seine Lider. Mehrfach war Jakob gezwungen zu blinzeln, um sich zurechtzufinden. Sehr zu seiner Verwunderung war die zugige Baracke mit einer ganzen Schar von Menschen gefüllt. Mehr als alles andere erkannte er jedoch Meister Walram, der ihn nach wie vor am Haar in einem unnachgiebigen Griff festhielt.

»Bist du kleine Assel etwa tatsächlich noch am Leben?« Die Stimme des Meisters erklang nun an seinem Ohr – hart und mitleidslos.

Statt eine Antwort konnte Jakob den Mann nur verständnislos anschauen. Was wollte der Meister von ihm? Arbeiten konnte Jakob in seinem Zustand wohl kaum. Selbst wenn der Meister ihn hier und jetzt totprügeln würde, wäre Jakob nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren.

»Heh, was ist? Kannst du noch reden? Ist da drin jemand wach? Oder soll ich dich direkt in die Jauchegrube werfen?« Untermalt wurden die Fragen von einem groben Schütteln des Meisters. Unverändert hatte dieser seine Hand in Jakobs Haarschopf schmerzhaft verkrallt.

»Ic … Ich b … Ich bin noch am Leben, Meister.« Jakob gelang es nur unter Mühe, diese Entgegnung herauszustammeln.

Meister Walram ließ ihn daraufhin los. Jakob stürzte unvermittelt auf sein Lager aus dreckigem Stroh und alten Lumpen zurück. In der Lage, sich halbwegs abzufangen, war er nicht. Mehr aus Reflex als tatsächlich bewusste Handlung zog er einen dünnen Fetzen über seinen ausgemergelten Körper, um sich notdürftig zu bedecken.

»Wer hätte das gedacht, dass in dieser dürren Assel so viel Lebenswillen steckt. Es sieht so aus, als würde der Schandbalg wahrhaftig durchkommen. Vielleicht ist dieser Bastard doch noch zu etwas nütze.« Meister Walrams Stimme klang in keiner Weise wütend, weil Jakob zu krank war, um arbeiten zu können. Eher im Gegenteil. »Hartmut, du alter Nichtsnutz. Wo steckst du schon wieder? Her mit dir, du fauler Lump.«

»Hier, Meister.« Der Gerufene kam mit gesenktem Kopf näher.

Jakob hatte sich in der Zwischenzeit soweit erholt, dass er dem Geschehen von seinem Lager aus halbwegs folgen konnte. Mit Hartmut war einer der älteste Jungen von Meister Walrams »Asseln« gemeint. Zumindest bezeichnete und behandelte der Meister die ganzen Jungen so, die für ihn arbeiten mussten. Hartmut hatte mittlerweile mindestens sechzehn Sommer erlebt und war schon sehr lange hier – vielleicht sogar am längsten. Als einer der wenigen Asseln in den Gruben war Hartmut bemerkenswert groß und verhältnismäßig kräftig. Natürlich konnte er es nicht mit Meister Walram aufnehmen. Gleichwohl war Hartmut in der Lage, so ziemlich jeden anderen der Asseln grün und blau zu verdreschen. Wobei das Hartmut auch relativ regelmäßig und ohne Grund tat. Jakob selbst war bereits mehrfach in den Fokus des fiesen Burschen geraten.

»Sieht so aus, als würde Jakob hier das Kohlfieber überstehen«, stellte Meister Walram das Offensichtliche für sich selbst fest. »Du weißt, was das heißt? Ich wäre sehr ungehalten, wenn er jetzt doch noch zum Teufel geht.«

»Meister?«

Mit einem schallenden Geräusch krachte die flache Hand Meister Walrams mit voller Wucht ins Gesicht von Hartmut. »Du bist zu nichts zu gebrauchen, du dumme Assel. Sorg gefälligst dafür, dass Jakob nicht noch auf den letzten Klaftern aus irgendeinem sinnlosen Grund sein Leben verliert. Dieser dürre Balg kann mir in Zukunft wertvoll und nützlich sein.«

Hartmut wurde von dem Schlag eiskalt erwischt. Statt sich irgendwie dagegen zu wehren, wurde der Älteste der Asseln hart zu Boden geschleudert. Kurz sah Jakob Widerstand in den Augen des drei Sommer Älteren aufblitzen. Doch schon einen Augenblick später schlug Hartmut seinen Blick wieder demütig nieder. Zu oft war jeder einzelne von ihnen allen dem rohen ungezügelten Jähzorn Meister Walrams zum Opfer gefallen. Dass dieser manchmal auch viel zu weit ging, war jedem der Anwesenden klar.

»Wie sieht überhaupt die Wunde aus?«

Unvermittelte richtete sich die Aufmerksamkeit Walrams wieder auf Jakob. Dies war eine gefährliche Situation für ihn. Wann immer Meister Walram mit jemandem direkt zu tun hatte, bekam derjenige im besten Fall den Stock oder die flache Hand zu spüren. Schlimmstenfalls endete man mit gebrochenem Genick in der Jauchegrube.

Mühsam versuchte Jakob deswegen, die verschlissene Tunika hochzuziehen. Offenbar ging es Walram jedoch nicht schnell genug. Nicht weniger grob als zuvor bei Hartmut drückte der Meister Jakob zur Seite, um ihn das dünne Stück Stoff vom Leib zu zerren. Sich dagegen zu wehren, kam Jakob nicht einmal für den Hauch eines Augenblicks in den Sinn. Stattdessen drehte er sich auf seinem Lager möglichst weit zu Seite, damit sein Herr alles genau inspizieren konnte.

»Das sieht ja schon ganz gut aus. Du bist tatsächlich bereits über dem Berg. Das ist erstaunlich. Eigentlich habe ich gedacht, du überlebst die nächsten Nächte nicht. Wie man sich doch täuschen kann. Hartmut! Sorge gefälligst dafür, dass die Wunde ausgewaschen wird. Danach gehst du zu Klara und fragst nach ein wenig Wein. Außerdem sollte er etwas zu essen bekommen. Der Junge hier brauch eine Stärkung, damit er möglichst bald wieder auf den Beinen ist. Es gibt viel zu tun. Die Arbeit wird nicht weniger.«

Hartmut stand nur stumm da und nickte. Noch immer zeichnete sich auf dessen Backe die Stelle knallrot ab, an der Walram ihn mit der Hand getroffen hatte. Auf eine Antwort wartete der Meister jedoch nicht. Schon kurz darauf war er aus der kleinen dunklen Baracke verschwunden. Alle Anwesenden sahen sich fragend an. Es war auf jeden Fall nichts Alltägliches gewesen, was hier eben gerade geschehen war. Ohnehin hatten sich etliche der Jungen zusammengefunden, um sich das Schauspiel anzusehen, dessen sie hier Zeuge geworden waren.

Dies fiel in dem Moment auch Hartmut auf. »Ihr kleinen dreckigen Wechselbälger. Wollt ihr wohl endlich an euer Tagwerk gehen? Wer hat euch erlaubt, hier Maulaffen feile zuhalten. Packt euch, ihr faules Gesindel!«

Mit Tritten und Schlägen untermalte der Ältere seine Worte. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die Bande der Asseln zerstreut, um wieder an ihre Arbeit zu gehen. Einzig Schie hatte es nicht geschafft, aus dem Wirkkreis Hartmut schnell genug herauszukommen.

»Aua, aua, aua. Bitte zieh nicht so an meinem Ohr«, bettelte Schie.

»Vielleicht erdreistest du dich, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen hab, du verkümmerte Assel,« zeigte Hartmut kein Erbarmen. Es wirkte, als müsste er die Demütigung durch Meister Walram an jemanden abreagieren. »Schielbock, du hässlicher Bastard. Du warst doch eben gerade bereits hier. Oder etwa nicht?«

»Ja, nein. Ich meine, ich weiß nicht.«

»Hör auf mit dem Herumflennen. Du rennst gefälligst zum Brunnen und holst frisches Wasser. Anschließend läufst du zum Feuer und bringst heißen Sud her. Hast du mich verstanden? Und wehe du trödelst herum.«

Schie stürmte jedoch schon in der Sekunde aus der Baracke heraus, als Hartmut von dessen Ohr abließ. So befand sich Jakob bereits kurz darauf mit dem älteren Schinder allein in dem Verschlag. Jakob wurde es unmittelbar ganz anders. Normalerweise war er ziemlich gut darin, sich in der Menge der Jungen versteckt zu halten, die hier arbeiteten. Umso mehr war es ein ungewohntes Gefühl für ihn, nun schon mehrfach im Fokus des allgemeinen Interesses zu stehen. Überleben hieß in aller Regel, nicht aufzufallen. Nur so hatte er die letzten Winter mehr schlecht als recht durchgehalten.

»Und was machen wir jetzt mit dir, du kleine verkommene Assel?«

»Mit mir? Nichts.« Jakobs Stimme verriet ein Zittern. Der Ältere konnte hier in der Baracke so ziemlich alles mit ihm anstellen, was er wollte. Jakob hätte in seinem geschwächten Zustand noch nicht einmal den Hauch einer Chance, um sich zur Wehr zu setzen. »Ich bin gleich wieder soweit in Ordnung. Gib mir nur ein bisschen Zeit, um auf die Beine zu kommen. Bitte. Ich kann arbeiten. Wirklich.« Wie, um seine Worte zu untermauern, versuchte Jakob, augenblicklich aufzustehen.

»Nur die Ruhe. Du sollst doch liegenbleiben.« Mit Vehemenz aber dennoch nicht brutal drückte Hartmut ihn auf das Strohlager zurück.

»Ich … Es ist … Wirklich, ich kann …« Vor Verwirrung über dieses seltsame Verhalten fand Jakob keine Worte. Dieser Tag wurde immer befremdlicher für ihn.

»Pass auf. Du bist jetzt einer von uns. Ohnehin hast du bereits mehr Sommer erlebt, als die meisten der Nichtsnutze da draußen. Davon abgesehen hast du offenbar das Schwarzfieber gut überstanden. Das schafft nicht jeder. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Bei diesen Worten zog Hartmut seine Tunika hoch. Auf dessen Oberschenkel prangte die verkrustete und vernarbte Stelle, an welcher er ebenso das Kohlfieber ausgetragen hatte. Nach wie vor sah es ausgesprochen entzündet, eitrig und übel aus. Wirklich heilen tat das Fieber eigentlich nie. Ganz unbewusst griff sich Jakob an seinen Rücken auf die Stelle, die erstaunlicherweise nur wenig schmerzte. Stattdessen fühlte er unter seinen Finger das warme, weiche und klebrige Fleisch der offenen Wunde.

»Aber ich …«

»Nichts aber. Du hast den Meister selbst gehört. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich das Brandfieber hatte. Zusammen mit vier anderen ist es bei mir ausgebrochen. Tagelang war ich dem Tod näher als dem Leben. Als einziger habe ich damals diese göttliche Prüfung überstanden. Gewissermaßen hat mich erst dadurch das Schicksal zu einem echten Gerbergesellen gemacht. Wie es aussieht, hat Gott für dich etwas ganz Ähnliches vorgesehen. Wobei ich nicht verstehen kann, weswegen ausgerechnet du einer von uns sein sollst.« Die letzten Worte klangen dabei schon viel eher nach dem fiesen Hartmut.

Jakob konnte hingegen nur schwach mit dem Kopf nicken. Viel zu viel war in der kurzen Zeit geschehen, als dass er alles in seiner Gänze begreifen konnte. Auch hatte Hartmut noch nie zuvor solange und normal mit ihm geredet. Jakob hatte in dem Älteren immer nur den brutalen Schinder gesehen, der seinen Sadismus an den Kleineren austobte.

In dem Moment war Schie auch schon wieder zurück. Der Eimer mit dem Wasser schwappte dabei über. Leicht schnaufte er, da er sich offenbar beeilt hatte.

»Wieso hat das so lange gedauert?«, fuhr Hartmut den Jungen zugleich an. Gefolgt wurde die Aussage von einem Klaps hinter die Ohren. »Und jetzt spute dich und hol etwas von dem Wein und eine Schale mit Essen.«

Erneut rannte Schie aus der Baracke raus. Auch das war für Jakob eine vollkommen ungewohnte Situation. Noch hie hatten sich so viele Menschen um ihn gekümmert und gesorgt. Als einer der Asseln konnte er normalerweise froh darüber sein, eine Kelle dünnen Haferbrei oder Knochensuppe abzubekommen. Zudem war es sonst etwas Besonderes in der Mitte schlafen zu können, wo es nicht ganz so kalt und nass war, wie am Rande der zugigen Unterkunft.

»Also hör zu. Bilde dir ja nicht ein, dass du dir hier jetzt etwas erlauben kannst. Nur weil du das Brandfieber überstanden hast.« Hartmuts Stimme wurde nun wieder scharf und gemein. »Du tanz weiter nach meiner Pfeife. Damit das klar ist. Egal, was dir Alex oder Curt auch sagen. Auf dem Hof hier bin ich das Gesetz. Hast du das verstanden?«

Erneut war Jakob nur in der Lage, müde mit dem Kopf zu nicken. Was hätte er auch anderes tun sollen? Bei einem Widerwort wäre Hartmut locker in der Lage gewesen, ihm einen oder mehrere Finger zu brechen. Das hatte der Schinder schon mehrfach in der Vergangenheit gemacht. Manchmal, weil Jakob nicht schnell genug gearbeitet hatte. Gelegentlich aber auch nur aus purer Langeweile, um jemand schreien zu hören.

Hartmut war währenddessen aufgestanden und an den Eingang getreten. Irgendetwas verfolgte der Ältere draußen mit seinen Augen. Jakob gab es hingegen die Zeit, den Großen für ein paar Augenblicken näher zu beobachten. Sonderlich unterschied sich Hartmut nicht von den anderen Asseln. Natürlich war er mindestens ein Sommer älter als sonst jeder andere bei Meister Walram. Auch wirkte er kräftiger als die meisten – einzig Curt konnte ihm gleichkommen. Andererseits sah Hartmut genauso dreckig und heruntergekommen aus, wie jeder andere der Asseln auch.

Offene Wunden, Furunkel, Abszesse und Narben überzogen Arme und Beine zu Hauf. Bevor er zu dem fiesen Schinder von heute geworden war, hatte er ebenso für lange Zeit die ganzen niederen Arbeiten verrichten müssen, die für Jakob normalerweise an der Tagesordnung standen. Tief liegende müde Augen und ausgeprägte Falten zeugten von dem sehr harten und kräftezehrenden Leben unter Meister Walram. Ohnehin war es ein Wunder, dass sie überhaupt so alt geworden waren.

»Hiergeblieben, Schielbock. Nicht so schnell.« Mit einer Hand hielt Hartmut den Jüngeren mühelos an dessen Tunika fest.

»Aber ich dachte …«

»Nichts sollst du denken. Gib mir gefälligst den Wein.«

Schie hatte keine andere Wahl, als der Aufforderung nachzukommen. Abschätzend wog Hartmut den Krug in seinen Händen. Dieser war ausgesprochen groß. Normalerweise wurde diese Menge an hohen Heiligentagen für alle Asseln ausgegeben. Meist reichte es am Ende für die Kleinsten nur aus, um einige wenige Tropfen abzubekommen. Oft noch nicht einmal dafür.

Wie nicht anders zu erwarten gewesen, setzte Hartmut den Krug an, um einen tiefen Schluck zu nehmen. Im Anschluss drückte er das Tongefäß wieder in Schies Hand, um dann zu guter Letzt ohne ein weiteres Wort aus der Bracke zu verschwinden. Jakob und Schie sahen sich einen Moment lang verwirrt an. An diesem Tag geschahen eine ganze Reihe sehr seltsamer Dinge.

»Hier, das ist alles für dich.«

Jakob nahm die Schüssel mit dem Haferbrei und den Krug entgegen. Tatsächlich enthielt dieser noch genug des Weins, dass Jakob Probleme damit hatte, die Gefäß mit einer Hand zu halten. Klara hatte es offenbar ziemlich gut mit ihm gemeint.

»Ist das alles für mich?« Noch immer konnte er es nicht glauben.

»Ja, natürlich. Du hast es auch bitter nötig.«

Jakob wusste selbst, wie schwach er eigentlich war und wie schlecht es ihm ging. Normalerweise war das jedoch den großen Asseln und Meister Walram leidlich egal. Das Leben einer der Jungen, die hier tagein tagaus schufteten, war sonst nicht viel wert. Andererseits war er schon etliche Winter bei Walram – an mindestens vier konnte er sich erinnern. Wie kaum ein anderer kannte er sich mit der Arbeit hier aus.

Vorsichtig und darauf bedacht, dass nicht doch jemand plötzlich um die Ecke kam, der ihm den Krug aus der Hand schlug und erzählte, dass das alles nur ein derber Spaß wäre, setzt er das Tongefäß an. Erst zurückhaltend und schließlich volle Züge nehmend, schluckte Jakob den sauren Alkohol hinunter. Obwohl es für ihn nicht wirklich ein angenehmer Geschmack war, wusste er, wie sehr die anderen Asseln darauf versessen waren, Wein abzubekommen. So stand auch ein ganz klein wenig der Neid in Schies Gesicht geschrieben.

Sich selbst eines Besseren belehrend, setzt Jakob ab und gab den Krug an seinen Freund weiter. Mit großen Augen nahm Schie ihm das Tongefäß ab. Offenbar konnte auch er es nicht fassen, etwas abzubekommen. Gierig schlürfte der Junge alles aus dem Krug herunter, bis auch der letzte Tropfen getrunken war.

Währenddessen hatte Jakob angefangen, die Schüssel mit dem Haferbrei zu essen. Tatsächlich entwickelte er langsam ein richtiggehendes Hungergefühl. Überhaupt fühlte er sich mittlerweile bereits weitaus besser. Es war für ihn eine reine Wohltat, den noch leicht warmen Brei herunterschlingen zu können. Dies hatte er sich ebenso während der langen Zeit hier angewöhnt. Verschwendete man zu viel Zeit mit Kauen, kam einer der anderen Asseln, um die Reste des Essens zu stibitzen. Nun aber gesättigt und mit dem ersten Anzeichen des Weingeists im Kopf lehnte er sich zurück.

»Was war das alles hier, Schie? Hab ich etwas verpasst?«

»Irgendwie schon. Geht es dir wirklich gut?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich bin unglaublich müde und so schwach. Ich glaube kaum, dass ich in der Lage bin, aufzustehen – vom Arbeiten ganz zu schweigen. Ich muss doch aber. Wenn ich nicht mein Soll erfülle, muss ich in die Beizlöcher. Das halte ich nicht durch. Meister Walram wird mich erschlagen.«

»Nur die Ruhe, Jakob. Alles ist gut. Der Meister hat gesagt, du sollst dich ausruhen.«

»Was ist passiert?« Jakob konnte es sich zwar soweit alles zusammenreimen. Trotzdem wollte er es von seinem Freund hören.

»Du hattest das Kohlfieber. Zusammen mit Sauermaul, dem dürren Litzkow und diesem kleinen Jungen mit den hellblonden Haaren, der erst zum vorletzten Vollmond zu uns gekommen ist. Der hatte noch gar keinen richtigen Namen.«

»Wo sind die anderen?«

»Na wo schon? Die sind alle im Himmel. Wie oft erlebst du es, dass jemand das Schwarzfieber durchsteht? Es grenzt an ein Wunder, dass du nach am Leben bist.«

»Wie lange?«, wollte Jakob erfahren.

»Keine Ahnung, an was du dich als Letztes erinnern kannst. Das ist fast drei Hände an Tagen her, dass es dir richtig übel ging. Zuerst hast du dich mehr schlecht als recht herumgeschleppt. Zum Ende hin konnte man mit dir kaum noch etwas anfangen. Walram hatte bereits vor, dich mit den anderen hinten in die Grube zu werfen. Gott hatte aber für dich offenbar einen anderen Plan. Obwohl es dir durchweg ziemlich schlimm ging, wolltest du diese Welt nicht verlassen.«

»Aber wie habe ich …?«

»Ich hab mich um dich gekümmert.«

So etwas hatte sich Jakob schon gedacht. Irgendwie musste er hier in die Baracke und auf das Strohlager gekommen sein. Auch wusste er, dass man kaum am Leben blieb, wenn man nichts zu essen und zu trinken bekam. Ohne, dass sie über das Thema weiter redeten, war ihm klar, dass er sein Überleben offenbar mindestens Schie zu verdanken hatte. Vielleicht hatte auch noch einer der anderen Jüngeren geholfen.

»Danke.«

»Keine große Sache. Es hat sich für mich ja bereits gelohnt.« Dabei hielt Schie den nunmehr leeren Krug in die Höhe.

»Hier!« Jakob schob seinem Freund den Napf mit den Resten des Haferbreis zu. Auch hierauf stürzte sich der Junge direkt. Sonderlich viel bekamen sie für gewöhnlich nicht zu essen – und das Wenige mussten sie sich oft mit den Großen teilen. Im Grunde war der Hunger ihr ständiger Begleiter.

»Danke«, sagte nun auch Schie und grinste über das komplette Gesicht.

Jakob war froh, den Freund an seiner Seite zu wissen. Unter Meister Walram zählte Freundschaft sonst nicht viel. Ein jeder der Asseln war immer darauf bedacht, so gut es geht selbst zu überleben. Zudem sorgten die drei großen Alex, Curt und vor allem Hartmut dafür, dass sich die ganzen Kleinen nicht untereinander verstanden und verbündeten. Umso mehr war Schie eine Ausnahme in dieser Hölle, die andere als Leben bezeichneten.

Den richtigen Namen von Schie wusste eigentlich niemand mehr. Nicht einmal Schie selbst. Aufgrund seiner beiden Augen, die ständig in unterschiedliche Richtungen blickten, hatte ihm Meister Walram vor drei Wintern den Namen »Schielbock« gegeben. Dabei war Schie bereits seit wenigstens vier Winter hier und im Grunde auch schon einer der alten Hasen. Andererseits war er definitiv noch mindestens drei Sommer jünger als Jakob.

»Ich muss jetzt aber wieder«, unterbrach Schie die ungewohnte Situation, am Tage nicht zu arbeiten. »Wenn mich jemand dabei erwischt, wie ich hier herumsitze und mich mit dir unterhalten, ziehen sie mir den Hosenboden stramm, bis er blutig ist.«

Jakob nickte wissend. Gerade in den ersten Monden seines Hierseins hatte er oft diese Bestrafung abbekommen. Nur wenn man hart arbeitete, konnte man darauf hoffen, die brutalen Behandlungen zu vermeiden. Zudem spürte Jakob, wie er immer müder wurde. Das lange Reden und die Aufmerksamkeit hatten ihn ausgelaugt. Er war weiß Gott noch nicht über dem Damm. Davon eventuell zu arbeiten, schien er auch ebenso meilenweit entfernt.

Schie füllte den Krug ein weiteres Mal mit Wasser und stellte ihn neben die Schlafstätte. Während Jakob langsam in den Schlaf hinüberdämmerte, bekam er noch mit, wie Schie ihn mit den Strohresten und einer löchrigen Decke zuzudecken versuchte.

 

Unverändert reichlich schwach auf den Beinen schleppte Jakob sich über das Gelände der Gerberei. Die vergangenen beiden Tage hatte er auf dem Krankenlager verbringen dürfen. So gesehen war es schon eine außergewöhnliche in seinem bisherigen Leben noch nie dagewesene Sonderbehandlung gewesen. Normalerweise fand Walram oder einer der Großen immer eine Tätigkeit, die man erledigen konnte – egal wie krank man gerade war. Im Zweifel nahmen die Schinder einen Stock zu Hilfe, um die Asseln zum Arbeiten anzutreiben.

Seltsamerweise wusste Jakob nicht wirklich, was er nun zu tun hatte. Auch das war ein vollkommen neues Gefühl für ihn. Im Normalfall standen die Asseln mit den ersten zarten Strahlen der Sonne auf, um dann erst weit nach Untergang auf das dürftige Nachtlager zu fallen. Dazwischen gab es bald hundert verschiedene Aufgaben, die es zu erledigen galt. So konnte Jakob in dem Augenblick die anderen Jungen bei ihrem emsigen Treiben beobachten. Offenbar war heute einer jene Tage, an welchen die Felle umgebettet werden mussten. Etliche der Gruben waren offengelegt, um die Tierhäute daraus hervorzuholen. In dieser Tätigkeit war Jakob mittlerweile ziemlich gut. Er erkannte an der Färbung und der Blasenbildung, in was für einen Zustand sich die Gerbbrühe befand, ob sie noch gut war und wie man die Stärke des Gerbsaftes erhöhen musste.

Die weite zum Bach hin abfallende Fläche hinter dem Gerbhof von Meister Walram war über und über mit großen abgedeckten Löchern versehen, welche mit Holz ausgekleidet waren. Gewissermaßen stellten diese so eine Art mächtige in den Boden eingelassene Fässer und Gruben dar. Darin befanden sich von vorn nach hinten gestaffelt die verschiedenen Gerblösungen, in denen die Tierhäute eingelegt waren, um sich dann im Laufe vieler Monde zu gutem Leder zu verwandeln. Zumindest, wenn alle äußeren Einflüsse dies zuließen.

Jakob schritt die einzelnen Öffnungen ab. Zu allererst befanden sich die zuletzt eingebrachten Felle darin. Obgleich seine Nase nicht mehr in der Lage war, den üblen Geruch zu riechen, kitzelte es dennoch an seinem Gaumen. Am Anfang seines Hierseins – vor etlichen Wintern – hatte es für ihn wie die sprichwörtliche Hölle gestunken. Man hatte ihn immer wieder gezwungen, in eines dieser Löcher zu steigen, um die Tierfelle darin mit einem langen Holzstock umzuwenden oder herauszuholen. An die Kalkgruben wollte er lieber gar nicht denken. Die waren noch schlimmer.

Mittlerweile war sein Geruchssinn aber nahezu abgestorben. Trotz all der damit verbundenen Einschränkungen zeichnet ihn das als einen echten Gerberburschen aus. Vielleicht hatten die Großen tatsächlich Recht? Dadurch, dass er das Brandfieber überlebt hatte, war er offenkundig zu so etwas wie einem Gesellen geworden – von seinem Wissen über die Vorgänge es Gerbens ganz zu schweigen.

»Warte mal, Faulbauch. Wo sind denn alle?« Jakob hielt den Erstbesten der Asseln an, der an ihm vorbeigerannt kam.

Dieser sah ihn ungläubig ob der Frage an. »Arbeit. Wo sonst?«

»Aber wo?«

»Hartmut und Curt sind mit einigen an der Feuerstelle. Sie müssen die Gerbbrühe erhitzen. Bei der eisigen Kälte funktioniert die Gerbung nicht richtig.«

»Was ist aber …?«

Faulbauch war jedoch schon weitergerannt. Jakob konnte dem Jungen nur hinterherschauen. Auch von ihm war der tatsächliche Name nicht mehr bekannt. Faulbauch wurde er nur wegen dem wulstigen dunklen vernarbten Hautüberwurf genannt, der sich an seinem Bauch befand. Irgendwie war Jakob schon froh darüber, dass er überhaupt einen richtigen Namen hatte. Das lag zum einen daran, dass ihn sein Vater erst mit neun Sommern in die Obhut Meister Walrams gegeben hatte. Normalerweise kamen die Asseln bereits mit vier, fünf oder sieben Sommern in die Gerberei.

Ganz automatisch war Jakob an die Gerbgruben herangetreten. In der ersten entdeckte er Wirich in der ätzenden Gerblösung, welcher gerade dabei war, die darin schwimmenden Felle umzuwenden. Und tatsächlich bemerkte Jakob Reste von kleinen Eisstücken, die sich noch am Rande der Grube befanden.

»Wirich, es klingt vielleicht dumm«, suchte er das Gespräch zu dem acht oder neun Sommer alten Jungen. »Ich hab aber in den letzten Tagen wirklich nichts mitbekommen. Ist es schon durchweg so lange so kalt?«

Wirich sah ihn von unten herauf erschöpft an. Er war nur mäßig daran interessiert, diese Thema hier mit ihm besprechen zu wollen. »Bekommst du gar nichts mehr mit, Jakob? Es war seit Ewigkeiten kein einziges Mal richtig warm. Wir haben seit Monden damit zu kämpfen, die Gerblohen vor dem Umkippen zu bewahren. Der Alte hat bereits gesagt, dass wir viel Zeit verlieren werden. Vielleicht müssen wir sogar den kompletten Ansatz neu machen.«

Jakob nickte. Ihm kam in den Sinn, dass er sich früher selbst schon Gedanken darüber gemacht hatte – vor dem Kohlfieber. Der letzte Winter war unglaublich hart, lang und entbehrungsreich gewesen. Etliche der ganz Jungen hatten die dunkle Zeit nicht überstanden. Die Älteren und auch Meister Walram hatten gesagt, dass sie sich nicht daran erinnern konnten, dass es jemals so lange eiskalt und weiß gewesen war. Die zugefrorenen Gerbgruben bereiteten den Asseln entsprechende Probleme. Alle hatte darauf gehofft, dass es im Frühjahr wieder besser werden würde. Hier sah Jakob aber, dass dem nicht so war. Im Prinzip war der Winter nicht einmal zu Ende.

Kälte war jedoch ein Thema, welches Jakob mittlerweile ziemlich fremd erschien. Er selbst hatte jegliches Empfinden bezüglich dem eisigen Wetter verloren. Zu anfangs hatte er noch nächtelang schlotternd zwischen den anderen Asseln gelegen. Irgendwann hatte sein Körper aber einfach aufgehört, so etwas wie Kälte fühlen zu wollen. Er fror kaum noch. Manchmal glaubte Jakob, er hätte die Fähigkeit verloren, zittern zu müssen. Natürlich wusste er, was es hieß, sich vor Erfrierungen zu schützen. Auch liebte er den Sommer und die Möglichkeit, seine Zeit in der warmen Sonne zu verbringen. Wirklich kalt war ihm hingegen nur noch sehr selten. Selbst wenn er barfuß durch den Schnee stolperte, musste er den kompletten Tag draußen sein, bis er zu schlottern begann.

»Willst du noch was oder fängst du gefälligst an, endlich mitzuarbeiten?« Wirich schien ungehalten über die Unterbrechung seiner Arbeit.

»Ich …«

In dem Moment tauchten aber Hartmut und Curt auf, die einen schweren Eisenkessel trugen, der eine dampfende Brühe enthielt. Hartmut warf ihm schon im Näherkommen einen vernichtenden Blick zu. Offenbar hatte er etwas von dem Gespräch eben gerade mitbekommen. Auch schien der Ältere nur wenig davon begeistert, dass Jakob hier herumstand und Maulaffen feilhielt.

»Los raus da! Bewege deinen Hintern, du Faulpelz.«

Wirich beeilte sich, aus dem Gerbloch herauszukommen. Die beiden Älteren nahmen wie immer keine Rücksicht auf die Jüngsten. Mit Schwung kippten sie die heiße stinkende Gerbbrühe in die Grube hinab. Ein Schwall ergoss sich dabei zum Teil auf Wirichs Fuß. Dieser schrie gequält auf.

Zumindest erwärmte sich dadurch die Gerblohe.

»Könnt ihr nicht auspassen?« Wirich jammerte, während er schmerzverzerrt seinen Fuß hielt. Rot zeigte sich bereits die Haut, wo ihn die heiße Brühe getroffen hat.

»Wir sollen was?«, fuhr Hartmut auf. »Was glaubst du, wer du bist, du kleiner Wechselbalg?«

Mit einem harten Tritt beförderte Hartmut den Jüngeren zurück in das Loch hinab. Wirich hatte nicht einmal den Hauch einer Chance, sich dagegen zu Wehr zu setzen. Kurz darauf schlug die trübe ätzende Gerbsuppe über ihm zusammen. Curt und Hartmut standen schließlich über der Grube, um lachend hineinzuglotzen. Offenbar war es für die beiden Älteren ein tolles Schauspiel, den hustenden und würgenden Wirich wieder auftauchen zu sehen.

»Das soll dir eine Lehre sein. Wehe du erhebst noch einmal deine Stimme, du kleine missgebildete Assel. Arbeit gefälligst – sonst gibt es heute Abend nichts zu essen für dich.« An Jakob gewandt: »Und du komm mal mit. Wir haben etwas zu klären. Hilf gefälligst, den Kessel zu tragen. Wir müssen eine neue Gerblohe ansetzen. Und die anderen aufwärmen.«

Dieser hatte keine andere Wahl, als den beiden Großen zu folgen. Widerstand oder Widerworte wären vollkommen fehl am Platz und würden nur zu einer sehr schmerzhaften Bestrafung führen. Trotz seiner noch immer im Körper steckenden Schwäche, ergriff er das eine Ende der dicken Holzstange, auf welcher der Kessel steckte. Mit kleinen Schritten ging es zurück zum Feuer.

»Was sollte das gerade eben?« Zu seiner Verwunderung fuhr Curt ihn an, der die andere Seite der Stange hielt. »Willst du, dass der Alte uns die Schädel einschlägt?«

»Wieso? Was habe ich gemacht? Und weshalb sollte Meister Walram uns abstrafen?« Jakob wusste nicht, was die beiden Älteren von ihm wollten.

Hartmut drehte jedoch unvermittelt herum und ergriff ihn an seiner Tunika. Da der Ältere ohnehin wesentlich kräftiger war, stellte es für diesen kein Problem dar, Jakob zu sich heranzuziehen. Auf Zehenspitzen stand er schließlich vor dem Anführer der Asseln.

»Begreifst du es nicht, Jakob? Du bist jetzt einer von uns. Zusammen mit Curt hier und Alex sind wir die Gesellen. Es liegt an uns, dass der Laden hier läuft. Wenn auch nur die winzigsten Kleinigkeit schief geht, zieht uns der Alte dafür zur Verantwortung. Und glaub mir, im Moment läuft es alles andere als rund.«

»Ich hab doch aber gar nichts getan.« Mittlerweile hatte Jakob die Stange mit dem Kessel losgelassen.

»Eben. Genau das ist auch das Problem. Schnallst du das immer noch nicht?« Um seine Worte zu untermauern, schlug Hartmut ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

»Ich …«

»Lass mich mal«, mischte sich Curt ein. »Jakob, ich weiß nicht, ob es dir klar ist. Du kannst dir aber nicht von den kleinen Asseln so auf der Nase herumtanzen lassen. Wirich hat dir praktisch ins Antlitz gespuckt. Wenn er aber merkt, dass er so mit jedem von uns umgehen kann, haben wir bald einen Aufstand der Kleinen am Hals. Wir können die ganze Brut nur im Zaum halten, wenn sie das alles machen, was wir ihnen befehlen.«

»Genau das hab ich die komplette Zeit über nicht begriffen«, begehrte Jakob nun doch auf. »Wieso habt ihr uns durchweg so terrorisiert und unterdrückt?«

»Hat dir das Schwarzfieber dein Gehirn verbrannt?« Hartmut zeigte nur wenig Interesse daran, Jakob alles erklären zu müssen.

»Was glaubst du, was passiert, wenn etwas mit dem Gerben schiefläuft? Dem Alten ist es einerlei, wie es uns geht. Ihm ist nur wichtig, dass seine Felle zu gutem Leder werden und er sie für viel Geld in die Stadt verkaufen kann.«

»Was soll schon passieren? Er verdrischt uns.« Jakob wusste nur zu genau, wie brutal der Gerbermeister sein konnte.

»Denkst du ernsthaft, die paar Schläge wären bereits die ganze Strafe?«

Um seine Worte zu untermalen, zog Curt die Tunika nach oben. Auf seinem Rücken prangten frische breite und tiefe Striemen. Egal, womit jemand ihn vor kurzem ausgepeitscht hatte, es war nicht mit den Stockschlägen zu vergleichen, die Jakob früher abbekommen hatte. Natürlich hatten sie wehgetan. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, was Curt für Qualen bei dieser Behandlung hatte erleiden müssen.

»Ich dachte immer, ihr würdet …«

»Genau damit sollst du aufhören.« Hartmut fuhr ihn erneut aggressiv an. »Hör einfach auf mit Denken. Wenn irgendwas passiert, bekommen wir die Strafe ab. Wir – und damit bist auch du gemeint – sind für all das hier verantwortlich. Selbstverständlich bringt uns der Alte nicht um. Dafür sind wir ihm viel zu wertvoll. Ich meine ab dem Zeitpunkt, wenn wir nicht mehr am Schwarzfieber erkranken können. Wie dir bekannt sein dürfte, kann man es nur einmal in Leben abbekommen. Das hält ihn aber nicht davon ab, seine ganze Wut und Aggression an uns auszulassen.«

»Na dann sorgen wir eben dafür, dass die Kleinen vernünftig arbeiten.«

»Dann sorgen wir dafür, dass sie vernünftig arbeiten«, äffte Hartmut ihn mit hoher Stimme nach. »Bist du so beschränkt, oder was? Keiner der kleinen Asseln schuftet freiwillig von früh bis spät. Wann immer es eine Möglichkeit gibt, ziehen sich diese arbeitsscheuen Taugenichtse in eine dunkle Ecke zurück, um dort faulzulenzen. Wie willst du diese Schandbälger sonst unter Kontrolle halten, als mit Zucht und Ordnung? Das funktioniert aber nur, wenn sie Angst und Respekt vor uns haben. Und du kleines Aß bist gerade dabei, diese Angst und Respekt zu verspielen. Dein Verhalten fällt auch auf uns zurück. Begreifst du das endlich mit deinem winzigen Schrumpfhirn?«

»Alles, was du sagst oder machst, wirft ein Schatten oder ein Licht auf uns. Bist du zu nett oder lässt zu viele Sachen durchgehen, glauben die kleinen Bälger am Ende, sie könnten uns genauso auf der Nase herumtanzen.« Auch Curt teilte ihm seine Gedanken zu dem Thema mit.

Jakob zog seinen Kopf ein und nickte verstehend, obwohl er nicht wirklich alles nachvollziehen konnte. Nach all dem hier hatte er nicht verlangt und nie gewollt. Überhaupt ging es ihm nur darum, den nächsten Tag zu überleben. Aus nichts anderem bestand seine Existenz: Schaffen bis zum Umfallen, Schikanen und Gewalt. Nun gesellten sich zusätzlich noch Verantwortung und Rechenschaft hinzu. Das war nicht fair.

Statt weiter mit den beiden Älteren zu streiten, ergriff er erneut die Stange. Es ging zurück zu der großen Feuerstelle. Es gab noch jede Menge andere Erdgruben mit Gerblohen darin, die darauf warteten, durchmengt zu werden. Schon kurz danach befand er sich mit bei der anstrengenden Arbeit, den Gerbsud zuzubereiten.

»Wo sind denn die ganzen anderen?« Er stellte die Frage an niemand besonderen. Es war ihm nur aufgefallen, dass er bis jetzt nicht sonderlich viele der anderen Asseln zu sehen bekommen hatte.

Hängebacke antwortete ihm. »Schielbock ist mit ein paar anderen im Wald, um Holz zu schlagen. Der Köhler verlangt gerade einen Wucherpreis für seine Kohle. Durch dieses verdammte kalte Wetter will absolut jeder im weiten Umkreis etwas zum Heizen. Selbst in der Stadt sind sie daran interessiert. Oben im Gebirge soll sogar noch klafterhoch der Schnee liegen. Du kennst ja aber unseren Meister. Der Alte hat natürlich nur wenig Interesse, seine Taler dem Köhler zu geben. So haben wir jetzt eben die zusätzliche Aufgabe, jeden Tag genug Brennholz heranzuschaffen.«

»Ja aber, ich habe vorhin nur Wirich in einer Gerbgrube gesehen.«

»Mensch, Jakob. Was stellst du nur wieder für Fragen? So viele sind wir gar nicht mehr. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Der Winter war extrem lang und kalt. Und viele von den ganz Kleinen haben die frostigen Nächte nicht durchgestanden. Die sind eingegangen wie die Fliegen. Dazu noch der Ausbruch des Brandfiebers vor einem Mond. Du bist der Einzige, der das überlebt hat. Woher sollen also die ganzen Burschen kommen, um hier zu arbeiten? Hä? Nun bleibt die komplette Arbeit an uns hängen. Wenigstens hat es etwas Gutes. Die Schüsseln beim Essen sind nun ein wenig besser gefüllt als sonst.«

Er sah Hängebacke nachdenklich an. Seitdem Jakob aus dem Kohlfieber aufgewacht war, machte er sich zunehmend Gedanken über Dinge, die ihm sonst vollkommen gleichgültig gewesen waren. Er hatte sein Leben und seine Existenz als gottgegeben hingenommen. Es war nun einmal so, wie es eben war. Schließlich war er damit auch nicht allein. Normalerweise waren sie immer weit über vier Hände voll Asseln, die unter Meister Walram zu schaffen und zu leiden hatten.

Sein Vater hatte ihn ebenso wie so viele andere Väter ihre Kinder auch hier in die Obhut des Gerbers gegeben. Es sollte aus ihm etwas Ordentliches werden – ein richtiger Geselle. An sonderlich viel aus seinem alten Leben konnte er sich nicht mehr erinnern. Von Mutter wusste er im Prinzip kaum etwas, außer dass sie unglaublich warm und weich gewesen war. Ein Zuhause hatte er nie besessen. Soweit er sich daran entsinnen konnte, waren sie immer umhergezogen, damit Vater irgendwo eine Arbeit als Tagelöhner fand.

Entsprechend ging es im Frühjahr und Herbst auf die Dörfer hinaus, um den Bauern auf den Feldern zu helfen. Im Sommer waren sie oft in den Wäldern, um dort bei den Holz- oder Köhlerarbeiten eine Münze zu verdienen. Im Winter wanderten sie wiederum in die Nähe der Städte, um etwas zu Essen und Wärme bei einer Hilfsarbeit aufzutun. Hinein in die großen bequemen Städte voller leckerer Speisen und Wärme durften sie als einfaches Landvolk jedoch nie. Das war auf Strafe verboten.

Ohne ein Dach über dem Kopf und regelmäßiges Essen war es ein entbehrungsreiches Leben gewesen. Oft waren sie frierend und mit knurrenden Mägen unter einer Hecke eingeschlafen. Mutter hatte dies nicht lange durchgehalten. Jakob konnte sich noch schwach daran erinnern, dass sie seine Schwester unter dem Herzen getragen hatte. Allerdings war Mutter zu abgezehrt gewesen, um die Geburt durchzustehen. Als kleiner Junge hatte er sich an ihren Körper geschmiegt, bis er immer kälter und steifer geworden war.

Schlussendlich waren nur noch er, sein größerer Bruder und Vater übriggeblieben. Gleichwohl hatten es die beiden Älteren nie geschafft, genug zu verdienen, damit sie alle satt werden konnte. Vater hatte schließlich von Meister Walram gehört, der jegliche Kinder bei sich aufnahm, um ihnen eine Anstellung in der Gerberei zu ermöglichen. Letztlich war ein Dach über dem Kopf und eine regelmäßige Mahlzeit besser gewesen, als der einsame Hungertod auf einem Feldweg.

Das letzte, an was sich Jakob noch entsinnen konnte, war sein Vater, der mit seinem älteren Bruder zusammen auf dem Weg in Richtung Sonnenuntergang entschwand. Danach hatte das harte Leben unter Meister Walram angefangen. In der ersten Zeit war er noch eine der namenlosen Asseln gewesen, welche die niedersten Aufgaben zu erledigen hatten. Bis zum Bauchnabel hatte er den halben Tag in übel bestialisch stinkenden Gruben gestanden, um die gerbenden Tierhäute zu wenden und zu bearbeiten.

»He, du Idiot. Was ist mit dir?« Eine Stimme riss Jakob aus seinen Erinnerungen.

»Was soll sein?«

»Du stehst hier mit offenem Mund rum und machst nichts. Was soll das? Denkst du, ich arbeite hier für dich?«

Statt einer Antwort gab Jakob Hängebacke mit der flachen Hand eine gepfefferte Ohrfeige. Noch immer hatte er die Worte von Curt und Hartmut im Ohr. Die beiden waren mittlerweile nach irgendwohin verschwunden. Es tat ihm zwar leid, Hängebacke zu schlagen. Doch hatte er nur wenig Lust, von den drei Großen später eine Abreibung zu erhalten.

»Was erzählst du mir hier, was ich zu tun und zu lassen habe? Kümmere dich gefälligst um die Gerblohe, du Schandbalg.«

Obwohl Jakob mit Widerworten, Gegenwehr oder sogar ebenso mit einem Schlag rechnete, zog Hängebacke nur seinen Kopf zwischen die Schultern ein. Ihm gingen die Worte Hartmuts nicht mehr aus dem Kopf. Konnte es tatsächlich so sein, dass sich die Hierarchie auf dem Gerbhof derartig äußerte? Vielleicht hatten die ganzen Kleineren aber auch nur Angst vor Hartmut und seiner Brutalität, dass sie automatisch auf Jakob hörten.

»Ich brauche aber noch neue Fichtenrinde für den Sud. Die muss gestampft werden. Ich kann doch nicht …« Erneut zuckte Hängebacke zusammen, als er den Blick Jakobs bemerkte.

In Jakob wuchs plötzlich ein neues Gefühl der Macht heran. Es war etwas, über das er zuvor nie nachgedacht hatte. Er konnte den kleinen Asseln nun tatsächlich Befehle geben. Die Kinder mussten dann wirklich das machen, was er von ihnen verlangte. Es war etwas, dass sich ausgesprochen gut anfühlte. Zu seiner Enttäuschung war nirgendwo eine andere Assel zu sehen. Die konnte doch nicht alle beim Holzholen sein.

»Ich kümmere mich darum.« Jakob verschwand daraufhin zu dem Unterstand hin, welcher die Mühle enthielt. In einem überdachten Anbau befanden sich normalerweise noch jede Menge Bündel von Fichtenrindenstreifen. Er hatte noch nie verstanden, weswegen man nur Rinden bestimmter Bäume für das Gerben verwenden konnte. Es war eines der vielen Dinge, die er als gottgegeben hinnahm. Früher hatte er immer nur das gemacht, was ihm einer der Älteren oder Meister Walram aufgetragen hatten. Heute hatte er jedoch keinen Auftrag. Eher im Gegenteil erwartete Hängebacke von ihm, dass er neue Rinde heranschaffte.

Was ihn allerdings erschrecken ließ, war der Umstand, dass gar nicht mehr so viele Baumrinden vorhanden waren. Normalerweise sorgten die Asseln dafür, dass der Bestand nie sonderlich nach unten ging. Vor allem an den Tagen, an denen es nicht so viel in den Gerbgruben zu tun gab, waren sie alle in den Wäldern unterwegs, um die Rinden von Fichten zu sammeln. Meister Walram hatte eine Abmachung mit den verschiedenen hiesigen Holzfällern, die ihm dann sagten, wo sie gerade arbeiteten und was sie abholzten.

Mit einem Korb voller Rindenstücke ging es für ihn schließlich zu dem groben Mühlstein. Allerdings stand Jakob hier vor dem nächsten Problem. Obwohl er wusste, wie er die Mühle zu bedienen hatte, war es für einen allein nicht zu schaffen. Noch mindestens drei oder vier Helfen benötigte man, um die Apparatur vernünftig führen zu können. Von der schweren und mühevollen Aufgabe, den Stein zum Drehen zu bekommen, ganz zu schweigen. Kurz war er versucht, Hängebacke und Wirich zur Hilfe heran zu zitieren.

Beide waren sie aber mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt. Das Leder musste dringend in den Gerbgruben gewendet oder umgeschichtet werden. Ebenso war es wichtig, die Eisschichten in den Gruben aufzubrechen. Darüber, die Gerblohen zu ersetzen, wollte er lieber gar nicht erst anfangen nachzudenken. Jakob sah keine andere Wahl, als stattdessen den großen Stößel und die Lohschale zu Hilfe zu nehmen. Mit regelmäßigen Stößen zermalmte er die Rindenstücke zu einem zähen Brei, der anschließend bei Hängebacke zu einem Sud vermengt werden konnte.

Wieder und wieder stieß er mit dem großen und schweren Stößel in die Mulde mit den Rinden. Schon nach kurzer Zeit tat ihm so gut wie alles weh. Er war bei weitem noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Trotzdem gönnte Jakob sich keine Pause. Die anderen zählten auf ihn. Monoton stampfte er den Lohbrei zusammen. Längst arbeitete er über seinen Möglichen. Das war er jedoch gewohnt. Aus nichts anderem hatte seine bisherige Existenz bestanden – Schaffen bis zur kompletten Erschöpfung.

»Was treibst du hier, du Aussätziger?« Die Stimme Hartmuts riss ihn aus seinem Arbeitstrott.

»Wonach sieht es denn aus? Hängebacke benötigt neuen Rindenmatsch, um eine neue Lohe anzusetzen.«

»Und das machst du per Stößel mit der Hand? Das dauert doch zehnmal solange. Geht’s noch?« Hartmut konnte sich nur schwer zurückhalten.

»Aber …«

»Nichts aber«, gab Curt ihm eine derbe Kopfnuss. »Schau doch nur nach Hängebacke.«

Jakob tat wie ihm geheißen. Hängebacke stand ziemlich teilnahmslos neben der Feuerstelle. Niedrig waren die Flammen bereits heruntergebrannt. Statt tatsächlich zu arbeiten, rührte Hängebacke nur gelegentlich in dem großen Kessel herum. »Ja, und? Was soll mit ihm sein?«

»Ihr hättet schon längst den Kessel zu einer der Gerbgruben bringen können.« Hartmut unterstrich seine Worte mit einem weiteren Schlag auf Jakobs Hinterkopf. »Davon, einen neuen Kessel aufzusetzen, ganz zu schweigen. Du bist zu nichts zu gebrauchen, du Wechselbalg.«

In dem Moment regte sich etwas in Jakob. »Ach, und wo wart ihr in der Zwischenzeit? Ich sehe euch nichts in Händen halten. Was habt ihr geholt oder gemacht?«

»Wirst du etwa frech?«, gingen die beiden Älteren zugleich auf Jakob los. Hartmut hatte ihn innerhalb eines Herzschlags an seiner Tunika zu sich herangezogen.

»Na, was ist denn hier los?« Eine zarte und leise Stimme holte sie alle drei aus der beginnenden Schlägerei heraus.

Hartmut, Curt und Jakob hielten in ihrer Bewegung inne. Erstaunt blickten sie zur Seite. Dort stand Klara. Die einzige Tochter des Gerbermeisters. Augenblicklich ließen sie alle drei voneinander los. Verlegen sah ein jeder zum Boden. Niemand traute sich, auch nur ein Wort zu sagen.

»Was ist los? Hat es euch die Sprache verschlagen?«

Curt und Hartmut blickten sich für einen Moment kurz an. Ohne eine weitere Reaktion machten sie auf der Ferse kehrt, um von dem Unterstand mit der Lohmühle fortzurennen. Allein Jakob blieb mit dem Stößel in der Hand zurück. Am liebsten wäre er ebenso weggerannt. Dafür hätte er aber sein Werkzeug und die Mahlschale umwerfen müssen.

»Kannst du überhaupt reden?« Klara war ein paar Schritte auf ihn zu gekommen.

»Ja, schon.«

»Aber?«

»Ich … Es ist … Wir dürfen …«

»Ihr dürft was nicht?« Klara suchte tatsächlich das Gespräch zu ihm. Die Situation überforderte ihn nun vollends.

Jakob gestattete sich selbst, den Blick für einen kurzen Moment anzuheben. Zuvor hatte er nur starr auf seine Zehen geschaut. Klara. Für ihn war das Mädchen ein sprichwörtlicher Engel. Soweit er wusste, war sie ein oder zwei Sommer älter als er. Ihr dunkelblondes Haar glänzte leicht im Licht des kalten Tages. Obwohl sie eher klein und zierlich war, konnte er schon sehr gut die Frau in ihr erkennen. Jakob fragte sich, ob sie wohl genauso weich und warm wäre, wie er es von seiner Mutter in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich duftete sie extrem gut, wenn er denn in er Lage gewesen wäre, etwas zu riechen.

»Wir dürfen dich nicht ohne Erlaubnis ansehen, das Wort an dich richten oder über dich reden. Meister Walram hat es uns verboten. Falls wir auch nur an dich denken, würde er uns augenblicklich etwas abschneiden.« Jakob wusste nicht wieso, doch schaffte er es tatsächlich, eine Antwort zu formulieren.

»Und, ist mein Vater irgendwo hier zu sehen?«

Jakob stockte der Atem. Furchtsam ließ er seinen Blick über die Fläche gleiten. Von Curt und Hartmut war nichts mehr zu sehen. Einzig Hängebacke stocherte nach wie vor lustlos in dem großen Kessel herum. Daran, dass Klara hier bei ihm stand, schien er keinerlei Interesse zu haben. Vielleicht hatte Hängebacke auch nur die gleiche Angst davor, dabei ertappt zu werden, wie er die Tochter des Meisters anstarrte.

»Neee … Ähm, nein. Nirgends. Trotzdem, ich darf nicht mit dir reden.« Das Gespräch wurde ihm immer unangenehmer. »Es ist verboten!«

»Bitte, bleib doch und lauf nicht weg.«

Jakob stoppte in seiner Drehbewegung ab. Er wollte nicht zugeben, dass er sich vor den Konsequenzen fürchtete. Auch wusste er nicht, wie er mit dem Mädchen umgehen sollte. Natürlich hatte er ab und zu mit den Müttern und Großmüttern in der Nachbarschaft zu tun. Walram verborgte seine Jungen manchmal an die Nachbarn für schwere Arbeiten. Es war aber trotzdem etwas anderes, die bildhübsche Tochter des Gerbermeisters vor sich zu wissen.

»Was kann ich für dich tun?«

»Wie wäre es, wenn du dich etwas mit mir unterhältst?« Engelsgleich klang die Stimme Klaras in seinen Ohren. »Nur ein wenig.«

»Aber worüber? Hast du eine Frage? Darf ich etwas für dich erledigen? Benötigt ihr im Haus neues Feuerholz?«

Glockenhell lachte Klara in dem Moment auf. »Du bist niedlich. Jakob? Du bist doch Jakob. Oder nicht?«

Er war nur in der Lage, dumpf zu nicken. Sie kannte seinen Namen. Wieso? Warum? Jeder der Asseln träumte insgeheim von Klara. Jakob wusste genau, dass jeder der Burschen heimlich hin glotzte, wann immer die junge Frau vor dem Wohnhaus des Gerbermeisters zu sehen war. Auch hatte er schon Curt und Alex bei leise geflüsterten anzüglichen Witzen belauscht. Selbst wenn es untersagt war, erschien ihnen allen die junge Frau wie die sprichwörtlich verbotene Frucht im Garten Eden.

»Ich hoffe, es geht dir wieder besser. Ich hab mitbekommen, dass du das Schwarzfieber hattest. Schielbock war ein paar Mal in der Küche, um Dinge für dich zu holen. Wir hatten Angst, dass du es doch nicht überleben würdest.«

Jakob konnte es nicht fassen. Klara hatte sich Sorgen um ihn gemacht? »Alles wieder gut. Es geht mittlerweile.« Um seine Aussage zu untermauern, sprang er ein paar Mal auf und nieder.

»Das freut mich. Ich muss jetzt weiter. Nicht, dass mein Vater uns hier noch gemeinsam erwischt.« Leicht zuckten ihre Mundwinkel nach oben.

Jakob konnte ihr nur noch mit offenem Mund hinterherschauen. Mit leichtem Schwung wiegte ihre Hüfte beim Gehen hin und her. Er glaubte, nie zuvor etwas derart Schönes gesehen zu haben. Als sie sich aber noch einmal kurz umwandte, blieb ihm das Herz in der Brust stehen. Mit einer knappen Drehung des Kopfes zwinkerte Klara ihm zum Abschied keck zu. Hatte sie das gerade tatsächlich getan? Unvermittelt wurden ihm die Knie weich. Hätte er sich nicht an dem großen Stößel festgehalten, wäre er wohl unverrichteter Dinge zusammengesackt.

Umso mehr fuhr ihm der Schrecken in die Glieder, als er Hartmut in einiger Entfernung gewahr wurde. Der ältere Junge starrte ihn an. Jakob meinte, nahezu brennenden Hass in den Augen des anderen zu erkennen. Was hatte er aber getan, um Hartmut derart zu erzürnen? Ging es vielleicht um Klara? Verkraftete es der anderen nicht, wenn er ein paar Worte mit der engelsgleichen Tochter des Meisters wechselte? Erstaunlicherweise verspürte Jakob deswegen keine so große Angst in sich. Noch vor einem Mond wäre es wohl komplett anderes gewesen. Da hätte er sich vor Furcht selbst eingenässt, bei dem Gedanken daran, was der Ältere ihm antun könnte. Jakob war jedoch plötzlich klar geworden, dass Hartmut noch härter unter der Knute Meister Walrams stand als jeder andere sonst.

Natürlich war es für Jakob vorstellbar, dass ihn der Große bei nächster Gelegenheit eine Abreibung verpassen würde. Tatsächlich etwas antun, würde ihm der Ältere aber nichts. Sollte Jakob womöglich ausfallen, wäre die Bestrafung durch den Gerbermeister weitaus übler.

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