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Feilkode 418

Asphalt Barbie. Der Weg nach oben führt über das DIXI-Klo.

Asphalt Barbie. Der Weg nach oben führt über das DIXI-Klo. · Romane

Ein irrwitziger Alptraum mit Musik: Zwischen Rosen und Neurosen pendelt sie umher in der psychedelischen Freak Show namens Musik-Business.

Hva vil du med boka?

Ziel: Grinsen mit aufrüttelndem Schock-Faktor. Ermutigung zur weiblichen Selbstherrschaft, nicht nur im Musikgeschäft. Bestsellerautorin werden. Drehbuch draus machen. Anny hat es geschafft: Sie hat sich ihren größten Traum erfüllt, ihr Medizinstudium geschmissen und ist Sängerin geworden – von Beruf! Durch ihre ganz persönliche Neonbrille und mit einem Sinn für das Alltagsabsurde lässt sie uns ihre autobiografischen Stationen miterleben: den großen Plattenvertrag mit der eigenen Band beim Rammstein-Label, Video auf MTV, Tourneen, TV-Werbung singen und dann der ganz große Absturz in die Schützengraben der Zeltfeste, Schulden, Drogen, Psychiatrie und die weltberühmten DIXI-Klos. „DU wolltest doch Sängerin werden, jetzt halt die Klappe und sing!“ Auf allen Kanälen wird geträllert, geträumt, gecastet und die Medien-Blase gefüttert: Singen ist ein Traumberuf. Was aber, wenn der Traum Wirklichkeit wird? Und sich als selbstgemachter Alptraum entpuppt? Diese grellbunte, tempogeladene Autobiografie mit Musik ist von einer, die auszog, um das Singen zu leben. Als Tochter eines Lokführers und einer Sekretärin wuchs Anny Body in Hamburg auf, gewann bereits als Kind diverse Preise im Bereich Popgesang, sang allen die Ohren voll und mauserte sich zur international präsenten Werbesängerin. Nun spürt sie nach über 20 Jahren des Profialltags den Ruf, Menschen mit ihrem Erlebten zum Schmunzeln zu bringen. Mit einer Autobiografie irgendwo zwischen Pop und Punk, Rosen und Neurosen.

Om forfatteren

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Hallo und moin aus Hamburg! Mein Name ist Birgit Fischer. Ich bin Musikerin und Medizinerin, 53 Jahre alt und habe gerade eine Krebserkrankung glücklich überlebt. Sicherlich kennt Ihr meine Stimme ...

Der Weg nach oben führt übers DIXI-Klo

 

Die kleine Diskokugel, die vor mir baumelt, nervt mich schon die ganze Zeit. Brav folgt sie den Fahrbewegungen meines guten alten Golfs. Wipp – wapp, wipp – wapp. Alte Anpasserin! Die Sonnenstrahlen stechen mir ins Auge, nur weil die olle Dummkugel hier rumspiegelt. Mann, ich habs eilig! Fenster auf – Feuer frei! Herrlich, wie das kleine Biest auf der Fahrbahn zersplittert …

Nein – ich hege keine Aggressionen gegen einfache Menschen, die sich mit banalen Melodeien eine kleine Auszeit aus der Trübsal ihres Alltags gönnen. Aber ich gehöre hier nicht hin. Das hier ist der künstlerisch-kulturelle Abgrund. Nachsingen, Gassenhauer trällern bis zum Umfallen. Gebrauchsmusik, Verbrauchsmusik, Tanzmucke. 

 

Ich bin kurz vor dem Ersticken. Nur noch fünf Minuten bis zum Soundcheck. Gib Gas, Anny! Du bist Profi. Profis kommen pünktlich. Wo ist in diesem verkommenen Nest bloß die verdammte Auffahrt zum Schützenfest? Wie? Oh, Verzeihung, Majestät! Ist es doch ein „Königsfest“! Vorhang auf: Die Harburger Vorstadt-Prominenz hält Audienz. Klingt ja fast nach Geschmack. Ich spucke mein Kaugummi aus dem Autofenster. „Chefchen“, auch „Schuppenscholli“ genannt, hat’s echt drauf – jubelt einem noch ’nen faulen Fisch als Flieder unter. Aber mir nicht mehr – heute muss es raus: „Nie wieder Zeltfeste, das ist echt das allerletzte Mal!“ Er weiß genau, ich hasse diese uniformierten Massenbesäufnisse mit Wimpeln und Täterä. Für den heutigen Showblock muss er bereits diesmal einen Hunni drauflegen. Ein Witz in Tüten, üblich ist mehr als das Fünffache. Aber wir haben ja unser übliches sechsstündiges Tanzprogramm zusätzlich, also nehmen wir ABBA auch noch mit.

 

Den Harburger Berg aufwärts ragen die weißen Zelte wie Säbelzähne eines Riesen-Ungeheuers gen Himmel. Als Königin der Orientierungslosigkeit ist es stets ein erquickendes Gefühl, mein Ziel doch irgendwann gefunden zu haben. Aber je näher ich komme, desto saurer wird mein Magen. Ein Feuerwerk des schlechten Geschmacks tobt vor mir und in meinen Eingeweiden. Noch keine 15 Uhr und die ersten Schnapsleichen torkeln schon vor meine Windschutzscheibe. Ich will sofort weg hier, zwinge mich aber mit 10.000 inneren Pferdestärken zu bleiben. Profi. Ich ziehe die Handbremse, werfe meine sieben Sachen auf den Sandweg und schmeiße die Tür mit aller Kraft zu. Ein alter Schuh verhindert den erwarteten Knall. Nicht jetzt, du alte Mistkröte! Treffsicher landet der hochhackige Blitzableiter kurz vor den verdatterten Schnapsfreunden, die vor lauter Schreck zu ganz neuem Leben erwachen. Können ja doch noch gerade stehen, die Jungs. Vier große Augen formen ein treudoofes Fragezeichen und richten es auf mich. „Sorry!“, knurre ich noch schnell und verschwinde im Maul des bunten, lauten Monsters. 

 

Gerüche von Zuckerwatte, billigen Zigarillos und Würstchen kriechen in mein von Ekel geschütteltes Riechhirn, während ich etappenweise mein Equipment schleppe. Ich klemme mir die Finger zwischen Mikrofonstativ und Notenständer ein. Einer der kirschrot modellierten Acrylnägel reißt schmerzvoll horizontal ein, die Haare bleiben dort hängen und ich reiße mir ein paar aus. Kenne ich auch schon. „Du singst doch nicht mit dem Fingernagel, Ann“, meinte mein Kollege neulich. Der mit dem schwarzen Zahn hat es grade nötig. Losverkäufer, Schießbuden, Blicke notgeiler alter Schützenkönige lasse ich in Eile hinter mir. „Nicht mehr lang, Anny, dann hast du deine Rock ’n’ Roll-Schulden abbezahlt“, tröste ich mich.

 

Ich höre „Mamma Mia“ aus dem Musikmix diverser gleichzeitig abgespulter Hits längst verlebter Sommer heraus und biege ins falsche Zelt ein. Feuerwehrmänner gaffen wie Affen zur Mondlandung. Oha, schnell weg hier. Mein Koffer auf Rädern gerät aus dem Takt und haut mir voll in die Waden. „Waterloo“, rückt jetzt näher, setzt sich durch gegen das Dorfbummbumm drum herum. Dazu tobt in meinem Schädel mein ganz persönliches Stimmenwirrwarr. Auch noch Kopfweh, na dankeschön. „Du hast dir das selbst ausgesucht, du wolltest ja unbedingt Sängerin werden – jetzt halt die Klappe und geh singen!“, herrscht eine meiner dominanten Gedankenstimmen. „Anny, da ist das Tanzzelt. Zeit, dein Lächeln wieder zu finden!“, umschleimt mich eine andere. Lieber eine Zahnwurzelbehandlung als das hier! Vor dem Eingang mustert mich einer der Schützenfeldwebel von unten bis oben: „Olala, nich‘ schchlllecht!“, lallt es aus der selbsternannten männlichen Eingangskontrolle heraus. „Nimm deine dreckigen Augen von meinem sauberen Körper!“, feuert mein Blick warnend zurück und verwandelt den Schützenhäuptling blitzartig in einen begossenen Pudel. Sofort danach tut er mir schon fast wieder leid. „Hey, Anny, da bist du ja! Alles okay? – So hab ich dich ja noch nie gesehen!“ Chefchen sieht mich länger an als sonst, will trotzdem keine Antwort hören.  Okay. Los geht’s. Ich grüße flüchtig meine Kollegen und steuere die angedeutete Garderobe hinten im Zelt an. Ein altes Bettlaken signalisiert: Hier Künstlerbereich. Glück gehört zum Spiel. Und es handelt sich um reines Glück, wenn die drei Bühnenoutfits, die eigene Technik mit kabellosem Mikro, In-Ear-Monitoring, Textbüchern, Stativen, Make-up und Accessoires im Angesicht von Diebstahl, Matsch und betrunkenen Uniformträgern überleben. Bratwurst- und Biergeruch durchziehen das vollgequalmte Showzelt. Ah, ein Lichtblick! Meine Freundin und Kollegin Sophia kommt mir entgegen und umarmt mich. Heute ist einer seltenen Gigs, wo eine tolle zweite Sängerin auf der Bühne steht. Die spanische Schönheit mit Rehaugen ist eigentlich genauso deplatziert wie ich. Pocachontas und Blondie sind vom Himmel gefallen und auf dem Rummelplatz gelandet, leider in einer überlebensgroßen Currywurstschale. Wir sind Aliens hier. Aliens, die ihre Miete zahlen müssen.

 

Nach den ersten zwei Bühnenstunden ist die ABBA-Show-Einlage geplant. Sophia ist eine echte Traumfrau – außen Loren, innen Einstein. Ihr Riesenherz schlägt hinter zwei enormen Waffen. Ohne Begleitung würde sie hier wahrscheinlich aufgefressen werden. Ich hake sie ein und mit unseren Köfferchen ziehen wir zu den WCs durch die feuchtfröhliche Masse. „Ausziehn! Ausziehn!“-Chöre begleiten uns. Hier hilft ihr auch ihr Einser-Abitur nicht.

 

Der Weg nach ganz oben führt über das DIXI-Klo. Aber wo ist oben wirklich? Heute ist es jeder Ort außerhalb dieses Schützengrabens. Und die Belohnungstüte, die nach der Show auf mich wartet und hilft, alles zu vergessen. Peter, mein Kapitän, wird längst schlafen.

 

Wir drängen durch das Feiervolk als wollten wir eine angezündete Sardinendose durchdringen.

Dunkelgrüner Uniformfilz schubbert fremd unsere nackten Oberarme entlang. Ellenbogen treffen unsere empfindlichen Weichteile. Benebelt von zwei Kubikmeter Chemietoiletten-Gasen waten unsere hohen Hacken durch Berge von Klopapier und ähnlichen Hinterlassenschaften munterer Volksfeste, dann verschwinden wir endlich in hellblau-weißen Kunststoffklos. Jede der Dancing Queens schmeißt sich in ihrer Plastikzelle in Schale. Agnetha und Annafrid haben sich für den aktuellen Partnerlook weiß ausgesucht. Ob der Minirock noch passt? Hoffentlich hält der Reißverschluss. Nur jetzt nicht stolpern oder an den Wänden schleifen! In Plateau auf dem Klo. Mit diesem Extremschuhwerk bin ich jetzt gefühlte zwei Meter groß, fast stoßen meine wasserstoffblonden Haare gegen das Kunststoffdach. Der Schwierigkeitsgrad steigt: In den klotzigen Disco-Stiefeln der 70-er Jahre ist eine natürliche Fußbewegung völlig ausgeschlossen. Entweder tanzen oder stapfen – noch besser: gleich im Liegen arbeiten. 

 

Wir verlassen unsere DIXI-Umkleiden. Der Himmel weint. Ob er Mitleid mit uns hat? Vielleicht tun ihm auch die Augen und Ohren weh. Es ist ein Eiertanz. Wir stolpern nüchtern durch den Matsch, während unser Make-up langsam verläuft. Zwei Zirkuspferde im Regen, bauchfrei mit geflochtenen Zöpfen und Paillettenhäubchen. Die Haarklemmen, zu hastig reingehauen, ziepen und verstärken den Kopfschmerz. Jetzt nix ändern, gleich ist Showtime!

Draußen auf dem Vergnügungskampfplatz schlägt uns noch mehr Gier in Wort- und Augensalven entgegen. Aber das Duo Infernal bahnt sich tapfer seinen Weg: „Entschuldigung!“, „Hallo!“, „Bitte!“ Volle Bierhumpen, volle Typen und Würstchen mit Senf garnieren unseren Weg auf die Bühne.

Ich weiß nicht wie, doch wir erreichen das Showzelt in gepflegtem Cremeweiß. Wir staksen die Stufen hoch, um rechtzeitig zum ersten Ton Rücken an Rücken in glamouröser Diskopose zu eröffnen. Voilà! „Anny, du hast da noch was …“, weist mich meine treue Begleiterin auf das Papier hin, das noch unter meinem Glitzerstiefel klebt. Ich trete mit dem anderen Plateau darauf, aber es bleibt dort kleben. Endlich kann ich es an der Treppenstufe mitsamt seines duften braunen Naturklebstoffs abstreifen. Inzwischen wird DJ Ötzis unvermeidliches „Ich bin so schön, ich bin so toll, ich bin der Anton aus Tirol!“ einfach abgebrochen, als sei die Fade-Out-Funktion noch nicht erfunden worden. Ein kurzer Moment Ruhe. Die Spannung im Königszelt steigt. Eine potenzielle neue Kollegin, die Scholli zum Lernen hierher bestellt hat, winkt uns schon ganz aufgeregt zu. Schnelles, höfliches Lächeln zurück. Position – Spot an und: Showtime! Brav trällern wir uns sauber zweistimmig von „Honey, Honey“ über „Gimme, Gimme, Gimme“ bis „Money, Money, Money“.

 

Wozu ist das Gehirn einer Sängerin eigentlich gut? Um Texte abzuspeichern oder sich Zöpfchen dranzuhängen? Nach einer knappen Stunde erklingt endlich die Erlösung: „Thank you for the Music“. Hastig stapfen wir die wackelige Gittertreppe wieder hinab und finden erneut zu den ToiToi-Sanitärkabinen vorbei an der sabbernden Meute. Wir ziehen uns für das Galaprogramm um, dann singetanzelächeln wir für weitere vier Stunden. Wir halten durch. Zwei Stück Fleisch, singende Jukeboxen auf zwei Beinen.

 

Gala Gaga (Echt goile Bühnenshow)

Freitag Nacht gegen 00:30 Uhr. Gala irgendwo im Nirgendwo. Seit 20:00 Uhr stehe ich hier an der Front, tanzesingelache. Meine Füße schmerzen. ShoopshoopSchunkelSchubidu. Ich wünsche, ich gehörte nicht dazu. Von E-Mail zu E-Mail – von Ort zu Ort. Für eine Hand voll Gage. Die Gasthof-, Ball- und Hotelnamen verblassen zu austauschbaren Daten. Wenn ich mich selbst klonen könnte, hätte ich bei all den Anfragen viermal so viele Jobs. Vielleicht würde es sich dann rechnen. „Wieso rufen die Schmeißfliegen immer erst mich an?“, höre ich mich fluchen.

„Du könntest dich auch freuen, Anny, sei nicht so überkritisch!“, mahnt natürlich sofort mein innerer Zensor. Stimmt, ich könnte mich freuen. Aber ich bin ausgebucht und ausgebrannt. Da ist das mit dem Fühlen so eine Sache. „Und dafür hast du dein Medizinstudium aufgegeben?“, schaltet sich nun auch noch die väterliche Stimme ein. Kopfsalat.

Kopfweh heißt der Schlager, den ich zum Besten gebe. Im Text behauptet sich eine Hausfrau: „Ich bin kein Hemd, das man sich auszieht, weil man’s nicht mehr tragen will! Und keine Flasche, die man leer trinkt und dann wegwirft in den Müll! … und heut Abend hab ich Kopfweh, wenn du sagst, komm doch her …“ Für mich persönlich einer der Titel, die nur in der Überdrehung ansatzweise erträglich sind. Das künstlerische Endgrauen. Mal interpretiere ich etwas Nina Hagen hinein, mal texte ich Passagen einfach spontan um. Merkt irgendwie keiner. Oder ich schalte ab und lasse nur noch eine singende Hülse von mir über. Ich habe das Parallelsingen erfunden: Die Kunst, sich artgerecht zu verhalten, indem im Inneren eine Parallelwelt entsteht, außen aber die Form gewahrt bleibt.

 

Viele, viele bunte Blicke kleben an mir – sichtbar gewordenes Gedanken-Kaugummi, Geschmacksrichtung „große weite Welt“, gewürzt mit Illusionsaroma „Freude am Musikmachen“. Das Publikum interpretiert in Wirklichkeit stärker als der Bühneninterpret selbst. Okay, lasst mich die Leinwand eurer Träume sein. Eine schlecht bezahlte Fantasie vom glücklicheren Leben. Vielleicht schreibe ich irgendwann ein Buch darüber, wie das hier wirklich aussieht.

Ein alkoholisierter Endsechziger mit der Gesichtsfarbe vom Typ „Bluthochdruckpatient“ gibt eine Runde aus für die tolle Band. Krebsrotes Suchen meiner Aufmerksamkeit: „Wie, kein Schnaps?“ Ich bedanke mich für den stattdessen gewählten Milchkaffee und lasse die Saugeaugen nach oben auf die Bühne für zwei Sekunden zu, bis ich merke, dass er auf meinen Busen schielt. „Alter, ist nicht echt!“, behalte ich natürlich für mich. In all meinen BHs für Abendkleider und Korsagen machen Gelkissen ihren Job und verschönern meine Silhouette. Ich versprühe eine kleine Portion Höflichkeit und verschwinde schnell zum Nachschminken in der Garderobe.

„Hauptsache, die Party tobt und du vermittelst den Leuten Spaß, es geht nicht um dich hier!“, erinnert mich mein innerer Chef an meine bezahlten Pflichten. „Anny, richte deine Gedanken auf die schönen Dinge, deine Schulden sind in zwei Jahren abgezahlt, und dann gibst du ein großes Fest!“, richte ich mich selber wieder auf.

Sexy 

Ich liebe High Heels. Die geborgte Macht der Frau. Heute teste ich die feinen Schwarzen mit Strass und Riemen bis fast zum Knie. Sie wirken. Streckend, elegant, erhebend. Dezent luken sie durch den feinen Seitenschlitz im Rybhoff-Samtabendkleid, das oben geschlossen bleibt. Anny im Kimono-Style mit gestickten roten Kirschblüten. Mein Lieblingskleid. Die Schmerzen im Fußballen vom Singetanz verstärken sich. Barfuß geht es aber auch nicht. Klappe halten und singen. Wer schön sein will, muss leiden – weiß ich wohl. Wer singen will, muss schön sein – wissen alle Bühnendienstleisterinnen. Jedenfalls die, die sich noch nicht leisten können, ihr eigenes Ding zu machen.

 

Kleines Toilettenpäuschen. Meine Stimmbänder schreien mich an: „Aufhören, Schluss, wir können nicht mehr!“ Meine Füße, Knie und Hüften bitten ihrerseits um Gnade. Schon gestern Nacht haben sie sieben Stunden ihren Bühnendienst getan. „Was sollen denn die armen Reispflückerinnen in China sagen?“, antworte ich ihnen und klebe mir ein Blasenpflaster auf die abgeschruppten Hautstellen. 

Flashdance –What a feeling! 

Weiter geht‘s. Singen im Akkord. Musikalische Fließbandarbeit. Habe mich bereits hochgesungen 60 Euronen die Stunde – brutto. Übrig bleibt kein Drittel. Vor- und Nachbereitung, Proben, Auto, Steuern, Krankenversicherung, Garderobe, Kosmetik etc. Jede Putzfrau hat unterm Strich mehr. Aber das glaubt mir eh keiner und ich meide dieses Thema mittlerweile. Ich werde mich in Zukunft weiter hochsingen zu 500 Euro pro Auftritt, sodass es auch netto reichen sollte.

Que Sera 

Leider hab ich den Energiesparschalter bei mir noch nicht entdeckt. Die Rock ’n’ Roll-Schule hat ihre Spuren hinterlassen. Jeder Auftritt zählt, jeder Song, jede Note fordert den gleichen Energieeinsatz, als wäre es für die Ewigkeit. Schon mal „It’s raining men“ mit Kopfstimme gehört? Grausam. Geht gar nicht. Mein Temperament erlaubt mir ohnehin nur den vollen Energieeinsatz. Je später der Abend, desto heftiger die Party. Die Pausen kürzer, die Titel schwieriger, der Körper verbrauchter. Jetzt bloß nicht schwächeln – ist ja gleich vorbei! Auf keinen Fall lasse ich es mir durchgehen, Band oder Gäste meine wahre Stimmung spüren zu lassen. Fairplay schreibe ich ganz groß. Was kann die Welt dafür, dass ich hier im falschen Film bin?

I’m so excited … I want to love you feel you, wrap myself around you

Stunde sieben, erste Verlängerung. Ich betrinke mich mit Milchkaffe literweise und versuche, das Getanze als aerobisches Fitnesstraining zu betrachten. Meine liebe Sophia, der ich den Kontakt zu dieser Top-Band verdanke, hat neulich treffend formuliert: „Anny, als Sängerin bist du automatisch Model im Nebenjob.“ Scheiß-Perfektionismus. Ich wünsche mir so oft, mehr drüber zu stehen. Die mollige Schlampen-Phase zur Uni-Zeit hatte was. Aber nun bin ich doch froh, dass ich fast täglich trainiere und über eine enorme Kondition halsabwärts verfüge. Ich habe schon immer für mein Leben gern getanzt. Notfalls auch auf Knopfdruck und zu Umtata. Aber das Zeug singen? Vielleicht hab ich einen Dachschaden, aber es ist für mich persönlich wesentlich intimer, die Lieder eines Menschen zu singen als dessen schmutzige Unterwäsche zu tragen. Hier beschmutze ich mich innerlich. „Du Weichei, mach ’n Kopp zu! Es ist ehrliche, bezahlte Arbeit“, tönt wieder einer aus meiner ständigen Oberstübchen-Debatte. Hm, ehrlich?

She works hard for the money

Vollgas für die Diskoknaller. Mir wird langsam übel. So sehr versuche ich, den letzten Rest Kraft aus dem Zwerchfell zu quetschen. Schonendes „Stützen“ geht nicht mehr. Kontrolle erfordert Technik und Energie. Selbst leichtere Stücke erscheinen zu gewissen Uhrzeiten unerträglich hoch und werden dann eben auf der Felge gesungen. Profisängerinnen, „High Belt“ beherrschen, klingen kraftvoll, sexy, vielleicht sogar „schwarz“. Ein ganzer Markt lebt davon: Christina Aguilera, Maria Carey, Whitney Houston, Aretha Franklyn, selbst Janis Joplin, sie alle sind Meisterinnen darin. Ihre HNO-Ärzte und Logopäden wissen, wie schädlich der übermäßige Gebrauch davon ist. Für den Hals heißt es Sprinten auf Marathonlänge, wenn eine Gala sechs bis zwölf Stunden dauert, was ja Freitag und Samstag passieren kann. Über Profisängern baumelt das unsichtbare Damokles-Schwert der Stimmbandknötchen oder -zysten. Diese gilt es konsequent zu vermeiden, denn eine Operation mit monatelangem Verdienstausfall kann die Folge sein. Plus: absolute Stimmruhe, wochenlanges Schweigen, Heiserkeit, Halsweh und Existenzängste. Auch da kann ich ein Lied von singen. 

Ich atme erleichtert aus bei dem Gedanken an den nahen Feierabend. Da kommt mein Chef strahlend auf die Bühne geflitzt: „Überstunde!“ „Chefchen, sag mal, geht das heute auch mal ohne mich? Bin schon ganz abgesungen. Verzichte lieber auf die Kohle.“ „Wie sollen wir denn die ganzen Partyknaller ohne dich machen?“ Dieser oberflächlich wie Lob klingende Satz bedeutet: „Egal was passiert, du musst!“

Walking on Sunshine 

Die Jungs können spielen wie die Teufel! Komplettes Live-Programm ohne Wiederholungstitel bis zu vierzehn Stunden gefällig? Kein Thema. Aber ihnen dabei zusehen? Ihr Äußeres vernachlässigen die meisten Mucker, außer einer wie Kutsche, den man hinter den Drums leider kaum sieht. „Mon Amour“ hat unfreiwilligerweise viel von Klimbim. Gerade steht Chefchen wieder mit den Händen in den Hosentaschen herum – „lost on stage“. Sein zerknittertes Jackett hängt auf halb Acht. Ich habe mittlerweile aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen. Beratungsresistent. Freu mich, dass heute kein Babybrei mehr an ihm klebt und beherrsche mich, nicht die Schuppen von seinen Schultern zu wischen. Beliebtheitspunkte gibt es für Kritik auch nicht unbedingt. Die Bühnenshow verteilt sich auf homöopathische Dosen: Da ist Schollis Versuch einer lustigen, immer gleichen Moderation, gelegentlich auch dieses Jetzt-gehts-los-Fußwippen. Zu später Stunde steigert er sich beachtlich – die Achtung-ich-hab-Spaß-Geste mit Saxofon-in-die-Höh. Sind doch schon zwei Gesten, reicht. Die Herren tragen schließlich schon die Instrumente und die Verantwortung. Professionelle Präsentation wird durch Rumstehen abgegolten. Na, gut. Das Publikum guckt sowieso fast ausschließlich auf die Sängerin, meistens die einzige Frau im Team. Ihre Rolle ist klar: Sie repräsentiert Band und Veranstalter, dient als Blickfang und senkt meist den Altersdurchschnitt der Tanzmucker.

Barbie Girl – Happy Plastic, it’s fantastic …

Es ist meine eigene Schuld, dass ich mich verausgabe. Ich habe die Angewohnheit, Chefchen kontinuierlich zu doppeln, singe also auch die Männertitel alle mit. Schön blöd. Aber solo kann ich diesen Ungesang dem Publikum einfach nicht zumuten. Sorry, das klingt vielleicht hart – doch so schone ich auch meine eigenen Ohren, denn kaschiert unter Harmoniegesang ist selbst Schollis Genöle erträglich. Mag es auf Kosten meines Kehlkopfs gehen, aber ich fühle mich verantwortlich für die Re-Jobs meiner Bands. Eine fitte Sängerin ist Visitenkarte und Zugpferd zugleich für das ganze Team. Der Erfolg gibt mir Recht, „Mon Amour“ ist ausgebucht und „die zappelige Blonde“ sein bestes Pferd im Stall. Scholli ist ein Fuchs. Seit Kurzem bucht er „Bandableger“, die unter dem gleichen Namen gleichzeitig unterwegs sind. Man nehme ein bis zwei eingespielte Musiker der Stammcrew plus Ersatzmusiker und Austauschblondine und ergänze den Mix durch Playbacks. „Mon Amour“ hoch drei!

02:45 Uhr – kein Ende in Sicht.

 

Jive, Conny, Jive – schöner, fremder Mann, Du bist lieb zu mir 

Die Kollegen bemühen sich, mich mehr zu schonen und singen etwas mehr, was zu später Stunde nicht ganz so schädlich für den Gesamteindruck der Band ist. Die Pausen werden immer kürzer, jetzt heißt es Spannung halten. Ich bin längst heiser und vermeide jedes Wort. Jetzt sind auch noch meine treuen Freunde, die Emser Salzpastillen aufgebraucht! Die helfen, Töne zu produzieren, selbst wenn Sprechen schon nicht mehr geht. Und wie viele Knochen, die schmerzen können, man als Mensch so hat! Wieso eigentlich Mensch? Der einzige Unterschied zwischen einem Tanzbär und einer unfreiwilligen Tanzmuckerin ist das dicke Fell. Singender Tanzbär, blond. Das Blasenpflaster tut sein Bestes, doch suppt es schließlich durch und löst sich. Zwischen den Strass-Riemchen ragt es nun seitlich heraus. Singetanz, lächelsing. Lauter Heteros in der Band, da brauch ich nicht um Mitleid zu buhlen. Ich schwöre mir, die ganze City kommende Woche nach flacheren Schuhe zu durchforsten, die edel aussehen und bezahlbar sind. Nur Frauen und Schwule wissen, wie lang man da sucht! 

Er gehört zu mir

Der Krebsrote swingt mit seiner Tanzpartnerin immer wieder dicht am Bühnenrand vorbei. Ihre großen Augen fressen kleine Löcher in mein Kleid. Schade, letztes Mal hatte ich für die Überstunde etwas Bequemeres mit. „Hast du deine Badelatschen mitgebracht, Anny?“ Ich verstehe: Musikerdeutsch für „Zieh die hässlichen Dinger sofort aus!“ Chefchen Scholli kann auch direkter sein. Zum Beispiel neulich auf der Dorf-Hochzeit bei Winsen: Mein Sanduhr-Körper steckt in der figurbetonenden Silberrobe à la Monroe, Herz und Seele vollkommen vertieft in die Interpretation von „My Heart will go on“. Ich schließe die Augen und bin an Bord, bin Rose, mit Haut und Haar. Junge Leidenschaft, dann Schiffbruch, Panik, Tränen – mein Geliebter Jack opfert heldenhaft sein rettendes Wrackteil für mich mit unserem ungeborenen Baby – und ertrinkt wenige Meter vor uns … plötzlich schießt der Zerstörer vom „Erdreich Bühne“ aus vollem Rohr: „Sag mal, hast du aber ordentlich zugelegt!“ In Sekundenbruchteilen zerschellt meine Titanic am Meeresgrund. Dieser Schlag zerfetzt sie sofort, komplett. Auf die Toilette, schnell ausheulen, weitersingen. 

 

Ich trainiere ungefähr fünf Mal die Woche, um diese Figur zu halten. Dazu vegetarische, fettarme, vollwertige Diät, Protein-Shakes und Vitaminpillen. Und dann das! Welch ein wunder Punkt, schon immer gewesen. In so zentraler Position trifft mich Schollis plumpe Ansage leider besonders. Aber: Das Dorf-Brautpaar kann nichts dafür, dass ich so empfindlich bin, die Ballgesellschaft heute Nacht ist für meine Gefühle ebenso nicht verantwortlich.

Das kleine „I will survive“ der Bühne

Schon seit mehreren Stunden fixiert mich ein weiterer betagter Tanzgast mit Bluthochdruckröte. Dieser hat besonders große Poren auf der Knubbelnase. Soll er doch stieren. Irgendwann werd ich ja auch mal älter und erfreu mich vielleicht genauso am Anblick von jungem Gemüse. Ich halte Augenkontakt mit möglichst allen aus dem Publikum, für sie bin ich ja letztendlich hier. Auch Jahre später erkenne ich prägnante Typen wieder. Selbst beim Joggen um die Alster habe ich Visitenkarten in meinem  Wasser-Gurt, wenn Leute mich erkennen. Ich tanzwanke auf meinen Fußklumpen die Choreografie wunder Ballen. Krebsrot- und Bluthochdruckformationen wanken ihrerseits rhythmisch, die Kreise gen Bühne werden kleiner, die Rotationen schneller mit steigendem Spritpegel. Meine innere Künstlerin gibt die Hoffnung nicht auf, dass es doch wieder einmal Momente der Berührung von Seele zu Seele geben könnte. Ich muss mich nur weiter entwickeln, mehr Gestaltungsmöglichkeiten erarbeiten, das Programm mitentscheiden können. 

„Sach ma, macht ihr auch Pollonneese?“, lispelt es hochprozentig zu mir hoch. Ich beuge mich nach unten zu einem rüstigen rundlichen Rentner mit verrutschter Fliege, schaue hinab auf ein paar verschwitzte gräuliche Haare, die anständig zur Seite gekämmt an der Fastglatze kleben. „Tut mir leid, das haben wir leider nicht im Programm. Vielleicht ist ja Margot Werner was für Sie?“ Sein Blick verharrt kurz an meinen Kirschblüten. Schwupp, dreht er sich zu seiner Tanzpartnerin im blauen Polyacryl-Karo und schwebt ab, ohne zu antworten. Dafür ist Krebsrot wieder im Anmarsch. „Noch ein Sabberfaden und mein Mikro landet in irgendeinem Gebisssss!“,  zischen meine Gedanken. Nein, ich hasse niemanden persönlich, mehr die Situation und mich selbst. Anny, Haltung! Aber wohin mit all den Gefühlen? Transformation, Anny, leite deinen Zorrrrn in die Musik … jaaa! Zack!

Did you think I’d lay down and die? Oh, no, not I – I will survive! 

Mein Mikrofonständer landet direkt vor den Füßen meines verdutzten Blitzableiters. Maßarbeit – keiner wird verletzt. Der Farbfreudige glotzt wie ’ne Flasche Holsten, die das erste Mal Bier sieht. „Wow, goile Bühnenshow!“, himmelt mich der Gaffer hochprozentig an und schiebt mit seiner pummeligen Lady weiter. 

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Die Hornbrille mit Hosenträgern/Dick und Doof (Ein Mann, zwei Worte)

Gymnasium Meckelfeld 1980

Ein Gestell, zwei Schweinsaugen: Mein Musiklehrer Herr Tusch blickt voll durch. Die dicke Hornbrille mit dem breiten braunen Rahmen schmückt die kleinsten Gucklöcher, die ich je gesehen habe. Heute fragt sich die gesamte fünfte Gymnasialklasse wieder einmal, wie lange sein XXXXL-Format wohl noch durch die Tür passt. Schweißtropfen kullern seine Schläfen hinab. Sein Lehrerstuhl ist unter ihm begraben und knarrt bereits verdächtig. 

„Also, nächste Woche ‚Yesterday‘ und ‚Let it be‘ auswendig aufsagen!“ Maddl, meine Tischnachbarin rechts, gähnt laut. Der clevere Lars links macht schon seine Mathehausaufgaben. „Mann, wir sind doch hier auf dem Gymnasium jetzt und machen immer noch so einen Eierkram!“ Ich sehe den Zusammenhang mit Musik nicht. Musik ist doch was Eigenes, Neues, Kreatives. Meine Hoffnung, im Musikunterricht doch noch etwas Interessantes mit nach Hause zu nehmen, schrumpft. Das Riesenbaby mit den Hosenträgern vorne gibt schon wieder seine Storys aus der Hippie-Zeit zum Besten: „Ja, das war was, als wir noch mit dem lila Käfer unterwegs waren mit den Riesenblumen drauf … Flower-Power, sag ich euch!“ Ich fliehe mit meinen Gedanken jedes Mal in meine eigene Blumenwelt.

Wer ganz vorne sitzt, ist arm dran und muss Interesse heucheln. Schon eine Reihe dahinter liegt außerhalb seiner Welt. Brieftauben fliegen unbemerkt umher, viele meiner Mitschüler essen ihre Schulbrote demonstrativ genüsslich. Davon hätte ich jetzt auch gern eins, will aber hungern. 

 

Herr Tusch weiß, welche Rolle die Beatles für die Popmusik gespielt haben, deshalb nehmen wir sie schon seit Monaten durch. Angeblich hilft er auf dem Gymnasium nur aus und hat die Ausbildung gar nicht, was ja eigentlich nichts heißt. Es gibt Schlimmeres, finde ich. Zum Beispiel, dass die Schulband nun unter seiner Wurstfuchtel steht. Verheißungsvoll klingt das Wort „Band“: Abenteuer, Anerkennung, Action, Ausweg … Am Anfang steht also das A. Aber auch für „Angst“. Trau dich, trainiere deinen Mut, Ann! Den Tusch nimmst du in Kauf. 

Dann erlöst uns die Pausenklingel, und der Lehrer-Bulbus presst sich hinaus.

 

Wenige Tage später folgt die Mutprobe, die ich mir selbst auferlegt habe, um in meine erste Band aufgenommen zu werden: Ich singe vor. Schweißgeruch liegt in der Luft, alt und sauer. Ich entdecke Flecken auf den Hosenträgern von Herrn Tusch, die lenken mich aber nur kurz ab. Die große weite Welt in Form der Schulband ruft! Mein Herz schlägt im Speed-Metal-Takt. Ich springe über meine Angst und singe Yesterday. Sofort tagt die übergroße Jury in Form meines Musiklehrers Tusch und verkündet ihr Urteil: „Du hast zwar am besten gesungen, aber weißt du, im Musikgeschäft kommt es eben auch aufs Aussehen an.“ Hätte er auch eher sagen können. Er weiß schließlich, wovon er spricht. Ach, soll er sich doch weiterkullern  …

 

Ständig wird mir schwindelig vom Hungern. Mit knapp zwölf Jahren bin ich bereits ausgewachsen. Kreidebleiche 1,74 m und gefährliches Untergewicht. Erst war ich zu dick, jetzt bin ich zu mager, und – nee, zu flach?! Zu picklig … oder, da hat er sicher Recht, zu schlecht gekleidet. Und dieser hellblaue Babypulli, diese gestreifte Ökolatzhose und … einfach hässlich alles.

Stundenlang kurve ich allein mit meinem Rad durch die Dörfer Seevetals. Wie, die Stimme zählt gar nicht so viel? Für mich bricht eine kleine Welt zusammen. Aber mein Plan steht: Ich werde eine ganz große Sängerin. Irgendwann. Dann hau ich ab hier, ziehe zurück nach Hamburg und werde schön und glücklich.

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Die Domina vom Arbeitsamt

 

6.12.10 Hamburg-Wandsbek

 

Pappelallee. Ich steige aus dem Taxi. 12 Uhr Termin bei Frau Lotter zur Beratung. Der Weg nach oben führt mich heute per Fahrstuhl in den 4. Stock der Arbeitsagentur, wie das auf neudeutsch heißt. Der kleine freundliche Mann mit dem Extremaknegesicht lässt mich noch schnell rein, so quetsche ich mich neben den monströsen Aktentrolley. „Sind ja schlank! Also, wenn man hier so die Frauen in den Büros sieht, gaaanz schöne Maschinen, Mann!“

„Manche stehen drauf!“, ergänze ich wohlwissend. Jawohl, wissend! Schließlich genieße ich das große Glück, einen außergewöhnlich offenen Austausch zum Thema Sex mit Männern (!) führen zu dürfen. Ich gebe vertraulichste Infos preis aus der weiblichen Perspektive und meine lieben männlichen Freunde oder Partner auch. Ich musste 42 Jahre alt werden, um mir von einem wunderhübschen 29-jährigen den pervers-erotischen Horizont erweitern zu lassen. Da fällt mir der herrliche Herbst am Hafen Eckernförde ein.

„Guck mal da, der attraktive Typ und siehst du die da, die Dicke an seiner Hand? Der sieht ja ganz gut aus, aber sie (mit … Geiles Fickfleisch, steh‘n Männer drauf!“ Oder nannte er sie gar „Bumsklumpen“?

Ich weiß wohl, dass jeder Mensch Verschiedenes attraktiv findet. Aber bisher kannte ich nur Kommentare, die in einer solchen Situation echtes Mitleid mit beiden Paarhälften ausdrückten.

„Weißt du, das ist so bei Männern! Wir wollen im Grunde zwei Frauen, ist ja klar. Die Heilige und die Hure. Eine schlanke zum Vorzeigen und eine geile fürs Bett!“ Und ich naives Wesen dachte, die meisten Männer mögen‘s schlank, dünn, dünner, aber dann doch gern mit Busen – oder es sei höchstens umgekehrt: Die brave mollige Vozeige-Mom repräsentiert die familiäre Fruchtbarkeit, Wohlstand und Gemütlichkeit, während die Geliebte der feurige Hungerhaken sei. Wie weltfremd von mir. Ist mir eigentlich aber deutlich lieber. Wer will schon die Mom-Rolle, wenn es die Rolle der attraktiven, begehrten Hure zu besetzen gibt? Das schlimmste ist manchmal die Sehnsucht in uns, letztlich alle Rollen selbst zu erfüllen und den Mann unseres Herzens komplett ausfüllen zu können. Oder, Ihr lieben leidenschaftlich Liebenden und Mitträgerinnen des XX-Chromosomens heterosexueller Ausprägung, steht Ihr etwa drüber? Wie, Selbsterfahrungskurs erfolgreich belegt? Oder seid Ihr gar erotisch erleuchtet?? Falls ja, ich will das Rezept bitte auch haben. Koste es, was es wolle. Aber auch schön ist das! Jede Frau ist viele Frauen. Schon Whitney Houston sang es uns vor: „I‘m every woman, it‘s all in me … Anything you‘re wanting, baby!“

 

Vierter Stock. Ende der Fahrt. Konzentration jetzt, Anny.

Wo kommt denn das jetzt wieder her? Wie ein Blitzlicht erscheint mir ein Fantasiebild von dem kleinen freundlichen Aktendiener hinter mir: Genüsslich begraben zwischen und unter den Riesenhängebusen einer übergroßen XXL-Schönheit lächelt er glücklich wie ein Baby vor sich hin und seine Giant Mom tunkt ihn in ihre schwabbeligen Bauchröllchen. Er schwingt auf ihr wie in einem Wasserbett.

Schon öffnen sich die Fahrstuhltüren in die zubetonierte Behördenrealität und ich muss den eher angewidert wirkenden Aktendiener hinter mir lassen. Ich wünsche ihm von Herzen noch einen schönen Tag und sehe das willige Arbeitsfleisch, ach, nein, die Arbeitssuchenden im Flur dieses Kastens.

 

Glitschige orange Plastikschalen zum Sitzen im vierten Stock. Naja, die müssen halt sparen. Einer nach dem anderen wird höflich und professionell aufgerufen. Hey, vielleicht ist meine Sachbearbeiterin ja auch ein hilfsbereiter Mensch und hat vielleicht sogar Ahnung? Anny, halte deine Erwartungen bewusst niedrig. Dies ist eine staatliche Institution mit denkbar schlechtem Ruf, also halte dich an deine Fragenliste und freu Dich, wenn dir vielleicht doch jemand einen brauchbaren Rat geben kann. Für naive Menschen wie mich ist es ein Muskeltraining, ständig die Erwartungen an sein Umfeld auf einem realistischen Level zu halten. Und vor dem Arbeitsamt bin ich oft gewarnt worden. Rat vom Arbeitsamt?

Es steht und fällt ja immer mit dem Menschen, der vor einem sitzt. Es könnte ein zukunftsentscheidender Termin direkt vor Dir liegen, Anny!

 

Ein Türchen nach dem anderen öffnet sich. Wie aus der Kuckucksuhr kommen und gehen die kleinen Menschchen aus den Zimmerchen. Hm. 11 Uhr gleich. Sicher ruft mich gleich meine Frau Lottermoser auch auf. Neben mir Stapel mit Zeitungen, auf denen überwiegend sehr junge Menschen lächelnd den Wert von Fortbildung verkaufen. Ja, auch ich bin noch jung. Gerade 42 geworden und voll fit. Dass man sich so gut fühlen kann und auch so lernfähig ist, hat mir nie einer gesagt. Als Teenie dachte ich manchmal noch, das Leben höre mit 18 auf, Spaß zu machen und handelt nur noch von Vernunft und stupidem Gelderwerb, Kontoführung und Aktensortieren. Durchtränkt von Ehestreits. Also habe ich nie geheiratet und bin Musikerin geworden, um ja glücklich zu werden. Naja, Anny, und das haste nun davon …  Ja, und 30, sooo alt, mit 30, da bin ich entweder schon tot oder steinreich, dachte ich mal. Dabei muss ich heute noch nichtmal eine Brille tragen und laufe regelmäßig um die Außenalster, werde mehr geliebt als jemals zuvor und starte nun beruflich nochmal ganz neu. Das Leben ist besser als erwartet. Ein bisschen ziehen meine Gedanken mich fort, dann steigt diese ungute Gefühl in meinem Darm auf, dass hier was nicht stimmt. Da ich keine Uhren ab kann, sehe ich auf meinem neuen iPhone nach. 11:13 Uhr! Schock! Ist Frau Lottermoser krank oder ein Irrtum am Werk? Nervös suche ich ihr Zimmer auf und entdecke einen fast versteckten Gang, an dessen hinterstem Zimmer zwei weitere Po-Parkbuchten aus Glitscheplastik angebracht sind. Amtsunerfahren wie ich bin, setze ich mich davor und denke, na, gleich werde ich sicher geholt. Will nicht unhöflich sein und in ein Gespräch platzen, das vielleicht länger gedauert hat. Da höre ich die rauchige Stimme einer Lady, die offensichtlich laut telefoniert. Fühle mich wie bestellt und nicht abgeholt. Nur vor diesem Büro klebt ein Schild: „Aus gegebenem Anlass möchte ich darauf hinweisen, dass ich nicht die Hand reiche. Ich bitte um Verständnis.“ Na, die Frau ist schlau. Vermeidet Höflichkeitsbakterien. 11:17 Uhr schon. Als es leiser wird, klopfe ich. Ein militärisches „Ja!“ empfängt mich rauh. Wie dämlich von mir, nicht gleich zu klopfen!

 

„Verzeihen Sie die Verspätung, Frau Lottermoser, aber ich habe schon gewartet! Ich dachte, Sie rufen mich auf!“

„Ja, ja, denken, denken …“, hustet mich die gepflegte Endfünfzigerin mit schwarzgefärbtem Haar an, während sie weiter auf ihren Computermonitor starrt. „Die Zimmernummer stand ja da! Ich habe hier meine Termine! Also, wir haben nicht mehr viel Zeit, legen wir am besten gleich los. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Der Ton macht die Musik. Und ihr Ton zeigt mir rasch, dass hier kein Mensch sitzt, der anderen gerne Dienste leistet. Hier sitzt ein Drachen. Anny, Beherrschung! Nicht gleich gehen, nein, nicht gleich gegenzicken. Dem Leben eine Chance geben, denn auch Zicken und Drachen können ja was wissen. Nicht jedem ist auch emotionale Kompetenz gegeben.

„Ich hoffe, dass Sie mir überhaupt helfen können, denn ich bin freischaffende Berufsmusikerin und Dozentin seit über 15 Jahren und suche Möglichkeiten, darauf aufzubauen. Ich habe hier eine ganze Liste mit Fragen an Sie …“

 

„Stopp, bevor Sie da viel fragen und ich die ganze Zeit Nein sagen muss: Sie können nicht zu einer Versicherung gehen, wo Sie nie was eingezahlt haben und dann im Schadenfall eine Leistung erwarten! Wenn Sie immer freiberuflich waren, dann haben Sie ja auch nie eingezahlt ins System. Die Leute denken immer, nur, weil Sie Steuern zahlen, hätten Sie hier ein Anrecht auf etwas! Da kann ja jeder kommen, dessen Laden mal schlecht läuft und was vom Staat wollen! Woran dachten Sie denn überhaupt?“

Nun ist mein sportlicher Ehrgeiz angestachelt. Ich lasse mich nicht kleinkriegen, nur weil ich Rat suche. Gleichzeitig will ich mich aber auch nicht auf das dämliche Konfrontationsniveau dieser Dame herablassen, deren IQ offensichtlich den ihrer sonst beachtlichen Oberweite deutlich unterschreitet. Manchmal möchte ich solchen Leuten einfach den Fuckfinger zeigen und sie mit ihrem Hochmut nicht durchkommen lassen. Je dümmer, desto dreister? Brüllen, Tür zuknallen, Ihr meine Unterlagen ins Gesicht schmeißen! Aber da muss mehr kommen, Madame! Ich werde meine emotionale und spirituelle Schule nicht so leicht über Bord werfen.

„Eine Freundin, auch Sängerin und Gesangsdozentin, aus Norderstedt hatte das Glück, dass ihr für ihre Gesangsworkshops ein Zuschuss für Werbung gewährt wurde, damit sie damit starten kann und gar nicht erst arbeitslos wird.“

„Das kann gar nicht sein. Sie muss gelogen haben und hat wahrscheinlich Arbeitslosengeld bezogen, das wäre die einzige Möglichkeit für Unterstützung.“

Mein Romina lügt nicht, aber dieser Drachen hier ist echt giftig. Egal, ich übe meinen Geduldsmuskel und trainiere die emotionale Defensive. Ich will was von ihr und von mir selbst erwarte ich Beherrschung!

„Nein, sie ist Freiberuflerin wie ich. Es muss ja nicht erst dazu kommen, dass jemand abrutscht und dem Statt zur Last fällt.“

„Pah! Ich kann auch nichts dafür, dass die Nonnenmachers sich ungestraft bereichern und andere von ihrer Vierzigstundenwoche nicht leben können! Wenn ich zaubern könnte, wäre ich ja selbst reich!“

War dies etwa ein Anflug politischen Interesses oder gar Mitgefühls? Plötzlich entdecke ich zwei kleine silberne Miniaturhandschellen, die von der Tischlampe herabbaumeln.

„Na, Sie machen mir ja Mut! Aber es muss doch Möglichkeiten geben, dass es leichter wird, dass ich mich im Beruf halte oder dass ich mich fortbilde! Ich tu bereits alles, was ich kann, arbeite sehr sehr viel und …“

„Wenn Sie so viel zu tun haben, was wollen Sie dann hier?“, unterbricht mich die fulminante weltfremde Ignoranz, die in ihrem Leben noch niemals selbstständig war, sonst wüsste sie, wovon sie spricht. Aber es interessiert sie auch nicht, denn sie wird ja für diesen Sitzjob bezahlt per Stunde! Regelmäßig, pünktlich, unaufgefordert! Sie darf ja krank werden ohne Verdienstausfall, kennt Feierabend und Wochenende. Und Urlaub, das gibt es für die meisten ja jahrelang nicht. SIE kennt keine Existenzsorgen trotz viel Arbeit, so wie Künstler und Existenzgründer und viele Freie sie kennen. Satz ist die 60- bis 80- Stundenwoche. Eine Freundin von mir bringt es auf knappe hundert Stunden! Nun kann ich hier die Prinzipien der Freiberuflichkeit nicht gänzlich erklären. Aber der Begriff „selbstständig heißt ständig selbst“ ist vielleicht bekannt.

„Ich manage mich selbst, klebe Flyer, gestalte sie, unterrichte, mache Pressearbeit, bilde mich fort, pflege und erweitere mein Netzwerk, optimiere meine Internetpräsenz, bewerbe mich ständig, nur: Es bleibt zu wenig zum Leben über. Haben Sie denn keinen Tipp für mich, worauf ich aufbauen kann? Musiktherapie, Logopädie, zurück an die Universität, internationale Künstlervermittlungen, Stipendien …

„Ich empfehle Ihnen, wenn Sie sich neu orientieren, dann nehmen Sie sich einen Job, indem Sie Ihren Rücken schonen. Ich vermittle hier Lagerhelfer und Pflegekräfte. Künstlerdienst …? Wo haben Sie denn Ihre Ausbildung gemacht?“

Vielleicht speit der Drachen doch noch ‘nen Goldtaler aus heute. Sie öffnet ihr Computerprogramm.

„1994 Kontaktstudiengang Popularmusik Musikhochschule Hamburg.“

Wie, nur ein Semester? Was ist denn das für ein Studium, das nur ein Semester geht? Also, ich kenne ja einiges, aber davon habe ich noch nie gehört! Da brauchen Sie sich gar nicht erst beim Künstlerdienst zu melden mit.“ Siegessicher, höhnisch wie arrogant sondert das Giftvieh ihr Unwissen ab, dass es weh tut. Mein Magen brodelt. Feuerwerke des Zorns.

Reicht. Grenze. Ich köpfe keine dummen Menschen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Aber ich lasse mir auch nicht alles gefallen.

„Wissen Sie, langsam werde ich sauer! Sicher, Popgesang ist als Studium staatlich nicht anerkannt, während die Klassik und der Operngesang durchaus diese Möglichkeiten hat. Mit dieser Ungerechtigkeit lebe ich schon eine Weile. Aber ich bin nicht Berufssängerin geworden, wenn ich mich nicht zu behaupten wüsste und meine eigene Schule gewesen wäre! In den letzten 15 Jahren habe ich so viele TV-Werbespots gesungen wie keine andere in Deutschland, fast jeder kennt meine Stimme. Ich bin es ja gewohnt, alles allein zu wuppen. Aber es hätte auch sein können, dass es Unterstützung gibt! Und Sie brauchen mich hier nicht wie Klein Doof zu behandeln, nur weil ich nach Rat suche!“

Ich lasse meinen Abendblatt-Artikel, der zwei Tage zuvor meine Kreativ-Kurse in höchsten Tönen beschrieb, in Sicherheit bei meinen Unterlagen. Nicht, dass noch Gift raufkleckert.

 

Die kleinen Silberhandschellen sind in Schwung gekommen. Ich war nicht laut. Aber deutlich. Madame ist wachgerüttelt. Sie begibt sich plötzlich, so wie viele primitiv gestrickten Kreaturen, von ihrem hohen Ross herab – aber leider erst nach einer Standpauke. Je primitiver, desto nötiger die Machtrangelei, umso nötiger das Zurechtrücken der Position im Rudel, und umso wirksamer der Platzverweis. Wie öde! Nein, beleidigen werde ich niemanden, nur weil er keine Ahnung hat. Aber Respekt verdienen auch Ratsuchende beim Arbeitsamt, die falsch vermittelt wurden. Und den verschaffe ich mir. Vielleicht ist es die Angst vor meiner Beschwerde, die das schwarze Untier dazu bewegt, mir plötzlich Internetportale zu nennen für Jobs und Stipendien. Sie legt ihre Peitsche beiseite. Na danke. Schließlich bin ich nicht der Typ, der auf derlei Services von herben Ladys abfährt.

Eher noch würde ich mich von Freien und Willigen für meine dominante Dienste bezahlen lassen! Peitsche gefällig? Wem es denn Freude macht …

 

„Nehmen sich ‘nen Lutscher!“, weist sie mich auf die Schokoladenweihnachtsmänner in Form von Lollies hin.“

„Na, wenn nichts mehr hilft, Schokolade hilft immer …“

Noch im Stehen beende ich das Kapitel der mentalen Kriegsführung und schmunzle. Hat sie echt gesagt, ich solle mir …?  Ist dies das i-Tüpfelchen ihrer Erniedrigungsstrategie oder doch ein Trostversuch für die vielen armen Menschleins, denen sie nicht helfen kann und die sie tagtäglich mit ihrem Ignoranz-Arroganzmix herabwürdigt? Die moderne Form von Zuckerbrot und Peitsche vielleicht.

 

Gedankenrückblende – mein Kinderarzt hatte immer ein großes Glas voll Schokoladendrops für brave Kinder, die alles schön über sich ergehen ließen. Meine Mutti verbot mit aber aus hygienischen Gründen, sie zu essen. So fasste ich also mit der kleinen Hand ins große volle Glas und wühlte in den süßen Sachen mit den bunten Zuckerstreuseln, bis die Hand voll war. Draußen musste ich dann alles wegschmeißen wegen der Bakterien und mein schokoladenbeschmiertes Händchen blieb leer.

 

Endlich draußen. Ausatmen. Vor dem Drachenkäfig wartet schon das nächste weibliche Opfer. Arme Sau. Im Fahrstuhl stoße ich wieder auf das nette Aktenschieber-Männchen. Wieder unten angekommen, entdecke ich eine Box für „Kunden“-Feedback. Ein markiger Slogan versprüht einen Hauch Veränderungsinteresse: „Wir machen Wachstum möglich!“ Direkt darunter hat ein Leidensgenosse sich Luft gemacht: „Glatt gelogen!“

Meinen die mit Wachstum den Tumor im Wasserkopf dieser Institution? Oder wachsen hier Bürokratismusbakterien zu ungeahnter Größe heran, schmerzfreie Mutanten dieses Selbstverwaltungsapparats?

 

Ich räche mich nicht an meiner minderkompetenten Sachbearbeiterin persönlich. Schließlich stinkt der Fisch immer am Kopf. Aber ich mache mir die Mühe, etwas zu schreiben. Es fehle eine spezialisierte kompetente Abteilung für Freiberufler und Selbstständige. Die fallen hier durchs Netz.

Schnell raus hier, weinen kann ich später.

 

Eine Freundin von mir ist Geschäftsführerin vom Popkurs Hamburg * (in Referenzliste Infos dazu am Buchende). Ich fragte sie, ob es nicht mittlerweile eine staatlich anerkannte Ausbildung für Musiker aus dem Popbereich gibt, oder ein Studium. Ja, seit wenigen Jahren erst gibt es in Mannheim den Bachelor of Arts für Popsänger und Popmusiker.

 

„Entweder Ihr schafft’s allein oder Ihr schafft es eh nie!“ 1994 war diese die resolute Antwort meiner Popdozenten, als ich vor der Versammlung fragte, weshalb es denn in Deutschland nur für klassische Sänger ein staatlich anerkanntes Studium gäbe. Eine Ungerechtigkeit, die auf Respektlosigkeit beruht, meine ich.

 

Auf dem Heimweg bin ich erschrocken über mich selbst. Ich habe schließlich keine hohen Erwartungen mitgebracht, schlimmer noch, man hat mich gewarnt vor dem Laden mit dem großen A. Warum fühlt es sich trotzdem an, als habe jemand meinen Keller ausgebombt? Verstand hilft leider nicht immer. Ob nun Arbeitsamt oder A-gentur für A-rbeit. Es bleibt A-A statt Aha.

 

Rückblende: Anny mit 9

Die Nasi Goreng Prinzessin

 

Mein Vater ist Lokführer und hasst seinen Job. Seit diesem verdammten Umzug ins Grüne begegnen wir uns zwar, aber jetzt mit 9 brauche ich auch nicht plötzlich einen Vater oder sowas. Erst recht keinen, der immer nur Nein sagt, Nasi Goreng aus der Dose mit mir aufwärmt und von Abwertung lebt. Mein neues Gefängnis haben meine Eltern selbst gebaut. Ein Kuhdorf in der Nähe des Rangierbahnhof-Giganten Maschen. Der Schichtdienst vergrößert Papas schlechte Laune täglich, aber zumindest ist mal ein Mensch zu Hause. Mögen kleine Jungs von dem Job träumen – in diesem Braunhaus ist kein Platz für den verklärten Scheiß. Die kleine alte Sozialwohnung in Hamburg-Altona (Opa nannte meine alte Heimat immer „Mottenburg“) war grad meine Heimat geworden. Ein Zuhause. Das an sich ist schon ein Traum aus Stein und Beton für meine Eltern. Wir essen seit Jahren die eklige, aber günstige Aldi-Leberwurst, Nasi Goreng aus Dosen und andere Billigkonserven.

 

Wenn unser Untermieter kommt, pinkelt Rex vor Angst und Unterwerfung die ganzen Bodenkacheln voll. Mit eingezogenem Schwanz will er den Schlägen und dem Gebrüll flüchten. Unser neuer Schäferhund bellt und jault zu viel und keiner hier hat Ahnung, was so ein Tier wirklich braucht. Nach wenigen Wochen wird er abgeschafft. Ein Sprung in das Auto der ersten Interessenten und da war sie wieder, diese Leere. Da wirst Du es besser haben. Mach es gut, Rex.

 

Die Waggons vom Rangierbahnhof Maschen prallen aufeinander, sodass sie kilometerweit zu hören sind. Metalll, mag ich, klingt vertraut. Wir sind gerade umgezogen in die Tristesse namens Hörstenicht hinter Harburg und da ist plötzlich dieser Mann, der nun mein Vater sein will und doch nicht kann. 

Schließlich lebe ich nun schon 9 Jahre hier und das reicht auch langsam.

Knapp 200 Menschen, jede Menge Tiere und doch keine Seele. Der Bauer gegenüber ist immer noch Nazi. Er schenkt mir ein weißes Kaninchen mit roten Augen. Mein Vater baut dafür in unseren neuen Garten einen kleinen Stall. Wochen später liegt es tot im Stall.

 

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Zum Film hier entlang/ Wo bitte gehtʼs hier zum Film?

Großes Kino in Berlin: „Lola rennt“ auf Hochtouren und zur Höchstform auf. Mann, da muss ich irgendwann mal leben. Es zieht mich in diese Stadt, dass es schon schmerzt. Berlin brodelt. Hier finden sich die kreativsten Kuturköche des Landes, dichter angesiedelt als irgendwo sonst in Deutschland. Hier vibriert eine ganze Stadt ins ausklingende Jahrtausend, als bitte sie zum letzten Tanz.
 Wir haben die Ehre: Meine Band „Mother Scar“ und ich – unsere Plattenfirma „Machine Music“ leitet die Anfrage der Filmproduktionsfirma an uns weiter. Es werden Rockbands gesucht, die mit einem großen Schweizer Komponisten kooperieren für den Soundtrack des Kinofilms: „Die Giraffe“. Wir gehören zum Kreis der Auserwählten. „Es ist ein Traum!“, höre ich mich flöten. Genau zwischen Rock und Film liegt eine meiner größten Leidenschaften.
 Manchmal heißt Erfolg, den stärksten Partner zu haben. Gerade als Newcomer ohne Namen oder Millionen besteht diese Abhängigkeit. Ausnahmen erwünscht und immer wieder gern genommen. Aber „Machine Music“ steht für internationalen Erfolg mit innovativer Musik. Fürs Marketing der weltberühmten Provokationsband „Die Teutonen“ gewann die Chefin selbst den begehrten „Elch“-Preis – Musik verkaufen ist schließlich auch eine Kunst.


Felsenfest glaube ich an unseren Durchbruch, jetzt oder später. Ich setze seit Jahren alles auf diese eine Karte und mache Schulden. Nur selten kommen Zweifel auf, die ich aber bisher als die altbekannten Selbst-Zweifel wieder nach Hause schicke. Wie Schatten leuchte ich sie weg.
 Nicht ohne unseren Produzenten Pablo aus Köln reisen wir Hamburger nach Berlin ins ehemalige Tonstudio von Tangerine Dream.
 Die Arbeit am Album von „Mother Scar“ zuvor war so fruchtbar, dass ich es zur Bedingung mache, ihn dabeizuhaben.
 Endlich erreiche ich einen dieser Hinterhöfe, in denen dieser lautlose Puls schlägt. Er läd uns ein und führt uns entlang diverser Markierungen juveniler Mensch- und Hundemännchen durch hallenartige Treppenhäuser dahin, wo die Musik spielt.


Ein zartes Männlein mit hochwachsamen Gucklöchern empfängt uns mit australischem Akzent: „Hoi, Oi ́m Jimmy Portento“. „Wie, Potento?“, entgleitet es meinem losen Mundwerk und ich muss auch noch lachen, an Sex denkend. „No, PORRtento“, kommt knochentrocken zurück. Er muss damit aufgewachsen sein.
Oh, Ann! Noch nichtmal in der Tür und schon durchgefallen ... „Oh, sorry!“, werde ich leiser.
 Leider bleibt es nicht bei diesem einen Fettnapf.
 Da ist dieser Energieüberschuss. Oft bin ich nicht mehr Herrin meiner selbst.
 Als hätte ich in eine Steckdose gegriffen und kriegte meine Finger nicht mehr raus. Worte, Handlungen, Entscheidungen passieren.

Wie auf Speed, schneller als mein Wille.
 Dabei lebe ich Diät: Vegetarische Kost, viel Sport und sehr viel Gras.

Es gibt eine Szene im Kinofilm, in der bereits von Maja Schreiner der Refrain gesungen wird, diesen möchten wir bitte übernehmen. 
„Wie? Diese langweilige vorhersehbare banale Melodie? So einen öden Text?
 Nö! Warum? Wir können das doch viel schöner neu schreiben! Von wem ist denn das überhaupt?“, vertrete ich die Seite des Künstlers mit Anspruch auf Qualität.

Noch nie habe ich mir gern irgendeinen mittelmäßigen Kram in den Mund schieben lassen. „Ann, der Autor möchte geheim bleiben“, rettet mein Manager die Situation. Mr. Portento weicht ins Nebenzimmer aus und telefoniert stundenlang ins Ausland. „Sein Vater ist gestorben“. „Jo, das tut mir echt leid“, lasse ich meinen Manager wissen. Und nicht nur das.

Beim Texten möchte ich die Seele des Films beschreiben, beim Singen fühlbar machen. Immer wieder sehe ich den Filmabspann laufen und höre dazu unseren Titel „Staubkrieg“. Welche Ehre! Mit diesem Titel möchte ich die Menschen berühren, dies darf also zum Ausklang werden, gleich nach dem dramatischen Höhepunkt, die Menschen würden dieses mit Tränen in den Augen mit nach Hause nehmen ...

„Ann, die „Guantanamos“ haben nun doch nach vielem Hin und Her zugesagt, den Abschlusstitel zu machen. Tut mir leid, aber soll sich ja auch verkaufen.“
„Na sicher“, verstehe ich. Die „Guantanamos“ mit ihrer blonden dürren Frontfrau: Die fegt noch den härtesten Shouter an die Wand mit ihrem Monsterorgan. Verdienter Erfolg.

Einer der Titel, den wir zusammen aufnehmen, wird später in der Presse speziell hervorgehoben als Highlight auf dem Soundtrack zum Film. Im Kino wird er nie gespielt. Doch zusammen gewinnen wir den begehrten Bayerischen Filmpreis für Musik 1999.

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Fr, 13.06.08 Von Saugern und Sesselpupsern
 Bin ich verrückt? Habe gerade einen Auftritt abgelehnt im herrlichen Hamburger Rathaus vor politischer und gesellschaftlicher Prominenz. Es hätte so schön sein können: Somewhere over the Rainbow singen auf dem großen Balkon über Hamburg. Wie einst Evita Peron mit „Don ́t cry for me, Argentina“ ... Guter Zweck, jawoll, gut, hab viel ehrenamtlich getan in diesem Leben. Doch die Miete muss auch da sein. Kein Applaus der Welt zahlt Rechnungen.
 Nein, danke, auch wenn es für einen guten Zweck ist zugunsten der lila Fraktion.

Nach über 20 Jahren Erfahrung in diesem Geschäft weiß ich eins: Ehrenamt führt zu Ehrenamt. Zu deutsch: Da, wo keine Kohle fließt für Musiker, kommt auch bei Folgeauftritten nicht viel raus. Entweder wird geschätzt und auch finanziell honoriert, was jemand kann, oder nicht. Entweder es ist Geld da oder nicht. Das Leben könnte so einfach sein. Doch es kommt auch ein wenig Zorn hoch. Wieso soll ich für eine Partei meine Beiträge zahlen, Steuern zahlen und dann ohne Technik, Verstärkung, Effekte und all das, was eine Stimme zum Strahlen bringt und Spaß macht, dieses ewige Lampenfieber aushalten?

Weiter mit: Hypnosetherapie, Psychiatrie und Studium mit 45.

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