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Feilkode 418

Die Kinder des Affen (ein historischer Roman)

Die Kinder des Affen (ein historischer Roman) · Romane

Eine Spurensuche im Assisi des Jahres 1318. Der junge Maler Niccolò verfolgt das Rätsel eines Elixiers und entdeckt das Rätsel der Liebe.

Hva vil du med boka?

Das Mittelalter war nicht finster! Mein Anliegen ist es, für diese faszinierende Epoche zu begeistern, das Interesse an einer Zeit zu wecken, die voll von Neuerungen war, die uns bis heute betreffe.

Om forfatteren

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Ich habe Philosophie und Kunstgeschichte in Würzburg, Frankfurt und Florenz studiert und viele Jahre in Italien gelebt. Dem Mittelalter, besonders dem 14. Jahrhundert galt von da an meine Leidenschaft...

Teil 1 - solutio


„Herr, woher kommt Ihr?“

Vom schmalen durch die Luke einfallenden Lichtstrahl erleuchtet erschien die Gestalt vor ihm, von himmlischer Größe und göttlicher Gestalt. Er blickte zu dem anderen Körper, jung und schön, an die Säule gebunden, das Blut strömte aus seinen Wunden. Was war das Abbild, was das Wesen, was die Idee? Gerade noch hatte er seine Wunden inniglich geküsst, ihr süßer Geschmack erfüllte noch seinen Gaumen. Er spürte die Fesseln an seinen eigenen Handgelenken, wie sie sich durch die Haut bis zu den Knochen schnitten, er fühlte das warme, lebendige Blut den Rücken herunter laufen. Er sah die Tropfen auf dem Boden langsam im porösen Stein versinken, Flecken hinterlassend, die wie Tintenkleckse aussahen.

„Herr, bin ich jetzt wie du? Leide ich nicht genau wie du? Bin ich nicht gegeißelt und geängstigt, ganz zerschlagen und mit Schmach gesättigt bis zum Übermaß, genau wie du?“

Dann blickte er wieder hoch in das schmerzverzerrte Gesicht, dessen unfassbare Schönheit drang wie ein Messerstich in seinen Leib. Die seidigen Locken streichelten seine Schultern wie der milde Wind an einem Sommertag.

„Warte ein wenig, du sollst noch Ärgeres sehen! Solche Bitterkeit und Qual des Herrn Jesus darf man nicht so oberflächlich betrachten.“

Der andere stand jetzt vor ihm und verband ihm die Augen. Die ruhige, warme Stimme ließ ihn an seine eigene Schlechtigkeit denken. Wenn doch Christus, der frei von Sünden war, so leiden musste, um wie viel mehr muss dann er, der Sünder, Leid und Schmerz ertragen?

Er fühlte den Schmerz erneut aufglühen, diesen fürchterlichen, brennenden, beißenden Schmerz, und doch schmeckte er süßer als der feinste Honig. Diese Süße! War sie schon der Beginn der Erlösung?

Wieder hörte er die Stimme des anderen: „Glaubst du, eine solche Verworfenheit wie deine, lässt sich so einfach auslöschen? Dreifach ist dein Vergehen: zur Sünde des Körpers kommt die Sünde des Geistes, denn du hast dich an der körperlichen Sünde ergötzt, hast sie herbeigesehnt, dich nach ihr verzehrt wie nach einer Geliebten. Die schlimmste aber ist die Sünde der bereuenden Seele, die doch nur zum Schein bereut. In Wahrheit genießt du auch das, du badest im Schmerz wie in einem wohligen Bad, du trinkst die Qualen als seien sie köstlicher Wein. Du sündigst sogar während du bereust, und das ist schlimmer als deine Sünde selbst.“

Er krümmte sich auf dem Boden, ringelte sich zusammen wie ein Wurm. Dieser Wurmkörper war die Ursache seiner Verworfenheit, doch die Seele, die in ihm wohnte, war noch verderbter. Er wollte beten, beten, dass der Vater den Todeskelch von ihm nehme, beten, dass die große Bitterkeit, die ihm bereitet war von seinen Feinden, hinweg genommen werde und ein Ende habe.

Die Wasser der Trübsal drangen bis an seine Seele. Er sehnte das Ende herbei, der Moment, der – wie die anderen Male – nie zu kommen schien. Und doch würde es auch diesmal kommen, das Ende. Ruhe würde sich über ihn senken wie eine warme Decke, die eine Mutter liebevoll über ihr krankes Kind legt, während er noch das harte schmerzliche Lager spüren würde. Die Decke würde ihn einhüllen, während die Wunden in seinem Körper noch brannten. Wann sollte es vorbei sein?

1. Kapitel


Langsam erschienen Farben auf der weißen Wand. Wie Pinsel in einer aufgeräumten Werkstatt standen die silbrigen Oliven in ordentlichen Reihen, von dunkelgrünen Steineichen überragt; dazwischen braune gerodete Felder und auf den Anhöhen verstreute Häuser und Kastelle. Je mehr der Nebel sich verzog desto deutlicher nahmen die Farbflecken Formen an, schließlich konnte man sogar Einzelheiten erkennen. Formlose Flecken zeigten menschliche Umrisse, verwandelten sich in Bauern, die auf den Feldern das Wintergetreide aussäten oder Holz aus dem Wald nach Hause trugen und dabei denen begegneten, die bereits die Schweine zur Eichelmast in den Wald trieben.

Schweigend blickte Niccolò ins Tal des Arno hinunter. Obwohl er und seine Gefährten schon seit zehn Tagen unterwegs waren, sah er an jedem dieser milden Herbsttage des Jahres 1318 dem Gemälde der Natur bei seiner Entstehung zu. Und wie jeden Morgen bewegte ihn das Schauspiel so als erlebte er es zum ersten Mal. In den siebzehn Jahren seines Lebens war noch nie weiter als bis Galluzzo gekommen; er hatte immer geglaubt, die Quelle des Arno müsse irgendwo hinter Bagno a Ripoli liegen, und jetzt hatten sie jenen Ort seit Tagen hinter sich gelassen!

Bartolo di Giovanni, wie Niccolò selbst ein Geselle in der Malerwerkstatt des Francesco di Giotto, schaute ihn mehrmals grinsend von der Seite an. Er wartete auf den Moment, an dem er den Freund wieder ansprechen konnte, ohne dass die Worte an diesem abperlten wie Wassertropfen an einem Stück Marmor. Auch Bartolo war noch nie so weit aus Florenz herausgekommen, dennoch fehlte ihm jedes Verständnis für Niccolòs Ergriffenheit. Die Welt war eben groß, das wusste doch jeder!

Zusammen mit den Lehrjungen Jacopo und Dante wanderten sie daher eine Zeit lang schweigend, bis Niccolò endlich zu reden anfing. Die ersten Worte dieses Tages gaben seiner Besorgnis Ausdruck, heute noch in die Stadt Arezzo einziehen zu müssen.

Bei Castel San Giovanni hatten sie vor wenigen Tagen den Grenzposten des Gebietes von Arezzo durchquert. Die Wachposten hatten die kleine Schar passieren lassen, nicht ohne sie mit den üblichen, den Florentinern vorbehaltenen Sticheleien zu bedenken. Niccolò dachte an seinen Großvater und dessen Brüder, die in der Schlacht von Campaldino gegen die Aretiner gekämpft hatten. Zwei von Niccolòs Großonkel hatten dabei ihr Leben verloren. Aber die Verluste der Aretiner mussten wesentlich größer gewesen sein. Niccolò erinnerte sich an die Geschichten, die der Großvater an langen Winterabenden manchmal erzählt hatte.

„Von überall waren sie gekommen, dieses kaisertreue Gesocks, 800 Reiter und 8.000 Fußsoldaten aus der Toskana, den Marken, dem Herzogtum“, hatte er seine Erzählungen gerne begonnen, „und uns herausgefordert, obwohl wir doppelt so viele waren. Sie aber beschimpften uns, wir seien wie die Frauen und nur damit beschäftigt, unser Haar zu kämmen und uns zu schmücken. Aber wir haben ihnen richtig eingeschenkt, dort bei der Kirche von Certomondo! Wir waren zuerst da an jenem Samstagmorgen am Tag des heiligen Barnabas. Am Ende waren fast alle ihre Anführer tot, auch der Bischof. Wir aber hatten nicht ein Opfer von Rang zu beklagen. Den Stolz und die Überheblichkeit nicht nur der Aretiner sondern aller Kaisertreuen und des Reichs haben wir darnieder geschlagen!“

In diesem Moment aber wünschte Niccolò, die Ghibellinen seien damals weniger gedemütigt worden. "Florentiner sind in Arezzo sicher nicht gerne gesehen", sagte er deshalb ein wenig besorgt zu Bartolo.

"Du meinst wegen Campaldino? Das ist doch nun schon fast ein Menschenleben her. Mein Bruder sagt, dass inzwischen sogar die Aretiner kapiert haben, dass sich im Frieden die besseren Geschäfte machen lassen." Niccolò musste trotz seiner Besorgnis lächeln. Manchmal beneidete er Bartolo um dessen Einfalt. Bartolo glaubte alles, was er von Älteren oder Gelehrten hörte.

Was hingegen die Sicherheit von Arezzo betraf, so konnte Bartolos Bruder vielleicht recht haben. Seitdem der Bischof Guido Tarlati immer mehr Einfluss auf das Geschehen in der Stadt nahm, war es wohl ruhiger geworden. Immerhin hörte man weniger von Kämpfen innerhalb der Stadtmauern zwischen den verfeindeten Parteien. Wie man jedoch mit Fremden umging und noch dazu mit Florentinern, das wusste keiner so genau. Und so schlug Niccolòs Herz heftiger als sonst, als die vier am späten Nachmittag den Hügel zur Stadt hinaufstiegen.

Die beiden Wachen an der Porta del Foro erfüllten alle seine Erwartungen. Abweisend sahen sie die vier jungen Burschen an.

"Florentiner, eh?", brummte der Ältere der beiden, während der Jüngere erwartungsvoll grinste.

"Ja", murmelte Niccolò.

"Lasst mal sehen, was ihr dabeihabt!", befahl der Wächter.

Bartolo kramte in seinem Beutel. Der Wächter posierte sich breitbeinig vor ihm auf, die Hände auf die Hüften gestützt. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, dann wippte er zurück auf die Fersen.

„Na, kommt da noch was?“

Das Wippen wurde schneller. Endlich zog Bartolo das Schreiben Meister Francescos aus der Tasche und reichte es dem Brummigen. Dieser sah nur den Absender, und erstaunlicherweise besserte seine Laune sich schlagartig. Er hörte mit dem Wippen auf, seine Stimme wurde freundlicher:

"Sieh an, die Gesellen kommen vom Meister Francesco. Seid uns willkommen! Ihr seid Gäste des Dichters, Messer Cenne? Sein Haus liegt bei der Kirche des heiligen Dominikus. Ihr findet wohl den Weg? Geht nur immer bergauf bis zur Kathedrale, dann nach links."

Niccolò und seine Kameraden sahen sich fragend an. Dem jungen Kollegen des Wachmannes erstarrte das Grinsen im Gesicht. "Aber ..., keine Kontrolle? Und der Zoll ...?", stammelte er.

"Sei still, oder du kriegst auf's Maul!", raunte der andere ihn an. Zu den Burschen sagte er unterwürfig:

"Hier bitte sehr, die Herren, und einen schönen Aufenthalt in unserer schönen Stadt, wünsche ich! Die Diener der Ritter der Dame, die unserer Madonna so gleicht, sind uns stets willkommen!"

Niccolò konnte es noch immer nicht glauben. "Er hat uns gehen lassen, ohne irgendetwas. Wir haben noch nicht einmal einen Tribut zahlen müssen."

"Ja", stimmte ihm Bartolo bei, "und dabei war er zuerst so grantig. Was das wohl heißen soll, was er da geredet hat: 'die Ritter der Dame, die der Madonna gleicht'?"

Niccolò zuckte mit den Schultern.

*


Niccolò wusste, dass kein Ort der bewohnten Erde sich mit seiner Heimatstadt an Schönheit vergleichen konnte. Das hatte er von allen Reisenden gehört, denen er in Florenz begegnet war. Arezzo aber sah noch nicht einmal wie eine Stadt aus. Es war vielmehr ein Hügel, an dem Palazzi, Kirchen und kleinere Häuser klebten und zwischen sich ein Gewirr von verschlungenen und engen Gassen bildeten. Es ähnelte eher den kleinen Borghi bei Galluzzo. Es gab hier keinen Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilte und ihr Weite verlieh. Man konnte Arezzo auch nicht von oben betrachten, wie er es in Florenz gerne vom Hügel des heiligen Minias aus tat. Arezzo war vielmehr selbst der Hügel. Auf seiner Spitze hatte man begonnen, den Dom des heiligen Donatus neu zu bauen. Niccolòs Vorstellung von einem Dom war schon immer die einer großen Baustelle. Denn auch die Kathedrale in Florenz war, solange er denken konnte, im Umbau und würde es sicher zum Zeitpunkt seines Todes immer noch sein.

Durch einige schmale Gassen kamen sie zur Kirche San Domenico. In ihrer Nähe sollte sich das Haus von Messer Cenne befinden, der mit Meister Francesco vereinbart hatte, die Vier auf ihrer Wanderung zu beherbergen. Ein alter Mönch wies ihnen den Weg, und so klopften sie bald darauf an die Tür von Cennes Haus. Ein dünner, zahnloser Mann, der sich ihnen als Nardo, der Koch, vorstellte, ließ sie ein und führte sie in eine Kammer mit Strohsäcken.

"Legt eure Beutel ab und kommt gleich zu mir in die Küche, um etwas zu essen. Mein Herr hat heute Abend eine Gesellschaft, deshalb kann ich mich nachher nicht mehr um euch kümmern", sagte Nardo.

Wenig später saßen sie bei Nardo in der Küche und aßen Kichererbsensuppe und Kastanienbrot. Nardo selbst setzte sich zu ihnen. Zwischendurch sprang er jedoch immer wieder auf, um das Essen für die abendliche Gesellschaft zu bereiten. Aus einem großen Topf über dem Feuer zog er zwölf gekochte Hühner und briet sie in einer Pfanne an, in welcher er zuvor Schweineschmalz zerlassen hatte. Zwischendurch zerkleinerte er allerlei Zutaten, wie Datteln, getrocknete Trauben, Zwiebeln und die verschiedensten Kräuter. Vom Herd strömte ein würziger Duft durch den Raum und machte die Burschen noch hungriger, so dass sie der Suppe kräftig zusprachen. Aber auch der dünne Nardo vertilgte nebenbei eine große Menge an Speisen, indem er beim Kochen hier und da von den Zutaten probierte und dabei unaufhörlich redete.

"Jetzt so kurz vor der Fastenzeit will mein Herr nochmal richtig feiern und das irdische Dasein genießen", sagte er und schob sich eine Dattel in den Mund, "deswegen habe ich so viel zu tun. Ständig geht es bis in die Morgenstunden. Die Sünde der Völlerei ist seit jeher seine treueste Begleiterin. Und welche anderen Sünden seinen Lebensweg flankieren, das weiß nur Gott allein!"

„Und so einer ist mit Meister Francesco befreundet, dem gewissenhaftesten, ordentlichsten und zuverlässigsten Maler der bewohnten Welt?“, dachte Niccolò verwundert. Diesen Nardo aber mit seinem hässlichen Gesicht hätte er wohl Lust zu zeichnen, allerdings war er dazu zu müde. Er sah Nardo zu, wie er den in Wasser eingeweichten Mandeln das braune Häutchen abzog und auch diese zerkleinerte. Das üppige Essen, die warme Luft mit dem würzigen Geruch in der Küche und das melodische Geplapper des Zahnlosen machten Niccolò bald so schläfrig, dass er sich wünschte, sein Quartier aufsuchen und schlafen zu können.

Während aber Niccolò und seine Gefährten immer häufiger gähnten, schien Nardo nur noch munterer zu werden. Er holte die gebratenen Hühner aus der Pfanne, um im verbliebenen Fett die Zwiebeln anzubraten, die sogleich wieder einen herrlichen Duft verbreiteten. Unter Anrufung des heiligen Laurentius sowie diverser weiterer Heiliger goss er das überschüssige Fett ab, fügte die gehackten Kräuter und den Safran zu und löschte das ganze kurz danach mit Essig und Wasser ab. Er gab zunächst die Mandeln, dann die Datteln und schließlich die getrockneten Trauben dazu. Zur selben Zeit legte er Scheiben von altbackenem Brot auf einen Rost über dem Feuer. Als diese angebraten waren, zerkleinerte er sie im Mörser, mischte die Brösel mit Wein und filterte sie durch ein Leinentuch in die Pfanne mit den anderen Zutaten.

Als bald darauf die ersten Gäste an die Tür klopften, war es endgültig um Nardos Ruhe geschehen. Er sprang hin und her, öffnete Türen und schloss sie wieder, klapperte mit den irdenen Schüsseln, türmte Brote zu einer Art schiefen Pyramide auf, die ihm kurz danach unter heftigen Verwünschungen wieder einstürzte. Er verteilte die gebratenen Hühner auf mehrere hölzerne Teller, gab die gerade zubereitete Soße darüber und trug die Speisen in den großen Saal im ersten Stock, wo der Dichter seine Gäste zu empfangen pflegte. Gleichzeitig lief er immer wieder zur Tür und begleitete die Ankommenden nach oben.

Mehr und mehr füllte das Haus sich mit Leben. Niccolò horchte trotz seiner Müdigkeit auf, als er die Klänge von Musikinstrumenten hörte.

"Es gibt Musik bei Euren Festen?"

"Ja natürlich", antwortete Nardo, "wisst ihr nicht, dass mein Herr nicht nur der berühmteste Dichter von Arezzo, sondern auch ein begnadeter Sänger und Musiker ist? Wie könnte es auch anders sein, stammt er doch aus der Stadt, in der die Musik erfunden wurde. Hat nicht Bruder Guido, hier aus unserer schönen Stadt, den Micrologus verfasst, das wichtigste Werk zur Musik, das je geschrieben wurde? Ja, wir stehen, was Dichtung und Musik angeht, allen anderen Völkern voran. Meinen Herren nennt man auch Cenne de la Chitarra, weil er jenes Instrument derart vollkommen zu spielen weiß, dass seine Musik der Musik der Engel gleichkommt!"

Der berühmte Dichter trug seinen Gästen gerade ein Lied vor. Nach jeder Strophe war Gelächter zu hören. Nardo öffnete die Küchentür, um der Musik lauschen zu können:


Di maggio voglio che facciate en Cagli

con una gente di lavoratori,

con muli e gran distrier zoppicatori:

per pettorali forti reste d’agli.


Intorno a questo sianovi gran bagli

di villan scapigliati e gridatori,

de’ qual’ resolvan sì fatti sudori,

che turben l’aire sì che mai non cagli;

altri villan poi facendovi mance

di cipolle porrate e di marroni,

usando in questo gran gavazze e ciance:

e in giù letame ed in alto forconi:

vecchie e massai baciarsi per le guance;

di pecore e di porci si ragioni.¹

Während Niccolò sich noch über den seltsamen Text wunderte, der sich stark von seiner Vorstellung von Engelsmusik unterschied, rief Bartolo plötzlich:

"Das kenne ich doch! Das Lied habe ich schon einmal gehört! Ich glaube, es war ein wandernder Geselle aus der Gegend von Siena, der es gesungen hat. Doch war der Text wohl nicht der gleiche?"

"Oh du Tor!", gab Nardo zurück, "du hast wohl 'Di Maggio' von Messer Folgore gehört? Hörst du nicht den Unterschied? Der Herr Cenne antwortet auf Folgore, aber er antwortet in Gegenteilen. Bei ihm sind es nicht Jungfern und Jünglinge, die sich küssen. Es sind die alten Vetteln und die Bauern, die über Schafe und das Borstenvieh reden, und nicht über die Freuden der Liebe daher säuseln.

Die Pferde des Gedichts meines Herrn sind keine edlen Rösser wie bei Messer Folgore. Es sind Maulesel und humpelnde Klepper mit geflochtenem Knoblauch als Zaumzeug, der mit dem Schweiß der Arbeiter um die Wette stinkt. Spürt ihr nicht den Geist, der in diesen Worten steckt? Nicht einen Traum beschreibt er wie Folgore, Cenne erzählt das Leben. Die Zeit, die du ein Jüngling bist und jungen Mädchen Worte der Wonne ins Ohr flüsterst, ist nur allzu kurz. Es ist ein eitler Traum, und wir erwachen, noch ehe wir selbst gemerkt haben, dass wir ihn träumen. Dann sind wir nur noch wie der stinkende Bauer, der so gerne der nach Rosen duftende Jüngling wäre. Wir sind nur übelriechender Kot. Den Gestank der Verwesung tragen wir bereits in uns, auch wenn wir glauben, noch jung zu sein. Der Fäulnis fallen wir alle anheim!"

Niccolò fühlte, sein Gewand am Rücken kleben wie von kaltem Leim gehalten. Aus dem großen Saal drang Gelächter.


¹Den Mai sollt ihr in Cagli verbringen,

mit einer Meute Bauern,

mit Mauleseln und humpelnden Gäulen,

ihr Geschirr sei geflochtener Knoblauch von starkem Geruch.


Dabei sollt ihr festliche Bälle feiern

mit den schreienden zerrupften Bauern,

die mit ihrem Schweiß die Luft derart verpesten,

dass sie nie mehr frisch sein wird.


Und noch mehr Bauern bringen euch ihre Gaben

von Zwiebeln, Lauch und Kastanien,

dabei eine große Gelage mit viel Geschwätz.


Sie werfen den Mist nach unten, die Heugabel in die Luft:

die Alten küssen die Bauern auf die Wangen,

und säuseln von Schafen und von Schweinen.

*


„Donne cosa donne rosa

ponendo vertute

lei per quella e luce bella

et e dognun salute.“

(Die Frau, die Rose, sie gibt die Tugend, das Licht der Schönheit, und das Heil aller.)

Mit geschlossenen Auge sang Francesco diese Worte. Sie umhüllten ihn wie das Wasser eines Sees einen einsamen Schwimmer umfasst. Und er wusste, dass der Moment auch heute kommen würde, kommen musste, an dem er nicht mehr schwimmen, sich nicht mehr anstrengen musste, sondern von den Wellen getragen würde, so dass er für einen Augenblick an nichts denken und in den Fluten davon schweben konnte.

Doch je mehr er sich anstrengte, an nichts zu denken, umso schwerer wurde es ihm. Er öffnete die Augen, sah in die spärliche Beleuchtung der drei Öllampen auf dem Marmor. Es war keine wichtige Versammlung heute, man hatte daher auf Kerzen oder kostbaren Schmuck verzichtet. Nur drei kleine Lampen inmitten einer unendlichen Dunkelheit. Die Wellen des Liedes breiteten sich ins Dunkel aus und kamen aus dem Dunkel zurück. Francesco wartete auf den Moment, an dem er die anderen Stimmen hören würde. Die Stimmen der Engel, die immer, wenn die Gruppe ihre Lieder sang, irgendwann aus dem Dunkel in den Gesang einstimmten. Doch heute blieben die Engel still.

Francesco lauschte angestrengt in das Schweigen, das dem Gesang folgte und in dem er sonst immer den englischen Gesang hören konnte. Der Großmeister begrüßte die Versammelten. Es war die übliche Zeremonie. Francescos Gedanken schweiften wieder ab. Er blickte in das Dunkel und dachte an die Tage, als er selbst mitgeholfen hatte, diesen Raum von Schutt und Steinen zu befreien. Welche überwältigende Freude hatte er empfunden, als sie die Tribuna entdeckt hatten. Ganz aus weißem Marmor war sie geschaffen. Wie musste es gestrahlt haben in den Tagen, als das Licht der Sonne noch heranreichte! Zur Zeit der Alten, als die Weisheit noch den Geist der Menschen leitete. Hinter dem Tribunal hatten sie zwei Treppen frei gelegt, die hinauf zum Tempel der Weisheit führen mussten. Leider konnte man nicht mehr hinaufsteigen, aber einst, wenn diese Tage der Dunkelheit erst vorüber wären …

„Ritter Francesco!“, die Stimme des Großmeisters rief ihn endgültig in die Gegenwart zurück, „würdest du bitte die Aufgabe des Kanzlers übernehmen, da dieser uns heute nicht mit seiner Anwesenheit beehrt!“

Erst jetzt bemerkte Francesco, dass einer der Plätze auf der Tribuna leer war. Es war der Platz des Lehrers Leone.

Verwirrt fragte er: „Wo ist denn der Kanzler?“

„Das weiß niemand, er hat niemandem etwas gesagt.“

Kaum hatte Francesco sich auf den Platz des Kanzlers gesetzt, reichte man ihm auch schon Schreibmaterial und eine der Öllampen. Das Schreiben der Chronik war die Aufgabe des Kanzlers.

Der Großmeister redete weiter. Er warnte vor dem eisigen Wind, der bevorstehe, und dass man ihm stark und bewaffnet entgegen gehen werde.

„Liebe Adepten“, fuhr er fort, „ich weiß, dass ihr alle fleißig die Spiegel eures Geistes reinigt, dass ihr auch alle schon mindestens den ersten Tod gestorben seid, einige auch schon weitere. Wir sollten uns daher um Novizen kümmern. Von welchen jungen Männern, die in den Stand der Gnade eingehen könnten, wisst ihr?“

Allgemeines Genuschel, aber niemand antwortete.

„Nun, dann frage ich euch direkt. Du zum Beispiel, werter Francesco, erwartest du nicht einen Zuwachs an frischem Geist?“
„Ja, nun, vielleicht ...“ damit hatte Francesco nicht gerechnet, „ja meine Lehrlinge müssten in diesem Moment ankommen, aber ich weiß nicht ...“

„Da sie deine Lehrlinge sind, sind sie vermutlich sehr gelehrsam?“

„Ja, schon, glaube ich, wenigstens, was ihre Arbeit angeht ...“

„Nun, warum zögerst du dann?“

„Ich weiß nicht, ob sie wirklich taugen, ob sie die Seelenkraft besitzen, die notwendig ist, um unserer Dame wirklich zu dienen, ich weiß nicht ...“
„Man wird also ihren Geist einer Untersuchung unterziehen müssen. Das ist die Aufgabe des Marschalls. Bruder Onofrio!“


Kurz nach dem Fest aller Heiligen – die Tage wurden immer kühler und feuchter – erreichten Niccolò und seine Gefährten eines Abends Cerreto di Porziuncola. Sie schliefen in der Pilgerherberge der Benediktiner, wo sie bei Morgengrauen einer der Mönche weckte und ihnen mitteilte, dass ein Jüngling auf sie wartete.

Im Vorraum der Pilgerherberge war ein junger Bursche bereits von den Brüdern mit Speise versorgt worden. Genüsslich tauchte er Brot in Rotwein und aß dazu getrocknete Früchte. Als er die vier Gesellen eintreten sah, sprang er auf und begrüßte sie:

"Seid willkommen, Kameraden, wie war eure Reise? Ich heiße Anselmo, ich bin seit dem letzten Johannisfest in Meister Francescos Werkstatt."

Er sprach in einer sehr drolligen Weise. Alle Vokale zog er sehr lang, kratzte einige Konsonanten in der Kehle, während andere – wie das r – für ihn gar nicht zu existieren schienen. Seine Art zu reden klang wie die der Pilger aus dem Norden, denen Niccolò zuweilen in Florenz begegnet war. Doch sah Anselmo nicht aus wie einer aus dem Norden. Er war nicht groß, sein Haar und seine Augen waren dunkel, und auch seine Gesichtsfarbe ähnelte mehr der eines Sarazenen als der eines Deutschen.

Nachdem auch die vier Wanderer eine kleine Stärkung zu sich genommen hatten, gingen sie zusammen mit Anselmo zur Terz in die kleine Kirche, Portiuncula genannt, die dem heiligen Franziskus so lieb und teuer gewesen war, dass er, als er seinen Tod nahen spürte, hierher gebracht werden wollte. Niccolò erzitterte. Er stand nun wirklich vor den wahren Zeugnissen der Wunder des Francesco di Bernardone. Diese kleine Kirche hatte der Heilige eigenhändig wieder aufgebaut, hier hatte er sein Leben ausgehaucht. Und oben in Assisi würden ihn noch viele heilige Orte erwarten.

Doch während des Aufstiegs vergaß Niccolò beim Geplauder mit seinen Gefährten bald diesen heiligen Schauer. Anselmo berichtete gerade, wie er nach Assisi gekommen war.

"Vor drei Jahren hatte es plötzlich angefangen. Es regnete den ganzen Sommer lang. Ich habe noch nie so etwas gesehen! Die Bäche plätschern sonst von den Bergen herunter, aber sie waren reißende Ströme geworden, schwarz vor Schlamm wie die blutigen Flüsse der Endzeit. Und alle Früchte der Felder in dem Jahr – kaputt. Schon im Sommer davor hatte es viel geregnet. Viele konnten das Korn nicht mehr bezahlen, so teuer war es. Wir sahen jeden Tag so viele Menschen sterben! Die Luft war ganz verpestet von den sich zersetzenden Leichnamen. Mein Vater beschloss dann, wegzugehen, bevor wir alles verloren hätten. Und so kamen wir hierher. Vater hatte noch etwas Geld und konnte uns ein Haus im Quartiere dei Tedeschi kaufen."

Die Jungs starrten ihn an. Auch sie kannten schlechtes Wetter und Missernten. Auch hier hatte es in den letzten Sommern viel geregnet, und die darauf folgenden Winter waren sehr kalt. Alle beschwerten sich über Teuerungen, doch niemand war bisher verhungert.

"Aber es kam noch schlimmer", fuhr Anselmo nach einer kurzen Pause fort, "auf unserer Reise habe ich Dinge gesehen, von denen habe ich geglaubt, die gibt es nur in der Hölle. Wir, mein Vater, mein Bruder und ich, haben uns Gewänder von armen Pilgern angezogen, damit wir nicht ausgeraubt werden. Trotzdem – mehr als einmal fürchteten wir um unser Leben!

Wir kamen mal in ein Dorf in den Bergen. Da gab es kein Gras mehr, keine Blumen, nicht mal Würmchen oder Käfer gab es da. In den Ställen lagen die blanken Knochen des Viehs, ihr Fleisch war bis auf den letzten Rest abgenagt. Es sah aus, als ob da keiner mehr am Leben war. Doch dann, als wir das Dorf bereits durchquert hatten und zum Richtplatz kamen, sahen wir sie! Diese Wesen, das waren mehr Tiere als Menschen! Sie hatten einen Gehängten vom Galgen geholt und haben sein verwesendes Fleisch gegessen! Kaum dass diese Kreaturen uns erblickt hatten, stürzten sie sofort auf uns zu. Wir sind natürlich gerannt, und nur weil wir doch noch in einer besseren körperlichen Verfassung waren, denn wir hatten ja wenigstens ein Bisschen gegessen, konnten wir uns retten."

"Entsetzlich!", stimmte Bartolo ihm bei, "so seid ihr dann also nach Assisi gekommen. Und woher kennst du Meister Francesco?"

"Mein Vater, er ist Skulpteur, müsst ihr wissen, war sehr angesehen in unserer Heimat, er fand dank seiner Referenzen bald eine Anstellung in der Werkstatt der Benediktiner von S. Pietro. Auch mein Bruder arbeitet bei ihm. Ich habe mich auch in der Bildhauerei versucht, aber, wie soll ich es ausdrücken?" Anselmo zögerte. "Mir fehlt, scheint es, die notwendige Fertigkeit der Hände, nach der jene Kunst verlangt. Versteht ihr? Beim Malen ist es anders. Wenn du bei der Sinopie einen Fehler machst, dann ändert es der Maler, der das Fresko darauf malt, oder wenn alles falsch ist, kannst du immer noch etwas anderes darüber malen oder den ganzen Verputz wieder abschlagen. Aber die Teile einer Skulptur, die du weggeschlagen hast, die können nur sehr schwer wieder ersetzt werden."

Niccolò horchte auf. Ein Lehrjunge, der zugab, ungeschickt zu sein, arbeitete in der Werkstatt seines Meisters, der doch so viel Wert auf Sorgfalt und Genauigkeit legte!

"Was sagt aber unser Meister dazu, wenn dir zuweilen Fehler passieren?", fragte er Anselmo.

"Ach, weißt du", gab dieser zögernd zurück, "ich bin ja erst seit kurzer Zeit in seiner Werkstatt. Bisher habe ich eigentlich nur die Werkstatt gekehrt und die Geräte geputzt. Mir ist noch nicht so viel Schlimmes passiert. Einmal fiel mir die Porphyrplatte auf den Fuß. Ich sage euch, das hat wehgetan! Tagelang konnte ich nicht richtig laufen. Und ein anderes Mal bin ich beim Kehren der Werkstatt mit dem Besen gegen einen Behälter mit Farbe gestoßen, der ist dann zerbrochen. Danach hat der Meister dann die anderen angehalten, die zerbrechlichen Gefäße immer oben zu lagern ..."

Bartolo und Niccolò sahen sich verstohlen grinsend an. Mit so einem Tölpel zu arbeiten, das versprach lustig zu werden!

„Bunchum, quid est?“

Bonaventura schloss die Augen, um das Bild in seinem Geiste zu sehen. Am Anfang musste man zu Boden schauen, das war die erste Stufe, so stand es in der Schrift, die er so oft studiert hatte, dass er sie Wort für Wort auswendig zitieren konnte. Es waren sieben Stufen bis zur Erlösung:

„Wenn du das Elixier des ewigen Lebens herstellen willst, brauchst du zuerst die reine Materie, die Materie, aus der alles gemacht ist. Viele Stoffe kannst du zur Urmaterie zurückführen, am besten aber sind die roten Früchte der Pflanze mit den grünen Blättern, die du hier siehst. Nimm die Früchte, so viele du kriegen kannst, und lege sie ins Wasser, wie das Wasser am Beginn der Schöpfung steht. Die guten Früchte senken sich bald schon auf den Boden, die schlechten schwimmen oben, entferne sie. Die gute Frucht ist wie die Frau, die Braut, die sich schamhaft in ihren Mantel hüllt und zu Boden blickt. Nach unten sollst du schauen wie sie. Unten siehst du die Welt wie in einem Spiegel. Noch kannst du nicht ins Licht sehen, deswegen musst du den Reflex des Lichts auf dem Boden betrachten. Mit aller Vorsicht musst du jetzt der Braut den Mantel ausziehen ohne ihr dabei ein Leid zuzufügen.“

Nicht nur die Worte der Schrift auch die Miniaturen hatten sich für immer in seinen Geist eingezeichnet. Das Bild, der Frau mit dem nach unten gewandten Blick, sie hielt den Mantel vor der Brust zusammen.

Er brauchte diese Pflanze! Es war nicht gleich, welchen Stoff man zur Urmaterie zurückführte, denn es gab nicht nur eine einzige Urmaterie. Es war nicht so einfach mit der Natur. Nachahmen musste man sie, ja. Aber welchen ihrer unendlich vielen, unendlich verschlungenen Wege musste er einschlagen? Er hatte keine Idee. Doch der Weg zum ewigen Leben konnte nicht einfach sein. Er hatte immerhin mehr als die anderen, die nach diesem Weg suchten. Er hatte die Schrift, nur er allein besaß die ganze Schrift. Nicht einmal die Cavalieri wussten, dass es noch eine Kopie gab. Und er hatte noch mehr. Nur er allein kannte Buoninsegna. Doch jetzt brauchte er Bunchum.

Bonaventura kannte die Pflanze nicht, aber vielleicht war das der Bunchum, von dem Avicenna schrieb. Er hatte die Früchte einer Pflanze bei einem Händler aus dem Orient entdeckt. Es war eine seltene Pflanze, sie wuchs nur in fernen Ländern, hier war sie vollkommen unbekannt. Ihre roten Früchte ähnelten den Kirschen, hatten aber nicht deren süßen Geschmack. Erst das große Werk, richtig vollzogen, würde den Wert dieser Früchte ans Licht bringen.

Man musste die unreinen Stoffe, Geschenke der Natur, sammeln, denn in ihnen verborgen lag der Schatz. Das war der Grundsatz jeder Forschung. Aber was war das Elixier? Was war der Wert dieser Pflanze, die sie Bunchum nannten?

Wer, außer ihm selbst und dem Verfasser, hatten die Schrift wohl jemals in der Hand gehalten? Niemand? Wer war den Worten gefolgt, hatte das Elixier so hergestellt, wie es Buoninsegna beschreibt? Nur Buoninsegna selbst? Dann hatte er es sicher auch geschluckt? Und erfreute er sich jetzt nicht einer blühenden Gesundheit?

Assisi war viel kleiner als Florenz. Doch es stand der Arnostadt an Geschäftigkeit um nichts nach. Wohin man sah, wurden Häuser umgebaut, vergrößert oder verschönert. Ganze Stadtteile waren in den letzten Jahren neu angelegt worden. Das vergangene Säkulum war für alle Städte eine Zeit der Blüte und des Wachstums gewesen. Aber Assisi war unter diesen noch hervorgehoben durch die Besonderheit, die Geburtsstadt des Francesco di Bernardone zu sein, der inzwischen wohl alle Heiligen an Beliebtheit übertraf.

Nachdem die kleine Gruppe die Porta San Pietro passiert hatte, bemerkten sie gleich, dass hier Menschen aller Länder unterwegs waren. Sie hörten die derben Ausdrucksweisen der Römer, die stachelige Koloratur der Veneter, die sonoren, wortreichen Reden der Neapolitaner, mehr Gesang als gesprochenes Wort, und zu ihrer Freude auch ihre eigene Mundart, die an Schönheit und Wohlklang allen anderen voran stand.

"Wenn doch alle Völker Italiens unsere schöne florentinische Sprache sprächen!", dachte Niccolò.

Aber auch Menschen aus fernen Ländern konnte man auf den Straßen von Assisi hören. Anselmo grüßte einige und redete ein paar Worte in seiner Sprache mit ihnen.

Sie erreichten das Haus, das Giotto di Bondone vor einigen Jahren gekauft hatte und in dem Giottos Sohn Francesco mit seiner Familie wohnte. Francescos Frau Lauretta mit ihrer kleinen Tochter Viola und Francescos drei jüngeren Schwestern erwarteten sie seit einigen Tagen und begrüßten sie herzlich. Besonders Bartolo, der – selbst ein Waisenkind – seit der Zeit, als er als Knabe von etwa zehn Jahren von seinem Bruder zu Giotto in die Lehre gegeben worden war, wurde von den Mädchen wie ein Bruder empfangen. Die kleine Lucia, Giottos jüngste Tochter, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Die elfjährige Chiara packte ihn gar beim Handgelenk und zog ihn fort mit den Worten:

"Komm Tolo, du musst dir meinen Igel ansehen, ich habe ihn vor ein paar Tagen gefunden. Er war ganz abgemagert. Jetzt geht es ihm besser. Ich behalte ihn, bis die Tage wieder wärmer werden."

Als aber die fünfzehnjährige Beatrice Bartolo umarmte, bemerkte Niccolò an seinem Freund plötzlich eine Verlegenheit, die ihm neu war. Kaum sichtbar war dessen rosige Gesichtsfarbe noch etwas röter geworden, die Worte kamen ihm bald langsam und abgehackt, bald schnell und unwillkürlich über die Lippen.

"Armer Bartolo", dachte Niccolò bei sich, "ich hab noch gar nicht bemerkt, dass Bice auf einmal deine Sinne verwirrt!"

Wie alle Kinder Giottos, mit Ausnahme des unglücklichen Nicola, sah Beatrice ihrer Mutter wesentlich ähnlicher als ihrem Vater. Sie hatte deren volles dunkles Haar, ihre großen wachen Augen, ihre schlanke Figur. Der arme Bartolo dagegen war kaum mit körperlichen Vorzügen bedacht. Dünn und schlaksig, stand er stets ein wenig krumm, als glaubte er, dadurch seine Länge verbergen zu können. Seine Bewegungen hatten stets etwas Unentschiedenes. Am schlimmsten aber waren seine Haare. Feuerrot und struppig standen sie in allen Richtungen von seinem sommersprossigen Gesicht ab und gaben ihm das Aussehen einer Medusa, um deren Kopf sich Schlangen winden. Freilich, mit einem solchen Aussehen hat man schon einen Teil seiner Sünden im irdischen Leben abgebüßt.

Wenig später machten Niccolò und Bartolo sich auf den Weg, die Stadt, die für die nächsten Monate ihre Heimat sein sollte, zu erkunden. Sie schlenderten durch die Gassen von Assisi, blieben mehrmals stehen, um sich die Gebäude und besonders deren Fenster eingehend zu betrachten. Hinter jedem Fenster vermuteten sie die versteckten Gesichter von jungen Mädchen, die verstohlen die Neuankömmlinge beäugten. Wenigstens Niccolò schwelgte im Gefühl seiner Wirkung auf Mädchen. Bartolo wusste, dass er bei den Warmherzigen höchstens Mitleid, bei den anderen dagegen Spott hervorrief, und hing keinen Illusionen nach.

Den Palast der Kommunalregierung erkannten sie an der Fahne mit dem weißen Kreuz der guelfischen Partei, daneben stand ein Gebäude, das wohl noch aus der Zeit der Heiden stammen musste. Auf Basen, die wie große Würfel aussahen, standen gerillte Säulen, auf diesen wiederum ruhte ein dreieckiger Giebel, ähnlich den Gebäuden auf den Zeichnungen, die Pilger aus Rom mitgebracht hatten. Niccolò aber fragte sich, warum es hinter den Säulen keinen Eingang in das Gebäude gab; lediglich eine Mauer mit vergitterten Fenstern. Warum gab es eine Vorhalle mit Säulen zu einem Gebäude ohne Eingang?

„Siehst du, wie schräg die Treppe ist?“, fragte plötzlich Bartolo, „die Säule ganz links steht über fünf Stufen, die rechte dagegen steht direkt auf dem Boden. Das ganze Gebäude ist anscheinend so schief wie der Campanile der Pisaner.“

„Oh Bartolo, du bist wirklich einfältig!“, rief Niccolò, „nicht das Gebäude steht schief, sondern der Platz ist abschüssig. Die Alten waren doch nicht so blöd wie die Pisaner; sie haben gerade gebaut, selbst wenn ringsherum alles schief stand. Das waren wirklich großartige Baumeister!“

Bartolo runzelte die Stirn: „Der Platz kann doch nicht schief sein, oder wenn er schief wäre, dann müsste man doch trotzdem gerade Häuser auf ihn stellen. Sonst sind eben die Häuser schief, basta!“

Niccolò seufzte. Bartolo würde solche Dinge nie kapieren.

"Alles Denken beginnt mit dem Staunen, sagte schon der Philosoph", sprach da plötzlich jemand hinter ihnen. "Wir haben einen Tempel der Minerva, der Göttin, die die Alten für ihre Weisheit bewunderten."

Eine seltsame Person hatte da zu ihnen gesprochen. Man konnte kaum ausmachen, ob sie alt oder jung, Mann oder Frau war, so außergewöhnlich war die Erscheinung. Abgemagert bis auf die Knochen, in zerlumpte Gewänder nur notdürftig eingehüllt und trotz der herbstlichen Kühle ohne Schuhe, schien es sich um einen Bettler zu handeln. Das knochige Gesicht mit der riesigen Nase und dem hervortretenden zahnlosen Kiefer verlieh ihr Ähnlichkeit mit einem Pferd und ließ auf Armut oder selbstgewählte Askese schließen. Die Art zu reden sprach für letzteres.

"Ja, einst war es ein Tempel der Weisheit", fuhr das Wesen fort, "der Ort der Sapientia sancta, in Zeiten, die sie heute heidnisch nennen. Jetzt gehört er unserer guten Regierung, und die hat es geschafft, der Weisheit des Ortes aufs Beste zu widerstehen."

"Was sagst du, Bruder? Es ist der Tempel der Weisheit?", fragte Bartolo.

"Der Tempel der Weisheit, ja das war er einst. Jetzt dagegen liegt die Weisheit in Ketten. Die Waage der Gerechtigkeit ist zerbrochen, ihre Schalen umgestürzt wie Kuchenformen. Glaubt mir, ich kenne den Ort sehr gut. Ich habe selbst viele Tage darin zugebracht. Aber verweilt nicht zu lange hier! Kommt, ich zeige euch das Haus unseres Poverello!"

Die knochige Gestalt sprang auf den nackten Füßen davon. Die beiden Jünglinge sahen sich an und überlegten, ob sie ihm folgen sollten. Bald aber siegte ihre jugendliche Neugier und sie liefen ihm nach. Das Wesen indessen war keinen Moment ruhig; während es auf der Straße hin- und herhüpfte, redete es unaufhörlich. Eigentlich war es weniger ein Reden als vielmehr ein Singen:

"Senno me pare e cortisia

empazir per lo bel Messia!"

(Gut und höflich scheint es mir

für den schönen Messias verrückt zu werden! Jacopone da Todi)

Vor einer kleinen Kapelle blieb der Fremde stehen und wandte sich wieder an die Jungs: "Hier in diesem Stall ist er geboren, Francesco Bernardone, der neue Christus."

„Ein Stall?“, wunderte sich Bartolo. „Das sieht doch aus wie eine Kirche?“

„Weil Franziskus' Neffe Piccardo aus dem Stall eine Kapelle gemacht hat. Er hat den Raum sogar mit Fresken ausmalen lassen. Seht ihr, die Geburt unseres Herrn hat man dort an die Wand gemalt. Hier in diesem Stall zwischen Ochsen und Eseln wie unser Herr Jesus Christus ist auch der Poverello geboren!“

"Der heilige Franziskus ist in einem Stall geboren?", fragte Niccolò ungläubig, denn schließlich wusste jeder, dass der Kaufmann Pietro Bernardone dei Moriconi, Franziskus' Vater, zu den reichsten Männern Assisis gehört hatte.

"Ja! Die Prophezeiung hat sich erfüllt! Der neue Christus ist in aller Demut im Stall geboren, um uns in ein neues Reich zu führen! Ein Engel war Pica, der Mutter des Poverello, erschienen, wie dereinst der Erzengel Gabriel unserer lieben Frau, und hatte ihr angeraten, ihr Kind in diesem Stall zur Welt zu bringen und in dieser Krippe zu betten. In den Gewändern eines Pilgers war er ihr erschienen. Eine Prophezeiung erfüllt sich immer, wenn sie sich erfüllen soll. Der Engel des siebten Siegels, mit dem das alte Zeitalter des Sohnes endet, ist gleichzeitig der neue Christus, mit dem das Zeitalter des heiligen Geistes beginnt. Kommt mit, ich zeige euch das Taufbecken, an dem der Poverello das Sakrament empfangen hat!"

Mit diesen Worten hüpfte das Wesen davon, sprang durch einige Gassen und über Treppen – stets nach oben – sodass die Jungs fast Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Als sie die letzte Stufe einer finsteren Gasse und den Torbogen an deren Ende passiert hatten, standen sie plötzlich auf einem weiten Platz vor einer Kirche. Der seltsame Führer erklärte den beiden, dass es der Domplatz sei, und die Kirche San Rufino, obgleich keine Baustelle, der Dom von Assisi. Es war ein massiver Bau, ganz im alten Stil. Niccolò fiel sofort der Unterschied zum Dom seiner Heimat auf. San Rufino war ohne kräftige Farben gestaltet, einzig weiß und rosa, die Farben des Steines des Monte Subasio, fand man hier. Wie anders würde die Kathedrale von Florenz aussehen, wenn sie erst vollendet wäre! Sie würde außen ganz mit farbigem Marmor verkleidet sein. Einstweilen hatte man zwar nur die Hälfte der Fassade fertiggestellt, aber wenn es erst so weit wäre, dann würde es die prächtigste Kathedrale der Christenheit sein! Sie würde für alle Zeiten vom Willen der Baumeister und Bildhauer zeugen, Gott und ihre Stadt durch die Schönheit ihrer Werke zu rühmen.

Hier an der Fassade von S. Rufino dagegen gab es drei Rosettenfenster, gebildet aus schmalen Säulchen, von denen das mittlere von drei Figuren gestützt wurde, die ihrerseits auf Tieren – einem Greif, einem Basilisken und einer Löwin – standen. Gleichsam als Spiegelbild lagen unten vor dem mittleren Eingang wiederum zwei Löwen, von denen einer einen schmerzhaft verbogenen Menschen zerfleischte. Der Kampf gegen das Böse war in allen Varianten gezeigt, der Kampf, den jeder Mensch aufnahm, wenn er die Kirche betrat und der ihm, wenn er ihn siegreich kämpfte, das ewige Leben schenken würde. Niccolò war nicht überrascht, wenn es an dieser Fassade Löwen gab, oder Pfauen, die sich über ein Gefäß neigten, das Gefäß, aus dem Christus und seine Jünger beim letzten Abendmahl getrunken hatten. Erweckte doch die Löwin ihre neugeborenen Kinder erst nach drei Tagen zum Leben. Und der Pfau verlor im Herbst seine bunten Federn, die ihm dann im Frühling wieder wuchsen, so gewiss, wie die Auferstehung der Gläubigen war.

Trotz allem war etwas an dieser Fassade seltsam. Über dem Eingang thronte Christus als Herrscher der Welt in einem von Weinranken gerahmten Halbkreis. Zu seiner rechten saß die Jungfrau Maria. Zu ihren Füßen schauten drei kleine Köpfe heraus. Schweigend deutete Niccolò mit dem Finger darauf.

Die dünne Gestalt verstand seine Frage auch gleich: "Du fragst dich, wen die Köpfe darstellen? Es ist ganz einfach: außen in den Weinranken siehst du die Menschen des ersten Reiches, des Zeitalters des Vaters. Sie müssen arbeiten, das war die Strafe für die erste Sünde. Siehst du dort die kleinen Bauern mit ihren Werkzeugen und ihren Tieren?

Auf dem Thron aber sitzt die heilige Jungfrau und Mutter des Erlösers. Siehst du, wie sie ihren Sohn an ihrer Brust nährt, wie groß und wohlgeformt ihre Brust ist? Ihre Milch ist die Liebe, die aus ihrer Brust herausläuft und alle trinken lässt, die sich danach sehnen.

Ihr Sohn, der Herrscher des zweiten Reiches, thront in der Mitte, der König über die gesamte Welt, deswegen sind Sonne und Mond bei ihm. Siehst du den kleinen Kopf unten? Aus seinem Mund rankt der Wein, die Schöpfung, das Wort, der Logos. Das ist die Welt und Christus herrscht über sie. Zu ihren Füßen steigen die Eltern des neuen Erlösers des neuen Reichs auf. Es sind Heinrich und Konstanze, die Eltern des imperator pacis. So wenigstens haben wir ihn genannt, damals, als wir noch an den ewigen Frieden glaubten. Doch jetzt ist er tot und das Reich des Friedens, wo ist es? Aber kommt nach drinnen!", unterbrach er sich plötzlich selbst und zog Niccolò am Ärmel, "kommt, ihr müsst das Taufbecken sehen. Von hier sollte die Erlösung der Menschen ausgehen!"

Er zog Niccolò durch eines der beiden kleineren Portale der Kirche. Gleich am Eingang stand das Taufbecken. Hier ist also hatte der heilige Franziskus die Taufe empfangen! Erneut spürte Niccolò den heiligen Schauer beim Anblick dieses Zeugnisses.

Als habe sie wiederum seine Gedanken erraten, sagte die Gestalt plötzlich: "Dieses Taufbecken ist mehr als nur ein Zeuge von Wundern, viel mehr, viel viel mehr! Wisst ihr überhaupt, wer hier einst getauft wurde?"

"Der heilige Franziskus?", antwortete Bartolo ein wenig unsicher.

"Natürlich, unser Santo Poverello hat hier das heilige Sakrament der Taufe erhalten, natürlich. Aber wer noch?"

"Die heilige Clara?", antwortete jetzt Niccolò zögernd und selbst daran zweifelnd, dass es sich um die erwartete Antwort handelte. "Selbstverständlich ist auch die treue und ergebene Gefährtin des Poverello, die Führerin der rechtgläubigen Weiber, hier getauft worden und hat mit ihrer Taufe die Unschuld, die uns vor der ersten Sünde gegeben war, wiedererlangt. Aber wer noch?"

Er schien die Lösung des Rätsels nicht verraten zu wollen, deswegen besannen sich die Jungs auf Namen von Personen, die aus Assisi stammten. "Bruder Elia?"

"Pietro Catanii?"

"Ihr Narren!", unterbrach der Dünne sie nach einer Weile, "wollt ihr mir etwa alle Einwohner dieser Stadt aufzählen? Sicher haben hier auch Unwürdige das Sakrament empfangen. Aber sie haben es nicht wirklich empfangen, versteht ihr? Das Sakrament empfängt nur, wer wirklich den wahren Geist hat. Nur, wer nicht schläft, nicht tot ist, wer nicht zu Stein geworden ist!“

Er machte eine Pause und blickte zuerst Bartolo, dann Niccolò direkt in die Augen.

„Hier an diesem Becken hat der Friedenskaiser das heilige Sakrament empfangen! Von hier ging das Heil aus! Der letzte Kaiser und der Engel des sechsten Siegels haben hier ihre Mission direkt von Gott empfangen! Aber wo bleibt das Heil, das Reich des Friedens? Das weiß keiner. Der eisige Wind – sagen sie – kämpft dagegen. Doch, glaubt mir, es sind nicht die Truppen des Feindes sondern vielmehr die eigenen Truppen, die sich selbst bekämpfen. Und wer am Ende der Sieger sein wird, das wird sich bald herausstellen. Ihr seid glücklich, ihr seid auserwählt, dass ihr diesen Ort so kurz vor dem Ende noch besuchen dürft! Unser Friedenskaiser, der neue Konstantin, wie er zuerst hieß, dann aber Friedrich, weil nur er, reich an rechtem Glauben, dem Antichrist Widerstand entgegensetzen und das Reich des Friedens bringen kann!"

"Torsolo!", eine scharfe Stimme unterbrach plötzlich die Rede. "Torsolo! Raus hier! Ich dulde keine ketzerischen Reden in meiner Kirche! Sofort raus mit dir!"

Ein Sakristan kam mit energischen Schritten auf die kleine Gruppe zu. Der soeben als "Torsolo" bezeichnete verzog seinen zahnlosen Mund zu einem spöttischen Grinsen.

"Einer der Diener des Tiers! Hört, wie er bellt! Klingt sein Bellen nicht ganz wie der kalte Wind, der die Blumen sterben lässt und alles zu Stein verwandelt?"

Der Prälat wollte Torsolo gerade an einem der Fetzen seines zerfledderten Gewandes packen, doch jener war flink wie ein Kaninchen zur Seite gesprungen.

"Werter Zerberus, erinnerst du dich noch an Bruder Juniper?" Mit diesen Worten zog sich er den unteren Teil seiner notdürftigen Gewandung über den Kopf, sodass das, was eigentlich am meisten des Bedeckens bedurfte, völlig bloß und sichtbar war. Bartolo stand vor Schreck der Mund offen, und auch Niccolò, der sich gerade aus dem Staub machen wollte und den Kameraden deswegen bereits am Arm gepackt hatte, konnte plötzlich seine Augen nicht mehr von dem Spektakel abwenden. Torsolo heulte wie ein Wolf, während er mit immer noch nacktem Unterkörper aus der Kirche rannte.

"Verschwinde!", rief der Sakristan ihm hinterher, während er vom Domplatz einen Stein aufhob und nach dem Flüchtigen warf, "und lass dich hier nie wieder blicken! Beim nächsten Mal hole ich den Bischof!"

Niccolò und Bartolo hätten sich gerne unbemerkt aus der Kirche geschoben, wenn nicht der Sakristan ihnen den Weg verstellte und sie auch gleich barsch anfuhr: "Und ihr, wer seid ihr? Seid ihr etwa seine Apostel? Woher kennt ihr Torsolo?"

"Nein, nein ... Wir sind ... Nein, er, er hat uns angesprochen", stotterte Bartolo. "Wir kennen ihn wirklich nicht, mein Herr", beteuerte auch Niccolò. Die sichtbare Verlegenheit der beiden stimmte den Sakristan ein wenig freundlicher:

"Du, Petrus, wer bist du?"

"Nein, ich heiße nicht Petrus, sondern Niccolò di Ranuccio und das ist Bartolo di Giovanni. Wir kommen aus Florenz. Wir sind Maler aus der Werkstatt von Francesco di Giotto", und als wolle er damit ein Zeugnis ihrer rechten Glaubens ablegen, fügte er hinzu: "Wir arbeiten für Kardinal Orsini."

"Ah, Florentiner also", knurrte der Sakristan, "aus allen Himmelsrichtungen holen sie sie nach San Francesco: Florentiner, Sienesen, Römer. Alles zum Ruhm unseres Poverello, und dabei kriegen die Franziskaner nicht einmal ihre eigenen Abtrünnigen in den Griff. Aber ihr beiden, gebt Acht, seid auf der Hut und lasst euch nicht mit verworfenen Subjekten ein. Wir sind nicht in Florenz. In Florenz werden Eitelkeit und Ketzerei schon lange geduldet. So lange, dass selbst der Leibhaftige seine Umtriebe dort aufgegeben hat, muss er sich doch nicht um die Seelen bemühen, die er längst gewonnen hat. Hier aber seid ihr an einem viel gefährlicheren Ort. Die heiligsten Zeugen der Mysterien unseres Glaubens sind hier gewesen. Darum wird Assisi natürlich auch ganz besonders vom Teufel versucht. Unsere Vorbilder, die heiligen Feliciano, Vittorino, Savino und natürlich unser Schutzpatron Rufino sind in ihrer vorbildlichen Lebensführung dem Satan seit je ein Dorn im Auge. Seid daher stets wachsam wie die klugen Jungfrauen! Allzu schnell kann man das ewige Leben verlieren durch einen Moment, an dem man unaufmerksam oder neugierig ist. Der Teufel wartet nur auf diesen einen Moment. Ihr seid jung, euer Geist ist frisch. Haltet euch an Christus. Denkt jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick an seine Leiden. Folgt ihm und lasst euch nur von den Hirten der wahren Kirche leiten! Hütet euch vor den falschen Lehrern!"

Endlich entließ er die beiden. Froh, dieser Predigt zu entkommen, machten sie sich aus dem Staub. Erst nachdem sie mehrere Gassen durchquert, sich in deren Gewirr verirrt, aber schließlich wieder zu dem Platz mit dem heidnischen Tempel fanden, an dem das seltsame Erlebnis seinen Anfang genommen hatte, sprachen sie wieder miteinander.

Wie üblich war Bartolo der erste, der Worte fand: "Was war das? Was war so schlimm, an dem, was der komische Kerl geredet hat?"

"Was hat er denn geredet?", rief Niccolò heraus, "ich habe nicht verstanden, was der wollte. Die Köpfe an der Fassade, der Friedenskaiser, was soll das alles heißen? Außerdem hörte es sich an, als ob er selbst zweifelte, an dem, was er glaubte. Erst sagte er, das Reich des Friedens solle mit jenem Kaiser kommen, dann kam es doch nicht."

"Ich weiß nicht, vielleicht ..."

"Hast du bemerkt", fuhr Niccolò fort, ohne Bartolos Antwort abzuwarten, "hast du bemerkt, dass, seit Arezzo, wir dauernd Menschen begegnen, die seltsam unverständliche Reden führen? Sie reden von Steinen, kalten Winden, irgendwelchen Kerlen, die schlafen, und was sonst noch für einen Unsinn! Sind außerhalb von Florenz alle verrückt? Oder reden sie nicht unsere Sprache? Was hat das alles zu bedeuten?"

"Vielleicht, hm, vielleicht bedeutet es, dass das Ende nicht mehr fern ist?", schlussfolgerte Bartolo.

"Es scheint wohl so", gab Niccolò zu, wenngleich ihm die Logik der Antwort nicht einleuchtete, und während des weiteren Weges schwieg er.

2. Kapitel



Francesco di Giotto wartete in der Werkstatt im Konvent von S. Francesco und auf seine Gesellen und Lehrjungen. Die Sonne, gerade erst aufgegangen, erzeugte noch nicht genug Licht an diesem Novembermorgen, so dass er eine Lampe mitnehmen musste. Wie so oft fragte er sich, ob er vielleicht nicht streng genug mit den Werkstattmitgliedern war.

"Bei Vater wären sie nicht später als der Meister gekommen", dachte er. Der Sohn des größten Malers zu sein, erfüllte den Dreiundzwanzigjährigen mit Stolz, ließ ihn aber in manchen Momenten auch an seiner eigenen Fähigkeit zweifeln. In den gelehrten Kreisen von Florenz, Padua und Rom sprach man von Giotto di Bondone als dem Erneuerer der Malerei. Man nannte ihn gar den „Affen der Natur“, denn Giotto vermochte die Natur so getreu nachzuahmen, dass man den Unterschied seiner Malerei zur Natur nicht mehr erkennen konnte. Man sprach über einen Maler, der doch eigentlich nur ein Handwerker war! Man erzählte sich sogar Anekdoten über Giotto, als sei er ein Dichter oder gar ein Philosoph!

Francesco sah seinem Vater ähnlich, doch hatte ihn die Schöpfung wohlwollender behandelt. Über Giottos Hässlichkeit redete man ebenso wie über sein Talent. Francescos dagegen war wohlproportioniert und schlank, seine Gesichtszüge regelmäßig. Seinen großen, stets aufmerksamen Augen blieb nichts verborgen.

Endlich konnte Francesco die Stimmen seiner Mitarbeiter hören. Zuerst sah er Anselmo, dann weitere Maler, darunter auch Niccolò und Bartolo. Francesco hatte für dieses große Werk eine beachtliche Gruppe organisiert. Dazu gehörte auch Puccio Capanna, ein etwa dreißigjähriger Maler aus Assisi. Seine ersten Erfahrungen als Lehrling hatte er vor 16 Jahren in der Werkstatt Giottos gemacht, als dieser in Assisi einige Szenen aus dem Leben des heiligen Franziskus gemalt hatte.

Guido di Michele, im gleichen Alter wie Francesco, hatte bereits in Padua in Giottos Werkstatt gearbeitet und sich dort mit Francesco angefreundet. Der ältere Gherardo di Guccio mochte schon bald 40 Jahre alt sein, doch er stand noch keiner eigenen Werkstatt vor.

Weiterhin erschien Onofrio di San Clemente, ein Minderer Bruder und zunächst als Buchmaler tätig. Aufgrund seiner Jungend und seiner körperlichen Tüchtigkeit war er aber bald den Wandmalern der Kirche zur Hand gegangen und hatte sich so mit der Technik der Freskomalerei vertraut gemacht.

Bruder Onofrio gefiel Niccolò auf Anhieb. Er war etwa in Niccolòs Alter. In Onofrios Gesicht schien alles rund. Über den rosigen Wangen blickten kleine verschmitzte Augen, sie verliehen ihm den Anschein, stets innerlich zu lächeln, auch dann, wenn er, wie jetzt gerade, keine Miene verzog. Aber auch Francesco schien Onofrio in besonderer Weise zugetan. Onofrio war am Morgen noch später erschienen als Niccolò und Bartolo. Doch statt ihn wie jene beiden, ob seiner Verspätung zu rügen, hatte Francesco ihm mit einem kaum sichtbaren Lächeln für sein Kommen gedankt. Wohl lag es am Ordenshabit, das, wenngleich zerschlissen und voller Flecken, die Hochachtung des Meisters wider den Gesellen das gebührende Maß überschreiten ließ.

Eine Gruppe von Knaben jugendlichen Alters, die Garzoni, die Lehrlinge, waren ebenfalls anwesend. Außer Niccolòs und Bartolos beiden florentiner Reisegefährten waren da noch zwei Deutsche, so wie zwei Jungs aus Assisi, Filippo und Corrado.

Auch Puccios Frau und seine kleine Tochter Emilia waren gekommen, genauso wie Lauretta und Beatrice. Beatrice liebte das Malen. Besonders den messbaren Dingen widmete sie ihre Aufmerksamkeit. Mehr als alle anderen begeisterte sie sich für die neue Idee ihres Vaters: Ein Bild war seit Giotto keine Fläche mehr. Es war vielmehr ein Kasten gleich einer Spielzeugkiste, in denen Kinder kleine Figürchen aufstellten und dessen vordere offene Front die Bildfläche bildete.

"Gesellen, Lehrlinge, Mitarbeiter", begann Francesco seine Rede, "eine große und wichtige Aufgabe liegt vor uns. Wir erwarten in diesen Tagen die Ankunft unsres Auftraggebers, des ehrwürdigen Kardinal Orsini. Wie ihr wisst, lässt Kardinal Orsini das gesamte Querhaus der Kirche ausstatten. An den Enden des Querhauses ließ er bereits zwei Kapellen bauen. In einer ist der Bruder des Kardinals begraben. Ricco, der Mann meiner Schwester Caterina, ist sein einiger Zeit mit der Ausmalung des Gewölbes im Querhaus beschäftigt. Einige von euch haben mit ihm an den Bildern mit den Szenen der Kindheit unseres Herrn gearbeitet. Unsere Aufgabe dagegen wird das Malen des Vierungsgewölbes und der Apsis sein. Führt euch immer wieder vor Augen, dass wir damit an einem der heiligsten Orte dieser Gegend arbeiten, direkt über dem Grab des heiligen Franziskus.

Ihr wisst, was ich euch immer gelehrt habe. Nehmt es euch zu Herzen! Denkt daran, dass ihr zwar nur Maler seid, aber führt euer Leben so, als würdet ihr Theologie, Philosophie oder eine andere Wissenschaft studieren! Verhaltet euch mäßig im Essen und im Trinken, nehmt höchstens zweimal am Tage leichte oder kräftige Kost zu euch! Und vor allem, schont eure Hände! Hütet sie vor Ermüdung, wie sie durch sinnlose Spielereien wie dem Werfen von Stangen oder Steinen eintreten kann! Und ... wie ihr wisst, .... ihr wisst wohl, und ich habe euch oft gesagt, dass es noch andere Veranlassungen gibt, eure Hände so unsicher und so zittrig wie ein Blatt, das im Wind flattert, zu machen. Und das ist der zu häufige Umgang mit Weibern! Hütet euch also davor!

Lasst unsere Arbeit dem heiligen Franziskus zur Ehre gereichen und uns zum Ruhm!"

"Und die Börse des alten Knauserers aus Florenz füllen", flüsterte Puccio Capanna seiner Frau zu, "der Kardinal soll der reichste Mann von Rom sein. Er zahlt doch wohl beachtliche Summen für seine Aufträge. Was davon bei uns ankommt, reicht sicherlich kaum, um einen Esel zu ernähren!"

"Von seinem Sohn erzählt man sich aber, er habe einen sanfteren Charakter", wandte sie ein, "er soll auch nicht so ein Geizhals sein wie Meister Giotto."

"Das mag schon sein, aber er kann selbst überhaupt nichts entscheiden. Er ist noch nicht volljährig. Noch ist sein Vater der Kopf der Werkstatt, und der wird wohl zu verhindern wissen, dass wir allzu großzügig bezahlt werden“, und nach einem Seufzer fügte er hinzu: „Aber man kann es nicht ändern, machen wir uns nur an die Arbeit. Die Ehre dem heiligen Francesco, dem unheiligen das Silber!"

Nach dem Morgengebet gingen Lucia und Chiara zum Haus des Lehrers, wo sie wie jeden Morgen einige Stunden Elementarunterricht erhalten sollten. Erstaunt, die Mitschüler vor der Tür wartend anzutreffen, fragte Chiara:

„Was ist los, warum steht ihr hier draußen und geht nicht rein?“

„Maestro Leone öffnet nicht“, antwortete der dünne Piero, „wir haben schon hundert Mal angeklopft.“

„Du kannst doch noch nicht einmal bis hundert zählen!“, unterbrach ihn Coppo, der Spaßmacher der Klasse, „aber seltsam ist das schon, ich bin gerade ums Haus herum gegangen, alle Fensterläden sind geschlossen.“

„Vielleicht schläft der Maestro noch.“

„Vielleicht hat er diese Nacht auch woanders verbracht.“

„Vielleicht ist er von einem Dämon verschlungen worden.“

Doch nach einigen weiteren Spekulationen kam man zu dem Ergebnis, es habe keinen Sinn noch länger zu warten; und so kehrten die Kinder – jedes in seine Richtung – nach Hause zurück.

Nachdem die beiden Schwestern aber die halbe Strecke zurückgelegt hatten, sagte Chiara plötzlich: „Lucia, willst du wirklich nach Hause? Dort müssen wir nur wieder irgendwelche langweiligen Hausarbeiten machen. Lass uns doch in Francescos Werkstatt zum Konvent gehen. Heute Morgen erklärt er seinen Leuten, was sie malen sollen. Vielleicht können wir mithelfen, das ist doch viel spaßiger!“

Statt langsam durch die Straßen zu schlendern, liefen die beiden daher zielstrebig zum Konvent von S. Francesco, wo sie ihrem Bruder vom Geschehenen berichteten.


*


Die Geschichte beunruhigte Francesco. Was seine Schwestern da berichteten, passte nicht zu einem Cavaliere wie Leone. In diesem Zustand nervöser Gespanntheit zeigte er seinen neu angekommenen Mitarbeitern die Kirche von S. Francesco.

Die riesige Kirche bestand genau genommen aus zwei Kirchen. Aus Florenz kannte Niccolò den zweigeschossigen Altarraum von S. Miniato al Monte. Aber hier lagen wirklich zwei Kirchen übereinander! Die Untere, dunkel und mit mächtigen Wänden, war die Grabeskirche des heiligen Franziskus, auch wenn das eigentliche Grab noch tiefer in der Erde lag. Niemand wusste genau, wo.

Das Gewölbe der Vierung war bereits vor langer Zeit mit Fresken ausgemalt worden. Ihre letzten Reste schlugen einige Mitarbeiter gerade mit Hammer und Meißel herunter. Staub hüllte den Raum in einen undurchsichtigen Schleier und Niccolò fühlte sich wirklich wie in einem Grab.

Über eine kleine Treppe stiegen sie in den Kreuzgang hinauf und von dort in das obere Querhaus. Hell und farbig empfing sie der Raum. Welch ein Unterschied zur staubigen und düsteren Grabeskirche! Im oberen Chor und im Querhaus leuchteten Fresken in den prächtigsten Farben. Niccolò hatte wohl noch nie ein so strahlendes Rot gesehen. Es war die Farbe reifer, süßer Erdbeeren oder blühender Rosen im Sommer. Aus diesem roten Hintergrund hoben sich plastisch goldene Rosetten und Heiligenscheine ab. Wie hatten die Maler diese Farbe erzeugt? Rote Ocker gab es in den verschiedensten Tönungen, aber wie hatte man die verschiedenen Töne gemischt, um dieses Rot zu erzeugen?

„Es ist eine orange Erde", erklärte Beatrice, als habe sie seine Gedanken erraten, "aus Resina, einem kleinen Ort in der Nähe von Neapel. Wenn man ihr im richtigen Maß Terra di Siena beimischt, dann kommt dieses schöne Rot heraus. Es ist alles eine Frage des Maßes."

Francesco war mit den anderen bereits am Lettner und winkte die beiden heran. Sie passierten die Chorschranke hindurch und erreichten den Teil der Kirche, der den Laien offenstand. Durch die große Rosette der Eingangswand strahlte die Morgensonne und tauchte die Gläubigen – Pilger aus allen Ländern aber auch einige Einheimische, – ebenso wie die Malereien an der Decke und an den Wänden in ein warmes Licht. Maler, Bildhauer und Glaser hatten hier über viele Jahre gearbeitet. Auch Giotto hatte hier zusammen mit anderen Malern einst das Leben des heiligen Franziskus gemalt.

Bartolo griff Niccolò am Ärmel und zog ihn zu einem der Bilder.

„Schau mal, da ist die Piazza, wo wir gestern den komischen Kerl getroffen haben!"

Und wirklich, das alte Gebäude, das Torsolo den „Tempel der Weisheit“ genannt hatte, war auf einem der Fresken gemalt. Davor breitete ein Mann aus dem Volk seinen Mantel vor dem jungen Franziskus aus; einige Bürger aus Assisi standen mit verständnislosen Gesichtern dabei.

„Ja, das ist der Tempel, doch dieser hier hat fünf Säulen, der draußen dagegen sechs. Warum hat Giotto wohl eine Säule weniger gemalt?“

„Genau genommen“, nahm Beatrice den Gedanken auf, „hat Babbo hier sieben Säulen gemalt. Seht ihr, die Säulen gehen um die Ecke, zwei stehen an der Wand zum Palazzo Comunale.“

„Was war wohl der Grund dafür?“ Onofrio di San Clemente hatte sich genähert, „Sieben Säulen statt sechs. Am Eingang fünf Säulen. Woran denkt ihr bei der Fünf?“

Beatrice und Niccolò sahen sich an.

„Richtig! An die fünf Bücher Mose, den Eingang in den wahren Glauben. Fünf sind die Wunden, die der heilige Franziskus empfing. Sieben dagegen sind nach unserem Theologen Bonaventura da Bagnoregio die Stufen, die die Seele auf ihrem Pilgerweg zu Gott zurücklegt. Die Sieben ist außerdem die Verbindung der göttlichen Drei mit der irdischen Vier, die Summe der theologischen und der Kardinaltugenden, sieben sind die Bitten des Vaterunsers, die Sakramente, die Gaben des heiligen Geistes. Und sollte hier nicht der simple Geist gezeigt werden, der einfachen Mann, der, unbedarft von allen theologischen Diskursen, die Heiligkeit Franziskus' erkennt – noch bevor dieser selbst von seiner Heiligkeit weiß – und seinen Mantel vor ihm ausbreitet? Deswegen also hat Giotto nicht einfach die sechs Säulen gemalt. Auch die sechs ist doch eine schöne Zahl, am sechsten Tag der Schöpfung war es, als der Mensch als Mann und Frau geschaffen wurde. In dies sexto creatur sexus. Eine schöne Zahl, fürwahr. Doch hier haben wir den einfachen Mann, die Fünf, den Anfang, und Franziskus, die Sieben, das Ziel. Hier dagegen ...“ Onofrio ging weiter zum Bild, auf dem Franziskus seine Kleider auszieht und diese seinem wütenden Vater vor die Füße wirft. Die Wut des Vaters, der den Sohn gerade schlagen möchte, würde nicht ein anderer Bürger seine Hand festhalten, die bemerkt Franziskus gar nicht mehr. Er streckt die Hände zum Himmel, seinem wahren Vater entgegen. „Und wie viele Säulen seht ihr hier?“ fragte Bruder Onofrio.

„Sieben.“

„Franziskus, die Vollendung. Wie viele Fenster und Türen seht ihr hier?“

„Elf?“

„Elf! Und wofür steht die Elf?“

Beatrice und Niccolò sahen sich wieder fragend an. Bartolo antwortete: „Für nichts?“

„Richtig! Die Elf ist eine Zahl ohne Regeln, eine Zahl ohne Teile außer sich selbst, es ist der Ungehorsam gegen alle Regeln und Gesetze der Menschen. Der heilige Martin verweigerte den Militärdienst, obwohl er nach dem Gesetz dazu verpflichtet gewesen wäre, weil er ein Soldat Christi sein wollte. Martin wurde aber am elften Tag des Monats November zu Grabe getragen, wir feiern sein Fest an jenem Tag. Die Elf ist die Zahl der Freiheit, der Grenzenlosigkeit, aber auch der Unvollkommenheit, hebt sie doch die Vollständigkeit der Zehn wieder auf. Weil sie aber nur einen Schritt von der vollkommenen Zwölf steht, ist sie auch der letzte Schritt auf dem Weg zur Vollkommenheit ...“

Eine Stimme unterbrach den Redeschwall des Franziskaners:

„Meister Francesco di Giotto, sei gegrüßt! Wir suchen deinen Sororius. Da unten ist leider ein solcher Nebel, dass wir ihn, selbst wenn er dort sein sollte, nicht erblickt hätten. Du kannst uns wohl nichts über seinen Verbleib berichten?"

Zwei Männer kamen auf Francesco und seine Gruppe zu. Der Sprecher trug die schwarze Soutane des Bischofs. Es war Tebaldo Pontano, der Bischof von Assisi. Der andere war in das Habit des Benediktinerordens gehüllt. Niccolò erschrak unwillkürlich beim Anblick der beiden Männer. Nicht so sehr das ehrwürdige Amt des Bischofs erweckte seine Furcht, sondern vor allem die Erscheinung des Begleiters. Er mochte mehr als dreieinhalb florentiner Ellen groß sein und betonte diese enorme Größe zusätzlich durch eine sehr aufrechte Haltung. Sein Gesicht glich dem eines Falken, der aufmerksam seine Umgebung beobachtete und scheinbar regungslos auf den Moment des Angriffs wartete. Die Augen, hell und farblos wie Eis, schienen Pfeile abzuschießen.

Die Gespräche der kleinen Schar erfroren auch sofort. Francesco begrüßte den Bischof in der gebotenen Weise und antwortete dann auf dessen Frage nach dem Verbleib seines Schwagers, dass jener gewisse Geschäfte zu erledigen habe, aber jeden Moment in seiner Werkstatt im Konvent eintreffen müsse. Ricco di Lapo hatte im Auftrag des Bischofs eine Kapelle in der Unterkirche ausgemalt, die der heiligen Büßerin Maria Magdalena geweiht war.

„Ja, es ist kein Verlass auf diese Florentiner", sagte der Bischof, und Niccolò wunderte sich über seinen jovialen Ton, „er verbringt seine Zeit sicher wieder im Palazzo Moriconi. Was wohl der Grund dafür sein mag? Messer Salvestros Ansichten, die Spendierfreude seines Schwiegersohns oder etwa die Präsenz seiner liebreizenden Tochter? Nichts davon ist gut für ihn. Aber wir hoffen doch, dass er sich heute nach der Sext zusammen mit dir in unserem Palazzo einfinden wird. Gestern hat mir ein Kurier des Kardinals Orsini dessen baldige Ankunft verkündet. Er wird dich sprechen wollen, werter Meister Francesco, und auch deinen flatterhaften Sororius."

„Eure Exzellenz, ich verbürge mich für seine Anwesenheit", versicherte Francesco sofort und versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken. Dieser, wenngleich freundlich vorgebrachte, Angriff auf den Lebenswandel seines Schwagers, erzürnten ihn mehr als er zugegeben hätte.

3. Kapitel



Wer der kleinen Gruppe begegnete, die an diesem ungewöhnlich warmen und sonnigen Novembervormittag durch das Tal des Topino ritt, dem wäre kaum der Gedanke gekommen, dass hier einer der reichsten Männer Roms unterwegs war. Zu bescheiden war die Ausstattung des Kardinals, der, selbst auf einem Esel reitend, nur von seinem persönlichen Kaplan und einigen wenigen Bediensteten begleitet wurde. Sie kamen geradewegs aus Montefalco, wo Kardinal Napoleone Orsini die Untersuchungen zur Seligsprechung der Chiara von Montefalco geleitet hatte. Die Gedanken des Kardinals waren noch ganz mir den Untersuchungen und dem zurückliegenden Prozess befasst. Im Unterschied zu seinem Kaplan, dem bald sechzigjährigen Ubertino da Casale, war er keineswegs überzeugt, dass jede einzelne der Tugenden der Augustinerin unwiderlegbar bewiesen und damit Zeugnis ihrer Heiligkeit sei. Mit Ubertino war er deshalb in einem zwar freundschaftlichen, doch zuweilen heftigen Disput.

"Mein lieber Sohn", versuchte Ubertino den Kardinal zum wiederholten Male zu überzeugen, "ich sehe, Ihr habt Euer Herz immer noch nicht vollständig den offensichtlichen Zeugnissen geöffnet. Was sagt Ihr zu den Zeugnissen im Herzen der heiligen Schwester?"

Der Kardinal musste zugeben, dass die Stigmatisierung Chiaras höchst ungewöhnlich war. Nach ihrem Tode vor zehn Jahren erinnerten sich Chiaras Mitschwestern an einige seltsame Andeutung, die Chiara selbst noch auf dem Sterbebett geäußert hatte. Mehrmals hatte sie die Schwestern aufgefordert, ihr doch ins Herz zu schauen und Christus darin zu suchen. Denn Christus als ihr Bräutigam habe ihr seinen Verlobungsring geradewegs in ihr Herz geprägt. Einmal sagte sie sogar, man solle ihren Leib öffnen, um die Zeichen Christi in ihrem Herzen zu finden. Als Chiara dann im August des Jahres 1308 verschied – trotz der großen Hitze und des Fiebers, das sie heimgesucht hatte, war in ihrem Gesicht bereits die Seligkeit des neuen Lebens zu sehen – beschloss eine beherzte Mitschwester, den Leib vor seiner Einbalsamierung zu öffnen. Die Schwestern, die Chiara seit langem kannten und, bereits Zeuginnen verschiedener Visionen und Vorhersagen seitens ihrer Mitschwester sein durften, achteten längst ihre Heiligkeit. Dennoch trauten sie ihren Sinnen nicht, als sie dieses offensichtliche Zeugnis sahen: In Chiaras Herz steckte ein Kreuz, dessen Querarme aus Selbigem herausragten; außerdem die anderen Leidenswerkzeuge, die drei Nägel, die Dornenkrone, der Stab mit dem Essigschwamm, die Säule und die Lanze des Longinus, alles gebildet aus dem Gewebe des Herzens!

Bischof Trinci von Spoleto wurde gerufen. Auch er hatte noch nie etwas Derartiges gesehen und ordnete tiefgehende Untersuchungen des Körpers an, worauf man in Chiaras Gallenblase drei Kugeln gleicher Größe, Farbe und Gewicht, im Dreieck angeordnet, fand.

Wenngleich der Bischof die Schwestern angehalten hatte, das Gesehene für sich zu behalten, wurde schon bald in ganz Montefalco und darüber hinaus von der ungewöhnlichen Stigmatisierung geredet. Scharen von Pilgern kamen in den kleinen Ort, um die Fürbitte Chiaras zu erflehen, an deren Sitz nah bei Christus niemand mehr zweifelte. Der Bischof leitete weitere Untersuchungen ein, ließ weitere Zeugen verhören. Dabei kamen ständig neue Wunder zutage, sodass der Bischof die Angelegenheit schließlich vor den Heiligen Stuhl brachte. Papst Johannes beauftragte daraufhin Kardinal Orsini mit den Untersuchungen der Tugenden der Chiara von Montefalco. Der Kardinal zweifelte die Tugenden der Augustinerin keineswegs an, doch es war der Beweis dieser Tugenden, der ihm Kopfzerbrechen bereitete.

„Ihr wisst sehr wohl, lieber Ubertino", entgegnete er deshalb, „dass Wunder keine Beweise sind, sondern nur ein Ausdruck von Heiligkeit. Ich aber brauche Beweise, ich brauche Beweise ihrer heroischen Tugendhaftigkeit. Augenzeugen, die das, was sie bezeugen sollen, längst selbst aus tiefster Seele glauben, genügen nicht für einen ordentlichen Prozess. Ich brauche Beweise, Beweise ihrer Standhaftigkeit auch bei Anfechtungen und Versuchungen. Eine Nonne, die elf Jahre in ihrer Zelle verbrachte, dabei mit kaum einer Menschenseele geredet hat. Wie kann ich beweisen, dass sie stets von vollkommener Liebe zu Christus erfüllt war?"

„Ein vierjähriges Kind geißelt sich selbst, wäscht dann die blutenden Wunden mit Essig aus und legt sich dann zur Nachtruhe auf den sandigen Boden! Ist das etwa kein Beweis? Eine Siebenjährige entsagt gänzlich der Welt und schließt sich in einem Inklusorium eint! Reicht Euch das noch immer nicht als Beweis?

Dann vertraut doch dem Sinn für Heiligkeit des einfachen Volkes! Man nennt sie bereits Santa Chiara della Croce. War es bei unserem Poverello nicht auch ein Mann aus dem Volk, einer ohne besondere Gaben oder Tugenden, ohne eine außergewöhnliche Gelehrsamkeit, der zuerst seine Heiligkeit erkannte?"

Napoleone Orsini musste lächeln, als er hörte, dass Ubertino immer noch den heiligen Franziskus als seinen Heiligen bezeichnete. Hatte er den Franziskanerorden doch bereits vor Monaten verlassen. Nicht seinem Glauben war er dabei gefolgt, vielmehr war es der französische Papst Johannes, der Ubertino wegen einiger unliebsamer Ansichten gezwungen hatte, seinen geliebten Orden zu verlassen. Ubertino war dann in die Benediktinerabtei von Saint-Pierre de Gembloux eingetreten. Die Abtei selbst hatte er allerdings noch nicht besucht. In seinem Herzen war er noch immer Franziskaner.

„Lieber Vater Ubertino, Ihr setzt Euren Glauben und Euer Vertrauen in das Volk. Ihr wisst sehr wohl, dass Papst Johannes anders über die Bewohner unseres schönen Landes denkt. Die Verehrung durch das Volk Italiens wird ihm kaum zum Zeugnis von Heiligkeit gereichen ..."

„Johannes!", die Erwähnung des Papstes brachte das Blut des alten Ubertino in Wallung, „wenn König Ludwig, der Sohn des verderbten Philipp, und sein ebenso verderbtes Volk von Paris eine Person als heilig verehren würden, dann würde Johannes sie sofort in den Kreis der Heiligen aufnehmen, das ist sicher!"

„Beherrscht Euch, lieber Vater!", mahnte der Kardinal und senkte die Stimme, „wir wissen, dass Jacob von Cahors nicht der wahre Oberhirte ist, dass unsere liebe Kirche fehlgeleitet ist. Aber um Euer Leben willen, das Ihr schon so oft in Gefahr gebracht habt, haltet die Wahrheit zurück. Gebt auch Ihr vor, zu schlafen wie so viele andere, bis der rechte Zeitpunkt gekommen ist, und die Kirche – die wahre, rechte Kirche, nicht die korrupte, die jetzt im falschen Haus der Kapetinger in deren Diensten steht – an ihren Platz zurückkehrt!"

„Die Hure Babylon wird zugrunde gehen!", rief Ubertino hitzig, ohne die Ermahnungen des Kardinals zu beachten, „der Antichrist hat den Thron des heiligen Petrus belegt. Aber die Zeit des Heiligen Geistes ist nah! Bald schon werden wir in dieser Welt im himmlischen Jerusalem leben!"


*


Francescos Schritte dröhnten durch die Kirche. Er hatte seinen Mitarbeitern gerade für den Rest des Tages freigegeben und lief eilig hinaus. Wo steckte dieser Ricco? Und was war das für eine Geschichte, die seine Schwestern erzählt haben, Maestro Leone habe die Tür nicht geöffnet? Er hatte bereits am Minnehof gefehlt. Francesco kannte den Lehrer gut, er wusste, dass Maestro Leone keiner dieser leichtfertigen Personen war, die die Nacht bei irgendeiner Frau verbrachten oder die sich Abends derart betranken, dass sie am Morgen nicht fähig waren, ihrer Arbeit nachzugehen. Außerdem besaß der Lehrer gar nicht das Geld, um sich große Mengen Wein oder bezahlbare Frauen zu gönnen. Er war nur ein Elementarlehrer. Doch er hatte den Verstand eines Gelehrten, dachte Francesco, die Gruppe hatte ihn sogar zu ihrem Kanzler gemacht und ihn mit dem Schriftverkehr betraut. Und die Cavalieri ließen nur einen Mann mit vielen Jahren Erfahrung in ein solches Amt.

Francesco lief durch einige Gassen bis zum Hause Leones, klopfte an die Tür und rief laut seinen Namen. Nichts geschah. Er rüttelte an einem der Fensterläden, doch dieser ließ sich nicht öffnen. Sollte er den Podestà benachrichtigen? Aber wie sollte er erklären, dass er sich derart um den Lehrer sorgte? Schließlich kam Francesco zu dem Entschluss, zuerst seinen Schwager Ricco und dessen Freund Ranieri di Giacomo auszufragen. Beide hatten tags zuvor noch mit Leone das Badehaus bei den Quellen von Moiano aufgesucht.

Wie erwartet traf er beide, seinen Schwager und Ranieri, im Palazzo Moriconi an. Zuerst hatte Francesco ein wenig gezögert, unsicher, an welche Tür er klopfen sollte. Doch dann wählte er die Vordertür, war er doch der Schwager und auch – wenigstens in Abwesenheit seines Vaters – der Vormund des Gastes des Hauses.

Ricco und Ranieri jedoch schienen, ob der Angelegenheit des Lehrers, genauso verblüfft wie Francesco. Ja, sie waren gestern im Badehaus, hatten dort Leone getroffen, mit ihm auch einige Worte gewechselt. Ja, sie hatten das Badehaus gemeinsam verlassen. Nein, sie hatten den Weg zurück nicht zusammen angetreten. Warum? Nun, der Lehrer habe sich sehr früh, noch am Badehaus sogar, abgesetzt. Wie? Ja wie wohl, herumgebummelt habe er, sich noch länger dort herumgedrückt, so als ob er auf jemanden gewartet habe. Auf wen? Nein, das wussten sie nicht. Was er im Badehaus gemacht habe? Seltsame Frage, gebadet, natürlich. Selten fühlte Francesco eine solche Lust, seinen Schwager zu ohrfeigen.

„Oh Ricco, du weißt sehr gut, was ich meine! Ging er wirklich nur zum Reinigen seines Körpers dorthin oder gab es noch andere Annehmlichkeiten – du verstehst mich ganz gut – solche Dinge etwa, deretwegen ihr jenes Haus aufsucht? Und spare dir deine Scheinheiligkeiten!“

„Lieber Schwager“, antwortete Ricco und versuchte, seine Mundwinkel zu beherrschen, „du spielst doch nicht etwa auf die hübschen Mädchen an, die der Bader beschäftigt? Solltest du nicht wissen, dass ein Mann wie Leone, dessen Seele schon lange eine höhere Stufe erreicht hat, an so etwas nicht einmal denkt! Was glaubst du? Oh, wenn der Maestro wüsste, wessen du ihn verdächtigst!“

„Gerade weil er auf einer höheren Stufe ist, kann er doch der Versuchung begegnen! Das ist sogar den Heiligen passiert! Franziskus musste sich nackt im Schnee wälzen, um der fleischlichen Begier Herr zu werden!“

„Was das angeht“, mischte sich jetzt Ranieri ins Gespräch, „kannst du dir bei Leone sicher sein. Bei ihm versuchen die Weibsleute ihre Kunst vergebens. Im Gegenteil, er scheint das Weibsvolk gar nicht zu bemerken.“

Francesco atmete erleichtert auf: „Seine Seele ist wie eine Burg, uneinnehmbar.“

„Nun, das würde ich nicht unbedingt sagen ...“, warf Ranieri zögernd ein.

„Was soll das heißen?“

„Ich habe nur gesagt, dass er den Verführungen der Weiber widersteht, aber es gibt andere Versuchungen, unendlich viel verworfenere sogar, widernatürliche!“

Francesco sah Ranieri verwirrt an. Was konnte er meinen? Doch man musste sich beeilen. Er wies daher seinen Schwager an, sich zu verabschieden und seine Zeichnungen mitzunehmen, schließlich erwarte sie der Bischof.

Auf dem Weg zum Bischofspalast schwiegen Francesco und Ricco. Die Worte Ranieris hallten wie ein Echo durch Francescos Kopf. Was konnte eine schlimmere Versuchung sein als die des Fleisches? Von der Verführung der Weiber hatte Ranieri gesprochen, welche Verführung konnte aber noch sündhafter sein? Oder gar widernatürlich?

Im Palazzo Vescovile ließ man die beiden in einem Vorzimmer warten. Kardinal Orsini konnte jederzeit in Assisi eintreffen. Hinter der Tür warteten Bischof Pontano und sein Vertrauter, dieser Respekt einflößende Benediktiner, auf den Kardinal.

In der Unterkirche von S. Francesco hatten die Arbeiter die Entfernung des alten Wandputzes beendet und den Raum gekehrt. Der staubige Nebel war verschwunden, und Niccolò, allein in der Kirche zurückgeblieben, konnte sich endlich umsehen. Fresken in alten Stil waren auf die beiden Wände des Langhauses gemalt. Episoden aus dem Leben Christi und dem Leben des heiligen Franziskus standen sich an den Wänden gegenüber.

Wie gleich die beiden doch waren! Ja, der heilige Franziskus war wirklich der neue Christus, der gekommen war, um die Menschen zu erlösen! Wie Christus hatte er die Wundmale der Kreuzigung, wie Christus war er in einem Stall geboren. Niccolò fielen die Worte Torsolos wieder ein. Vom neuen Reich und vom himmlischen Jerusalem, das nicht mehr fern ist, hatte er gesprochen. Aber warum wollte keiner diese Worte hören, warum hatte man Torsolo vom Dom verjagt, warum hatte der Sakristan ihn und Bartolo sogar vor Torsolo gewarnt?

Dem Rat seines Meisters Francesco folgend schaute Niccolò sich weiter in den Kapellen der Unterkirche um. Die Kapelle des heiligen Martin hatte der Meister Martini aus Siena bereits vollendet, doch es stand noch ein Teil des Gerüstes. So konnte Niccolò Zeichnungen anfertigen und die Fresken kopieren, indem er Wollpapier, das er zuvor mit gesottenem Leinöl eingepinselt hatte, um es durchsichtig zu machen, über die Fresken legte und diese abpauste.

Die Art des Simone Martini war so ganz verschieden von der, die in Francescos Werkstatt gelehrt wurde. Der heilige Martin erschien in diesen Szenen selbst schön wie ein Engel, der sich jedoch stets der Flüchtigkeit seines diesseitigen Daseins bewusst war. Über den Szenen lag eine Art höfischer Eleganz. Niccolò kopierte die Fresken mit großem Eifer. Er hoffte, dadurch vom Hauch des Vorbildes eingezogen zu werden.

Nach einiger Źeit war er zufrieden mit seinen Kopien und nahm sich vor, sie sorgsam aufzubewahren, um sich auch später noch durch wiederholtes Abzeichnen an der Malweise des Simone Martini schulen zu können. Doch bevor er die Kirche verließ, wollte er sich noch die Kapelle ansehen, die Francescos Schwager Ricco di Lapo vor nicht allzu langer Zeit fertiggestellt hatte und von der Ricco selbst und seine Frau Caterina so gerne sprachen. Den Auftrag hatte Ricco vom Bischof Pontano erhalten. Der Bischof wollte das Leben der heiligen Büßerin Maria aus Magdala auf den Wänden seiner Kapelle dargestellt haben.

Niccolò betrachtete die Wandbilder im Kerzenschein der Kapelle und – empfand eine große Enttäuschung. Ganz anders hatte er sich die Bilder des für seinen Fleiß bekannten und viel gerühmten Ricco di Lapo vorgestellt. Diese Bilder sahen aus wie die Malereien eines Lehrlings. Wo blieben die Studien der Natur? Nicht wirkliche Menschen schienen Riccos Modelle zu sein. Vielmehr sah es aus, als habe er mit Stofflappen behängte Holzpuppen abgezeichnet, eine von Schülern zuweilen angewandte Methode, um den Gewandfall zu studieren. Diese Holzpuppen waren in ebenso leblosen Landschaften aufgestellt. Schroffe Abhänge, an denen verschiedene Pflanzen wahllos verteilt waren, so als habe der Maler sie auf Papier gezeichnet, ausgeschnitten und dann über die Landschaft gestreut. Sogar zwei völlig identische Bäume standen direkt nebeneinander. Die Mannigfaltigkeit der Natur hatte der Maler völlig missachtet!

Ungläubig betrachtete Niccolò gerade die Szene, in der Magdalena, nachdem sie am leeren Grab Christi einige Zeit weinend im Gebet verharrt, vom auferstandenen Christus angerufen worden war, und er sie bat, ihn nicht zu berühren.

„Noli me tangere!", hörte Niccolò plötzlich die Worte Christi. Durch seinen Körper fuhr ein Blitz. War das eine Vision?

Aus dem Dunkel trat ein kleiner alter Mann ins Kerzenlicht. Er ging ein wenig humpelnd, sein Gesicht sah müde aus, doch seine Augen leuchteten aufmerksam, so als habe er gerade eine große körperliche Anstrengung hinter sich und verlange jetzt danach, auch seinen Geist der Mühen zu unterziehen.

„Etwas scheint dich zu verstören, mein Sohn", sprach er weiter, „sollte das büßende Weib auch dein Gewissen belasten?"

„Oh nein, Herr, nein, es ist nicht die Buße, die mich beunruhigt", beeilte sich Niccolò sogleich richtigzustellen, „nein, es ist die Malerei des Ricco, der von allen verehrt wird, die mich so verwirrt."

Erst jetzt fiel Niccolò auf, dass der alte Mann das Habit des Benediktinerordens trug, genauso wie der furchterregende Begleiter des Bischofs, dem er des Morgens begegnet war. Und sofort fragte er sich, ob seine Antwort wohl sündig war. War es eine Sünde, ein Bild zuerst mit den Augen des Malers zu betrachten und nicht mit den Augen des Gläubigen?

„Ricco? Ist das nicht ein Sohn dieses Florentiners, wie heißt er noch gleich?"

„Meister Giotto di Bondone, Ricco di Lapo ist der Gemahl von Giottos Tochter", antwortete Niccolò stolz und zugleich verwundert. War es möglich, dass jemand nicht von Giotto di Bondone gehört hatte?

„Ja, ja genau der, der Kardinal will heute mit ihm einen Handel besprechen. Mit ihm, oder mit seinem Sohn, ich erinnere mich nicht genau. Aber sag, was stört dich so an den Bildern?"

„Nun ja", begann Niccolò wieder sehr zögernd, "Ricco ist wohl ein großer Maler ..."

"Das sagtest du gerade", unterbrach ihn der Alte, „das wird es kaum sein, was dich derart verstört."

Niccolò begriff, dass er dem Alten nichts vormachen konnte. „Es sieht aus, als habe er einen Lehrling malen lassen, der das erste Jahr bei ihm ist", antwortete er deswegen, „als habe der Maler nie die Natur beobachtet, ja als erkenne er sie gar nicht als die größte Lehrmeisterin der Maler an, die sie doch zweifelsohne ist. Seine Magdalena hat er so steif gemalt, als sei sie aus Holz. Außerdem ist sie so weit von Christus entfernt, dass sie ihn gar nicht berühren könnte, selbst, wenn sie wollte!"

Der Anflug eines Lächelns huschte bei diesen Worten über das Gesicht des alten Mannes.

„Mein Sohn, aus dir spricht die Leidenschaft der Jugend, die Leidenschaft, die den Dingen Wichtigkeit beimisst, die in Wirklichkeit ganz unwichtig sind. Wie viel Zeit verwenden die Maler darauf, sich die Dinge anzusehen, nur um sie nachzuzeichnen? Und je mehr ihre Nachzeichnung dann dem von Gott geschaffenen Ding ähnlich sieht, umso mehr halten sie die Zeichnung für gut und gelungen. Sie überbieten sich dabei gegenseitig, jeder will noch genauer die Schöpfung nachahmen. Und dabei vergessen sie dann, was wirklich wichtig ist: dass sie selbst Geschöpfe sind, Geschöpfe des einen einzigen Künstlers. Nichts können wir hervorbringen, was Er nicht zuvor geschaffen hat. Wir können nichts erschaffen."

Diese Rede konnte Niccolò nicht gerade beruhigen. „Ihr sagt also, Herr, das alle Malerei überflüssig ist, weil sie immer falsch ist?"

„Falsch ist sie nicht immer, mein Sohn, aber sie ist eitel. Eitel, weil die Maler ihre Liebe und ihre Leidenschaft in die Nachahmung der Schöpfung stecken, statt diese Liebe der Schöpfung selbst zuzuwenden. Weil sie Dingen nachjagen, die so vergänglich sind wie ihre Malerei selbst. Aber falsch ist sie nicht, wenn sie die Wahrheit sagt. Sieh dir dieses Bild an. Du sagtest, es seien Fehler darin. Magdalena wirke wie eine hölzerne Puppe?"

Niccolò nickte.

Der alte Mann sah sich das Bild an und sagte dann: „Du hast recht, wenn ich es mit deinen Augen betrachte, sehe ich auch, dass sie wirklich nicht sehr lebendig wirkt. Aber was erzählt der Maler – wie heißt er doch gleich – hier denn? Erzählt er nicht die Geschichte von Christus, der nach seiner Auferstehung als Erstes der Büßerin Magdalena erscheint, seiner treuen Freundin und Gefährtin?"

„So ist es, Herr", antwortete Niccolò.

„Und ist diese Geschichte wahr oder falsch?", fragte der Alte weiter.

„Sie ist wahr."

„Sie ist also wahr. Kann ein Maler also, der diese Geschichte erzählt, irren; berichtet er doch eine wahre Geschichte?"

„Nein, Herr", Niccolò war jetzt völlig verwirrt. Was wollte der Alte ihm eigentlich sagen? Zuerst verwarf er alle Malerei als eitel, dann verteidigte er ausgerechnet dieses Bild.

„Es ist also wahr. Ist es daher von Wichtigkeit, wie er diese wahre Geschichte erzählt? All die Regeln, die die Maler für wesentlich erachten, Maß und Raum und was es noch alles gibt, sind ganz und gar nichtig. Diese Regeln haben die Maler erdacht, weil sie abbilden wollen, was man sieht. Aber sehen nicht auch die Ungläubigen? Der Falke sieht den Hasen, die Katze sieht die Maus. Sie alle haben Augen. Und die Augen können lügen. Der Wein ist eine gute und gesunde Medizin, aber wenn ein Mann ihm zu sehr zuspricht, dann sieht er seltsame Dinge, die nicht wirklich da sind. Was wir sehen, kann also falsch sein."

Niccolò verstand nicht ganz. „Wie wissen wir dann aber, Herr, was richtig ist, und was falsch?"

„Mein Sohn, wir müssen immer dem, was wir mit unseren Augen sehen, misstrauen. Es kann wahr sein, aber es kann auch falsch sein. Wahr ist nur das, was direkt von Gott kommt: Visionen. Visionen können uns nie täuschen, weil Gott zu uns durch Visionen direkt spricht. Sieh dir dieses Bild noch einmal an. Glaubst du, Christus sei nach seiner Auferstehung als Erstes Magdalena erschienen, die sicher seine treue Freundin und Anhängerin war?"

„Steht das nicht so im Evangelium ...?"

„Ja, natürlich. Aber was, glaubst du, war mit Maria, seiner Mutter? Wird er nicht zuerst seiner leiblichen Mutter erschienen sein, dem einzigen Weib, das ganz frei von Sünde ist?"

„Ja, aber ... davon haben die Priester noch nie erzählt …"

„Davon erzählen die Priester nicht, weil es so selbstverständlich ist, dass man darüber gar nicht reden muss. Christus erschien zuerst seiner Mutter Maria. War sie es doch, die die größte Liebe zu ihrem Sohn in sich trug und die das größte Leid seines Todes wegen erlitt. Am Ostersonntag blieb Maria in ihrer Kammer und betete, während Magdalena zum Grab ging, um den Leichnam zu salben. Sie betete unter Tränen: 'Komm, Herr Jesus, komm, meine einzige Hoffnung! Komm zu mir, mein Kind!' Und plötzlich stand der Sohn neben ihr, die himmlische Verklärung auf dem schönen und heiteren Antlitz, und sagte: 'Sei gegrüßt, heilige Mutter! Siehe, ich bin auferstanden und wieder bei dir.' Und dann nahm er seine Mutter in den Arm. Diese sah die Wundmale an seinen Händen und fragte, ob er deswegen noch Schmerzen litt. Und Jesus antwortete ihr, dass alle Schmerzen von ihm gegangen waren. Verstehst du? Jesus hatte bereits den neuen Leib, wie der Apostel sagt: 'Es wird gesät ein natürlicher Leib, und es wird auferstehen ein geistlicher Leib.' Du wirst dich sicher fragen, warum die Maler das nicht malen?"

Niccolò nickte.

„Maria hatte ihren Sohn in einer Vision gesehen. Sie konnte ihn umarmen. Weil er direkt vom Vater zu ihr kam, konnte sie ihn berühren. Ihr Glaube ließ den Vater erbarmen, und er schickte den Sohn zu ihr. Deswegen konnte sie ihn berühren und fühlen. Magdalena sah Jesus dagegen mit ihren Augen und hörte ihn mit ihren Ohren. Sie war so überrascht, dass sie ihn zuerst sogar für den Gärtner hielt. 'Maria!', sagte Jesus zu ihr, 'berühre mich nicht!' Sie hat ihn nicht sofort erkannt, weil sie schwach im Glauben war, weil sie nicht zuversichtlich, wie Maria, seine Auferstehung erwartete. Im Leben der Maria gab es keinen Moment der Umkehr, weil sie nie in Sünde gefallen war.

Magdalena aber hatte Zweifel. Sündige Gedanken quälten sie. Immer wieder neu musste sie gegen Anfechtungen kämpfen.

Wem glaubst du nun, mein Sohn, sind die meisten Menschen aber ähnlicher, der sündlosen Maria oder der sündigen Magdalena?"

„Magdalena", antwortete Niccolò.

„Sehr recht, sehr recht. Daran sollen uns die Maler erinnern. Genauso wie die Priester, die von den Geschichten erzählen. Denn was ist Malerei anderes als gemalte Erzählung? Sie wollen uns daran erinnern, dass wir ständig an unserer eigene Sündhaftigkeit denken, dass wir immer, an jedem Tag, daran denken, dass wir unsere Sünden bereuen und umkehren und …", er machte eine kurze Pause, „deswegen ist es völlig unwichtig, wie ein Bild gemalt ist, so wie es unwichtig ist, wie ein Priester redet, solange das, was er verkündet wahr ist.

Glaubst du, der heilige Franziskus habe die Sprache der Völker beherrscht, denen er von Christus verkündet hat? Nein, aber das ist unwichtig. Wichtig ist nur die Wahrheit. Wer die Wahrheit verkündet, der wird verstanden. Von den frommen und gottesfürchtigen Seelen wird er verstanden. Hat der heilige Franziskus selbst nicht sogar den Tieren die frohe Botschaft verkündet? Brachte er nicht sogar den wilden Wolf dazu, umzukehren und sanft wie ein Lamm zu werden? Wie konnte er dessen Sprache sprechen? Der Wolf aber verstand ihn, weil er trotz seiner Wildheit den Samen des Glaubens in sich trug. Hätte Franziskus sich aber Gedanken gemacht, wie er mit dem Wolf reden muss, hätte er nach schönen Worten gesucht, hätte der Wolf ihn zerfleischt, während er noch mit seiner schönen Rede beschäftigt gewesen wäre.

Und deswegen, mein Sohn, hüte dich vor denen, die zu sehr danach trachten, Werke zu schaffen, die den Menschen gefallen. Es ist alles eitles Machwerk. Die ganze Malerei in dieser Kirche, genauso wie der ganze Bau dieser Kirchen. Der heilige Franziskus schlief auf der rauen Erde, doch seine Kirche ist bereits eine der prächtigsten der bewohnten Welt! Hüte dich vor diesen Eitelkeiten, bleibe den Malern fern, die unter dem Vorwand des Naturstudiums nur ihren eigenen Ruhm suchen! Nichts als Verderben liegt in ihrem Streben! Wenn das neue Reich des himmlischen Jerusalem da ist, brauchen wir keine Bilder mehr, um uns der heiligen Begebenheiten zu erinnern. Wir werden sie immer in uns tragen. Wir werden sein wie der auferweckte Lazarus", er wandte sich zu dem Fresko mit der Geschichte des Lazarus, der dank des Gebets seiner Schwestern, Magdalena und Maria, aus dem Grab auferstand.

„Schau, Christus wird ihm die Binden seines Leichentuchs lösen, und Lazarus wird frei sein. So frei, wie wir sein werden, wenn erst das neue Reich da ist. Dann werden wir sein wie die sündlose Maria."

Nachdem er diese und noch weitere Ermahnungen ausgesprochen hatte, umarmte und küsste er Niccolò und verschwand wieder im Dunkel der Kirche.

Verwirrt blieb Niccolò in der Kapelle zurück. Schon wieder hatte jemand vom Ende der Welt gesprochen. Oder war es wirklich das Ende der Welt, das der alte Benediktiner gerade prophezeit hatte? Was meinte er mit dem neuen Reich? Gestern hatte der seltsame Torsolo vom Herankommen einer neuen Zeit geredet. Doch war jener vielleicht ein Verrückter. Aber dieser war ein Mitglied des ehrwürdigen Ordens des heiligen Benedikt. Was sollte Niccolò nun tun? Auf die Malerei verzichten, die er doch so liebte? Oder wenigstens auf das Studium der Natur? Doch ohne Naturstudium und ohne ständiges Bemühen würde Francesco ihn kaum in seiner Werkstatt dulden. Nachdenklich ging Niccolò aus der Kirche. Dabei schaute er sich immer wieder um, ob der alte Benediktiner noch irgendwo zu sehen war. Doch er erblickte ihn nirgendwo.

Im Bischofspalast beim Dom S. Rufino empfing Tebaldo da Pontano, der Bischof von Assisi, inzwischen Kardinal Napoleone Orsini. Zusammen mit seinem Sekretär, dem Benediktiner Astrolabio da Salerno, hatte der Bischof in seinem Palazzo alles vorbereitet, um dem Kardinal den Aufenthalt in Assisi so angenehm wie möglich zu machen.

Kardinal Orsini hatte mit Giotto di Bondone bereits vor einigen Monaten den Vertrag zur Ausmalung des gesamten Querhauses der Unterkirche abgeschlossen. Man hatte sich schnell auf einen Teil des Programms geeinigt, den Teil, der das Thema der Kindheit Christi betraf sowie einige Wunder, die der heilige Franziskus an Kindern bewirkt hatte. Ricco di Lapo und seine Werkstatt waren seit einiger Zeit damit beschäftigt, die Zeichnungen für diese Geschichten anzufertigen.

Ricco und Francesco warteten immer noch im Vorzimmer darauf, dass man sie hereinrief. Ersterer mit mehreren großen Bögen Papier, die die fertigen Zeichnungen enthielten, Letzterer nur mit einigen kleinen Skizzen, die noch viel Platz für künftige Planungen ließen. Seit die beiden den Palazzo Moriconi verlassen hatten, war zwischen ihnen kein Wort gewechselt worden. Francesco schaute aus dem Fenster auf die Äste eines Baumes, dessen letzte rote und orange Blätter gerade zu Boden rieselten. Er beobachtete dieses Bild der Vergänglichkeit, in Gedanken aber immer wieder den unseligen Dialog mit dem Schwager wiederholend. Ricco dagegen stand breitbeinig im Raum mit dem Gefühl des Triumphs und wartete, fast unmerklich vor sich hin grinsend, auf ein Wort des Schwagers, das ihm erlaubt hätte, sich an dessen Missmut noch weiter laben zu können. Doch Francesco sagte nichts.

Zwei Mönche, ein alter Benediktiner und ein jüngerer Franziskaner passierten das Portal des Bischofspalastes, das jetzt am Tage offen stand und ständig von Dienstboten und Bittstellern in beiden Richtungen durchquert wurde, stiegen unbemerkt die Treppe hinauf, vorbei an den beiden wartenden Malern und öffneten die schwere Tür zum Zimmer des Bischofs. Dieser wunderte sich genauso wenig über ihr Kommen wie der Kardinal, hatte man sie doch bereits erwartet.

Einzig Astrolabio da Salerno versuchte, seine Irritation über das verspätete Erscheinen des Kaplans des Kardinals und des Ordensgenerals der Franziskaner zu verbergen. „Seid gegrüßt, werter Mitbruder", sagte er und seine Oberlippe formte einen rechten Winkel, „ich glaubte, ihr seid zusammen mit dem Kardinal angereist?"

„Selbstverständlich, lieber Bruder", erwiderte Ubertino da Casale, „ich konnte es aber nicht lassen, zunächst meinen ehemaligen Mitbrüdern von S. Francesco einen Besuch abzustatten und das Grab des Poverello zu besuchen. So hielt ich dann auch Michele auf und ich fürchte, auch sein Verspäten ist meine Schuld.

Hattet Ihr aber nicht ohnehin vor, über die Ausstattung des Grabes unseres heiligen Franziskus mit uns zu sprechen?"

„Es geht um die weitere Ausstattung der Grabeskirche, sehr wohl, lieber Ubertino", schaltete sich der Bischof ein, „Meister Ricco di Lapo aus Florenz hat bereits eine Kapelle in meinem Auftrag in jener Kirche ausgemalt. Er arbeitet sehr zu meiner Zufriedenheit."

„Ricco di Lapo, ja, den Namen hörte ich bereits", bemerkte Ubertino, „er soll wohl ein sehr fleißiger Geselle sein, nicht?"

„Er ist noch recht jung, noch nicht mündig, und arbeitet für seinen Schwiegervater, den Meister Giotto di Bondone", setzte Kardinal Orsini fort, „auch Giottos eigener Sohn Francesco scheint ein sehr tüchtiger Handwerker zu sein. Wir haben mit Giotto vereinbart, ihm die Ausmalung des wichtigsten Teils der Grabeskirche anzuvertrauen. Weiter haben wir mit Meister Pietro Lorenzetti aus Siena verhandelt. Ein Landsmann von ihm, Meister Simone Martini, den ich am päpstlichen Hof in Avignon traf, empfahl ihn mir. Meister Pietro und Meister Giotto werden wohl in der nächsten Zeit in Assisi eintreffen."

„Die anderen beiden, besagter Ricco di Lapo und sein Sororius Francesco di Giotto, warten bereits draußen“, bemerkte der Bischof, „mit Eurer Eminenz Erlaubnis, bitten wir sie herein.“

So wurde zunächst Ricco hereingerufen, seine Zeichnungen vom Kardinal und seinem Kaplan betrachtet und bis auf ein paar kleine Änderungen für gut befunden. Ricco verabschiedete sich unterwürfig von den hohen Herren, drehte sich beim Hinausgehen erst in der Tür um und sah Francesco grinsend an.

„Keine Angst, werter Schwager", flüsterte er ihm beim Herausgehen zu, „die Herren wissen gute Malerei zu schätzen.“

Mit einem Grummeln im Magen betrat Francesco den Raum. Vom Kardinal freundlich aufgefordert, legte er seine Entwürfe auf den Tisch, sich dabei ständig für deren Unvollkommenheit entschuldigend.

„Lieber Meister Francesco“, sagte der Kardinal ermutigend, „Wir wissen, dass deine Entwürfe noch nicht die Vollkommenheit derer deines Schwagers haben können. Haben wir doch selbst noch keine klaren Vorstellungen davon, wie die Malereien am Ende aussehen sollen. Was du zu malen hast, ist so viel komplizierter und umfangreicher als die Jugendszenen unseres Herrn, die dein Schwager malt. Handelt es sich beim Gewölbe, das du ausmalen sollst doch gleichsam um das Herz der ganzen Grabeskirche. Was meint Ihr, lieber Ubertino?“

„Sehr richtig, das Herz der Kirche liegt direkt über dem Grab des heiligen Poverello. Aber was ist das Herz Kirche? Ist es nicht das Herz unseres Glaubens? Und was ist das Herz unseres Glaubens, wenn nicht unser Herr Christus selbst! Christus ist der Eckstein unseres Glaubens, der Anfang und das Ende, deshalb muss er auch im Mittelpunkt der Ausmalung stehen. Meister Francesco, glaubst du, du könnest Christus im Schlussstein, dem Stein, der das ganze Gewölbe zusammenhält, ja die ganze Kirche, die ohne ihn einstürzen würde, malen?“

„Ja, natürlich ...“, antwortete Francesco und verwarf insgeheim seinen Plan, den Schlussstein mit einem besonders filigranen geometrischen Ornament auszumalen.

„Sehr gut“, sprach Ubertino weiter, „Christus setzen wir in den runden Schlussstein, denn das Runde ist wie Gott, es hat keinen Anfang und kein Ende, es ist, war und wird sein ...“

„Wir dachten“, meldete sich da Michele da Cesena, der Ordensgeneral der Franziskaner zu Wort, „der Tod und die Auffahrt in das ewige Leben unseres Heiligen seien angebrachte Themen für sein Grab.“

„Die Auffahrt des Heiligen Franziskus zu Christus ist fürwahr das Richtige, ich stimme Euch zu“, setzte Ubertino seine Rede fort, „doch stellen sich dabei für uns drei Fragen, erstens: Warum fährt der heilige Francesco zum ewigen Leben auf? Seine Verdienste, seine Tugenden sind es, die dank des Einwirkens der göttlichen Gnade aus Giovanni, dem Sohn des Tuchhändlers Pietro Bernardone, unseren heiligen Franziskus machten. Deswegen stellen wir uns das Gewölbe so vor, dass seine Auffahrt zu Gott im vorrangigsten Gewölbefeld gemalt wird, in dem Feld, das dem Langhaus zugewandt ist. Sind doch die Gläubigen im Langhaus versammelt und werden vom Seraphicus erlöst. Du kannst nun einwenden, lieber Michele, dass sie sein Bild so nicht mit ihren Augen sehen können. Aber das macht nichts. Ist es doch nicht wichtig, was die Augen sehen. In den anderen drei Gewölbefelder aber malt die Tugenden, die so wesentlich den Verdienst des heiligen Poverello ausmachen. Und das ist natürlich die Keuschheit. Man wird sie in dem Feld, das den Geschichten des Meisters Ricco mit den Kindheitsgeschichten folgt darstellen, ist doch die Keuschheit genau die Tugend der Kindlein. Dem gegenüber wird man den Gehorsam finden. Im Querhaus, das ihm folgt, wird jener Meister – wie hieß er doch gleich? – aus Siena die Geschichten der Passion unseres Herrn malen. Die Passion, die der Sohn auf Grund seines unbedingten Gehorsams gegenüber dem Vater erlitt. Auf dem dritten Feld aber, dem über der Apsis, unter der die Brüder sich versammeln, wenn sie der heiligen Messe beiwohnen werden, auf diesem dritten Feld stellen wir uns die wesentlichste Tugend des Poverello vor: die heilige Armut. Denn es war die Armut, die Franziskus suchte, liebte und begehrte, im Namen Christi. Es war die Armut Christi, nach der er sich verzehrte. Deswegen möchten wir die Armut zusammen mit der Caritas, der göttlichen Liebe sehen. Die Armut, die Braut Christi, des Allerhöchsten Armutsfürsten, die zur Braut des Franziskus wird.“

„Du beschreibst einen mannigfaltigen Kosmos, lieber Bruder“, unterbrach ihn Astrolabio da Salerno, „wir kannst du aber ständig von Armut reden und doch ein Bildprogramm entwerfen, dessen Reichtum an den Tempel Salomons heranreicht?“

„Es ist der Schatz, den der erwirbt, der die Armut um Christi willen liebt“, antwortete Ubertino, „sagte nicht Christus zu dem reichen Jüngling: 'Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben!' Es ist der Schatz im Himmel, dessen Herrlichkeit unsere Vorstellung übersteigt. Und da sind wir bei der zweiten Frage: Wie ist der heilige Francesco zu Gott aufgefahren?“

Kardinal Orsini nutzte die Pause Ubertinos, um sich in das Gespräch einzuschalten:

„Wir können es uns nur in aller Herrlichkeit vorstellen, sitzend auf einem prächtigen Thron, begleitet von der Musik der Engel, von Freude und Tanz. Ich weiß sehr wohl, werter Astrolabio, was Ihr sagen werdet. Ihr werdet sagen, Freude und Ausgelassenheit sind fehl am Platze, geht es doch um die Grabeskirche. Doch dir, lieber Meister Francesco, sage ich, zeige die Herrlichkeit des himmlischen Jerusalems, male tanzende und singende Heerscharen, verwende das kostbarste Material, die schönsten Farben. Nimm auch Gold!“

„Gold!“, dachte Francesco überrascht, „das benutzten doch nur noch die Tafelmaler.“ Sein Vater hatte ihn stets gelehrt, dass ein wirklich geschickter Maler Gold darstellen könne, ohne wirkliches Gold zu benutzen. Francesco hatte sich bereits vorgestellt, die Auffahrt des Heiligen in den blauen Himmel zu malen, eine natürliche Landschaft hinter sich lassend.

„Eminenz“, sagte er deswegen, „bitte verzeiht meinen Einwand, aber das kostbarste Material, das wir Maler zur Verfügung haben, ist das Blau des Ultramarin. Es ist noch kostbarer als Gold.“

„Ganz recht, lieber Meister Francesco“, stimmte der Kardinal zu, „verwende nur ruhig auch Ultramarin. Aber den Himmel male mir in Gold, damit jeder versteht, dass es nicht nur einfach der natürliche, blaue Himmel ist. Bedenke, so wie die Mannigfaltigkeit der Farben das Auge erfreut, so dringt die Lieblichkeit der erfreulichen Dinge durch die Fenster des Körpers in das Innere des Herzens ein. Und deswegen halten wir die heilige Messe in der Grabeskirche: die Brüder – und nur die minderen Brüder werden die Bilder in ihrer ganzen Fülle sehen können, befinden sie sich doch auf der Seite des Lettners, die wir die klösterliche nennen, und die den Laien unzugänglich ist – sollen an die Tugenden ihres Ordensgründers erinnert werden, um diesen nachzustreben. Damit sie auch verstehen, warum sie den heiligen Franziskus, und damit Christus, nacheifern sollen, wird ihnen der Verdienst des rechten Lebens gezeigt: die Herrlichkeit des ewigen Lebens!“

“Curiositas in pictorum!“, rief da Astrolabio da Salerno, „curiositas in pictorum! Waren das nicht deine Worte, werter Mitbruder Ubertino? Sind die Kirchen nicht schon voll mit diesen Dingen, vor allem die Kirchen der Klöster? Eure heilige Mannigfaltigkeit! In den Kirchen wimmelt es nur so von dieser Mannigfaltigkeit, von lächerlichen Ungeheuerlichkeiten, seltsamer unschönen Schönheit und schöner Unschönheit! Tummelt sich da nicht Unglaubliches vor den Augen der lesenden Mönche? Bei euch Franziskanern thront sogar der Heilige Vater auf einem Thron, zu dessen Füßen Vierfüßler mit Schlangenschwänzen zusammen mit unreinen Hähnen, Echsen mit dem Körper eines Vogels und wilden Löwen ihr Unwesen treiben! Mannigfaltigkeit! Die Bildhauer schlugen diese Missgebilde in Marmor, die Maler zögerten nicht, es ihnen gleichzutun. Es dünkt angenehmer, in Marmorsteinen und Bildern zu lesen als in den Büchern, den Tag damit zu verbringen, all diese Einzelheiten zu bewundern als über Gottes Gebote nachzudenken!“

„Beruhigt Euch, lieber Bruder Astrolabio“, versuchte der Bischof einzulenken, „Ihr beleidigt die Autorität des Kardinals. Und schließlich geht es doch nicht um Eure Kirche.“

Meine Kirche gibt es nicht“, gab Astrolabio da Salerno selbstgefällig zurück, „jede Kirche ist das Haus Gottes und damit genauso meine wie Eure wie die eines jeden, der rechten Glaubens ist.“

Von diesem Ausbruch unbeeindruckt redete Ubertino da Casale weiter: „Damit wären wir also bei der dritten Frage. Sie lautet: Wann kommt das neue Reich, das uns mit dem heiligen Franziskus angekündigt wurde? Wann erfüllen sich die Versprechungen des himmlischen Jerusalem?“

Michele da Cesena wusste, dass diese Frage, die so harmlos ausgesprochen schien, doch der Anlass zu einem größeren Disput sein konnte, und versuchte daher einzulenken:

„Lieber Bruder Ubertino, du hast vollkommen recht, die Schönheit des himmlischen Jerusalem lässt sich mit Nichts darstellen. So wenig wie man sie mit Worten hinreichend beschreiben kann. Wäre es deswegen nicht angebracht, in den Darstellungen etwas bescheidener zu sein, auch, um unsere Brüder, die doch alle von der Liebe zur heiligen Armut erfüllt sind, nicht zu sehr zu verwirren? Schrieb doch auch der heilige Poverello selbst in seiner Ordensregel, der Prediger solle schlicht und kurz von Lastern und Tugenden reden, von ewigem Lohn und Strafe, und selbst aber durch sein Leben ein Beispiel geben.“

„Ja, das Beispiel sollte euer Leben sein“, redete Ubertino weiter, „aber glaube nicht etwa, lieber Bruder, dass wirklich alle deiner Mitbrüder von der innigen Liebe zur heiligen Armut erfüllt sind. Auch unter unseren Mitbrüdern sind solche, die weit entfernt vom Geiste der heiligen Armut in euren Konventen ein bequemes Leben führen. Doch werden diese sein wie die neue Synagoge, die Christus zurückwies, ebenso wie die alte.

Und da kommen wir zurück auf die Frage, wann sich die Versprechungen des Himmlischen Jerusalem erfüllen werden. Wenn wir den Antichristen besiegt haben, wenn Christus als Richter erscheinen wird, dann werden wir die Ruhe und den Frieden in unbeschreiblicher Süße in unseren Herzen fühlen.

Male deswegen die Apokalypse in die Apsis, lieber Meister, male, was nach der Öffnung des sechsten Siegels geschehen wird. Male die vier Engel, die an den Ecken der Erde stehen und die Winde festhalten, auf dass kein Wind über die Erde bläst, noch über das Meer, noch über irgendeinen Baum! 'Und ich sah einen anderen Engel aufsteigen von der Sonne Aufgang, der hatte das Siegel des lebendigen Gottes.' Versteht ihr, wer dieser Engel ist? Der Doctor Seraphicus lehrte es uns. Male unseren Poverello mit den Zeichen des lebendigen Gottes!

Ein Beispiel aber sollen euch die viri seraphici unsres Ordens, verehrter Michele, geben. Deswegen sollst du sie, lieber Francesco di Giotto, auch malen. Unter den Tugenden sollst du sie abbilden, die Brüder des wahren Geistes. Die neuen Stigmatisierten des neuen Zeitalters, die das Bild des heiligen Franziskus in sich tragen, ein Teil der Armee, die mit Christus in untrennbarer Ehe verbunden ist. Sie, die jetzt noch verfolgt sind, werden uns das himmlische Jerusalem in diesem Leben bringen.“

„Das reicht!“, rief Astrolabio da Salerno, „du brauchst nicht weiter zu reden, Bruder Ubertino. Wir verstehen sehr wohl, dass du von den Fratizellen und Spiritualen und sonstigen Häretikern sprichst, die du auch noch wie Heilige in der Kirche abgebildet haben willst! Niemals werden wir – und der hochverehrte Bischof wird mir zustimmen – diese Abtrünnigen in der heiligen Mutter Kirche dulden! Du vergisst wohl, Bruder Ubertino, dass die Kirche und der Konvent von San Francesco nicht dir gehören, so wenig, wie sie den Minderen Brüdern gehören. Sie selbst sind es doch, die nichts besitzen wollen. Ihre Kirchen und Konvente gehören also, wie du natürlich weißt, aber manchmal erscheint es opportun, dich daran zu erinnern, dem Heiligen Stuhl!“

„Was ereiferst du dich so, lieber Bruder Astrolabio“, gab Ubertino zurück, „zeigt doch gerade dein Zorn, dass wir am Beginn des siebten Status stehen, dass die wahren Gläubigen verfolgt werden und damit bereits den Vorgeschmack des himmlischen Jerusalem genießen. Du wirst sehen, die Zeit ist nicht mehr fern ...“

Doch hier unterbrach ihn der Kardinal mit der Äußerung, es sei an der Zeit sei, den braven Meister Francesco di Giotto zu verabschieden, damit dieser sich an die Arbeit machen könne und ihnen bald konkretere Entwürfe seiner Arbeiten vorlegen können. Francescos Verwirrung war so offenbar, dass der Ordensgeneral Mitleid mit ihm hatte und ihm zusicherte, ihn baldigst in seiner Werkstatt aufzusuchen, um weitere Details mit ihm zu besprechen. Einstweilen könne er ja schon mal das Gewölbe frisch verputzen und Farben und was er sonst noch so brauche, besorgen. Mit den gebührenden Ehrerweisungen zog sich Francesco zurück. Während er die Treppe hinabstieg hörte er noch die Stimmen Astrolabios und Ubertinos aus dem Raum schallen.

Wie häufig hatten sich zum Abendessen neben den Familienmitgliedern auch noch einige Nachbarn eingefunden, so dass etwa zwei Dutzend Personen um den Tisch saßen. Es gab Carabaccia, die übliche Zwiebelsuppe der Florentiner. Aber die Verfeinerung mit Mandeln, Zucker und Zimt machte sie zu einer nicht alltäglichen Köstlichkeit. Dazu reichte man gebratene Kapaune, wohl die letzten vor der Fastenzeit.

"Langt zu, Kinder", forderte Ricco die Kommensalen auf, "wenn der Padre erst wieder da ist, dann wird die Suppe nur noch mit Wasser und Zwiebeln gekocht, mit sehr viel Wasser und sehr wenig Zwiebeln!"

Francesco runzelte die Stirn, unterdrückte aber seinen Ärger. Beatrice war weniger zurückhaltend.

"Du machst es dir leicht, lieber Schwager, schlecht über den Babbo zu reden. Siehst du doch wahrlich nicht aus, als würdest du Hunger leiden. Sollte etwa dein Leibesumfang allein von Wassersuppe kommen, dann ist damit immerhin bewiesen, dass Wasser doch sehr nahrhaft ist."

Die anderen grinsten bei dieser offenen Frechheit. Bartolo sah Beatrice voll Bewunderung an und er spürte die Hitze in seinen Kopf steigen.

Ricco aber, zu dessen Fähigkeiten die Schlagfertigkeit kaum zu zählen war, antwortete wenig folgerichtig:

"Bei all den zweifelsohne lobenswerten Tugenden deiner Mutter, liebe Bice, hat sie es doch versäumt, ihre Töchter die angemessene weibliche Zurückhaltung zu lehren."

Dieser Spruch ärgerte Bartolo weit mehr als Beatrice. Gerne wäre er als ihr Ritter aufgetreten und hätte sie gegen solche Unverschämtheiten verteidigt. Allein er wusste nicht, wie er das hätte tun sollen.

Francesco, der den ganzen Abend geschwiegen hatte, ließ schließlich doch einige Bemerkungen fallen, das seltsame Gespräch im Palazzo Vescovile betreffend. Ricco labte sich an der Verwirrung seines Schwagers.

„Wie? Du weißt nicht, was du malen sollst? Haben die Herren dir nicht ihre Ideen erklärt? Oder solltest du es nicht verstanden haben? Freilich, so hochgelehrte Personen drücken sich manchmal in einer Weise aus, die für uns schwer verständlich ist.“

„Nein, nein, das war es nicht“, entgegnete Francesco, „nein, es sah vielmehr so aus, als wüssten die Herren selbst nicht so recht, was sie eigentlich wollen. Ich weiß nicht, ob ich nun einen goldenen Himmel malen oder lieber Ultramarin verwenden soll.“

„Ultramarin für den Himmel!“, mischte sich da Beatrice ein, „das haben wir noch nie gemacht, das ist doch viel zu teuer!“

„Ja, aber sie wollen es teuer, glaube ich, wenn ich es richtig verstanden habe. Jedenfalls dieser Kaplan vom Kardinal, dieser Ubertino da Casale. Der andere dagegen, dieser Benediktiner Astrolabio – was für ein Name! – der war mit nichts einverstanden und schrie zum Schluss auch noch, die Kirche gehöre gar nicht den Minderen Brüdern.“

„Ja, Astrolabio da Salerno ist ein strenger Geist“, bemerkte jetzt die alte Margherita. Alle sahen sie an. Niemand wusste genau, wie viele Jahre Margherita eigentlich zählte, wahrscheinlich nicht einmal mehr sie selbst. Sie mochte wohl so alt sein wie die Schöpfung. Sie kannte jeden, wusste von allen etwas zu berichten. Bruder Elias und sogar der heiligen Clara wollte sie noch persönlich begegnet sein. Ihr Gedächtnis war wie eine alte Truhe, die lange Zeit vergessen und plötzlich wiedergefunden, die erstaunlichsten Dinge zu Tage brachte.

"Erzähl doch, Margherita, bitte!", bettelten die anderen am Tisch. Wie üblich ließ die alte Dame sich zunächst eine Zeit lang bitten, bevor sie ihre Erzählung begann:

„Nicht wenige fürchten sich vor ihm. Sein Vater war der Leibarzt der Grafen von Aquin, auch wenn er eigentlich aus der Gegend von Rimini stammte. Er hatte nur diesen einen Sohn, und auch diesen, sagt man, hat er nicht besonders geliebt. Deswegen soll er ihm auch diesen seltsamen Namen gegeben haben. Es gab mal einen unglücklichen Gelehrten in Paris, der seinen Sohn so genannt hatte. Dieser Arzt gab seinen Sohn dann auch zu den Benediktinern von Montecassino, damit er seine eigene Karriere nicht störte. Karriere! Er soll das wirklich so genannt haben! Und dabei war er doch nur ein Arzt!

Astrolabios Mutter hingegen stammte aus einer alten Familie aus Salerno, deren Frauen seit jeher Hebammen waren. Ihren Mann behandelte sie daher sicher mit der Herablassung, die Angehörige alter Zünfte den neuen Künsten entgegen brachten. Versteht ihr? Sie mit ihrem durch Generationen überlieferten Wissen, wusste auch um die Gefahr, durch das neue Handwerk der Ärzte. Trachteten diese Herren, die sich Ärzte nennen, doch ganz offen danach, die weisen und gelehrten Frauen aus ihrer Kunst zu verdrängen! Besonders in Salerno führen manche Ärzte sich ja auf, als seien sie Philosophen oder Gelehrte!“

Auch der junge Astrolabio schien dem Studium der Medizin zugetan. Er soll sogar einmal aus dem Konvent geflüchtet sein, um an der Universität von Salerno zu studieren. Doch sein Vater habe ihn gewaltsam entführen und wieder zurück zu den Benediktinern bringen lassen. Aus seinem Sohn sollte doch etwas Anständiges werden, wenn dem Vater das schon nicht gelungen war!

Niccolò und Bartolo sahen einander ungläubig an. Sie hatte von jungen Männern gehört, die aus einem Konvent geflohen waren, um der Liebe zu einem Mädchen willen; jedoch, um die Heilkunst zu studieren? Bot da das Leben in einem Benediktinerkloster nicht mehr Annehmlichkeiten?

Warum Astrolabio aber nach Assisi gekommen ist, das wisse wohl niemand. Habe ihn doch bei den Benediktinern von Montecassino sicher eine aussichtsreichere Zukunft erwartet. Einen Mann mit seinen Fähigkeiten! Er lebe noch nicht lange im Konvent von S. Pietro in Assisi, und war doch schon der Sekretär und der engste Vertraute des Bischofs. Manche sagte, er suche etwas, eine Schrift oder etwas Ähnliches, wohl von einem anderen Gelehrten aus Salerno verfasst. Aber Genaueres wisse niemand.

Niccolò schüttelte den Kopf. Geschichten von unglücklicher Liebe oder amourösen Enttäuschungen hätten ihm besser gefallen. Deswegen hakte er ein wenig nach, um von der alten Dame derartige Geschichten zu hören. Doch sie beteuerte, es gäbe keine anrüchigen Begebenheiten im Leben des Benediktiners, sein Leben sei so makellos rein wie frisches Wasser.

Und so gab Niccolò schließlich auf, sammelte noch einige der Knochen des Kapauns ein, legte sie ins Feuer, wo er sie über Nacht in der langsam verlöschenden Glut liegen ließ, und zog sich zurück.


4. Kapitel


„Ihr müsst nach der Natur zeichnen, die Natur soll eure größte und vorrangigste Lehrmeisterin sein. Ihr müsst sie studieren, bis ihr sie versteht. Dann, wenn ihr nicht müde werdet, euch immer wieder an der Natur zu üben, dann werdet ihr eines Tages so viel Zeichnung im Kopf haben, dass ihr selbst wie die Natur seid und Dinge hervorbringen könnt.“

Die Worte klangen Niccolò im Kopf, während er am frühen Morgen noch vor Sonnenaufgang zum Bäcker ging. Genau das war es, wonach er strebte; er wollte selbst zum Schöpfer der Dinge werden. Er liebte sogar das Zeichnen. Für die meisten seiner Kameraden in der Werkstatt war es nur eine lästige Vorarbeit zum Malen mit Farben. Niccolò dagegen sammelte seine Zeichnungen und bewahrte sie sorgfältig in einer Mappe aus dünnem Holz und geleimtem Papier auf.

Er hatte dem Bäcker am Abend zuvor ein Bündel aus geschliffenen und geglätteten Weidestäben gebracht, damit dieser sie über Nacht in einem Topf in seinen Ofen stellte. Jetzt wartete er neugierig darauf, ob die so hergestellte Zeichenkohle zu gebrauchen war, oder ob sie beim Zeichnen zersplittern würde, wie es zuweilen geschah, wenn die Weidenstäbe zu stark gebrannt worden waren. Der Bäcker, schon seit etlichen Stunden mit seiner Arbeit beschäftigt, hatte den Topf bereits aus dem Feuer geholt, sodass die Stäbe schon so weit abgekühlt waren, dass Niccolò sie anfassen und ausprobieren konnte. Sie erfüllten seine Erwartungen, und so besaß er endlich wieder brauchbares Zeichenwerkzeug.

Die Knochen des Kapauns vom Abendessen waren inzwischen weißer als Asche. Niccolò hatte sich einen kleinen Mörser tags zuvor aus der Werkstatt mitgenommen. Und nun begann er, kaum in die Kammer unterm Dach zurückgekehrt, die er sich mit dem noch schlafenden Bartolo teilte, die verkohlten Knochen zu einem feinen Pulver zu zerstoßen. Dieses Pulver, in das er hin und wieder spuckte, verteilte er dann mit dem Daumen sorgfältig auf den Blättern aus Wollpapier, um diese zum Zeichnen vorzubereiten.

Als die Glocken zur Prim läuteten, hatte Niccolò seine Vorbereitungen bereits vollendet. Er nahm sein Zeichenmaterial mit zur Frühmesse, um gleich danach die Stadt in Richtung des Monte Subasio verlassen zu können. Dem Rat seines Meisters folgend, wollte er in aller Einsamkeit seiner Zeichentätigkeit nachgehen.

Doch bereits am Portikus des Monte Frumentario hörte er seinen Namen rufen. Bruder Onofrio di San Clemente, der Franziskaner, kam ihm mit dem noch immer verschlafenen Bartolo nachgelaufen.

"Der Meister hat uns aufgetragen, aus der Stadt zu gehen und einige Zeichnungen nach der Natur anzufertigen. Er sagt, du bist auch dahin unterwegs. Hast du alles Notwendige dabei, Stifte, Kohle, Papier?"

„Was soll das?“, dachte Niccolò, „er predigt uns immer, wie wichtig es ist, beim Zeichnen allein zu sein. Und jetzt schickt er die zwei zu mir. Und noch nicht einmal Papier oder Stifte haben sie dabei!“

Doch Bruder Onofrio mit seiner fröhlichen Unbekümmertheit schien Niccolòs Verstimmung gar nicht wahrzunehmen, und bald konnte man die Drei – Einen verschlafen, Einen vexiert und deshalb Beide schweigsam, den Dritten dagegen umso schwatzhafter – hinaus wandern sehen.

Sie verließen die Stadt durch die Porta S. Rufino, überquerten die Ebene, an der die großen Kalksteine der Steinbrüche des Monte Subasio gesammelt wurden, die bestimmt waren, sich auf den unzähligen Baustellen von Assisi in die Mauern neuer Palazzi, Kirchen und Privathäusern einzureihen, während man ihre kleineren Genossen zu den Öfen der Kalkbrenner brachte. Dort würden sie solange brennen bis sie leicht und hellgrau wie das Gefieder der Lachmöwen wieder herauskamen, um dann, mit Wasser gelöscht, zunächst lebhaft blubbernd und dampfend, in den Sumpfgruben zur Ruhe zu kommen und zu reifen, um später die Grundlage für die Freskomalerei zu werden.

Die drei gingen eine Weile den Hang hinauf und ließen sich an einer lichten Stelle nieder, die von der Sonne, die selbst langsam ihren Rotton ablegte, leidlich erhellt wurde. Niccolò merkte bald, dass seine vorherigen Bedenken die Begleitung betreffend unbegründet waren. Bartolo war, halbwegs bequem auf den Wurzelausläufern einer Steineiche gebettet, nach kurzer Zeit eingeschlafen. Und Bruder Onofrio wurde, nachdem er sich von Niccolò einige Blätter Wollpapier und einen seiner frisch angefertigten Kohlestifte erbeten hatte, von seiner Arbeit derart aufgesogen, dass Niccolò seine Anwesenheit kaum noch bemerkte. Somit konnte er sich, ein wenig abseits von den anderen, ganz in seine eigenen Studien versenken.

Er betrachtete die Steineiche, die ein Stück weiter unten am Hang stand, versuchte, ihre Struktur zu verstehen, die Regel, nach der die Äste aus dem Stamm wuchsen, die Zweige aus den Ästen und aus diesen die Blätter. Als ein Hase vorbei hoppelte, sich mit aufgestellten Löffeln auf die Hinterpfoten stellte, wollte Niccolò diese Haltung höchster Aufmerksamkeit festhalten. Doch zu kurz war der Moment. Kaum hatte er grob die Proportionen skizziert, war das Tier auch schon verschwunden. Niccolò seufzte. Musste er nicht die Baupläne verstehen lernen, nach denen alles Geschaffenen gebildet war? Doch lagen den Pflanzen und den Tieren keine mathematischen Regeln zugrunde, wie man diese bei Gesicht und Körper des Mannes finden konnte. Also musste jedes Geschöpf einzeln beobachtet und in seinen Eigentümlichkeiten aufgenommen werden. Wie viele Hasen würde er noch beobachten müssen, bevor er endlich in seinem Geiste Hasen erzeugen und sie mit seiner Hand zeichnen konnte?

Mehrmals hatten unten in der Stadt schon die Glocken geläutet, als Niccolò zu seinen Gefährten zurückkehrte. Bartolo war endlich erwacht und betrachtete Bruder Onofrios Zeichnungen. Jener hatte sämtliche Blätter des Papiers auf beiden Seiten voll gezeichnet. Am Ende hatte er sogar mangels Papier auf die glatten Oberflächen einiger Steine gezeichnet. Alles lag vor ihm ausgebreitet auf dem Boden. Niccolò stockte der Atem. Keine Studien von Tieren oder von Pflanzen hatte der Franziskaner da gezeichnet. Vielmehr ganze Landschaften, so als habe er genau diesen einen Ausschnitt der Schöpfung, diesen einen Moment, festgehalten. Aber wie hatte er ihn festgehalten! Wenige Linien, schnell dahingeworfen, und doch erkannte man das Tal des Tescio mit einigen Häusern aus so wenigen Linien gebildet, dass sie gerade eben als Häuser zu erkennen waren. Wälder, ohne dass er einen einzigen Baum gezeichnet hätte. Auf einer Zeichnung war der schlafende Bartolo zu sehen, nur mit wenigen Linien skizziert. Und doch war es Bartolo! Man spürte Bartolos Müdigkeit, seine Schlaksigkeit, seine Harmlosigkeit, Bartolos ganzes Wesen in dieser Zeichnung. Bruder Onofrio hatte den Freund auf Wollpapier verewigt! Und dabei waren wohl alle Regeln zur Proportion dem Franziskaner vollkommen gleichgültig! Die ganzen Regeln zu den berechenbaren Proportionen des männlichen Körpers, die Francesco seinen Schülern in unermüdlicher Wiederholung beibrachte, Bruder Onofrio schien sie gar nicht zu kennen oder zumindest außer Acht zu lassen! Er hatte Bartolos Arme und Beine noch länger gezeichnet, als sie eigentlich waren, der Kopf mit dem Gesicht hatte gar keine bestimmbare Form.

Während Niccolò noch ganz ergriffen davon, wie jemand trotz (oder vielleicht wegen?) der Nichtbeachtung aller Regeln die Natur so trefflich abbilden konnte, Onofrios Zeichnungen betrachtete, sammelte dieser bereits die Blätter ein und wollte sie gerade lose in seinen Beutel packen.

"Aber, hast du denn keine Mappe?", rief Niccolò, besorgt, ob das Papier diesen Transport unbeschadet überstehen würde.

"Für so ein paar Bilderchen auf Wollpapier?", gab Onofrio unbekümmert zurück, "es sind doch nur Zeichnungen, schnell dahin geworfen und keineswegs mit Sorgfalt ausgeführt. Das Wertvollste daran ist das Papier. Ich wollte die Zeichnungen wieder abschaben und das Papier noch mal benutzen. Aber du hast recht, Niccolò, das Papier gehört dir. Ich habe nicht daran gedacht, weißt du, die Idee des persönlichen Eigentums ist uns Franziskanern ja fremd. Hier, nimm du sie", er reichte Niccolò seine Zeichnungen, "du kannst sie abschaben und hast dann eine ganze Menge an gutem Papier."

"Niemals werde ich deine hervorragenden Zeichnungen zerstören, Bruder Onofrio! Aber hab vielen Dank!", rief Niccolò und fragte sich insgeheim, ob Onofrio ihn wirklich ernst nahm. Doch er war glücklich über die ganz neuen Studienobjekte, die der Franziskaner ihm so bereitwillig und unbedacht zur Verfügung stellte.

Und in der Tat war Onofrio einigermaßen amüsiert über diese unerwartete Bewunderung.

"Willst du auch noch das Steinchen, mein Bub?", alberte er, während er Niccolò einen Stein reichte. Auf dem Stein hatte er etwas gezeichnet, und Niccolò erkannte jetzt, was es war. Es war ein Hase, ein Hase, der mit aufgestellten Löffeln auf den Hinterpfoten stand! Onofrio hatte mit drei bis vier Strichen schnell auf den Stein gekritzelt, woran er selbst trotz aller Anstrengung und allen Studien gescheitert war! Schweigend steckte Niccolò den Stein in seinen Beutel.

"Auf Jungs, lasst uns noch ein bisschen die Gegend erkunden. Wenn wir zu früh zurückkommen, dann findet Meister Francesco nur wieder irgendeine Arbeit für uns! Ist es nicht viel lustiger, durch die Wälder zu streifen? Und schließlich ist es ja genau das, was er uns aufgetragen hat, die große und unendlich erhabene Lehrmeisterin Natur zu studieren!", bei diesen letzten Worten ahmte Onofrio Francescos Stimme und seine Art zu reden so trefflich nach, dass Bartolo sich vor Lachen schüttelte. Ohne weiteres Zögern stimmte Bartolo dann auch dem Vorschlag zu. Er und Onofrio zogen ausgelassen scherzend und herumalbernd voran. Niccolò schlurfte nachdenklich hinterher.

Nach einiger Zeit sahen sie hinter einem Felsen den Rauch eines Feuers aufsteigen. Onofrio schlug sofort die Richtung des Rauchs ein. Auf einem Felsen blieb er stehen und sah nach unten.

"Dachte ich's mir doch, dass ihr das seid!", rief er freudig aus. Unter dem massigen Fels saßen zwei Gesellen und kochten etwas in einem irdenen Topf.

"Bruder Onofrio, du Liebhaber des bequemen Lebens, was führt dich mal wieder zu uns?", wurde er von unten begrüßt.

Onofrio war schon den Felsen hinunter gerutscht, die beiden anderen zu sich winkend.

"Kommt, ich stelle euch meine Freunde vor", rief er zu Bartolo und Niccolò. Die beiden folgten ihm und kletterten ein wenig mühevoll den Felsen hinab. Sie besaßen nicht Onofrios Sorglosigkeit, einfach hinunterzurutschen und dadurch zu riskieren, dass ihre Kleidung zerreißen würde. Onofrio umarmte seine beiden Freunde am Feuer aufs Herzlichste und stellte sie dann Bartolo und Niccolò als fra' Maso und fra' Gentile vor. Erst jetzt sah Niccolò, dass die beiden das Habit der minderen Brüder trugen. Doch wie sahen sie aus! Ihre Gewänder waren so zerschlissen, dass man sie kaum noch als Kutten erkennen konnte. Und um die Gesellen, die darin steckten, stand es nicht viel besser! Abgemagert bis auf die Knochen, mit zerzausten Haaren ohne Tonsur und mit Bärten, machten sie den Eindruck, als haben sie noch nie in ihrem Leben ein Bad genommen oder sonst irgendeine Art der Körperpflege betrieben. Es wunderte Niccolò, dass diese zerrupften Gesellen Onofrios Freunde und offensichtlich Franziskanermönche waren. Zwar ließ auch Onofrio eine gewisse Nachlässigkeit bezüglich seiner Kleidung erkennen – eine Eigenart, die bei einem minderen Bruder gewiss ein lässliches Vergehen darstellte – doch war Onofrio zumindest stets einigermaßen ordentlich rasiert und gekämmt und schien auch sporadisch vom Badebottich Gebrauch zu machen. Seine Mitbrüder im Konvent achteten wohl darauf, wenn es auch ihm selbst wenig bedeutete. Diese beiden dagegen wirkten hinlänglich verwildert. Dazu im Kontrast standen aber ihre Gesichter. Glücklich und entspannt kamen sie Niccolò vor, als lebten sie bereits im Paradies. Vor allem fra' Gentile strahlte, seinem Namen entsprechend, eine milde und heitere Freundlichkeit aus. In Niccolò kam schon wieder der Wunsch auf, ihn zu zeichnen, doch hielt er sich zurück, halb der Enttäuschungen dieses Morgens gedenkend, halb seinen Fingern nicht trauend, die ob der herbstlichen Kälte nicht mehr ganz beweglich waren.

"Kommt, setzt euch zu uns und speist mit uns", forderte fra' Gentile die Drei auf und zeigte auf einige Steine an der Feuerstelle, "macht es euch auf unseren Polstern bequem."

Niccolò nahm diese ungewöhnliche Einladung gerne an. Dieser fra' Gentile mit seinen sanften Augen und seinem seltsamen Humor gefiel ihm und machte ihn neugierig. Er setzte sich auf einen der Felsen und wartete, auf das, was nun käme.

Onofrio bedankte sich für die Einladung: "Wir sind überaus geschmeichelt, liebe Freunde, euer Bankett mit euch teilen zu dürfen. Wir hoffen, dass wir euch nicht zur Ursache allzu großer Inkonvenienzen werden ..."

"Ich bitte Euch, werter Bruder, für euch, der Ihr das wonnige Leben eines Konvents führt, mag unser Mahl frugal erscheinen, dennoch erfreut uns Eure Gesellschaft in höchstem Maße. Zeigt uns doch jede Unterhaltung mit Euch weltlichen Gesellen, was es in der Welt alles Schönes und Angenehmes gibt, dessen wir nicht bedürfen ..."

Fra' Gentile unterbrach sich selbst durch sein lautes Gelächter, in das Onofrio sofort einstimmte. Auch Niccolò und Bartolo mussten bei diesem Schauspiel lachen, wenngleich sie es nicht ganz verstanden. Fra' Maso verzog ebenfalls den Mund, doch war es mehr ein Grinsen als ein Lachen. Ein Grinsen der Duldsamkeit und Großzügigkeit, wie das eines Vaters, der einen dummen Streich seiner Kinder aufdeckte.

"Ihr mit euren Albernheiten", sagte er dann auch, "ihr verwirrt unsere weltlichen Gäste ja vollends. Seht ihr nicht, dass sie zwar über eure Art zu reden durchaus amüsiert sind, den Sinn eurer Rede aber kaum verstehen?" Darauf wandte er sich an Niccolò und Bartolo: "Ihr habt vielleicht bemerkt, dass all das Gerede der beiden leeres Gerede ist. Einer Einladung bedarf es gar nicht, da das Mahl, das wir gerade zubereiten keinesfalls unseres ist. Ebenso wenig wie die Felsen, die der Bruder gerade so bildlich als unsere Polster bezeichnet hat. Bei uns bestehen die Mahlzeiten ausschließlich aus Brot, (was wir heute allerdings nicht haben), Wasser und den Kräutern, die wir im Wald finden. Ist es deswegen nicht unsinnig, von unserem Mahl zu sprechen, wo doch Schwester Wasser alle Kreaturen mit ihrem kostbaren, keuschen Gut versorgt? Oder die Kräuter, die wir darin kochen, die uns die Mutter Erde liefert, als die unseren zu bezeichnen, nur weil wir sie gepflückt und getrocknet haben? Oder Bruder Feuer? Nichts davon gehört uns, und deswegen gibt es auch keine Einladung, weil unser Mahl genauso eures wie das einer jeden anderen Kreatur ist."

Während seiner Rede war fra' Maso immer ernster geworden und hatte von Wort zu Wort mehr Leidenschaft in seine Stimme gelegt. Onofrio legte den Arm um ihn:

"Ja, du hast natürlich recht, lieber Bruder. Aber was ist denn dagegen zu sagen, wenn wir ein bisschen scherzen und herumalbern. Du bist immer so ernst, aber wir sind kindliche Naturen und unsere Seele erfreut sich stets an einem bisschen Lachen."

Fra' Gentile hatte inzwischen einen Teil der Suppe, die auf dem Feuer kochte, in einen irdenen Napf gefüllt und reichte diesen an fra' Maso weiter.

"Koste, lieber Bruder, vom Mahl, zu dem uns unsere Herrin einlädt!", und zu Onofrio sagte er leise: "Du wirst sehen, danach wird er weniger ernst sein."

Der Napf ging mehrmals im Kreis der Freunde herum, zwischendurch füllte fra' Gentile ihn immer wieder auf. Die Brühe darin bestand lediglich aus Wasser und einigen Kräutern. Auch wenn sie nur wenig Geschmack besaß, und dieser eher bitter und wenig angenehm war, genoss Niccolò die warme Flüssigkeit. Er fühlte sich auf einmal sehr behaglich und glücklich, und es schien, als ob dieses Wohlgefühl mit jedem Schluck, den er aus dem Napf nahm, anstieg. Als ob der kühle und feuchte November sich in einen wohligen Frühling verwandelte, und die Natur die Farben dieses Frühlings annahm. Ihm fielen die vielen schillernden Farbtöne auf, die die Steineichen in den silbernen Nebel malten. Nicht nur Grün, sondern eine mannigfaltige Palette an Rot-, Blau-, und Orangetönen sah er plötzlich. Seine vorherige Schweigsamkeit war zudem einer ungehemmten Redelust gewichen, sodass er nicht umhin konnte, seinen Kameraden diese neuen Beobachtungen mitzuteilen.

"Habt ihr schon einmal bemerkt", fragte er, "aus wie vielen verschiedenen Farben ein solcher Baum besteht? Jeder würde doch antworten 'grün', wenn er gefragt würde: 'Welche Farbe hat dieser Baum?' Und zweifelsohne ist er grün, doch wie viele Farben braucht es, damit der Baum für uns grün ist!"

Onofrio stimmte ihm gleich bei:

"Da hast du etwas sehr Wichtiges entdeckt, lieber Freund. Der Baum ist grün, genau, weil nicht jedes einzelne seiner Einzelteile gleich grün ist. Stell dir vor, jedes Blättchen, jedes Zweiglein, jedes kleinste Teil des Baumes wäre vom gleichen einheitlichen Grün. Hast du je versucht, mit nur einem einzigen Grün einen Baum zu malen? Wie tot und falsch wäre solch ein Baum! Aber gerade weil hier die unterschiedlichsten Farben zusammenkommen, jede einzigartig und ganz sie selbst, deswegen hat der Baum in seiner Gesamtheit diese schöne grün-blau-schwarz-silberne Farbe. Du siehst, dass der Schöpfer seine Gründe hatte, dem Baum diese mannigfaltige Farbigkeit zu geben. Und von den Formen reden wir gar nicht! Finde mir zwei Blätter, die genau gleich sind! Es ist unmöglich! Und doch hat Gott jedes einzelne Blatt geschaffen und kennt es beim Namen ..."

"Nein!", fiel auf einmal fra' Maso ins Wort, "nicht alle! Einige Blätter sind auch vom Leibhaftigen erschaffen! Sie sind krank, vergammelt, und bringen, wenn sie nicht entfernt werden, dem ganzen Baum den Tod! Warum, glaubst du wohl, werfen die Bäume zuweilen ihre Blätter ab, und zwar stets die mit der falschen Farbe, die roten, die gelben, nie die grünen. Du wirst nun sagen, ein Baum, voll mit roten und gelben Blättern ist so schön. Schön ist er, weil er dem Auge gefällt, aber kann nicht auch die Sünde schön sein und dem Auge gefallen, und bringt dennoch Tod und Verderben!"

"Lieber Bruder", mischte sich nun fra' Gentile ins Gespräch, "es gibt sicher auch Tod und Verderben, aber wir brauchen uns nicht darum zu kümmern. Du sagst selbst, dass der Baum die toten Blätter von sich aus abwirft. Er weiß besser als wir, welche Blätter tot sind. Für uns sind alle von Gott, und wir können Gottes Werk auch in den schönen roten und gelben Herbstbäumen spüren. Würde uns der Anblick der Natur wohl diese Freude machen, wenn er vom Teufel käme? Nein, die Pflanzen und Bäume sind unsere Brüder, so wie die Luft, die durch sie zieht, unsere Schwester ist. Hör doch mal auf die Musik, die der Wind auf den Bäumen spielt! Ist es nicht schöner als jedes Festbankett!"

Die anderen – mit Ausnahme von fra' Maso – stimmten ihm zu, und so schwatzten sie noch eine Weile vor sich hin, Schwester Natur in all ihren Einzelheiten preisend, bis schließlich, einer nach dem anderen, in einen wohligen Schlaf fiel.

Im Konvent von S. Pietro sangen die Mönche den Hymnus. Os, lingua, vigor – einer von ihnen, Astrolabio da Salerno, hob den Kopf nicht, sondern starrte fest auf einen Punkt an der Kutte des Bruders in der Reihe vor ihm. Das Bild der singenden Brüder, gespitzte Lippen, breitgezogene Lippen, aufgerissene Münder, weiße Zähne, dunkle Zähne, Zahnlose erschien in seinem Innensinn auch ohne Hinsehen. Wie von einem Maler gemalt bildeten sich die verzerrten Gesichter ab, Fratzen der Leidenschaft, flamescat igne caritas. Er selbst bewegte nur leicht die Lippen, er wollte sich nicht versenken, nicht den Mund aufreißen wie einen Schlund. Das war nicht der Weg. Sciamus da patrem, noscamus atque filium – Erkennen konnte man nicht durch Versenken, nicht durch Vergessen, nicht, indem man sich selbst auflöste.

Er kämpfte gegen die Auflösung, den verlockenden Abgrund. Er spürte die Müdigkeit in seinen Augenlidern, mit Willensanstrengung zwang er sie, ihrer natürlichen Bewegung nach unten zu widerstehen. Ein Soldat in Rüstung, das war der Wille, allen Neigungen des Körpers konnte er niederringen wie Soldaten ihre Feinde bekämpfen. Doch die Neigungen des Geistes drangen wie Mäuse in die Festung des Willens ein, ohne dass er bemerkt hätte, woher sie eigentlich kamen. Auch jetzt, in diesem Moment, zog das in der letzten Nacht Geschehene seine Gedanken immer wieder in seinen Kreis. Bis zum Morgengrauen hatte er im Haus an den Quellen von Moiano verbracht und sich erst zur Prim wieder in den Konvent zurückgeschlichen. Wie die anderen Male war es auch diesmal gutgegangen, keiner seiner Mitbrüder hatte ihn bemerkt. Er erinnerte sich des Schrecken, als er Schritte vernommen hatte. Er musste zu dem Zeitpunkt etwa am Oratorium der Bruderschaft der Flagellanten von Santa Maria del Vescavado sein. Das Fresko über seinem Kopf hatte er nicht sehen können, doch er hatte es schon oft bei Tage betrachtet. Die Brüder in ihren weißen Kutten mit dem Schlitz am Rücken, aus dem das Blut rann, das Blut der Wunden, die sie sich selbst zufügten. Sie führten ihrem Körper Leid zu, um ihre Seele zu retten.

Doch die Schritte waren eilig in der Ferne verklungen. Wohl ein Mann, der des Nachts unerlaubte Dinge getrieben hatte und nun selbst fürchtete, entdeckt zu werden. So hatte er mit klopfendem Herzen, aber von niemandem bemerkt, die Quellen von Moiano erreicht. Nachdem er sein Gesicht und seine Hände am frischen Wasser gereinigt hatte, überwältigte ihn ein Gefühl sündhaften Glücks. Er hatte das Werk begonnen, den ersten der sieben Köpfe abgeschlagen. Nicht seinem Körper hatte er Wunden zugefügt, wie die Flagellanten von Santa Maria del Vescovado. Aber seine Seele hatte er verwundet. Und auch einen Teil der geheimen Schrift hatte er gefunden, so schien es wenigstens, nur einen Teil natürlich. Sie würden nie die gesamte Schrift an einem einzigen Ort verstecken. Diesen einen Teil zu finden war leichter, als er geglaubt hatte. Es gab nicht viele Verstecke im bescheidenen Haus eines Lehrers. Etwa so wenige wie es Möglichkeiten im Vorstellungsvermögen eines Lehrers gab, dachte Astrolabio. Nun drängte es ihn, diesen einen Teil zu studieren. Im spärlichen Licht des Kellerraums hatte er die erste Seite des Buches aufgeschlagen. An die Worte würde er sich immer erinnern:

„Bunchum, quid est?

… Viele Stoffe kannst du zur Urmaterie zurückführen, am besten aber sind die roten Früchte der Pflanze mit den grünen Blättern.“

Am Anfang stand immer die Rückführung der Ausgangsstoffe in die Urmaterie. Aber wenn die Materia prima doch nur eine war, wenn aus dieser einen Materie alles gemacht war und sich nur durch die Form unterschied, warum war dann die Beschaffenheit des Ausgangsstoffes so entscheidend? Konnte man jeden Stoff in die gleiche Urmaterie verwandeln, war dann die Beschaffenheit des Ausgangsstoffes nicht unwesentlich?

Alles war zuerst Samenkorn, dann Pflanze, dann Frucht. Dieselbe Substanz mit verschiedenen Akzidenzen. Und doch bleibt das Wesen stets gleich. Damit sich etwas ändern konnte, musste etwas anderes gleich bleiben.

Nos nani sumus in umeris gigantium sedentes.1 Plattheiten!

„Die Erde ist die Mutter der Metalle, sie trägt sie in ihrem Schoß. Die sieben Planeten lassen die Metalle wachsen. Alles strebt nach Vollkommenheit, alle Metalle wollen werden wie Gold. Gold ist aber deswegen vollkommen, weil es ewig ist, sich mit nichts verbindet, sich von nichts zersetzen lässt.

Für den Philosophen ist es daher einfach, Gold herzustellen. Er muss nur die Natur nachahmen und das, was sie bewirkt, beschleunigen.

Der Mensch aber, der nach Vollkommenheit strebt, verliert sie sobald er sie erreicht hat. Er ist wie das flüchtige Silber, der irdische Merkur, den man aus Zinnober sublimiert. Wir müssen also selbst Gold werden, vollkommen und ewig. Dazu brauchen wir die Tinktur, die alles zu Gold veredelt, deren Herstellung in sieben Stufen wird hier erklärt.“

Die Sonne hatte längst den Zenit überschritten, als Niccolò, Bartolo und Onofrio sich von den anderen verabschiedeten. Niccolò war plötzlich eingefallen, dass Meister Francesco sie wohl in der Werkstatt erwarten würde. Auf dem Weg bestätigte Bartolo immer wieder, wie gut ihm doch Onofrios Freunde gefielen, wie freundlich sie seien und wie gerne er, Bartolo, zu einem erneuten Besuch herkomme. Onofrio nahm die Komplimente mit heiterer Gelassenheit entgegen. Einzig Niccolò machte sich Sorgen, was der Meister wohl ob ihres langen Ausbleibens sagen werde.

Am Konvent angekommen beschlossen er und Bartolo deswegen, draußen zu warten und zunächst Onofrio vorzuschicken, demgegenüber sie sich eine größere Nachsichtigkeit seitens des Meisters erwarteten. Und wirklich erschien Onofrio nach einiger Zeit an der Pforte, um die beiden herein zu rufen. Mit einem fröhlichen Lächeln bescheinigte er ihnen, dass Meister Francesco ihnen nicht gram sein werde.

Niccolò sah den Franziskaner erstaunt an. Onofrio verstand die Dinge zu meistern als seien die anderen Menschen Marionetten und er selbst der Puppenspieler.

Später begleitete Onofrio die beiden nach Hause und blieb – auf Francescos ausdrückliche Einladung – zum Abendessen. Onofrio verschlang solche Mengen an Carabaccia, dass Niccolò es kaum glauben konnte. Francesco dagegen aß mit ungewöhnlicher Eile, was um so mehr verwunderte, da er sonst gerne über die Angemessenheit der Muße beim Essen philosophierte. Kaum hatte er seinen Napf geleert, sprang er vom Tisch auf und bat Bruder Onofrio, ihm in sein Schlafzimmer zu folgen.

„Was sagst du zu den Beiden?“, fragte Francesco sogleich nachdem er die Tür geschlossen hatte.

„Werter Meister, ich habe deinen Auftrag erfüllt und die beiden heute gründlich studiert. Ich kann dir daher sagen: Niccolò ja, Bartolo nein.“

„Du meinst, wir sollen nur einen von beiden aufnehmen? Aber du weißt, dass sie seit ihrer Kindheit befreundet sind. Daher wird, was der Eine weiß, auch sofort der Andere wissen.“

„Ja, heute wäre das sicher noch so, wie du sagst“, gab Onofrio zu, „aber lass die Zeit erst einmal ihren Dienst tun. Am Anfang wird Niccolò sicher seinem Freund noch alles ausplaudern, was er bei uns hört, doch wird er als Novize noch nicht unter den Schleier sehen können. Später, wenn er erst einmal eine höhere Stufe erreicht haben wird, dann wird er auch der Einfalt des Geistes Bartolos einsichtig. Und eine höhere Stufe wird er erreichen, denn er ist wissbegierig und strebsam, stets bemüht alles gut zu machen und ist dabei doch nie mit dem zufrieden, was er vollbringt. Ein Geist, wie die Cavalieri ihn brauchen. Und was bedeutet schon Freundschaft? Wenn Bänder reißen können, die das Blut geflochten hat, um wie viel mehr können dann solche Bänder reißen, die allein von der Gewohnheit geschaffen sind? Das Band beginnt übrigens schon, spröde zu werden. Man braucht keine scharfe Klinge mehr, um es durchzuschneiden.“

„Also gut“, stimmte Francesco bei, „dann sei es so, wie du sagst.“

5. Kapitel



Niccolò hockte auf einem Schemel im hinteren Teil des Raumes und grübelte, warum man ihn wohl hereingebeten hatte. Die Cavalieri d'amore, so nannte sich die geheimnisvolle Gruppe, war offenbar nichts anderes als ein Kreis von Dichtern. Er hatte Geheimnisse erwartet, doch jetzt rezitierten sie irgendwelche Liebesgedichte. Niccolò war enttäuscht.

Dabei hatte es so spannend angefangen. Sie waren zum Hause Francescos gekommen. Sie waren an ihm und den anderen Familienmitgliedern vorbeigegangen, diese mehr oder weniger aufmerksam grüßend. Einige kannte Niccolò, es waren Maler aus der Werkstatt, wie Guido di Michele, Gherardo di Guccio oder Francescos Schwager Ricco. Auch dessen Freund Ranieri war gekommen in Begleitung eines älteren Mannes, dessen Anblick Niccolò sogleich in den Bann genommen hatte. Nicht allein, weil der Mann humpelte. Sein gesamter Körper bildete die Form einer Kurve gleich einer Spindel. Ohne einen sichtbaren Hals saß der Kopf direkt auf dem Körper und führte dessen gewundene Form fort. Das Gesicht wies daher eine beachtliche Asymmetrie auf, das rechte Auge stand tiefer als das linke, der rechte Mundwinkel dagegen höher als sein Gegenüber. Als Folge hatte die Nase die Form eines zunehmenden Halbmondes.

"Der Ältere ist Messer Salvestro dei Moriconi", hatte die alte Margherita voller Ehrfurcht geflüstert, "er gehört zu einer der ältesten Familien von Assisi. Sie sind sogar mit dem heiligen Franziskus selbst verwandt! Er ist ein sehr freundlicher Herr“, und nach einer kleinen Pause hatte sie hinzugefügt: „Wie er jedoch seine Tochter mit einem solchen Nichtsnutz wie diesem Ranieri verheiraten konnte, das habe ich nie verstanden! Und mir scheint, nicht einmal sie selbst versteht es, führt sie doch eher das Leben einer Witwe im Hause ihres Vaters, als das einer verheirateten Frau."

Niccolò hatte sie erstaunt angesehen. Riccos Kumpel, der dem Gerede nach, zu nichts anderem gut war, als die Nächte in den Tavernen bei Wein und Würfelspiel zu verbringen, sollte in die Familie des heiligen Franziskus eingeheiratet haben! Margherita aber hatte weiter geredet:

„Sollte eine verheiratete Frau nicht im Hause ihres Gatten wohnen? Messer Salvestros Tochter dagegen lebt im Hause ihres Vaters, wie übrigens auch dieser Ranieri selbst. Sollte sie nicht ihrem Manne gehorchen, seinem Hause mit ihren Tugenden, ihrer Keuschheit, ihrer Verschwiegenheit zur Ehre gereichen? Die schöne Ginevra scheint keine dieser Tugenden zu kennen. Sie läuft auf der Straße herum, wann immer es ihr gefällt, grüßt, wen immer sie will; und das vor aller Augen!“

Es hatte mehrmals an die Tür geklopft; weitere Bürger waren eingetreten. Und zuletzt sogar er, Niccolò. Francesco selbst hatte den ungläubig Überraschten aufgefordert in den großen Saal im ersten Stockwerk des Hauses, der sonst nur an Festtagen genutzt wurde, zu kommen. Bartolo war zugleich mit ihm aufgestanden, gewohnt, dass eine Aufforderung, die Niccolò galt, zugleich auch für ihn gedacht war. Aber Onofrio hatte Bartolo beide Hände auf die Schultern gelegt und ihn sanft aber unmissverständlich wieder auf die Küchenbank gedrückt, bevor er sich selbst auf den Weg die Stiegen hinauf begab.

„Donne cosa donne rosa

ponendo vertute

lei per quella e luce bella

et e dognun salute.“

Dann rezitierten sie verschiedene Poesien. Wirklich, sie schrieben Liebesgedichte und trugen sie einander vor. Gedichte, in denen sie die Schönheit der Dame besangen, der das Herz des Dichters gehörte, die seine Seele regierte. Sogar Bruder Onofrio wusste weibliche Vorzüge in Versen trefflich zu beschreiben!

Aber jetzt wandten sie ihre Aufmerksamkeit ihm, dem Neuling, zu. Sie bestätigten ihm immer wieder, wie wichtig das Studium sei. Besonders einer der Herren – wie Niccolò im Laufe des Abends erfuhr, war es der Apotheker von Assisi – betonte immer wieder die Notwendigkeit des Studiums, um das Ziel der Erlösung der Seele zu erreichen. Niccolò blickte verwundert in die Runde. Er hatte stets mit dem Ziel gelernt, in seinem Handwerk besser zu werden. Jetzt sollte auf einmal sein gesamtes Seelenheil daran hängen.

„Es wird lange dauern, viele Jahre“, sprach der Apotheker, „du wirst mehrfach sterben, du wirst deinen Dämonen begegnen, doch am Ende wirst du erlöst werden. Deswegen gib alles, all deine Kraft, all deine Anstrengung ins Studium. Dann wirst du Stufe für Stufe aufsteigen. Doch du wirst auch einen Lehrer brauchen, einen Adepten, der dir an Erfahrung voraus ist und schon eine höhere Stufe erreicht hat. Halte dich nur an Bruder Onofrio, er wird dich sicher durch das Labyrinth der Anfechtungen leiten.“

Onofrio überreichte Niccolò ein aufgerolltes Blatt Papier.

„Das ist eine Abschrift“, erklärte der Apotheker, „Bruder Onofrio hat den Text eigenhändig kopiert. Er ist in deiner Sprache verfasst. Du kannst also gleich anfangen. Später, wenn du im Lesen solcher Texte geübter sein wirst und auch die Sprache der Alten zu lesen gelernt haben wirst, dann wirst du in den Schriften noch sehr vieles entdecken können.“

Unsicher hielt Niccolò die Rolle umschlungen und wusste nicht, ob er es wagen solle, sie sofort zu öffnen. Man erwartete von ihm, dass er den Text lese und lerne, sogar, dass er irgendwann die lateinische Sprache lerne und ihre Schriften studiere. Hielten sie ihn etwa für einen Magister?

Die weiteren Dispute der Cavalieri lösten sich auf wie Landschaften im herbstlichen Nebel. Niccolò hörte kaum hin, wenn doch, dann verstand er nichts. Ihre Reden schienen ihm seltsam widersinnig, so als benutzten sie Ausdrücke einer ihm fremden Sprache, die doch klangen, wie die Worte seiner Muttersprache.

Bartolo saß noch immer auf der Bank in der Küche und grübelte, warum man ihn wohl nicht hereingebeten hatte. Die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Hände gestützt, sah er immer wieder Niccolò, der mit Francesco die Treppe hinaufgegangen war, ohne ihn, seinen Freund, auch nur eines Blickes zu würdigen, fühlte er immer wieder Onofrios Hände auf seinen Schultern, und drückte seinen Kopf immer fester auf die Hände, um seiner Lust, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, entgegenzuwirken. Er bemerkte nicht einmal, dass Beatrice im Türbogen stand und ihn beobachtete.

„Bartolo! Willst du etwa den ganzen Abend hier sitzen und motzen? Komm mit, ich zeige dir etwas, was ich entdeckt habe!“

Wie ein Kind, das beim Naschen erwischt wurde, schreckte Bartolo in die Höhe. Er wollte etwas sagen, doch ihm fiel nichts ein.

Beatrice aber forderte ihn auf, ihr zu folgen, wenn er hören wollte, was die großen Kinder so spielten. Zitternd folgte Bartolo ihr in die kleine Kammer neben der Küche, von dort durch die niedrige Tür am anderen Ende, dann einige Stufen hinab in den kleinen Raum, in dem man in den heißen Jahreszeiten die Vorräte aufbewahrte und der jetzt bis auf ein paar hölzerne Fässer leer war. Beatrice forderte ihn auf, ihr zu helfen, die Klappe im Fußboden zu öffnen. Bartolo gehorchte, immer noch tremolierend, und beide stiegen die Treppe zu den kühlen und feuchten Kellerräumen hinab. Es war nun so dunkel, dass sie sich an der Wand entlangtasten mussten. Beatrice führte ihn gleichsam eine Etage tiefer den ganzen Weg wieder zurück, schließlich waren sie unter dem großen Saal, in welchem die Herren sich versammelten. Bartolo konnte ein Klappern an der Wand wie von Holz hören, und fühlte, wie an seinem Gewand gezogen wurde. Doch er hörte auch Stimmen! Als er an die Wand tastete, verstand er, dass Beatrice offensichtlich eine Art Fenster in der Wand geöffnet hatte, die zu einem Schacht führte, der mit dem oberen Saal verbunden war. Sie kannte den Weg so gut, dass sie ihn sogar im Dunkeln fand. Wie oft mag sie schon hergekommen sein, um ihren Bruder zu belauschen! Bartolo musste lächeln und dankte zugleich der Finsternis, dass sie sein Lächeln verbarg. Neugier ist wirklich die vorrangigste Untugend des Weibes! Welch ein Glück!

Bartolo hörte jetzt eine ruhige, tiefe Stimme reden. Offenbar wandte der Sprecher sich an Niccolò, und forderte ihn zum Lesen einer Schrift auf. Er redete sogar davon, dass Niccolò die Sprache der Alten lernen solle! Hielten die Niccolò etwa für einen Magister?

Doch dann wurde es noch widersinniger. Nach einigen einleitenden Reden und nachdem Niccolò herausgeschickt worden war, was Bartolo mit einem triumphierenden Grinsen quittiert hatte, kündete jetzt ein Mann die Ankunft eines Kuriers aus Gubbio an mit Namen Lemmo, der im Dienste eines gewissen Muzio di ser Francesco stand.

Die weitere Reden konnten die Lauschenden nicht vollständig verstehen. Doch hörten sie auf einmal die zornige Stimme Francescos:

"So geht es doch nicht, nicht mit diesem Muzio! Was wollen wir denn erreichen? Ist nicht die Liebe der Madonna unser Ziel? Diese Liebe, die wohl jeder von uns spürt, um die sich jeder dennoch selbst bemühen muss. Jeder muss sich anstrengen und das Beste geben, was er geben kann. Dann kann jeder den Gruß der Madonna erlangen."

"Nein, du täuschst dich! Du bist so verblendet wie die Schlafenden! Jeder muss von der Madonna erlöst werden! Auch die Verrückten, auch die, die noch schlafen!", hörte Bartolo eine andere Stimme, ebenso aufgebracht, rufen.

"Nur durch unsere eigene Arbeit können wir unter den Schleier sehen!", erzürnte sich jetzt wiederum Francesco.

"Wir brauchen den Retter, der uns von der Eifersucht befreit und der dem kalten Wind etwas Heiterkeit entgegenhält! Den Ritter, der die Damen zur Blume führt!", schrie der andere. "Und ist nicht Lemmo dem Amor gleich, dem ständigen Begleiter der Madonna?"

"Niemals!", rief Francesco, "Ihr werdet noch sehen, dass Euer Amor eher ein kalter Stein ist, noch schlimmer als der, der zuvor da war! Aber dann wird es zu spät sein!"

"Was reden die für einen Unsinn?", flüsterte Bartolo, „sind die etwa alle in die gleiche Frau verliebt? Und wer ist diese so verehrte Madonna?“

"Ich sagte es dir", triumphierte Beatrice, "sie veranstalten stets diese Treffen mit einer großen Heimlichtuerei, nennen sich sogar Liebeshof, aber ich habe noch nie eine Dame bei diesen Versammlungen gesehen noch den wirklichen Namen einer gehört, jedenfalls scheint es stets, als haben sie Dinge von ungeahnter Wichtigkeit zu bereden und dann reden sie doch nur einen solchen Zinnober daher!"

Der Mann mit der tiefen ruhigen Stimme sprach jetzt wieder. Er sagte, vollkommen ohne Schleier reden zu wollen. Und es sei Erlösung nur im Studium zu finden. Vor allem im Studium der Natur. War nicht die Philologie zunächst eine schöne, aber doch sterbliche und damit trotz ihrer Jugend dem Tode geweihte Jungfrau. Erst als sie sich mit Merkur vermählte, wurde sie göttlich und damit ewig und unsterblich. Wie das Metall des Merkur – der Quecksilber – andere Substanzen veredeln könne und zu deren Transmutation beitrage, so sei es das Göttliche, das der Anstrengung des Menschen Ewigkeit und Wahrheit schenken könne. Die Frage hier sei nun aber, ob Muzio wirklich ein Interesse habe am Studium und an der Veredlung des Menschen durch Erkenntnis. Und wie dieser Lemmo wohl einzuschätzen sei. Ist er wirklich mit Amor vergleichbar, oder gar mit Merkur, dem Boten und dem, der die Menschen veredelt? Oder sei er doch eher dem niederen Amor gleich, der mit verbundenen Augen seine Pfeile ohne Sinn und Verstand verschießt?

"Wer ist wohl dieser Muzio?", fragte Bartolo.

"Muzio di Ser Francesco ist ein Edler aus Perugia aus dem Geschlecht der Brancaleoni. Reich ist er, auch hier in Assisi ist ein Teil seines Besitzes bei der Porta Santa Chiara und in Santa Maria Maggiore", antwortete Beatrice, "er führt die Armee der Kaisertreuen an. Man erzählt, sie seien zur Zeit in den Hügeln von Gualdo. Und auch, dass er sich in den dunklen Wäldern dort wohlfühle, mit all den Dämonen, Hexen und Feenwesen, die dort leben, soll er selbst doch auch in der schwarzen Kunst bewandert sein und entsprechende Praktiken ausüben. Er ist verbündet mit dem Bischof von Arezzo, Guido Tarlati, und verwandt mit Federico da Montefeltro. Und deswegen – scheint es jedenfalls – halten einige ihn gar für den Erlöser, den, der den Antichristen besiegen wird."

"Ist es denn wirklich schon soweit?", fragte Bartolo, "ist der Antichrist schon da?"

"Das weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht, ob das irgendjemand weiß. Aber ich weiß, dass manche Papst Johannes für den Antichristen halten."

"Den heiligen Vater!"

"Manche sagen, er sei nicht der heilige Vater. Muss denn nicht der heilige Vater in Rom residieren und nicht beim französischen König? Und war nicht Christus arm und besitzlos, und sollte deswegen nicht auch die wahre Kirche arm sein, aber Johannes lebt in Avignon keineswegs in Armut? Einige sagen sogar, Johannes sei ..." Beatrice flüsterte die Worte jetzt so leise, dass Bartolo sie kaum noch verstehen konnte, "er sei die Hure Babylon und die Metze des Königs von Frankreich!"

Bartolo fehlten die Worte. War das nicht gefährlichste Ketzerei?

"Was glaubst du, Bice?", flüsterte er.

"Ich verstehe davon nichts, ich bin doch nur ein Weib."

Auch am nächsten Morgen waren Chiara und Lucia zu ihrem Bruder in die Werkstatt gegangen, nachdem sie die Tür ihres Lehrers erneut verschlossen vorgefunden und dort einige Zeit mit den anderen Kindern gespielt hatten. Francesco beschloss, den Podestà aufzusuchen. Noch am Vormittag begab er sich zu dessen Palast. Er musste warten, mehrmals den Anlass seines Kommens erklären; dabei vergaß er nie, den Namen seines Vaters und die Aussicht auf dessen baldiges Eintreffen in Assisi zu erwähnen, seine Worte mit Bedacht zu wählen und so florentinisch auszusprechen, wie es möglich war, ohne lächerlich zu klingen. Schließlich nahm sich ein Schreiber (er stammte aus Borgo San Lorenzo im Mugello) seiner an, hörte sich die Geschichte noch einmal an und sagte endlich zu, einen Büttel zum Haus des Lehrers zu schicken.

Francesco begleitete also den Amtmann zu besagtem Hause, man unternahm die üblichen Versuche, sich bei einer eventuell im Hause anwesenden Person bemerkbar zu machen, die aber wie zuvor unbeantwortet blieben. Francesco forderte den Büttel auf, gewaltsam in das Haus einzudringen, was dieser jedoch nicht zu entscheiden befugt war. Deshalb zog man wieder zurück zum Palazzo des Podestà, wartete einige Stunden auf besagten Schreiber, der schriftlich festhielt, dass eine Erlaubnis, gewaltsam ins Haus des Lehrers einzudringen, aus gegebenen Gründen geboten sei, das Schreiben von Francesco und dem Büttel unterzeichnen ließ und an seinen nächsten Vorgesetzten weiterleitete. Nach einigen weiteren Stunden kam der Schreiber mit dem vom Stellvertreter des Podestà abgezeichneten Schriftstück zurück, sodass Francesco nach einer kurzen Wartezeit erneut mit einem Büttel (einem anderen, dem die Angelegenheit zunächst erklärt werden musste; mehrfach, weil er nicht sofort verstand) zum Haus Leones ging. Nachdem der Büttel das Haus betrachtet und festgestellt hatte, dass Türen und Fenster verschlossen waren und auch auf Klopfen und Rufen keine Antwort erfolgte, kam er zu dem Ergebnis, ein Schmied oder ein Schreiner müsse gerufen werden, der mit einem geeigneten Werkzeug Tür oder Fenster öffnen könne. Man müsse folglich die schriftliche Erlaubnis einholen und aus diesem Grunde zurück zum Palazzo des Podestà gehen.

Doch an dieser Stelle verlor Francesco die Geduld, zog Hammer und Brecheisen aus seinem Beutel und erklärte, sogleich im Beisein eines Vertreters der kommunalen Gewalt und daher mit kommunaler Erlaubnis einen der Fensterläden aufzuhebeln. Und noch bevor der Büttel den Sinn der Rede verstand, setzte Francesco sein Vorhaben in die Tat um.

Es war dunkel im Hause Leones als Francesco durchs Fenster kletterte, gefolgt vom Büttel, der ständig wiederholte, dass es so eigentlich nicht ginge. Das untere Geschoss bestand nur aus dem Raum, in dem der Lehrer unterrichtete. Alles sah aus wie immer. Die Kisten und Hocker standen ordentlich im Kreis. Auf einem Tisch lagen ein Abakus und ein aufgerolltes Blatt Papier. Francesco wusste von seinen Schwestern, dass Leone immer großen Wert darauf legte, dass die Kinder alles aufräumten, bevor sie gingen. Hier gab es nichts Ungewöhnliches. Gefolgt vom immer noch vor sich hin nuschelnden Büttel stieg Francesco ins obere Geschoss. Er öffnete das Fenster, um etwas Licht hereinzulassen. Aber auch hier schien alles in Ordnung, ein Bett mit ordentlich gefalteten Laken, eine Truhe, ein Tisch, auf dem sich nur ein tönerner Becher, eine Öllampe und ein Buch (die lateinische Grammatik des Priscian) befand, zwei Hocker. Die beiden stiegen die Treppe wieder hinab.

„Hier gibt’s nix“, sagte der Büttel und entriegelte die Haustür, „gehen wir!“

„Irgendetwas ist aber doch seltsam“, stellte Francesco fest, „er ist sicher kein reicher Mann und auch nicht anspruchsvoll, aber das Haus ist ja beinahe leer.“

„Der braucht halt nichts, der isst vielleicht nicht einmal“, bemerkte der Büttel.

Bei diesen Worten hielt Francesco inne. Es konnte nicht sein, dass der Lehrer nichts Essbares im Hause hatte. Zahlten nicht einige Eltern den Unterricht ihrer Kinder mit Mehl, Wein, Käse oder Wurst? Es musste also noch einen Raum geben. Vielleicht ein Geschoss unter der Erde, wo man gewöhnlich die Speisen aufbewahrte. Und wirklich entdeckte Francesco eine Klappe unter dem Tisch im Klassenraum und darunter eine Stiege.

„Geh nach oben und bring mir die Lampe!“, sagte er zu dem Amtmann.

Francesco stieg allein die Stufen hinab, der Büttel zog es vor, laut atmend an der Tür stehen zu bleiben. Das Licht der kleinen Lampe genügte, um zu erkennen, dass es wirklich der Vorratsraum war. Einige Mehlsäcke, die ansonsten ordentlich an der Wand aufgereiht waren, mussten wohl umgefallen sein, sie lagen mitten im Raum. Francesco stellte den einen Sack auf, er war zerrissen, das Mehl rieselte heraus. Er tastete nach dem zweiten Sack, seine Oberfläche fühlte sich wie Samt an. Francesco hielt die Lampe dichter daran und erkannte, dass es kein Mehlsack war.

„Bruder, es ist soweit, der eisige Wind ist da! Der Kanzler ist tot, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gefunden in seinem Keller. Sein Körper war über und über voll mit Blut und Mehl“

Francesco zog Onofrio in eine dunkle Ecke der Apsis.

„Mehl? Was sagst du da, Francesco?“

„Nun, der Podestà glaubt, er habe seine Bußübungen zu gewissenhaft ausgeführt, sich zu stark gegeißelt, dabei habe sich einer der Mehlsäcke geöffnet. Der Kanzler soll an zu großem Blutverlust gestorben sein. Aber du hast es nicht gesehen. Er fühlte sich an wie kalter Sandstein!“

„Er hat sich in seinem Keller gegeißelt?“

„Ja, in seinem Keller fanden wir ein kleines Altarbild, ein schönes, filigranes Werk, wohl aus Frankreich, wie ihn die Reisenden gerne verwenden; darauf gemalt ist Christus, an die Säule gefesselt und von den Schergen gepeitscht ...“

„Wo ist das Bild jetzt?“

„Ich habe es mitgenommen, ich habe dem Büttel gesagt, ich brauche eine Erinnerung an meinen Freund, den Lehrer meiner Schwestern. Es steht in meinem Schlafzimmer und tut mir und meiner Familie dort guten Dienst. Außerdem ist es ein so meisterlich gearbeitetes Werk, sollte ich das wohl dem Podestà und seinen Männern überlassen?“

Onofrio nickte beiläufig. „Warum versteckte Leone den Altar im Keller?“

Statt einer Antwort schaute Francesco ihn nur verwirrt an, Onofrio dagegen war seltsam gefasst. „Nun, wir haben immer gewusst, dass der eisige Wind eines Tages über uns peitschen werde; je näher wir unserer Dame kommen umso stärker wird die Eifersucht des Feindes zuschlagen. Jetzt ist es wohl soweit! Der eisige Wind wird danach trachten, uns alle zu töten, deswegen ist es wichtig, beizeiten zu handeln.“

„Das Dokument habe ich nicht gefunden!“, flüsterte Francesco, „es war nicht in seinem Haus, ich habe überall nachgeschaut. Entweder, es gibt in seinem Haus noch ein Versteck, von dem wir nichts wissen, oder wer immer Leone ermordete, hat es!“

„Es geht nicht um das Dokument!“, fiel Bruder Onofrio ihm ins Wort, „glaubst du wirklich, die Rettung der Menschen hinge von einem Buch ab? Nein, wir müssen endlich handeln, solange wir noch können, solange es uns noch gibt!“

Beide verließen den Konvent, draußen sahen sie sich noch einmal um, und verschwanden dann jeder in eine andere Richtung.

Am Tag des heiligen Martin konnte man noch mehr Stimmen als sonst in der Stadt hören. Die Bauern des Umlandes hatten ihre Pacht gezahlt. Sie hatten Hühner, Gänse und Schweine den Hügel hoch getrieben, schwere Karren mit Getreidesäcken und Ölfässern hinauf geschoben, waren vorbeigezogen an anderen Bauern, die sich keinen Karren leisten konnten und ihre Säcke auf den Schultern tragen mussten. Jetzt waren die Vorratskammern der Stadt gefüllt, in den Ställen standen Tiere, in den Fässern gärte der Wein. Wie jedes Jahr wurde dieser Tag gefeiert, indem man gleich von den neuerworbenen Früchten des Bodens, dem Schinken, den Würsten und besonders dem Wein probierte. Die adventliche Fastenzeit, die am darauffolgenden Tag beginnen sollte und in der man sich derartige Genüsse versagen werden müsse, verdoppelte die Freude am Gelage obendrein. Und so schienen die Bewohner in dieser Nacht tiefer als sonst zu schlafen.

Dennoch befürchtete die Cavalieri, dass jemand das Licht hätte bemerken können, deswegen hatten sie nur eine kleine Lampe in die gewölbte Öffnung des Steins gestellt, die jetzt zusammen mit der schmalem Sichel des Mondes die kleine Gruppe beleuchtete.

„Liebe Cavalieri, liebe Brüder“, begann der Großmeister seine Rede, „wir versammeln uns heute an diesem Grabstein, dem Grab eines großen Poeten der Alten, damit dieser uns eine Mahnung sein werde. Einen von uns hat der eisige Wind zu Stein verwandelt. Qui nunc iacet horrida pulvis, unius hic quondam servus amoris erat (Der, der hier liegt als schaurige Asche, war einst der Diener einer in Liebe. Properz, Elegien, II, 13). Er war fürwahr ein treuer Diener der Liebe. Doch weinen wir nicht um seinen Tod. Wir weinen doch nicht seinetwegen. Atque utinam primis animam me ponere cunis iussisset quaevis de tribus una soror! (Aber hätte doch schon als Wiegenkind eine der drei Schwestern meine Seele dahingestreckt. II, 43) Nicht das lange Leben ist es, wonach wir streben müssen. Wäre nicht auch Nestor glücklicher gewesen, wenn sein langes Leben ihn nicht gezwungen hätte, seine Sohn zu begraben? Nein, wir weinen um uns. Sed frustra mutos revocabis, Cynthia, manis: nam mea qui poterunt ossa minuta loqui? (Aber vergeblich rufst du, Cynthia, den stummen Geist: was können meine unbedeutenden Knochen schon antworten? II, 57.) Wir weinen um uns, wir rufen seinen Geist und finden nur lebloses Gerippe. Um uns weinen wir, weil wir schon von den Pfeilen getroffen wurden. Glücklich ist nur der, dem sich die spitzen Pfeile noch nicht ins Herz bohrten.“

Er redete weiter. Er sprach von der Gefahr für die Cavalieri, davon, dass alle getötet werden würden. Niccolò hörte ihm nachdenklich zu. Warum sollte jemand die Mitglieder einer Dichtergruppe töten wollen? Was ist der eisige Wind? Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn erfrösteln ließ wie eine kalte Brise. Wollte etwa jemand die Kunst zerstören? Wer Dichter tötete wegen ihrer Kunst, der würde auch Maler töten. Ut pictura poësis; Malerei ist Dichtung mit Farben, Poesie ist Malerei mit Worten. Sollte beides so verwerflich sein, dass jemand dafür eine Todsünde begehen würde? Die Rede des alten Benediktiners kam Niccolò wieder in den Sinn. Der Künstler, der Schöpfer sein wollte, sündigte. Durch seine Anmaßung verwirkte er sich das Seelenheil. Aber war nicht auch König David ein Dichter, der heilige Evangelist Lukas ein Maler? Haben sie nicht Gott gerade mit ihrer Kunst gedient? Und Bruder Onofrio? Und all die malenden, schreibenden, dichtenden Mönche und Nonnen in den Klöstern? Und die Baumeister und Bildhauer? Sollte sie alle ihr Seelenheil verwirkt haben?

Das konnte nicht sein! Der alte Benediktiner hatte vom himmlischen Jerusalem in dieser Welt gesprochen. Wie sollte ein Paradies aussehen ohne die Freude, die das fertige Werk dem Künstler gab, die größte Freude, die ein Mensch im Leben empfinden konnte?

Suchte hier jemand, dieses Glück zu zerstören? Niccolò musste es herausfinden. Zunächst musste er aber herausfinden, was die Cavalieri eigentlich wollten, was ihre wahren Ziele seien. Den Großmeister, den Apotheker von Assisi, würde er in den nächsten Tagen genauer betrachten, war er doch der Kopf der Gruppe.

Teil 2 – putrefactio



1. Kapitel


Der Sand rieselte in die schneeweiße Masse. „Nicht so schnell!“, mahnte Niccolò. Er rührte in dem mächtigen Kübel bis der Sand verschwunden und die Masse wieder weiß war. Bartolo grinste; es ging dem Freund immer zu schnell. Er selbst konnte nicht verstehen, wie Niccolò Ewigkeiten – wie Bartolo fand – in einem Kübel mit Sand und Kalk herumrühren konnte.

Vor einigen Wochen schon hatten sie den ersten Putz, den Arricio, gemischt und damit das Gewölbe zum Malen vorbereitet. Jetzt wurde der Intonaco angerührt, auch wenn niemand wusste, wann man diesen endlich auf das Gewölbe auftragen und mit dem Malen beginnen könne. Niccolò bereitete das Herstellen des Intonaco aber noch mehr Vergnügen, war doch der Anteil des Kalkes im Vergleich zum Unterputz höher, so dass alle Versuche des Sandes, die weiße Substanz zu verunreinigen, vergeblich waren, er vielmehr völlig aufgesaugt wurde und das Endprodukt ebenso jungfräulich rein aussah wie der Ausgangsstoff.

Heute aber gingen Niccolò Bartolos Sticheleien auf die Nerven: „Lass mich doch, du weißt doch, dass ich Arbeiten gerne gründlich mache. Wir malen schließlich Bilder für die Ewigkeit. Meinst du, ich will, dass in 300 Jahren die Menschen sagen: 'Sieh nur, die Maler damals haben den Putz nicht gut angerührt, da sind Klumpen drin!' Ganz sicher nicht! Constantia, Beharrlichkeit, ist die Tugend all derer, die Großes geleistet haben! Aber davon verstehst du ja nichts!“

Er warf Bartolo einen einen spöttischen Blick zu; von Constantia hatte er erst gestern gelesen in einer neuen Schriftrolle, die Onofrio ihm gegeben hatte.

„Hört den Magister! Constantia!“ Bartolos Laune verdunkelte sich. „Und außerdem, in 300 Jahren sind wir entweder im Himmel oder in der Hölle! Dann interessiert mich doch nicht mehr, was die Leute sagen.“

„Dich nicht, aber mich! Dich interessiert überhaupt nichts, außer schlafen und essen vielleicht. Ständig hast du irgendetwas im Mund und kaust darauf herum. Und du wirst von Tag zu Tag runder!“

Bartolo grinste jetzt nicht mehr. Niccolò hatte recht, das wusste er. Seit einigen Tagen, aß er wirklich das Dreifache des Gewohnten. Es lag wohl am guten Essen beim Meister. Doch hatte er nicht geglaubt, dass Niccolò oder irgendjemand es bemerkte.

Auch Francesco war seit Tagen gereizt. Das Gewölbe war längst verputzt, der Unterputz trotz des feuchten Wetters bereits so trocken, dass man darauf den Intonaco längst hätte anbringen können. Gerne hätte er mit dem Malen begonnen, doch gab es bis jetzt noch nicht einmal Sinopien. Und so schimpfte Francesco über die verschiedenen Schuldigen an dieser Verzögerung. Zuerst war das feuchte Wetter der Freskomalerei nicht zuträglich. Dann wieder entsprach der Sand, mal zu grob, mal zu feucht, nie den Vorstellungen des Meisters. Doch der wahre Grund des Stillstands beunruhigte Francesco mehr als er zugegeben hätte: er wusste einfach nicht, was sie malen sollten. Weder der Kardinal oder sein Kaplan, noch der Ordensgeneral, obgleich er Francesco doch schon lange versprochen hatte, das Programm der Fresken mit ihm zu besprechen, hatte bisher sein Versprechen gehalten. Francesco wusste also nicht mehr als damals, nach dem Gespräch im Bischofspalast. Michele da Cesena hatte ihn seitdem wohl einmal aufgesucht, um ihm darzulegen, dass alles nicht so einfach sei und dass man hier, handele es sich doch um ein heikles Thema, große Vorsicht walten lassen müsse und er deswegen auf keinen Fall anfangen solle, irgendetwas zu malen, ohne alles zuvor ganz genau mit ihm, Michele, besprochen zu haben. Doch bisher hatte es dieses Gespräch nicht gegeben. Beinahe noch größere Unbill aber verursachte Francesco der Umstand, dass seine Eltern vor einiger Zeit ihre Ankunft in Assisi angekündigt hatten, und sowohl der Bischof als auch der Kardinal übereingekommen waren, dieses sensible Thema doch lieber gleich mit Giotto di Bondone selbst zu verhandeln. Der Ordensgeneral hatte dem zugestimmt, und so blieb Francesco nichts anderes übrig, als beinahe tatenlos auf die Ankunft seiner Eltern zu warten.

Lauretta und Beatrice versuchten, ihn aufzumuntern.

„Lieber Mann", sagte Lauretta, „was kümmern dich ein paar Tage, ein paar Wochen vielleicht, im Vergleich zur Ewigkeit? Werden unsere Bilder nicht ewig bleiben? Auch dann, wenn wir längst nicht mehr in diesem Leben sein werden, werden die Menschen sie noch sehen können. Sie werden noch in Jahrhunderten vom Ruhm dieser Kirche, vom Ruhm des heiligen Franziskus, vom Großmut des Kardinals und nicht zuletzt von unserer Kunstfertigkeit künden. Malen wir nicht genau deswegen in den frischen Kalkputz, damit alles ewig hält. Wenn die Tafelbilder längst von den Holzwürmern gefressen sein werden, wenn alle unsere Banner und Fahnen den Motten zum Fraß gefallen sein werden, dann werden unsere Fresken noch in dieser Kirche zu sehen sein und den Menschen von uns erzählen. Was sind dagegen ein paar Wochen?"

„Was nützt mir die Ewigkeit?", gab Francesco missmutig zurück, „vom Ruhm in 100 Jahren kann ich jetzt nicht meine Maler bezahlen. Sieh doch nur mal hin! Sie machen fast nichts, sie genießen ihr Leben. Aber wenn die Sonne untergeht, dann wollen sie doch, dass ihre Teller gefüllt sind."

Beatrice sprach dagegen den praktischen Verstand ihres Bruders an: „Oh Francesco, denk doch mal ein bisschen nach! Wir müssen doch nicht tagelang herumsitzen. Du musst auch deine Lehrjungs nicht mit allerlei unnützen Arbeiten beschäftigen, nur damit sie was zu tun haben. Mit scheint, die Werkstatt war noch nie so sauber wie in diesen Tagen.

Aber warum fangen wir nicht einfach an? Wir wissen nicht, was wir malen sollen, richtig? Wir wissen nicht, ob wir Gold brauchen oder eher Ultramarin. Aber wir wissen, dass wir in jedem Falle mit Sinopien beginnen müssen. Lass uns doch schon mal die rote Erde besorgen. Wir wissen nicht, was wir in den Rippen des Gewölbes malen sollen, aber sicher werden die Bilder doch von geometrischen Figuren eingerahmt sein? Lass uns doch einstweilen die Rahmenmuster entwerfen. Wir wissen auch, dass wir in jedem Falle menschliche Figuren malen werden. Bereiten wir doch also schon einmal das Cinabrese zu, das wir für das Inkarnat brauchen werden. Lass uns doch zuerst einmal auflisten, was wir alles besorgen müssen."

Francesco musste zugeben, dass Beatrice Recht hatte. Er stimmte seiner Schwester zu, selbstverständlich nicht ohne einen gebührenden Disput mit Widerreden und Schlussfolgerungen seinerseits, so dass am Ende die gute Idee von ihm, dem Meister und Vorstand der Werkstatt, zu stammen schien.

Und so begann man, zu planen und Rechnungen aufzustellen, von Beatrice schriftlich festgehalten. Man einigte sich, die Vorräte des Apothekers von Assisi zu inspizieren. Der Apotheker sei ein hochgelehrter Mann, versicherte Francesco sogleich, und Bice und Chiara sollten ihn noch am gleichen Tage aufsuchen.

Niccolò horchte auf, als er vom Apotheker reden hörte. Er bot sogleich an, die Schwestern zu begleiten, wisse er doch genauer, welche Farben zu besorgen seien. Beatrice runzelte die Stirn, doch Francesco stimmte, schneller als Niccolò es erwartet hatte, zu.

Im öffentlichen Bad genoss der Bischof von Assisi an jenem Morgen ein warmes Wannenbad, während Diener ständig heißes Wasser aus Kübeln nachgossen und ihn außerdem mit Rotwein, getrockneten Früchten und Weizenbrot versorgten. Tebaldo da Pontano liebte diese Bäder. Das warme Wasser vertrieb für einen Moment Schmerz und Kälte aus seinem Körper und brachte seine Körpersäfte wieder in das für die Gesundheit so notwendige Gleichgewicht. Er mochte den Duft der verschiedenen Essenzen, die über dem Feuer hängende Tiegel verströmten, und der den Charakter des Außergewöhnlichen und Feierlichen noch verstärkte. Er liebte den Frieden, der sich seines Geistes bemächtigte, wenn er sich die leckeren Kleinigkeiten zuführte und es sich gleichzeitig an diesen genügen ließ.

Nicht immer war er von diesem Frieden beseelt gewesen. Auch im Leben des Bischofs gab es eine dunkle Episode der Sünde und des Irrglaubens. Die heilige Maria Magdalena hatte ihn in jenen Tagen zur Umkehr geleitet. Seitdem verband ihn eine tiefe Dankbarkeit mit der Heilligen, weshalb er ihr die Kapelle in der Kirche von San Francesco gestiftet hatte. Die heilige Frau schenkte ihm dafür Seelenfrieden, den er besonders in den Momenten verspürte, in denen der Leibhaftige ihn zu versuchen trachtete.

Auch Salvestro de' Moriconi besuchte die Bäder häufig, bedeutete das warme Wasser seinen ständig schmerzenden Knochen doch eine große Linderung. Sein Schwiegersohn Ranieri begleitete ihn fleißig, jedoch schien die Menge der flüssigen Substanz, die durch seine Kehle rann, die noch zu übersteigen, in der er seinen Körper badete. Die gefälligen Dienerinnen des Badehauses wirbelten seine Seele ebenso wie das Wasser im Badebottich auf. Den freundlichen Salvestro erfreute das Verhalten Ranieris wenig, doch sah er es auch als Zeichen der Achtung seiner tugendsamen Tochter gegenüber, der derartige Exzesse damit zumindest erspart blieben. Messer Salvestro bemühte sich ansonsten, keine Notiz vom wilden Treiben seines Schwiegersohns zu nehmen. Und so wählte er sich, kaum dass ihm ein Diener vom Dasein des Bischofs berichtet hatte, einen Badebottich in dessen Nähe und nur durch einen Vorhang von jenem getrennt, als glaubte er, am Seelenfrieden des Bischofs schon durch die räumliche Nähe teilzuhaben. Dem Bischof freilich gab er sich aus Gründen der Diskretion nicht gleich zu erkennen.

Ein Jüngling, dessen schlanker Körper ebenso wie seine Gesichtszüge durch eine ungewöhnliche Wohlgestalt auffiel, legte den Bottich mit frischem Tuch aus, füllte ihn mit warmem Wasser, verteilte anmutig Rosenblätter auf der Oberfläche des Wassers und eilte gleich darauf in die Küche, um verschiedene Leckereien für den Besucher zu besorgen. Als Messer Salvestro seine schmerzenden Glieder im warmen Wasser ausstreckte, empfand er eine solche Erleichterung, dass er mehrfach wohlig seufzte.

„Herrlich“, sagte er schließlich laut, „welch köstliches Vergnügen ist doch ein warmes Bad! Das einzige, das uns alten Männern noch vergönnt ist!“

Als ihn aber ein trauriger Blick des wohlgeformten Jünglings traf, fügte er leise hinzu:

„Nun, das einzige wahre, unschuldige. Sagen wir, das einzige, das deinem Geist auch hinterher noch Frieden lässt.“

„Ihr redet wohl, lieber Messer Salvestro“, ertönte da die Stimme des Bischofs, „doch glaubt Ihr nicht auch, dass ein irdisches Vergnügen nur deswegen als ein solches empfunden wird, weil es uns einen Vorgeschmack des himmlischen Vergnügens ahnen lässt, das unermesslich viel reicher, tiefer und dauerhafter sein wird?“

„Seid gegrüßt, Exzellenz“, antwortete Messer Salvestro, „ja, meint Ihr wirklich, das neue Leben im himmlischen Jerusalem sei ein ewiges warmes Bad?“

„Lieber Messer Salverstro, Ihr habt manchmal den Geist eines Kindes. Was sicher kein Schaden ist, heißt es doch: 'Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder ...' und so weiter, und so weiter, Ihr kennt es ja. Aber könnt Ihr Euch nicht das Vergnügen vorstellen, ohne dabei an die Sache zu denken, die Euch das Vergnügen bereitet? Das reine Vergnügen! Denkt Euch das Vergnügen ohne einen Anlass, die Freude, die ins Herz dringt und von ihm Besitz ergreift, ohne nach etwas zu fragen, ohne noch etwas anderes zu wollen. Das ist die Freude, die den erwartet, der ins himmlische Jerusalem eintritt. Ihr werdet keiner warmen Bäder mehr bedürfen, die Schmerzen des Leibes werden verschwunden sein; wir werden einen neuen Leib bekommen und der wird den Schmerz nicht kennen ...“

„Verzeiht, Exzellenz, darf ich die Gelegenheit ergreifen, Euch noch eine kindliche Frage zu stellen?“

„Nur zu.“

„Wenn wir dereinst in jener Herrlichkeit sein werden, werden wir uns dann des Leides und der Mühen des diesseitigen Lebens erinnern? Denn wenn wir uns nicht erinnern, wird uns dann die Herrlichkeit dort wirklich so herrlich vorkommen, wenn wir doch nur sie und nicht das Leid kennen? Wenn wir uns aber an das Leid in diesem Leben erinnern, wird dann die Freude des jenseitigen Lebens nicht doch immer vom Gedanken an das Leid und damit von Traurigkeit begleitet und deswegen eben nie vollkommen sein?“

„Werter Messer Salvestro“, der Bischof atmete tief und machte eine Pause, „Ihr stellt fürwahr die Fragen eines Kindes. Denn natürlich werden wir uns an das Jammertal erinnern, das dieses Leben einst gewesen ist. Genau aus dem Grunde, den Ihr selbst anführt, wird uns das Leben dort dann um so süßer vorkommen. Und warum sollte diese Freude wohl von Traurigkeit begleitet sein, wenn doch die schwarze Galle, die die Melancholie hervorbringt, keine Macht mehr über uns hat?“

„Das leuchtet mir wohl ein, verehrter Bischof. Dennoch gibt es Erinnerungen, die, sobald sie mich heimsuchen, obgleich sie lange Jahre zurückliegen, den schwarzen Schleier der Melancholie über meinen Geist legen, ganz gleich wie sehr er zuvor in Frieden war. So wie jetzt, da der schwarze Dunst gerade mein Gemüt verdunkelt, weil ich Euch davon erzähle. Und so geht es jedes Mal, die dunklen Mächte kommen, sie kommen ohne sich vorher anzukündigen, sind dann plötzlich da und versetzen mich in tiefste Schwermut!“ Messer Salvestro seufzte.

„Mein lieber Sohn, was sind das für Gedanken, die Euch so beherrschen?“, fragte der Bischof.

„Nun, Exzellenz, es gibt diese Dämonen, wenn ich an manche Leiden denke, die der Herr mir auferlegt hat. Ich weiß wohl, dass Leiden auch ein Geschenk unseres Vaters sind, dass es unsere Aufgabe ist, sie geduldig zu ertragen. Und ich glaube, ich habe das Joch, das Er mir auferlegt hat stets mit Freude getragen. Ich denke nur an die Zeit, als ich als kleiner Junge, wild und aufbrausend wie der Herbstwind, die ständigen Schmerzen des Körpers zu bekämpfen suchte. Ich habe mich nie darüber beklagt. Nicht über die Qual meiner verformten Knochen, nicht über die Drangsal, die meine Seele litt, wenn mich die anderen Jungs deswegen verhöhnten. Nein, das war mein Joch, und ich war glücklich, dass der Herr mir ein solch großes Gewicht zu tragen gab.

Als Er mich dann trotz meiner körperlichen Entstellung eine schöne Frau ehelichen ließ, da dankte ich Ihm mit der größten Freude im Herzen, im Glauben, dies sei der Lohn für die Schwere meines Leidens. Ich liebte mein Weib von ganzem Herzen, und sie mich. Doch wie Ihr vielleicht wisst, schenkte sie mir vier Kinder, von denen nur noch meine Tochter am Leben ist. Meine Tochter ist mir ein Quell tiefen Glücks, doch wenn ich an meine anderen Kinder, an meine Frau denke ...

Als unser erster Sohn, kaum den Windeln entwachsen, starb, da trösteten wir uns mit dem Glauben, dass das ertragene Leid die Herzen für umso größere Freude öffne. Als der zweite Knabe geboren wurde, gesund und kräftig, und ein Jahr später Ginevra, da lebten wir wirklich und wahrhaftig im Paradies. Aber dieses Glück hielt nicht lange an. Kaum mehr als ein weiteres Jahr kam meine Frau wieder mit einem Knäblein nieder. Dieser war schwächlich. Er überlebte die Geburt nur um wenige Stunden und riss seine Mutter mit sich in den Tod. Aber selbst in jener Zeit der tiefsten Trauer versuchte ich, auf den Herrn zu vertrauen und mich an den beiden gesunden Kindern, die mir geblieben waren, zu erfreuen.

Bis dann, in jenem schrecklichen Winter, Ihr erinnert Euch vielleicht, beide das Fieber bekamen. Ginevra kämpfte einen heftigen Kampf, und erholte sich nach einiger Zeit. Nicht aber ihr Bruder. Und so hatte ich in wenigen Jahren, alle, die mir lieb und teuer waren – außer meiner Tochter – verloren.

Ihr werdet nun sagen, Exzellenz, das seien Leiden, die vielen Menschen widerfahren, und das ist zweifelsohne wahr. Doch Ihr als Mann der Kirche könnt das Leid nicht einmal erahnen, das ein Mann fühlt, wenn er sein totes Kind in den Armen hält. Wenn das Fleisch, eben noch rosig und prall, fahl und kalt wird. Wenn der kleine Mund, der tags zuvor noch fröhlich plapperte und dich mit tausenderlei Fragen löcherte, plötzlich still ist, und du einsehen musst, dass nie wieder eine Frage aus ihm kommen wird. Die Äuglein, die gerade noch neugierig alles in sich aufsaugten, geschlossen sind und du weißt, dass sie sich nie wieder öffnen werden. Nein, das sind Leiden, die Euch erspart bleiben, und ich sage Euch, es sind die schlimmsten, die ein Mann auf dieser Erde ertragen muss. Alles andere ist nichts dagegen, ob Hunger oder Krankheit oder sonstige Gebrechen. Und es wird kein noch so großes Glück geben, dass mich diese Schrecken vergessen machen könnte!“

„Lieber Messer Salvestro, Ihr werdet Eure Söhne doch wiedersehen, wenn Ihr dereinst ins himmlische Jerusalem eingehen werdet!“

„Ja, aber wie werden sie sein? Wird mein Sohn immer noch ein fünfjähriger Knabe sein? Wird er immer noch allerlei Käfer und Gewürm in seinen Taschen spazieren tragen? Oder ist er inzwischen ein Mann? Und wenn er ein Mann ist, wer hat ihm dann die Dinge beigebracht, die ein Mann können muss, wie reiten oder schießen oder vielleicht sogar lesen? Ich sicher nicht, denn ich habe seinem Heranwachsen nicht beiwohnen können. Wird er mich überhaupt noch als seinen Vater erkennen, wenn er mich so lange Jahre nicht gesehen hat? Wenn er aber immer noch der fünfjährige Knabe ist, der von mir gegangen ist, wird er dann noch ein Mann werden? Kann er denn all die Jahre mit dem Wachsen gewartet haben, oder wird er immer ein fünfjähriges Büblein bleiben? Ja, Exzellenz, ich freue mich wirklich, meine Frau wiederzusehen, auch wenn sie inzwischen eine alte Frau sein mag und ihre Schönheit nicht mehr die gleiche wie damals. Dennoch wird sie wieder meine Frau sein. Aber die Kinder, die im zarten Alter von uns gehen, sind auf immer verloren!“

„Mein Sohn, ich sehe, die Leiden um Eure Kinder zerfressen immer noch Eure Seele. Doch lasst sie nicht auch Euren Glauben verschlingen! Wir werden in der höchsten natürlichen Vollkommenheit auferstehen! Vielleicht wird Eure Gattin eine alte Frau sein, doch wird sie schöner sein als sie es je auf Erden war. Ist nicht der reife Körper so viel vollkommener als der jugendliche?“

Messer Salvestro verstand nicht ganz, wollte etwas sagen, doch der Bischof redete schon weiter:

„Ja, und so werden wir kein Alter mehr haben, keine Unvollkommenheiten (denn was ist die Jugend denn anderes als Unvollkommenheit, die nach Vervollkommnung strebt und deswegen reift). Und hat uns nicht der heilige Paulus versichert: 'Christus selbst wird den Leib unserer Niedrigkeit umgestalten und dem Leib seiner Herrlichkeit gleich gestalten vermöge der Kraft, mit der er sich auch alles unterwerfen kann'. Und auch der heilige Johannes schreibt in seiner Vision: 'Trauer und Klage und Mühsal wird nicht mehr sein; denn das erste ist vergangen.'

Wie könnt Ihr also zweifeln? Ihr werdet eure Söhne wieder sehen, doch werden sie keine kleinen Kinder mehr sein, denen man die Windeln wechseln muss, sondern sie werden Engel sein. Wie auch Ihr ein Engel sein werdet, und alle Eure jetzigen körperlichen Gebrechen werden von Euch genommen sein, wenn Ihr nur an Christus glaubt. Und damit natürlich an die eine heilige, katholische und apostolische Kirche und an den heiligen Vater Papst Johannes!“

Doch diese letzten Worte perlten bereits an Messer Salvestro ab. Zu sehr beschäftigte ihn der Gedanke an sein eigenes gerade beschriebenes Leid als dass er sich eine Linderung von diesem erhofft hätte. Nach so vielen Jahren war die Trauer um seine kleinen Söhne so sehr ein Teil von ihm selbst geworden wie seine ständigen körperlichen Schmerzen. In manchen Momenten dachte er sogar fast mit Erleichterung an den schmerzlichen Verlust, so als lindere das Baden in der Seelenqual seine körperlichen Qualen. Und in diesen Momenten liebte er seinen Seelenschmerz.

Auf dem Weg zur Apotheke beschleunigte Beatrice, angetrieben vom Schneeregen und dem Wunsch, Niccolò abzuhängen, ihren Gang immer mehr. Niccolò trabte schweigend ein bis zwei Schritte hinter ihr her, während Chiara sich teils rennend mühte, mit der Schwester mitzuhalten, wobei sie obendrein pausenlos plapperte:

„Weißt du, Lello, mein Igel, hat war heute Morgen so hungrig, dass er einen ganzen Haufen Würmer gefressen hat. Er hat sich so gut erholt, der Kleine. Ich wünschte, der Winter und die Kälte gingen nie vorbei, damit Lello für immer bei uns bleiben könnte. Wäre es nicht schön, wenn immer Winter wäre?"

„Immer Winter! Bist du toll?", die Vorstellung ließ Beatrice erschaudern, „immer diese Kälte und diese Dunkelheit! Ich kann es gar nicht abwarten, dass der Frühling kommt und es wärmer und heller wird, und wir nicht mehr mit diesen schweren Mänteln herumlaufen müssen, die vom Regen und vom Schnee immer nur noch schwerer werden ..."

„Aber Bice, der Winter ist doch so schön! Gerade weil es immer dunkel ist, sind die wenigen Stunden des Tages, an denen wir Licht haben, umso schöner. Und wenn wir jetzt vor Weihnachten abends Lichter anzünden, dann ist das so feierlich. Und stell dir vor, wenn erst richtiger Schnee kommt, dann machen wir Schneeballschlachten, und wie das so herrlich knirscht, wenn man durch den frischen Schnee stapft oder sich gar ganz hineinwirft …"

„Ja, du wirfst dich wieder in frischen Schnee! Dann werden deine Kleider drei Tage lang nicht trocken. Und die Lichter, die unserer Schwägerin jeden Abend so großzügig anzündet, scheinen mir doch die reine Verschwendung. Sogar Kerzen nimmt sie! Weißt du, was Kerzenwachs kostet? Nur an wirklich hohen Feiertagen sollte man Kerzen anzünden."

„Ist nicht jeder Tag vor der heiligen Weihnacht ein hoher Feiertag, wenn wir die Ankunft unseres Herrn erwarten?"

Den schwesterlichen Disput als Begleitmusik, erreichte die kleine Gruppe die Apotheke. Doch kaum hatten sie die Schwelle übertreten, vergaßen die Schwestern alle Zwistigkeiten. Auch wenn weder Niccolò noch die beiden Mädchen zum ersten Mal eine Apotheke betraten, – denn natürlich gab es in Florenz Apotheken – überwältigte sie doch dieser Raum. Unter dem mit geometrischen Formen freskierten Gewölbe standen entlang der drei Wände Regale aus dunklem Holz, deren oberer Abschluss mit Schnitzereien versehen war. In den Fächern der Regale reihten sich Flaschen, Fialen, Tiegel und sonstige zum Teil bizarr anmutende Behälter. Einige diese Gefäße waren aus kostbarem Material gefertigt, andere handwerkliche Meisterstücke aus Keramik mit feinen Zeichnungen. Auf den meisten klebten Schilder mit einer klaren und filigranen Kalligraphie. Dem Eingang gegenüber stand der Verkaufstisch mit der großen Waage und den nach ihrer Größe sortierten Gewichten, die wie Kohlestifte in einer frisch aufgeräumten Werkstatt in einer Reihe standen. Das herrlichste aber war der Geruch! Sie versuchten, die Düfte einzelner Kräuter zu erkennen, doch es war die Sinfonie der verschiedenen Essenzen, die den Nasen, die seit Tagen nur Schimmel, Feuchtigkeit und Schmutz vernommen hatten, dieses Vergnügen bereitete.

Ein Mädchen – sie mochte etwa in Chiaras Alter sein – kam den dreien entgegen.

"Seid gegrüßt, was führt euch zu uns?"

"Meister Francesco, der Meister der Fresken von San Francesco, unser Bruder, schickt uns", antwortete Beatrice, "wir kommen, einige Farben zu besorgen: grüne Erde, verschiedenen Ocker, ein wenig Morellone und roten Bolus vielleicht, außerdem ein bisschen Mastix."

"Ja, wartet einen Moment", sagte das Mädchen, "ich hole meinen Papà." Sie verschwand durch eine Tür im hinteren Teil des Ladens, aus der sie bald danach mit einem Herrn zurückkehrte.

"Die Schwestern des Meisters, seid mir gegrüßt!", empfing Bonaventura Guidotti, der Apotheker, die beiden, und Beatrice war als kenne sie seine Stimme, "euer Bruder schickt euch, Farben zu besorgen? Ich habe verschiedene Steine und Erden. Kommt nur mit, ich zeige sie euch!"

Die Drei folgten ihm und seiner Tochter in den Raum, aus dem er gerade gekommen war. Auch hier wimmelte es von Gefäßen und Behältern, jedoch ließen sie jede Ordnung vermissen. Seltsame Geräte, Glaskolben und Schläuche waren in den kleinen Raum gestopft, als wollten sie diesen sogleich zum Platzen bringen, um dadurch ihre Freiheit wiederzuerlangen.

Beatrices Blick aber blieb an einem Schreibpult hängen. Auf diesem Pult lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein weiteres Buch lag geschlossen daneben, und auf einem Wandregal darüber gab es noch vier Bücher, sowie verschiedenen beschriebene Papierrollen. Dieser Apotheker besaß Bücher! Noch nie hatte Beatrice so viele Bücher gesehen, sie hatte bisher geglaubt, nur die großen Klöster besäßen Bücher. Doch hier gab es sechs Bücher! Der Apotheker musste ein sehr reicher Mann sein, wenn er sich eine eigene Bibliothek leisten konnte! Verstohlen näherte Beatrice sich dem Schreibpult, um wenigstens einen Blick auf den kostbaren Gegenstand werfen zu können. Die Tochter des Apothekers sah ihre Neugier mit Stolz:

"Es ist die Naturalis historia", erklärte sie, "eine sehr erhellende Schrift."

"Kannst du etwa lesen?", fragte Beatrice und ihre Selbstsicherheit schwand zunehmend. Sollte es wirklich außerhalb von Florenz Mädchen geben, die lesen können?

Messer Bonaventura antwortete an Stelle seiner Tochter: "Ich habe Federica das Lesen beigebracht, auch die Sprachen der Alten, Latein und Griechisch, in denen die Bücher geschrieben sind. Wisst ihr, ich habe keinen Sohn. Wem soll ich also meine Erkenntnisse vererben, wenn nicht meiner Tochter? Dabei habe ich die Entdeckung gemacht, dass der Geist des Weibes dem des Mannes nicht naturgemäß nachsteht. Ja, ich würde sogar behaupten, dass ein Mädchen, wenn man ihm nur die gleiche Erziehung zukommen ließe wie einem Jungen, zu ebensolchen geistigen Leistungen fähig wäre. Stand nicht die heilige Katharina von Alexandrien an Gelehrsamkeit allen Männern voran? Und bedeutet das nicht, dass der Schöpfer die Gabe des Geistes zumindest unabhängig vom Geschlecht verteilt?

Aber, wenn ich mich recht erinnere, ist euer werter Herr Vater in diesem Punkte durchaus meiner Meinung. Seid nicht auch ihr, seine Töchter, literalisiert?"

Beatrice und Chiara sahen sich fragend an. Federica erklärte: "Er meint, ob ihr lesen und schreiben könnt?"

"Oh, ja, ja …", stammelte Beatrice, "ich ..., wir können schreiben, wir sind Florentinerinnen, aber ..., das hier, das ist eine schwierige Sprache."

"Es ist Latein, die Sprache der Bücher, die Sprache der Gelehrten. Eine klare und logische Sprache. Doch sie ist nicht so schwer zu verstehen, wenn du einmal ihren Aufbau durchschaut hast. Kommt uns doch mal besuchen, dann versucht ihr, einen der Texte zu lesen. Federica freut sich immer, wenn sie Gespielinnen in ihrem Alter findet. Und ich bevorzuge es, sie ihre Zeit mit Mädchen mit Verstand verbringen zu sehen. Ihr habt vielleicht bemerkt, dass Personen mit Verstand, seien sie nun des einen oder des anderen Geschlechts, derzeit rar gesät sind."

Er redete noch weiter, während er ihnen die verschiedenen Ocker und farbigen Erden zeigte. Wie im Traum sah Beatrice ihm zu. Die Terra verde, die grüne Erde, hatte die Farbe von frischem Salbei, die Ocker leuchteten in allen Abstufungen von Gold bis zum warmen Rot eines sommerlichen Mohnfeldes. Selbst der Morellone, der manchmal zu sehr ins blau-gräuliche tendierte, strahlte heute in einem kräftigem Tiefrot. Vergessen waren Kälte, Schmutz und Feuchtigkeit. Es gab nur noch diesen Raum, diese Farben, diese Gelehrsamkeit.

„Ihr kauft sehr viel Bolus“, bemerkte Messer Bonaventura, „habt ihr denn so viele Heiligenscheine zu vergolden?“

„Nun, nein, es scheint ...“, Beatrice lächelte verlegen, „womöglich will der Kardinal alles vergoldet haben, wie bei einem Tafelbild.“

„Er will goldene Hintergründe? Was wird euer Vater dazu sagen? Hat er nicht in der Kapelle des Herrn Scrovegni, wo er die Malerei endgültig vom Griechischen ins Lateinische übersetzte, gezeigt, dass ein Maler nahezu ohne Gold auskommt? Einzig bei den Nimben mag es noch angehen ...“

„Das sagt der Babbo auch immer“, fiel Beatrice ein, „und wohl deswegen trägt unser Bruder Francesco uns auf, noch kein Gold zu kaufen. Unsere Eltern kommen ja bald nach Assisi. Einstweilen sollen wir nur ein bisschen Ultramarin mitbringen.“

„Jaja, das blaue Gold“, sagte Messer Bonaventura, während er ein paar der tiefblauen Brocken auf die Waage legte. „Ist es nicht erstaunlich, welche Kostbarkeiten Mutter Erde uns schenkt?“
„Mutter Erde?“ Jetzt horchte auch Niccolò auf. Der Satz klang, als hätte fra' Maso aus dem Eremo ihn formuliert.

„Ja, genauso wie die Pflanzen wachsen doch auch die Steine und Metalle, diese auf ihrer Oberfläche, jene im Innern, wie ein Kind im Mutterleib. Weil die Erde aber ein riesiger Mutterleib ist mit einer zahlreichen Kinderschar, dauert das Wachstum jener viel länger. Die Pflanzen bietet die Mutter uns großzügig an ihrer Oberfläche dar. Doch geben wir uns etwa mit diesem Geschenk zufrieden? Nein, wir müssen in ihre Eingeweide eindringen. In ihre Adern graben wir uns und höhlen sie damit komplett aus. Wir leben dann auf dem ausgehöhlten Erdreich und wundern uns auch noch, wenn die Erde auseinander klafft, zittert und bebt. Dabei ist das doch genau der Ausdruck ihrer Entrüstung! Wir bedenken nicht, was das für ein Ende nehmen wird, wenn in vielen Jahrhunderten unsere Mutter gänzlich erschöpft und ausgebeutet sein wird. Was werden die Menschen, die dann auf der Erde leben, von uns denken?“

„Ihr sagt, die Steine wachsen in der Erde wie Kinder im Mutterleib?“ Niccolò hatte immer geglaubt, alles, was auf oder in der Erde zu finden ist, sei einfach da. Noch nie hatte er darüber nachgedacht, wo es herkommen könnte.

Messer Bonaventura reichte ihm den kleinen Behälter mit den blauen Steinen. „Was werdet ihr in der Werkstatt mit diesen Steinen machen?“

Niccolò verstand nicht.

„Ihr könnt doch nicht mit Steinen malen! Wie verarbeitet ihr sie?“

„Ja, wir, wir mahlen sie zuerst im Bronzemörser, dann auf Porphyr; das Pulver, das geben wir dann in einen Topf zusammen mit Fichtenharz, Mastix und Bienenwachs, zuerst aber das Harz und das Wachs, und stellen diesen Topf auf eine kleine Flamme, wenn alles zerlaufen ist, geben wir das blaue Pulver hinzu ...“

„Feuer also, das warme trockene Feuer, das erste Element, muss seine Wirkung entfalten. Wie geht es dann weiter?“

„Wenn dann alles eins ist, eine dunkle, fast schwarze Masse, dann kneten wir es gründlich mir den Händen durch. Zum Schluss formen wir daraus kleine Kuchen und lassen diese mindesten drei Tage stehen, besser länger, wobei wir sie jeden Tag erneut durchkneten ...“

„Die Luft, das zweite Element, wirkt auf das Werk ein. Was passiert dann?“

„Wenn die Kuchen trocken und hart sind, dann geben wir sie in einen Topf mit warmer weißer Lauge, wir kneten sie wieder mit den Händen durch, wir rühren mit einem Holzstab in der Lauge herum. Irgendwann wird die Lauge blau ...“

„Da haben wir das dritte Element: Wasser. Weiter!“

„Das muss man dann mehrmals wiederholen, mehrere Tage, immer wieder, wenn das blaue Pulver sich am Boden des Gefäßes absetzt, muss man es neu aufmischen. Ganz am Ende wird es dann durch ein Tuch gesiebt, damit die Lauge langsam abtropft und das Farbpulver zurückbleibt.“

„Die Erde, das vierte Element, wird extrahiert. Hast du gesehen, alle vier Elemente müssen auf diese Steine einwirken, sie müssen sie alle durchlaufen, bis ihr endlich die Eigenschaft nutzen könnt, die doch das Wesen dieser Steine ausmacht, nämlich ihre blaue Farbe. Du fragst jetzt sicher, was das mit der Mutter Erde zu schaffen hat?“

Niccolò nickte und der Apotheker redete weiter: „Im Schoße der Erde muss alles seine Entwicklung durchlaufen, den Einfluss der vier Elemente in der richtigen Folge durchleiden, damit das entsteht, was entstehen soll. Auch die Planeten üben ihren Einfluss aus, wie ihr wisst; zum Wachstum des Kupfers beispielsweise ist der Einfluss der Venus notwendig, der des Mondes für das Silber, die Sonne für das Gold. Genauso wie die Elemente und die Planeten auf die Menschen wirken, Jupiter hier einen jovialen Charakter, Mars dort einem kriegerischen Gemüt seine Züge aufprägt, so ist auch die Ausprägung der mineralischen Dinge vom Samen des Wirkstoffes abhängig. Wie der Same des Vaters bei der Zeugung dem ungeformten Kind seine Ausprägung verleiht.

Und was machen wir, wir Künstler, Handwerker, die wir etwas schaffen wollen? Wir gehen genauso vor wie die Natur. Wir ahmen sie nach. Wir wissen nicht, welcher Same die Mutter Erde befruchten musste, damit diese schönen blauen Steine wachsen könnten. Aber wir wissen, dass wir die Steine den gleichen Prozessen unterziehen müssen, damit wir ihre Farbe nutzen können. Wir müssen die Natur nachahmen. Nur wenn wir die Natur ganz genau nachahmen, so wie ein Affe seinen Herrn nachahmt, nur dann können wir selbst etwas hervorbringen.“

Messer Bonaventura hätte wahrscheinlich noch lange weiter geredet, wenn nicht Federica in diesem Moment zwei weitere Besucher ankündigte: "Papà, Bruder Bernabò und Bruder Alberto sind hier."

Zwei Mönche im Habit der Franziskaner traten ein. Einen der beiden kannten die drei bereits aus dem Konvent von S. Francesco. Es war der junge Bibliotheksgehilfe Bruder Alberto. Er trug zwei schwere Folianten unter dem Arm, die er Messer Bonaventura überreichte: „Herr, ist das das Werk?“ Bonaventura nickte, und Bruder Alberto blickte sogleich verschämt zu Boden. Die vielen Menschen, vor allem die unerwartete Präsenz der drei jungen Mädchen, machten den jungen Mönch so verlegen, dass er fortan kein Wort mehr sprach.

Der ältere der beiden dagegen begrüßte Messer Bonaventura wie einen alten Freund, scherzte mit Federica und begrüßte auch Niccolò, Beatrice und Chiara. Es war Bruder Bernabò da Bevagna, der dem Klostergarten von S. Francesco vorstand und den Apotheker mit dessen Produkten belieferte.

„Seht nur, was für einen schönen Meerrettich ich heute Morgen geerntet habe!“, sagte er stolz und hielt eine Pflanze in die Höhe, „ich habe natürlich sofort an Euch gedacht, Messer Bonaventura. Wenn Ihr die Blätter trocknet und die Wurzeln in frischen Sand einschlagt, dann habt Ihr im nächsten Frühjahr die schönste Medizin gegen Erkältungen und Verstimmungen.“

„Fürwahr“, gab Messer Bonaventura zu, „das sind wirklich vortrefflich gewachsene Pflanzen ihrer Art! Ich danke Euch vielmals, fra' Bernabò, der Meerrettich kann wirklich den Kranken gesund machen. Doch kann er sogar, wenn er von Gesunden eingenommen wird, gewisse tödliche Krankheiten von ihm fernhalten und das Leben verlängern.“

Während die beiden sich noch eine Zeit lang in ihr fachliches Gespräch vertieften, verließen Niccolò, Beatrice und Chiara, die Apotheke nicht ohne sich noch mehrere Male umzudrehen. Federica begleitete sie zur Tür und forderte die Schwestern auf, doch recht bald wiederzukommen.

Astrolabio da Salerno missbilligte die Badelust des Bischofs. Zu nah – gefährlich nah – kam sie der Sünde der Genusssucht. Dabei ließ er die Argumente seines Herrn nicht gelten, die Bäder verliehen seinen schmerzenden Glieder Linderung und außerdem sei er, der Bischof von Assisi, der Besitzer der Badestube bei den Quellen von Moiano, der Pachtzins, den der Bader zahle, käme damit also der heiligen Mutter Kirche zu Gute. Denn für Astrolabio zählte weder die Erleichterung körperlicher Schmerzen, da diese doch nur eine besondere Gnade Gottes waren und daher freudig ertragen werden sollten, noch die Einnahmen, die das öffentliche Bad dem Bischof und der Kirche brachte. Er hielt das häufige Baden schlichtweg für einen Exzess der Wollust. Und obschon er wusste, dass diese Art Wollust im Falle des Bischofs eine lässliche Sünde darstellte, sparte er nicht an missmutigen Bemerkungen.

Trotz dieser in regelmäßiger Frequenz geäußerter Missbilligungen genoss aber auch Astrolabio die Zeit, die der Bischof im Bade verbrachte, bot sich ihm doch die Gelegenheit, seiner Forschungsarbeit nachzugehen. Er war stolz (eine lässliche Sünde) auf das Offizin; er hatte es im Keller des Hauses des Baders bei den Quellen von Moiano eingerichtet. Wenngleich es in Assisi besser ausgestattete Offizine gab, erlaubte es ihm doch, sich einigermaßen ungestört seinen Studien zu widmen.

Wenn sich nun die Badezeit des Bischofs ihrem Ende zuneigte, stieg er stets etwas früher die Treppen zum Hof hinauf, begab sich von dort in die Küche und ließ sich von Mariuccia, der Ehefrau des Baders Vitellozzo hereinbitten, um von den delikaten Vorräten aus deren Speisekammer zu kosten, welche sie ihm geflissentlich anbot. Heute kam er sogar noch zeitiger als sonst hinauf. Doch als Astrolabio durch den Kücheneingang eintrat, fand er dort statt Mariuccia den Hausherrn selbst vor.

„Werter Bruder Astrolabio“, sagte der Bader mit seiner nuscheligen Stimme, „Ihr wisst, ich habe Euch immer gerne in meinem Haus. Und ich bin auch mit Freuden Euer Diener, aber ich weiß gerade nicht, ob das noch weiter sein kann.“

„Was?“, fragte Astrolabio.

„Euer Diener. Ich mach' das gern, was Ihr von mir wollt, aber zur Zeit, Ihr wisst, die Zeiten sind nicht gut, alles ist teurer geworden, der Bischof will jetzt mehr Pachtzins, und der Kataster ...“

„Wie viel brauchst du?“, Astrolabio blickte Vitellozzo mit seinen eisgrauen Augen an. Dieser ließ sich aber keineswegs einschüchtern, erzählte noch mehr von Teuerungen und dem Personal, das so unverschämt sei, sein Gehalt zu fordern, nannte schließlich eine Summe, die Astrolabio ihm ohne weitere Worte auf den Tisch legte. Vitellozzo bedankte sich unterwürfig, rief sofort nach seiner Frau und wies diese an, die üblichen Kleinigkeiten – diesmal sogar etwas mehr als das Gewohnte – zu servieren und versicherte dem Benediktiner, alles werde zu seiner Zufriedenheit erledigt, er solle ganz beruhigt sein.

„Ich bin stets ruhig“, konstatierte Astrolabio, „du hast aber die richtige Person gefunden, auch für das, was jetzt kommt? Du weißt, es ist ein Unterschied, jener war nur ein Elementarlehrer dieser aber ... Auch wenn sie diese ... nun ... diese Sache gemeinsam haben. Es ist etwas anderes.“

„Ihr werdet staunen!“, versicherte Vitellozzo und schrie seiner Frau etwas Unverständliches zu. Mariuccia verschwand daraufhin sofort, und wenig später betrat der wohlgestaltete Jüngling, der zuvor Messer Salvestro so eifrig zu Diensten war, den Raum. Er blickte schamhaft zu Boden, während sich Astrolabio vor ihm aufbaute.

„Du weißt bereits, was du zu tun hast?“ Der Jüngling nickte fast unmerklich.

„Herr, es ist doch gut gegangen beim letzten Mal, oder? Niemand hat irgendeinen Verdacht geschöpft“, versicherte an seiner Stelle Vitellozzo, „glaubt mir, er wird die Aufgabe zum Besten erledigen, er ist ...“

„Nun gut“, unterbrach ihn Astrolabio, „nimm das“, er überreichte dem Jüngling ein kleines Tongefäß, „und mache alles genauso wie dir gesagt wird.“

Zu Vitellozzo gewandt sagte er noch: „Mein Herr, wir sehen uns nach vollbrachter Tat wieder. Bemüht Euch nicht, ich finde den Weg“, und verließ die Küche, um den Bischof, der inzwischen sein Bad vollendet haben musste, abzuholen.

Niccolò gab sich redlich Mühe, er wollte die Schrift studieren. Constantia mit gepanzertem Herzen war in ein Buch vertieft; vier Widrigkeiten griffen sie an. Superbus, die Überheblichkeit, ein gerüsteter Krieger, versuchte es ebenso vergebens wie Corruptio, ein alter Mann mit goldenen Münzen. Nicht einmal die schöne Blanditia, die Schmeichelei, die anmutig auf einer Laute musizierte, oder Consanguinea, das Kind an ihrem Rockzipfel, konnten das Studium der Constantia stören. Niccolòs Gedanken dagegen wurden ständig von einer Widrigkeit (vielleicht avocatio?) in eine andere Richtung gezogen. Die wichtigsten Dinge aus dem Text wollte Niccolò sich auf einem Blatt notieren wollte, doch seine Ränder waren bereits voll gezeichnet mit allerlei seltsamen Gegenständen. Einen Ofen hatte er gezeichnet, rund wie ein Turm mit einem kegelförmigen Dach. Ein anderer Turm, bestehend aus aufeinander gestapelten zwiebelförmigen Töpfen zierte den gegenüberliegenden Rand des Blattes. Zangen, Trichter, Hasenpfoten, Glasbehälter mit Armen, Ohren und Rüsseln hatte er über das ganze Blatt verteilt. Dabei wunderte er sich über das Aussehen einiger Geräte erst jetzt, als er sie zeichnete. Da gab es einen gläsernen Behälter, der aus zwei aufeinander gesetzten Kugeln bestand, die wiederum durch zwei gläserne Röhrchen miteinander verbunden waren. Das Gerät hatte die Form einer fülligen Frau, die die Arme in die Hüften stemmt. Was konnte man mit diesem Ding wohl anstellen? Wohl konnte man in der unteren Kugel eine Substanz erhitzen, so dass diese in die obere Kugel stieg. Dort aber würde sie durch die Glasarme sogleich wieder in die untere Kugel hinab sinken, um dort erneut mit der Ursprungssubstanz vermischt, erhitzt werden und wieder aufsteigen. Ein ewiger Kreislauf ohne Ende. Wozu sollte das gut sein?

„Ich sehe, unser junger Magister studiert.“ Niccolò fiel der Stift aus der Hand. Er hatte den Herankommenden nicht bemerkt. Es war Ranieri di Giacomo, der Tuchhändler, dem Niccolò wohl ein oder zwei Mal bei einer Versammlung der Cavalieri begegnet war, der aber bisher noch nie mit ihm geredet hatte.

„Ja, Constantia, die Tugend der Hartnäckigen. Du hast sie wohl verstanden.“ Dabei richtete er seine Augen auf Niccolòs Zeichnungen. Sein vertraulicher Ton lies Niccolò erstarren. „Nein“, versuchte er sich zu rechtfertigen, „nein ich bin heute nicht weit gekommen. Das ist nur Gekritzel, so nebenbei gemacht.“

Warum interessierte dieser Ranieri sich wohl für seine Studien?

2. Kapitel


Längst war das Lied im Dunkeln verklungen. Francesco erzählte von der Schrift, die er in Leones Haus nicht habe finden können, man müsse herausfinden, wer ins Haus eingedrungen sei und sie gestohlen habe.

„Das bedeutet aber doch“, folgerte Aloisio, der Bildhauer, mit seinem deutschen Akzent „wir müssen den Mörder finden. Nur er kann die Schrift mitgenommen haben.“

Salvestro de' Moriconi wandte ein: „Cavalieri, ihr seid so sicher, dass der Kanzler ermordet wurde. Wenn nun aber der Podestà und seine Männer richtig liegen? Sie sind doch der Ansicht, Meister Leone habe sich selbst zu Tode gegeißelt und, wenn es sich wirklich so verhielt, dann wäre es müßig, nach einem Mörder zu suchen. War Meister Leone nicht ein Mann von großer Frömmigkeit, der die Übungen der Buße sehr ernst nahm? Trug er nicht stets den Bußgürtel voll mit Spitzen und Dornen? Es könnte doch so sein, wie der Podestà ...“

„Die unseligen Nachahmer dieses Peruginers Ranieri“, fiel Messer Bonaventura ihm ins Wort, „diese Büßer, die glauben, Gott vergebe ihnen ihre Sünden, wenn sie sich nur eifrig Schmerzen zufügten, sich selbst peitschen, stachelige Hemden tragen und Dornenkronen, Bußwerkzeuge aus Eisen, Bußwerkzeuge aus Holz, die Schmiede und Tischler freuen sich über das blühende Geschäft ...“

„Nicht Nachahmer Fasanis sind sie, sondern Nachahmer Christi!“ unterbrach ihn Bruder Onofrio, „das Leiden Christi ist es, es ist das Tor, durch das wir zu ihm gelangen. Ranieri Fasani ist ein Vorbild, aber das Leiden Christi ist das wahre Vorbild, sowie die Natur das Vorbild für uns Künstler ist. Nur wenn wir selbst das leidende Menschsein Christi durchschreiten, können wir ihm wahrhaft gleich werden. Die Imitatio Christi verlangt, Christus in der Bedrängnis und den schmerzvollen Leiden ähnlich zu werden.“

„Lieber Marschall, Disziplin und Lehre sind dein Gebiet“, gab Messer Bonaventura mit ruhiger Stimme zurück, „und Zurückhaltung in weltlichen Dingen ist dir schon als Mönch eigen. Aber sage mir, wo hat Christus je von sich aus das Leiden gesucht? Betrachte den Herrn, wie er vom Abendmahl sich erhebt und nach Beendigung der Abschiedsreden mit seinen Jüngern in den Ölgarten geht! Demütig und ehrfurchtsvoll wirft er sich auf die Knie, um zum Vater zu beten. Auch zuvor hat er schon gebetet, doch stets als unser Anwalt beim Vater. Hier aber betet er für sich. Kniet da wie ein gewöhnlicher Mensch aus dem Volk und betet zum Herrn. Um was betet er aber? Den bitteren Todeskelch möge der Vater von ihm hinweg nehmen! Die furchtbaren Schmerzen der Kreuzigung sollten erspart bleiben! Glaubst du daher wirklich, Bruder Onofrio, Christus habe das Leiden gesucht, gewollt oder gar geliebt wie diese Flagellanten meinen? Und wie viel größer ist daher sein Gehorsam gegen den Vater und die Liebe des Vaters zu uns! Hätte Christus nämlich das Leiden gesucht, dann wäre doch nur sein eigener Wille geschehen. Er hätte die Passion nicht für uns sondern für sich selbst angenommen. Hätte der Vater aber das Todesurteil über seinen Sohn aufgrund des Willens des Sohnes erfüllt, dann hätte er uns nicht diese unfassbare Liebe gezeigt.

Es kann also nicht Gottes Wille sein, dass wir uns selbst Leid zufügen. Genügt nicht das Leid, das uns ohne unser Zutun begegnet? Hat sich Hiob etwa selbst gegeißelt? Er ertrug das Leid, das Gott ihm auferlegte und stand deswegen in Seiner Gnade. Ihr Mönche und Einsiedler aber entflieht eurem vorgesehenen Leid. Glaube einem Mann, der in der Welt lebt, lieber Bruder, das Leid, das dir im Leben begegnet ist unvergleichlich größer als die Schmerzen, die die Peitsche verursacht. Ihr verzichtet darauf, andere Menschen zu lieben und entgeht so dem Leid des Verlustes. Ihr fügt euch dann ein paar Qualen zu, indem ihr euch mit allerlei Werkzeugen traktiert. Doch diese Schmerzen sind nichts gegen die Schmerzen, die einen Menschen in der Welt erwarten.

Das Leid der Hölle wollen sie voraus nehmen und hoffen, dadurch von der Hölle verschont zu bleiben. Sie bezahlen einen Vorschuss, um hinterher nicht zur Kasse gebeten zu werden. Das ist die Sicht eines Kaufmanns. Doch wer sagt, dass Gott ein Kaufmann ist? Und glaubt ihr denn wirklich, ihr könntet eine Schuld von vielen Goldflorin mit wenigen Denaren begleichen?“

„Wir können unsere Schuld nie begleichen, auch Ihr nicht!“ Onofrio war aufgesprungen, „die Erlösung ist immer ein Akt der Gnade, niemand kann sie sich verdienen! Ja, wir gehen ins Kloster, um dem Teufel zu entrinnen. Den größten Teufel aber nehmen wir mit, und das ist der Bruder Esel, unser Leib. Doch kann unser Körper auch ein Spiegel sein, ein Spiegel des Körpers Christi. Wir lesen von seinem Leiden in der Schrift, wir vollziehen es im Geiste nach, indem wir es uns immer und immer wieder vorstellen. Wir betrachten die Bilder seines Leides solange, bis die Schmerzen Christi auch unseren Leib quälen. Und wir fügen uns Schmerz zu, weil wir nur so den verborgenen Sinn der Schrift erfassen. Durch das Blut, das aus unserem Körper spritzt, haben wir Teil am Erlöser. Der Vater wird mit dem Wohlgefallen auf uns herabschauen, das er auch seinem Sohn entgegenbrachte, soll auch uns als seinen Sohn annehmen. So wie er seinem Sohn Franziskus den Seraph sandte, weil die Glut der Liebe des Franziskus zum guten Jesus sich zu einem lodernden Feuer und zur Flamme entfacht hatte, dass noch so viele Wasserströme seine starke Liebe nicht auslöschen konnten. Sein glühendes Verlangen und sein Mitleiden trugen ihn selbst wie einen Seraph zu Gott empor. Weil aber Franziskus' Seele beim Anblick des Gekreuzigten vom Schwert schmerzlichen Mitleidens durchbohrt wurde, wurden an seinen Händen und Füßen die Wundmale der Nägel sichtbar und an seiner rechten Seite klaffte die Wunde als sei sie von einer Lanze durchstoßen worden und das Blut spritzte aus ihr!“

„Du redest recht, Bruder Onofrio, doch lässt du das Wesentlichste aus: Warum wurde Franziskus diese Erscheinung zuteil? Franziskus wusste doch, das Leidensfähigkeit mit der Unsterblichkeit des Seraphs nicht vereinbar war. Doch es war nicht der Martertod des Leibes, der Franziskus zum Bild des gekreuzigten Christus umgestaltete, es war die Glut des Geistes. Franziskus hat sich nie selbst gequält allein um des Schmerzes willen. Wenn es ihn nach dem Martyrium verlangte, dann zog er in die Welt, wie damals, als er nach Syrien hinüber fahren wollte, um den Sarazenen den christlichen Glauben zu bringen. Gottes Wille verhinderte dies, als Er ein Unwetter sandte, dass kein Schiff in diese Richtung fuhr. Das Verlangen nach dem Martertod trieb Franziskus dann nach Marokko. Doch bereits in Spanien rief Gott ihn durch eine Krankheit von der begonnen Reise zurück, weil Er den Martertod seines Kindes nicht wollte.“

„Und als Franziskus sich in eine eisige Grube geworfen und darin geblieben ist, der Schmerzen an den frostigen Gliedern nicht achtend ...“

„... um die fleischliche Versuchung abzutöten, die zuweilen auch die heiligsten Männer befällt. Bruder Onofrio, hast du dich jemals gefragt, warum es der Wille des Vaters, der uns geschaffen hat, sein sollte, dass wir den Körper zerstören, den Er uns doch gegeben hat, damit wir in dieser Welt leben können? Ist denn der Körper nicht die Wohnstätte der Seele aus Adern, Knochen und Fleisch? Keine Stelle des Körpers ist ohne Seele, weil die Seele mit ihrer eigenen Wärme den ganzen Körper durchströmt. Wer dem Körper Schmerzen zufügt, quält daher die Seele, die doch der Strahl Gottes in uns ist. Und ich sage dir noch mehr, lieber Bruder: nicht schwächen sollen wir unseren Bruder Esel, wie du ihn nennst, sondern stärken und gesund erhalten müssen wir ihn, damit er, der doch für den Teufel anfällig ist, diesem widerstehen kann.“

Mit leiser Stimme mischte sich nun Francesco wieder ein: „Aber wenn es keinen Mörder gibt, wer hat dann die Schrift, und brauchen wir sie nicht …?“

„Lieber Francesco, du hast recht, wir sollten unsere Zeit nicht mir sinnlosem Streit verbringen“, Messer Bonaventura drehte sich zu den anderen Versammelten, „seid zuversichtlich, Messer Leone besaß nur einen Teil des Werkes, genau wie ihr. Wer immer diesen Teil an sich genommen hat, wird damit nichts anfangen können. Nur wer alle Kapitel besitzt, kann damit die Menschen erlösen oder – “, er blickte in Francescos erschrockenes Gesicht, „vernichten.“

„Aber wer diesen Teil nun besitzt, ist nicht nur ein Mörder, er wird doch auch weiter suchen wollen, um die gesamte Schrift an sich zu bringen?“, wandte Francesco ein.

„Wenn Meister Buoninsegna das Geheimnis über Jahrhunderte verbergen konnte, dann können es die Cavalieri jetzt auch eine Zeitlang hüten. Wäre es aber Gottes Wille gewesen, es ans Licht zu bringen, dann wäre dies schon lange geschehen. Irgendwann, und vielleicht ist der Zeitpunkt wirklich nicht mehr fern, werden die Menschen davon erfahren und dann betet, dass sie es nicht verstehen.“

Die Frau in dem blauen Gewand sitzt zurückgelehnt in ihrem Sitz und blickt ins Weite. Sie liest nicht in einem Buch, wie Constantia. Bonaventura dachte an das Buch des Francesco da Barberino. Viele Jahren ist es her, dass er es studieren musste und noch heute ist das erste Buch der Novizen der Cavalieri. Nein, die Frau liest, was in keinem Buch geschrieben steht. Sie liest die Natur. Sie liest Gottes Spuren, nur durch seine Spuren kann sie ihn erkennen. Über die Spuren, die Zeichen seines Wirkens, tritt der Makrokosmos in den Mikrokosmos ein und erzeugt darin eine Erscheinung seiner selbst. Bilder sind es, die sich unserer Seele einprägen, Bilder, die, wenn sie uns gefallen, auf das Urbild selbst verweisen, dann können wir die ewige Zeugung des Wortes in ihnen erkennen. Doch Erkennen ist auch Abschied. Die Frau blickt in die Ferne, denen nach, die sie zurücklässt, den Tugenden. Jetzt ist sie aus der Leibeigenschaft befreit durch den vornehmen Adel der Liebe. Jetzt endlich verspürt sie kein Verlangen mehr. Sie lebt nach den evangelischen Räten Keuschheit, Gehorsam und Armut. Deswegen sieht sie ihnen nach, den Tugenden, die davon treiben wie Theseus, der Ariadne allein zurücklässt, die jedoch nicht verzweifelt, wissend um den Samen des Geliebten, der in ihr heranreift.

Messer Bonaventura erinnerte sich an das leuchtende Blau des Gewandes, die kaum erkennbaren Goldpartikel im Haar der Frau, alles deutete auf lange Übung und große Geschicklichkeit des Malers hin.

„Sollte er nicht nur ein herausragender Gelehrter sondern auch noch ein exzellenter Maler sein, dieser Buoninsegna? Um alle diese Fähigkeiten zu erwerben reichte ein Leben wohl kaum aus“, dachte Bonaventura. Oder war es doch ein anderer, der die Miniaturen ausgeführt hatte?

„Doch jetzt muss die Braut sich von ihrem Bräutigam trennen, weil er nicht ihr ewiger Gemahl ist. Sie sitzt und beobachtet, sie bleibt allein zurück. Lass die Lösung, die du zuvor gemacht hast, mindestens vier Tage stehen bis sie schwarz wird. Die Schwärze gleicht dem Mist, aber darin liegt das Gold. Behandle sie vorsichtig, damit die Blume nicht verbrennt. So wie Gott in den Dingen ist als Gegenwart, als Wesen und als Macht, aber von der Natur versteckt ist, steckt das Gold im Mist.“

Den Mist holte Bonavantura jetzt hervor. Schwarz und übelriechend war die Substanz. Sie unterschied sich kaum von den anderen schwarzen und übelriechenden Substanzen, die er bei seinen verschiedenen Versuchen in der Vergangenheit hergestellt hatte. Das zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg sein konnte. Zuerst musste man die Urmaterie wieder herstellen. Aus der Materia prima war alles gemacht, was war. Nur indem man dieser die richtige Form aufprägte, konnte das Gold entstehen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich an dem großen Werk versuchte; aber es konnte das letzte Mal sein. Der eisige Wind tobte. Meister Leones Tod war ein deutliches Zeichen. Doch wenn dieser Weg wirklich der richtige war, dann hätte der eisige Wind keine Macht mehr. Dann wäre er besiegt! Wenn aber der eisige Wind zuschlage, bevor er das Werk vollendet hatte, dann war alles umsonst, sein Werk und auch sein Leben!

Die Urmaterie! Bonaventura füllte die schwarze Masse in einen Behälter. Es kam ihm plötzlich falsch vor. Warum schrieb Buoninsegna wohl von dieser Pflanze, Bunchum? Nur im richtigen Mist war Gold. Es ging nicht ohne diesen Bunchum. Er musste aus Buoninsegna herausbekommen, was das für eine Pflanze war! Wie aber konnte er vorgehen? Buoninsegna bestechen? Womit konnte man jemanden bestechen, der nichts bedurfte? Ihm schmeicheln und dann zum unüberlegten Reden verführen? Wie konnte er aber die Eitelkeit einer Person bedienen, wenn diese Person so völlig frei von Eitelkeit war? Und doch, es musste etwas geben! In seinem Leben war Bonaventura noch niemandem begegnet, der wirklich frei von Stolz war, nicht einmal unter den heiligsten Männern. Sind die Armen denn nicht stolz, der Armut zu dienen? Und die Demütigen wetteifern miteinander, wer wohl der Demütigste aller ist. Selbst der heilige Franziskus konnte es kaum ertragen, wenn ein Anderer ärmer war als er selbst. Den Weisen verbot ihre Weisheit, stolz zu sein, und das war ihr Stolz!

Ranieri klopfte an die Tür der Sakristei von S. Pietro. Er klopfte ein zweites Mal heftiger als zuvor, erst jetzt forderte die bekannte Stimme ihn auf, herein zu treten.

„Ihr habt lange nichts von Euch hören lassen. Gibt es dafür einen Grund?“

Ranieri grinste etwas verlegen: „Nein, es ist eher so, dass nichts Wichtiges passiert ist. Sie versammeln sich nicht mehr. Sie arbeiten nur noch, und das, obgleich Francesco ständig darüber jammert, dass es keine Arbeit für ihn gibt. Nichts ist passiert. Es sei denn ...“

„Was?“

„Nun, eine Kleinigkeit, sicherlich vollkommen unbedeutend ...“

„Berichtet dennoch!“

„Ja, wisst Ihr, dieser Jüngling, der eine der Florentiner, der in die Gruppe der Cavalieri aufgenommen wurde, der Dunkelhaarige, er und sein Freund hängen ständig mit Bruder Onofrio zusammen ...“

„Kommt endlich zum Punkt!“

„Ja, ich weiß eigentlich gar nicht, ob das ein Punkt ist, der der Erwähnung wert ist ...“

Ranieri sah, wie der Winkel in der Oberlippe seines Gegenübers zu zucken begann, und beeilte sich nun weiter zu reden:

„Ich sah vor einigen Tagen, wie er Geräte zeichnete, die man nur in einem Offizin finden kann, im Offizin eines Mannes, der sich mit der schwarzen Kunst befasst. Versteht Ihr?“

„Ich glaube nicht, dass dieser Bericht mein Auffassungsvermögen übersteigt. Was schließt Ihr daraus?“

„Dass er bei ihm im Offizin war.“

„Nun, das sollte nicht wundern. Er ist Maler. Die Maler kaufen ihre Farben bei ihm, das Offizin ist irgendeine Rumpelkammer in seinem Haus. Außerdem haben sie den Jüngling als Novize in ihre Gruppe aufgenommen. Er wird also schon mal in seinem Laden gewesen sein.“

„Ja, ich sagte ja, es hat wohl keine Bedeutung.“ Ranieris Stimme wurde leiser, schließlich sagte er nichts mehr. Astrolabio sah ihn regungslos an. Beide schwiegen. Während das Schweigen Ranieri aber zunehmend unruhiger machte, verharrte der Andere in eisiger Ruhe. Ranieri suchte nach einem Thema, über das er reden konnte. Endlich fragte er, weniger aus Interesse als vielmehr, um das bedrohliche Schweigen zu unterbrechen:

„Sagt Herr, woher wisst Ihr eigentlich, dass die Schrift hier in Assisi ist?“

„Das ist so naheliegend wie das, was Ihr mir gerade erzählt habt“, antwortete Astrolabio mit dem Ton eines Elementarlehrers, der gerade zum zwölften Male die Methode der Division erklärt, „der Autor stammt aus Assisi, Buoninsegna d'Assisi nannte er sich damals in Salerno. Er hatte stets ein großes Vertrauen zu den Franziskanern, wohl weil er sie seit seiner Kindheit kannte, wie alle, die hier aufwachsen. Oft redete er von seiner Heimatstadt und vom Franziskanerkonvent. Besonders bei den Festen der Studenten, wenn der Wein seine Zunge gelockert hatte, pries er die Stadt der Zwillinge, die Stadt, in der alles doppelt ist. Ich bin daher sicher, dass er, als er spurlos verschwand, die Schrift zuvor in seiner Heimatstadt versteckt hat.“

„Meinte er Assisi mit der Stadt, in der alles doppelt ist? Und warum muss er die Schrift versteckt haben? Kann er sie nicht mitgenommen haben? Oder vielleicht hat er sie auch verbrannt?“

„Ihr habt Buoninsegna nicht gekannt. Das war kein Mann, der Jahre seines Lebens für ein Werk aufwendet, von dem er glaubt, dass es die Menschheit erlösen werde, und dieses Werk dann einfach verbrennt. Dazu war er viel zu hoffärtig. Er glaubte fest, der Retter aller Sünder zu sein, allen voran seiner selbst als dem vorrangigsten Sünder. Wegen dieser Hoffart und seiner ketzerischen Lehren verfolgte ihn auch die Inquisition. Nie hätte er jedoch von seinen Erkenntnissen abgelassen, noch weniger sie vernichtet. Lieber ist er vor Folter und Scheiterhaufen geflohen.“

„Aber warum sollen gerade die Cavalieri, dieser Haufen schwärmerischer Poeten, an eine so wichtige Schrift kommen?“

„Die Cavalieri sind ein vielköpfiges Ungeheuer. Schlägt man einen ihrer Köpfe ab, wächst irgendwann ein neuer nach. Allerdings ist nicht jeder ihrer Köpfe mit der Gabe des Denkens beschenkt. Vielmehr ist es nur einer, der für alle anderen das Denken übernimmt.“

„Wie könnt Ihr so sicher sein, dass das gerade er ist?“

„Weil ich ihn gesehen habe, damals in Salerno. Er war sehr vertraut mit Buoninsegna, er hatte ihn bei seinen Reisen durch Europa an anderen Orten kennengelernt. Wenn er nach Salerno kam, dann zog sich Buoninsegna mit ihm gleichsam in eine Einsiedelei zurück und war für niemanden von uns Studenten zu sprechen. Doch nicht nur Buoninsegna d'Assisi war er begegnet, sondern einigen der wichtigsten Gelehrten unserer Zeit. In England, sagte man, habe er sich mit dem Schotten, den sie Doctor subtilis nannten, getroffen und dessen häretische Lehre geteilt, von den zehn Geboten seien nur die ersten drei notwendig, die anderen könnten auch anders sein. Lehren, die den verrückten Franziskanern wohl gefallen, wird damit doch auch eine Welt ohne Privateigentum möglich. Das ist übrigens ein weiter Grund dafür, dass die Schrift hier in Assisi sein muss. Warum sollte ein so welterfahrener und weitgereister Mann wie dieser Guidotti sich sonst gerade in Assisi niederlassen?“

„Wenn wir also die Schrift finden, dann können wir die Menschen erlösen?“

„Wir? Was Euch angeht, frage ich mich, ob Ihr sie überhaupt lesen könnt! Buoninsegna war doch kein Trottel. Er hat eine so wichtige Schrift sicher nicht in einfacher Sprache geschrieben. Er beherrschte selbst so viele Sprachen, nicht nur Latein, Griechisch, Hebräisch und was man so an der Universität lernt. Nein, er beherrschte auch die Sprache der Araber, der Sarazenen und sogar die der Briten, wenngleich das kaum eine Sprache zu nennen ist.“

„Aber warum wollt Ihr die Schrift denn finden? Wollt Ihr die Menschen erlösen?“

„Was glaubt Ihr? Seht Ihr denn nicht, dass das schon die schlimmste aller Todsünden ist, zu glauben, man könne die Menschen von ihren Sünden reinigen? Das kann allein Gott! Auch wer glaubt, er können den Menschen in dieser Welt das Leben angenehmer machen, versündigt sich bereits. Superbia! Nein, nichts davon können wir, nichts davon dürfen wir. Das Leiden in diesem Leben hat Gott uns auferlegt, um uns auf das ewige Leben vorzubereiten. Wir dürfen niemandes Leiden erleichtern, niemandes Krankheit heilen, niemandem seine Last abnehmen. Wir zerstören und durchkreuzen damit den göttlichen Plan. Das wird nicht, das kann nicht ungesühnt bleiben!

Nein, wer je dieses Kompendium der Hochmut und der Überheblichkeit findet, muss es vernichten. Sollte es ein gebundenes Buch sein, darf er es nicht öffnen, ist es eine Rolle, darf er sie nicht aufrollen, sondern muss das Machwerk, will er nicht die ewige Verdammnis riskieren, sofort den Flammen übergeben!“

3. Kapitel


Weitere Tage vergingen, ohne dass den Malern mitgeteilt wurde, was sie malen sollten. Nach den Feiertagen von Weihnachten und Epiphanias nahm Francesco einige Aufträge von Bürgern an. So war man in der Werkstatt damit beschäftigt, Truhen, Fahnen, Wappenschilde und manchmal auch einen Hausaltar zu bemalen.

Beatrice war es recht, bot sich ihr doch so die Gelegenheit, den Apotheker noch häufiger aufzusuchen. Die Farben, die für das Malen auf Holz oder auf Tuch verwendet wurden, unterschieden sich von denen, die die Freskomaler verwendeten. Sie und Chiara nutzten daher jede Gelegenheit, die verschiedenen Grundstoffe wie Zinnober, Bleiweiß, Rauschgelb und allerlei Leime zu besorgen. Chiara verband längst eine innige Freundschaft mit Federica, der elfjährigen Tochter Messer Bonaventuras. Gerne zogen sich die beiden Mädchen zurück, tuschelten miteinander und tauschten Geheimnisse aus. Chiara erzählte der Freundin von ihren Tieren und davon, dass ihre Liebe zu den Tieren von den anderen Familienmitgliedern oft belächelt wurde. Federica stimmte ihr zu, dass Tiere unserer besonderen Zuwendung bedurften, auch wenn sie keine Vernunftseele besaßen.

"Aber gerade deswegen, liebe Chiara", sagte sie, "weil sie im Rang unter uns Menschen stehen, müssen wir uns um die Tiere kümmern. Wünschen wir uns nicht auch die besondere Zuwendung der Engel, die doch weit über uns stehen?"

Federica zeigte Chiara – und manchmal auch Beatrice – die Bücher, die ihr Bruder Alberto aus der Bibliothek des Konvents mitbrachte. Aber nicht einmal Federica selbst konnte alle Bücher lesen, waren sie doch in den verschiedensten Sprachen abgefasst. Und Bruder Alberto schien besonders gerne Bücher in seiner eigenen Sprache zu liefern. Doch waren die Bücher oft schön bebildert, so dass man den Geschichten auch folgen konnte, wenn man den Text nicht zu lesen vermochte. Die Mädchen wunderten sich immer wieder, welche Bücher in der Bibliothek des Konvents eines Ordens aufbewahrt wurden. Da gab es Romane, Liebesromane, deren Inhalt nicht etwa die Liebe zum Schöpfergott war, sondern die weltliche, niedere und sündige Liebe.

"Dürfen die Mönche so etwas lesen?", fragte Beatrice einmal erstaunt.

"Ich glaube nicht", mutmaßte Federica, "aber sie bewahren die Bücher in ihren Bibliotheken auf. Vielleicht dürfen es auch nur die Mönche lesen, die bereits im Lichte der Heiligkeit stehen und deren Seelen keinen Schaden mehr nehmen können an derartigen Geschichten."

Die Vorstellung, Bücher zu lesen, an denen die Seele eines Mönches Schaden nehmen könne, ließ die Mädchen erschauern und häufig gingen Beatrice und Chiara nach diesen Besuchen in die Kirche, um für etwaige sündige Gedanken Abbitte zu leisten.

Einmal brachte Bruder Alberto eine Handschrift mit feinen Miniaturen, die sogleich die Neugier der Mädchen erweckte. Der Text war obendrein in ihrer Sprache abgefasst und nicht in Latein, was die Lektüre so leicht und so vergnüglich machte wie frische Erdbeeren im Frühling. Die Bilder zeigten einen jungen Ritter wie er sich einem geflügelten Amor unterwarf. Die Schrift erzählte wie dieser Durante – so nannte sich der Ritter – dem Amor mitten im kalten Januar begegnete, von diesem selbst gewarnt wurde ob der Leiden, die er seinetwegen ertragen werde; dennoch folgte der Ritter entschlossen seinem geflügelten Führer in einen Garten.

Als der Ritter aber angezogen von einer schönen Blume seine Hand nach dieser ausstreckt, wird er von einem groben Gesellen, der sich ihm als Ekel, der Gärtner, vorstellt, daran gehindert und aus dem Garten geworfen. Zwischendurch macht eine andere Gestalt, die Vernunft, dem Ritter arge Vorwürfe, weil er sich so leicht dem Herren Amor unterworfen habe. Doch freundliche Wesen, Mitleid und Offenherzigkeit, kommen dem Ritter zur Hilfe und schließlich lässt der kauzige Ekel ihn wieder in den Garten, nötigt ihm aber das Versprechen ab, die Blume nicht zu pflücken. Die Liebesgöttin Venus selbst setzt sich dann für den Ritter ein, und erreicht bei der Herrin der Blume, der schönen Gastfreundschaft, dass er die Blume zumindest küssen darf. Leider aber haben Eifersucht und Keuschheit die Unholde Angst, Scham und die böse Nachrede geschickt, die Blume zu bewachen, so dass der Ritter sich des Nachts heimlich heranschleichen muss. Als Durante dann endlich die Blume küsst, wird er von der bösen Nachrede erwischt und des Gartens verwiesen, seine Helferin, die schöne Gastfreundschaft, sperrt man in eine Burg.

Eine Miniatur in leuchtenden Farben zeigte sie betend in einem Turm sitzen, sich von dem zinnoberrotem Hintergrund hell abhebend. Doch war der Turm seinerseits noch von einer quadratischen Mauer umgeben, diese bewachten die vier grimmigen Wesen: Ekel, Scham, Angst und böse Nachrede.

Im nächsten Bild dagegen sah man die Vernunft, die vor Durante kniete. Der Text erzählte, wie sie ihn anflehte, doch vom Streben nach der Blume abzulassen und statt dessen sie selbst – die Vernunft – zur Herzensdame zu erwählen. Doch Durante weist sie schweren Herzens zurück.

Es ist schließlich Amor, der dem schmachtenden Durante zur Hilfe kommt, indem er ein Heer zur Einnahme der Burg der Eifersucht aufstellt. Jeweils zwei seiner Krieger überwältigen einen der Wächter; den schlausten und kühnsten von ihnen, Angst, besiegen Kühnheit und Sicherheit. Es entsteht ein Gemetzel, und als Durante gerade nach der Blume greifen will, ist Ekel plötzlich wieder zur Stelle. Angst und Scham werfen den armen Durante nieder und schlagen ihn auf grausamste Weise. Doch endlich greift Amor selbst ein; er handelt einen Waffenstillstand von zwanzig Tagen aus, damit Zeit sei, die Göttin Venus zu suchen. Venus lässt schließlich die Burg anzünden, so dass die Bösewichte Ekel, Scham und Angst fliehen müssen, und Höflichkeit, Mitleid und Offenherzigkeit die schöne Gastfreundschaft aus der brennenden Burg befreien können.

Das letzte Bild zeigte Durante, die gepflückte Blume in der Hand auf einem Thron sitzend, wie er seinem Heer dankt.

„Was für eine schöne Geschichte!“, schwärmte Federica.

„Warum haben die nur alle so seltsame Namen?“, fragte Chiara, „wie Angst und Scham und Höflichkeit und ...“

Federica erklärte: „Ja, verstehst du das denn nicht? Das sind doch keine wirklichen Wesen, sondern das sind die Seelenkräfte. Die Geschichte erzählt, was in unserer Seele vorgeht, wenn wir verliebt sind!“

Plötzlich hörten sie eine Stimme von draußen: „Nah ist der große Tag seines Zorns!“

Chiara erschrak, aber Federica lächelte.

„Torsolo!“, hörten sie Messer Bonaventuras Stimme, „komm rein, aber mäßige dein Gedonner ein wenig, du erschreckst unsere Gäste. Ihr kennt doch wohl unseren Torsolo?“, wandte er sich an Beatrice und Chiara. Chiara nickte, erleichtert, dass es sich nur um den Dorftrottel handelte.

Bonaventura geleitete Torsolo wie einen lang erwarteten Gast zum Tisch. Federica holte ihm bald darauf eine Schale mit dampfender Suppe, sowie Brot und Wein.

„Solange er am Essen ist, erzählt er wenigstens nichts vom Untergang der Welt“, flüsterte sie daraufhin Beatrice zu, „er macht mir manchmal Angst mit seinen Geschichten.“

Beatrice sah immer noch die Bilder in dem Buch mit ihren ungewöhnlich kräftigen Farben an und sagte: „Heißt das, es ist alles ein Kampf, wenn wir verliebt sind? Es brennt in uns so wie die Burg brennt, und wenn alle unsere Seelenkräfte sich ständig untereinander prügeln und sich nie einig sind, wie können wir dann irgendetwas beschließen oder denken?“

„Wenn du verliebt bist, kannst du das nicht. Du bist dann nur noch hin- und hergerissen, wie im Sturm einer Schlacht!“

„Warum weißt du das?“, fragte Chiara, „warst du schon einmal verliebt?“

Doch Beatrice zog die Augenbrauen zusammen: „So, du fliegst also willenlos herum wie ein Blatt im Herbst. Aber nennen nicht die Menschen die Liebe das schönste und das beste, was uns im Leben passiert?“

„Das ist es sicher, aber Sturm und Kampf ist die Liebe für die Männer. Wir Frauen sind wie die Rose in der Geschichte. Wir müssen warten, bis der Ritter unseres Herzens sich durch den Sturm seiner Seele zu uns gekämpft hat. Wir müssen ...“

Torsolo löffelte die letzten Tropfen der Suppe aus dem Napf.

„Bring unserem Gast noch etwas Wein, Federica“, rief Messer Bonaventura, zu seiner Tochter geneigt fügte er leise hinzu: „Verdünne ihn diesmal mit weniger Wasser!“

„Was für ein köstliches Mahl du mir wieder serviertest, lieber Bonaventura, ein wahrer Genuss.“

„Er wird immer ein Rätsel für mich bleiben“, dachte Bonaventura, „einerseits kann er tagelang nichts essen und scheint dabei nicht mal Hunger zu verspüren, anderseits genießt er eine Speise, ohne diese gierig herunter zu schlingen, auch wenn er seit Tagen nichts gegessen hat. Er wird sich hinterher nicht geißeln oder seine Sünde des Genusses sonstwie büßen.

„Was glaubst du, wie lange ist es noch bis dahin?“

„Bis wohin?“

„Bis zum Tag Seines Zorns.“

„Ach bis dahin, nicht mehr lange. Du fürchtest den Tag doch nicht etwa?“ Torsolo wischte sich mit einem der Fetzen, die um seinen Leib hingen, über den Mund.

„Wie könnte ich ihn nicht fürchten? Jeder fürchtet doch das Ende!“

„Ich nicht.“

„Nein, du vielleicht nicht, aber das ist etwas anderes. Du hast ...“

„Ich habe nichts mehr zu verlieren, das meinst du. Ja, ich bin frei“, unterbrach ihn Torsolo, „doch was hast du denn zu verlieren, oder jeder andere? Unser Leben auf der Welt ist doch irgendwann zu Ende, und wenn wir ein paar 1.000 Jahre ins Fegefeuer müssen, ist es dann nicht besser, wir fangen damit früher an, dann sind wir früher wieder draußen. Alles, was du hast, ist irgendwann weg, also gib es doch gleich her, dann kannst du es nicht mehr verlieren.“


„Wir sollen mal wieder gar nichts machen!“, ereiferte sich Beatrice, „wir sollen nie irgendetwas machen und doch sind die Männer ohne uns zu nichts in der Lage. Seht euch doch nur mal unseren Bruder an! Und was haben wir am Ende davon? Dieser Durante hätte doch das Angebot der Vernunft annehmen können, dann hätte er mit ihr an seiner Seite vielleicht ein glückliches Leben führen können. Aber er hat sie verstoßen, um diese Blume zu pflücken, die in seiner Hand schon anfängt zu verwelken. Seht ihr“, sie zeigte auf die Miniatur, „sie lässt bereits ihren Kopf hängen. Nennst du das Liebe, das, was du liebst, langsam zu zerstören?“

Wirklich, als Federica das Bild noch einmal aufmerksam betrachtete, sah auch sie, dass die Blume ganz leicht und kaum merklich die roten Blütenblätter zu neigen begann.

Verwirrt sah sie Beatrice an und fragte leise: „Meinst du also, es ist besser, überhaupt nicht zu lieben?“

„Er nimmt mich auf den Arm!“, dachte Bonaventura, „noch immer nimmt er mich nicht ernst!“

„Wird jemand das Ende überleben?“

„Nun, Methusalem überlebte die Sintflut.“

„Er nimmt mich nicht ernst!“ Bonaventura zwang sich, ruhig zu bleiben „Das hängt davon ab, wie man die Jahre berechnet.“

„Belaste mich nicht mit Zahlen, lieber Bonaventura. Ich bin zu einfältig zum Rechnen.“

„Ja, du liebst deine Einfalt, so wie der Arme die Herrin Armut liebt!“

„Die Armut lieben nur die, die genug haben.“

„Du sprichst recht, lieber Torsolo. Auch die Einfalt lieben nur die, die eigentlich nicht einfältig sind.“

„Weil nur sie wissen, dass sie einfältig sind. Die wirklich Einfältigen halten sich zumeist für weise.“

„Wenn ein Mann also von sich selbst sagt: 'Ich bin einfältig', dann ist das ebenso gut, als habe er gesagt: 'Ich bin weise'. Ist es das, was du sagen willst? Und hast du damit nicht gerade selbst von dir gesagt, weise zu sein?“

„Lieber Bonaventura, wenn alle Tauben Vögel sind, schließt daraus noch nicht das Gegenteil. Weiterhin führte ich lediglich meine Einfalt im Rechnen an, ich verfüge so wenig über die Kunst des Rechnens wie du wohl die Kunst des Singens beherrschen magst.“

Bonaventuras Lippen zuckten; beim Gedanken an seine öffentliche dargebotenen Gesänge fiel es ihm schwer, nicht zu lachen. Dieser Torsolo verschaukelte ihn nach Strich und Faden!

„Ja, mein Gesang hat nie die Qualität deiner Verse gehabt! Deine Verse! Manche bezeichnen sie als eitel und sinnlos, doch steckt Weisheit in ihnen ...“

„Weil die meisten gar nicht von mir sind.“ Torsolo schien gelangweilt.

„... nicht in den Worten steckt die Weisheit, nicht in der wörtlichen Bedeutung der Dinge, sondern im doppelten, verborgenen Sinn. Das ist die eigentliche Weisheit der Worte!“

„Und somit, werter Bonaventura, ist nicht der Weise, der die Worte ausspricht, als vielmehr der, der den verborgenen Sinn aus ihnen heraushört.“

„Einen Sinn, den der Verfasser hinein gelegt hat ...“
„Nein, einen Sinn, den der Leser finden will. Was sind denn Wörter? Es sind zusammengefügte Buchstaben. Nun gibt es aber eine begrenzte Zahl an Buchstaben, die jeweils miteinander verbunden werden können. Multiplizierst du nun die Anzahlt der Buchstaben so häufig mit sich selbst wie das jeweilige Wort Buchstaben hat, dann erhältst du die Anzahl der möglichen Wörter diese Länge. Ich werde das aber nicht ausrechnen. Doch in jeder, wirklich jeder Zusammenfügung von Buchstaben kannst du einen verborgenen Sinn erkennen, wenn du nur danach suchst. Daher frage ich dich: wer legt die Bedeutung in die Worte, der Schreiber oder der Leser? Schau her!“

Torsolo hatte nach dem Kohlestift gegriffe und zeichnete etwas auf die Tischfläche. Wieder konnte Bonaventura das Zucken seiner Mundwinkel schwer beherrschen. Er hatte es geschafft!

4. Kapitel


An einem Freitagabend im Februar, als die Tage schon länger und das Wetter wärmer war, klopfte jemand an die Tür des Hauses Bondone. Ein Kurier brachte eine Nachricht von Giotto und Ciuta. Die beiden hatten wegen des unwirtlichen Wetters ihre Reise unterbrechen müssen und sich einige Zeit in Arezzo aufgehalten. Doch das mildere Klima der letzten Tage hatte ihnen die Weiterreise erlaubt, so dass sie bereits in Perugia weilten. Beatrice, Chiara und Lucia wären am liebsten gleich in die Dunkelheit hinaus ihren Eltern entgegen gelaufen. Doch Francesco ordnete die Vorbereitungen für die Ankunft der beiden im Hause an. Und so wurde gescheuert, geputzt, Kapaune – wiedermal die letzten vor der Fastenzeit – und allerlei Früchte besorgt, die Vorräte überprüft, Speisepläne zusammengestellt, so dass alle Hausbewohner reichlich beschäftigt waren.

Am Sonntag nach der Frühmesse überredete Beatrice dann Niccolò und Bartolo mit ihr nach Cerreto di Porziuncle hinabzusteigen. Bartolo war sofort bereit, mitzugehen. Niccolò, der lieber auf der anderen Seite der Stadt den Hügel hinaufgestiegen wäre – zum Zeichnen und um vielleicht die Brüder vom Eremo mit ihren Kräutermixturen zu treffen – musste erst noch mit trefflichen Argumenten überzeugt werden. Er könne kaum ein Mädchen allein den Weg zurücklegen lassen, bei all den Halunken und Wegelagerern, die die Gegend unsicher machten, ganz abgesehen von den Hexen und Waldgeistern, gegen die nicht einmal Bartolo den notwendigen Schutz biete, war er mit seinen roten Haaren gar eine beliebte Beute für derartige Unholde. Und so verzichtete Niccolò schließlich auf seine gewohnte sonntägliche Bewusstseinserweiterung und zog mit den beiden den Hügel hinab.

Unterwegs redete Beatrice unaufhörlich. Sie erzählte vom Apotheker Bonaventura, schwärmte von dessen Gelehrsamkeit und seiner eigenen Bibliothek. Er besaß wirklich sechs Bücher! Sogar Niccolò musste zugeben, dass ihn das beeindruckte, und ein bisschen auch Bartolo, der Beatrice gespannt lauschte, wenngleich er nicht immer verstand, was sie eigentlich sagen wollte. Als sie dann an einer Wiese vorbeikamen, in die vereinzelte erste Märzveilchen purpurne Punkte sprenkelten, war Beatrice nicht mehr zu halten. Sie sprang davon, um ihren Eltern einen Strauss der Frühlingsboten zu pflücken. Dabei hüpfte sie so flink zwischen den verschiedenen Plätzen umher, jeweils nur die schönsten Exemplare der Veilchen in ihr Sträußchen aufnehmend, dass Niccolò und Bartolo ihr nur zögernd und mit immer größer werdenden Abstand nachgingen. Beatrice merkte nicht, dass sie bald allein inmitten der Wiese und den Blumen stand, als sie plötzlich von einer heiseren Stimme aufgeschreckt wurde:

"Mädchen, du bist Gottes würdig, und doch wirst du durch dein Ehelager nur irgendeinen gewöhnlichen Sterblichen glücklich machen!"

Beatrice zuckte zusammen. Ein Mann, rücklings auf der Wiese gelegen, stand langsam auf und kam auf sie zu. Er war nicht groß, nur wenig größer als sie selbst. Doch machte er ihr Angst, eine Angst so stark und lähmend wie Beatrice sie bis dahin höchsten als kleines Mädchen empfunden hatte, wenn sie in dunklen Nächten plötzlich aufgewacht war.

"Geh' in den Schatten der tiefen Wälder", sprach der Mann weiter, "wenn du dich aber fürchtest, allein deinen Fuß in den Schlupfwinkel der wilden Tiere zu setzen, so wisse: du wirst die Abgeschiedenheit des Waldes unter dem Schutze Gottes betreten. Flieh nicht vor mir!"

Und bei diesen Worten packte er Beatrice am Arm. Erst als er versuchte, das Mädchen wegzuziehen, erwachte sie aus ihrer Versteinerung und wollte mit aller Kraft ihre Hand zurückziehen. Doch der Fremde umfasste ihr Handgelenk wie eine Zange.

„Komm mit mir!“, forderte er sie mit seiner hohen, heiseren Stimme auf, „du wirst es nicht bereuen. Fürchte dich nicht, denn der hier nach dir verlangt, trägt wahrhaftig das Zepter des Himmels in der Hand.“

„Nein!“, brachte Beatrice endlich heraus, „Herr, ich bitte Euch, lasst mich gehen! Versündigt Euch nicht!“

Der Mann stieß ein raues Lachen aus und zog Beatrice so dicht an sich, dass sie seine nach Schweiß und Erde riechenden Ausdünstungen vernahm.

„Sünde! Sie sagen dir, es sei Sünde! Ja, Sünde ist es, wenn du dereinst mit irgendeinem Schuster oder Bäcker, dem sie dich geben werden, auf sein Lager wirfst, unter dem Dunst seiner unförmigen Masse seine Körpersäfte aufnimmst, und diese sich mit deinen vermischen. Dann wirst du für immer beschmutzt sein. Du wirst wie irgendein Lumpen sein, der zu nichts mehr gut ist, und in irgendeiner Ecke für den Notfall aufgehoben wird.“

Er redete dabei immer langsamer und leiser. Beatrice fühlte wie eisige und feurige Klauen sie zugleich in alle Richtungen zerrten. Der Mann flüsterte:

„Ich aber, ich kann dich davor bewahren. Denn mein Geist ist längst über meinen Körper hinaus geschritten und in die Sphäre des Göttlichen vorgedrungen. Durch mich kannst auch du göttlich werden, ich kann ...“

Ein Faustschlag mitten in sein Gesicht unterbrach seine Rede. Er taumelte ein wenig, ließ Beatrice los, die sogleich davon sprang. Als er aber gleich darauf wieder zu sich kam und erkannte, wer ihn da niedergestreckt hatte, stieß er die fürchterlichsten Beschimpfungen aus:

„Du Teufel mit Feuerhaaren! Du hagerer, hässlicher Hurensohn!“

Bartolo aber rannte längst mit Beatrice und Niccolò davon und begriff selbst nicht, aus welcher furchtbaren Lage sein beherztes Eingreifen die Freundin gerettet hatte. Als Beatrice sich daher mit zitternder Stimme bei ihm bedankte, überkam ihn sogleich wieder seine übliche Verlegenheit. Er lief rot an, grinste verschämt und suchte vergebens nach Worten. Aus dem tapferen Ritter war wieder der alte Bartolo geworden.

Beatrice dagegen redete während des restlichen Weges nichts mehr. Sie lief immer schneller, sie konnte es nicht erwarten, ihre Eltern zu treffen. Und erst nachdem Giotto sie mit seinen dünnen, aber kräftigen Armen hochgehoben und durch die Luft gewirbelt hatte, nachdem Ciuta sie lange umarmt und geküsst hatte, nachdem beide Eltern konstatiert hatten, dass sie größer geworden war, seit sie sie zuletzt gesehen hatten, die Mutter außerdem besorgt gefragt hatte, ob sie denn auch genug esse, nachdem alle die Gastfreundschaft der Benediktiner von Cerreto di Porziuncle genossen hatten, legte sich langsam ein dünner Nebel um die schreckliche Figur des Mannes. Als sie dann, den Arm der Mutter um ihre Schulter gelegt, den Weg nach Assisi zurückging, schaute sie sich nach den verschiedenen Richtungen um und atmete erleichtert auf, wenn sie niemanden sah. Die Veilchen auf der Wiese hatten ihre Blüten bereits geschlossen, langsam verblasste ihre Purpurfarbe in der Abenddämmerung.

Die letzten Kapaune vor der Fastenzeit waren verzehrt. Anlässlich der Ankunft Giottos und Ciutas in Assisi, hatte man ein üppiges Abendessen genossen. Francesco war stolz auf seine Art, Gäste gebührend zu empfangen. Es hatte in allerlei Kräutern und Früchten gesottene Kapaune gegeben, dazu in Mandeln geröstete Hühnerleber und süße mit Safran bestreute Nudeln. Zu Trinken hatte er unverdünnten Wein kredenzt, seinem Vater gar in einem Glas anstelle des üblichen irdenen Bechers. Den Tisch hatte Lauretta aufs Feinste dekoriert, sogar ein besticktes Leinentuch aus Perugia darüber gelegt. Eine moderne Sitte, die sich in den vornehmen Häusern verbreitete: man legte ein Tuch über den Tisch, so dass die Teilnehmer der Tischgesellschaft sich nicht mehr die Münder an ihrer Kleidung abwischen mussten.

Ciuta bemerkte die fein gedeckte Tafel auch sofort und sprach Lauretta ihr Lob aus. Giotto dagegen, kaum die Schwelle übertreten, nahm Lauretta die kleine Viola aus dem Arm, drückte sie an sich, tanzte mit ihr durch den ganzen Raum getanzt und rief dabei: „Was für ein schönes Enkelkind hast du mir geschenkt, Lauretta!“

Caterina und Ricco di Lapo sahen sich an. Stefano, ihr Sohn, saß unbeeindruckt in einem Winkel und spielte mir seinen hölzernen Tieren. Caterina stellte den Kleinen auf die Füße und schubste ihn an der Schulter seinem Großvater entgegen. „Sag dem Opa schön 'Guten Abend'!“ ermahnte sie ihn. Der Junge beantwortete die Aufforderung mit Geschrei und ließ sich auf den Boden fallen. Daraufhin nahm ihn Caterina an die Hand, flüsterte ihm ins Ohr: „Du bist der ältere und du bist ein Junge!“ und ging mit ihm dem tanzenden Vater entgegen. „Babbo, dein Enkelsohn möchte dich begrüßen!“ Giotto blickte in das verweinte Gesicht des Kleinen, tätschelte ihn auf den Kopf, sagte: „Oh Stef, in 100 Jahren ist alles wieder gut!“ und tanzte weiter durchs Haus. Dabei warf er die kleine Viola, die vor Vergnügen kreischte, in die Höhe und sang: „... und die kleinen Vögelein, die aus voller Kehle schrei'n, sie soll'n mir willkommen sein1, und was für schöne Äugelein, ganz die Mamma, oh wie fein...“

Francesco nickte Lauretta zufrieden lächelnd zu. Ricco trat von hinten an ihn heran und sagte leise: „Schön nicht, wenn ein kleines Kind beim großen Meister mehr Aufmerksamkeit erregt als der eigene Sohn und Hausherr.“

Francesco Lächeln erfror. Er sah Ricco an. Er sah die giftige Schlange, die aus Riccos Mund trat. Giotto selbst hatte die Schlange gemalt, damals in Padua; die Schlange des Neides! Ja, Ricco, dachte er, weißt du nicht, dass sich die Schlange irgendwann umdrehen und ihr Gift in deine eigenen Augen sprühen wird?

Später während des Essens redete Giotto unaufhörlich. Die kleine Viola saß auf seinem Schoß – darauf hatte er bestanden – und er fütterte sie mit den verschiedensten Leckereien. Jede ihrer Bewegungen bedachte er dabei mit lauten Gejubel. Selbst als sie das Weinglas umstieß, die rote Flüssigkeit bizarre Figuren auf das kostbare Tischtuch zeichnete, war er begeistert: „Siehst du, was da entsteht? Ein Schaf! Dein Kind hat ein Schaf gezeichnet, Lauretta! Aus ihr wird noch eine große Malerin! Morgen besorgen wir einen schönen weichen Eichhörnchenschwanz und machen dir einen Pinsel!“

Die anderen aber drängten Giotto und Ciuta von den Angelegenheiten in Florenz zu berichten. Und Giotto erzählte, wie beruhigend es war, einen so zuverlässigen Patensohn wie Taddeo Gaddi zu haben, dem er seine Werkstatt überlassen konnte. Nur allzu gerne hätte er Taddeo mitgenommen nach Assisi. Er hätte ihm einen großen Teil der Arbeiten übertragen können. Doch die Werkstatt in Florenz musste schließlich weiter arbeiten. Und wem könne er in dieser Angelegenheit schon vertrauen, wenn nicht Taddeo, der nicht nur ein begabter Maler sondern auch hervorragende Fähigkeiten in der Organisation einer Werkstatt und im Verhandeln mit den Auftraggebern hatte.

Doch auch sein ältester Sohn Bondone erfüllte ihn mit großem Stolz. Er war nicht nur ein von allen geachteter und gebildeter Mann. Er hatte sein Studium am Dominikanerkloster von Santa Maria Novella mit größter Leichtigkeit abgelegt und verstand sich in der Sprache der Alten ebenso gewandt auszudrücken wie in seiner Muttersprache. Als Prior sicherte er der Familie auch den notwendigen Kontakt zur Kirche. Und vor einiger Zeit hatte er sogar einen Brief von Papst Johannes selbst erhalten! Der Papst sicherte Bondone darin ein Einkommen von 50 Goldflorin im Jahr zu. 50 Goldflorin und das für den Rest seines Lebens! Sein Fürsprecher in dieser Angelegenheit war der Abt der Badia von Florenz. Ja, Bondone verstand es, die richtigen Leute zu kennen und diese zum Vorteil der Familie zu lenken!

Es war Francesco schwergefallen, sich zurückzuhalten und zu schweigen, aber er hatte Angst, die anderen könnten die Schlange, die aus seinem Mund kam, ebenso sehen wie er sie bei Ricco sehen konnte. Doch jetzt übernahm die gelbe Galle in ihm endgültig den Vorrang über die anderen Säfte: „Papst Johannes! Babbo, wie kannst du mit solchem Stolz von einer Pfründe dieses Mannes sprechen? Wo dieser Papst womöglich gar nicht rechtmäßig ist. Was ist, wenn er sich als der Antichrist herausstellt? Als einer, der wahre Christen verfolgen und auf den Scheiterhaufen bringen lässt. Was macht er denn mit den Franziskanern? Ich meine, mit denen, die wirklich leben wollen wie der heilige Franziskus, die wirklich arm sein wollen? Wie könnt ihr von so einem Tyrannen Geld annehmen?“

„Oh Francesco, mäßige deine Rede, du beleidigst deinen Bruder, verdiene du erst Mal 50 Goldflorin! Und außerdem“, gab Giotto zurück, „wann haben wir wohl die besseren Geschäfte gemacht, als ständig Kämpfe tobten oder seit Frieden ist und die Papsttreuen regieren? Ob der Papst rechtmäßig ist oder nicht, das mögen die gebildeten Herren in Avignon entscheiden. Papst oder Kaiser – was macht das für uns für einen Unterschied? Wann haben wir wohl ruhiger geschlafen? Wann das angenehmere Leben gehabt? Und dann sieht es doch wirklich nicht so aus“, dabei sah er sich in dem geschmückten Raum um, „dass du selbst ein großer Verächter des bequemen Lebens seist.“

5. Kapitel


Da waren sie, die indischen Figuren!

Beatrice starrte fasziniert auf das kleine Stück Wollpapier mit Messer Bonaventuras Notizen. Sie kannte diese Figuren. Die Kaufleute in Florenz rechneten mit ihnen. Beatrice selbst hatte sie von einem Maestro d'abaco gelernt. Ihrem Vater war es sehr wichtig, dass alle seine Kinder rechnen lernten, auch die Töchter. Wer nicht rechnen kann, meinte Giotto, werde zu leicht über den Tisch gezogen. Es gäbe zu viele Schurken, die das versuchten. Außerdem müssen die Kinder eines Malers wie er, der in mehreren Ländern arbeitete, die verschiedenen Währungen und Maße umrechnen können. Das hatte er Beatrices Geschwistern immer wieder erklärt. Ihr selbst dagegen hatte er nichts erklären müssen. Beatrice liebte das Rechnen und die Zahlen so sehr, dass sie mit großer Freude auch dann rechnen gelernt hätte, wenn es zu gar nichts gut gewesen wäre. Und sie war stolz auf ihr Wissen. Stolz darauf, dass sie wusste, dass man zur florentinischen Elle 9/25 Unzen hinzuzählen musste, um die sienesische Elle zu erhalten, aber nur 7/50 einer Unze zur florentinischen Elle ergaben die lucchesische Elle. Im Herzogtum Spoleto gab es die kurze Elle, die ein wenig länger als die lucchesische aber kürzer als die sienesische war und aus einer florentiner Elle und 8/25 Unzen bestand, und die lange Elle, bei der man zur florentiner Elle eine und 3/20 einer Unze hinzufügen musste. Somit maß die florentiner Elle nicht ganz 10 1/2 lange Unzen des Herzogtums Spoleto. Verschieden davon waren die Ellen, die in Gubbio oder Orvieto verwendet wurden. All das musste man wissen, um etwa beim Tuchkauf dem Händler genau auf die Finger sehen zu können und am Ende auch den rechten Preis für die Ware zu bezahlen.

Auch beim Geld konnte Beatrice die verschiedenen Einheiten umrechnen. Zwölf Denier bildeten einen Soldo, 20 davon wiederum eine Lire, zwei Soldi waren ein Popolino, d.h. ein Silberflorin, 20 Popolini ein Goldflorin.

Beatrices Geschwister stöhnten häufig über die Anstrengung der Umrechnung. Chiara sagte einmal sogar, es wäre doch besser, wenn alle Menschen die gleichen Maße, die gleichen Gewichte und das gleiche Geld benutzten.

Giotto hatte über diesen Vorschlag sehr gelacht und gesagt: "Mein kleines Äffchen, siehst du nicht, dass schon allem das gleiche Maß zugrunde liegt? Sind nicht überall 12 Unzen eine Elle? Und wir Menschen? Wir sind doch alle achtmal die Länge unseres Gesichtes groß, auch wenn ich größer bin als du und der lange Bartolo größer als ich. So wie der Schöpfer uns alle nach dem gleichen Maß konstruiert hat, obgleich du viel hübscher bist als Bartolo, dieser aber lang nicht so hässlich wie ich. Nein, es liegt schon allem Maß und Zahl zugrunde, nur sehen wir es nicht immer gleich."

Unwillkürlich musste Beatrice lächeln.

"Was belustigt dich so, liebe Beatrice?", unterbrach Messer Bonaventura ihre Gedanken.

"Meister, es sind diese indischen Figuren, nein, eigentlich nicht die Figuren selbst, aber manchen Leuten machen sie Schwierigkeiten, manche mögen sie auch nicht, obgleich sie doch so komfortabel sind."

"Ja, die indischen Figuren. Es sollte mich wohl verwundern, dass sie einem Mädchen bekannt sind. Obendrein einem Mädchen aus Florenz."

"Aber Messer Bonaventura!", rief Beatrice aus, "es waren doch die florentiner Kaufleute, die sie von den Völker des Orients übernommen und zuerst mit ihnen gerechnet haben. Sind wir Florentiner dann nicht die ersten, die sie kennen sollten? Schon mein Großvater, der Schmied Bondone, rechnete mit den indischen Figuren, damals, als alle anderen noch die alten Zeichen verwendeten."

Beatrice erinnerte sich an einen Gesellen in der Werkstatt ihres Großvaters, der die indischen Figuren stets verfluchte und es vorzog, mit den alten Zeichen zu rechnen. Es sei so viel einfacher, meinte er, müsse er doch nur alle Striche, alle Vs und alle Xse zusammenzählen, wolle er die Summe mehrerer Zahlen gewinnen. Aber selbst dabei mache der Dummkopf noch Fehler, pflegte der Großvater dann zu sagen. Aber als Beatrice damals den Großvater nach den Figuren gefragt hatte, hatte dieser geantwortet, es seien Würmer, die an Bauchschmerzen litten, und sich deswegen in alle Richtungen krümmten. Und kleinen Mädchen, die sie zu lange betrachteten, erging es ebenso.

Messer Bonaventura zog ein Buch vom Brett an der Wand. "Liebe Beatrice," sagte er, "ihr Florentiner glaubt wirklich, Gott habe die Welt eigens um eure erhabene Stadt herum geschaffen. Doch, was die indischen Figuren angeht, war es kein Florentiner, dem dieser Ruhm gebührt. Sie hier," er zeigte auf die erste Seite des Buches.

"Das Buch des Abakus nach der Meinung des Maestro Leonardo aus dem Hause der Bonacie von Pisa", las Beatrice, "wer ist dieser Meister Leonardo?"

"Ein weiser Mann war der Leonardo Pisano, filius Bonacci, der Sohn des Bonacci. Geboren in Pisa, hat er ferne Länder bereist, ist dabei Arabern und Indern und Angehörigen anderer Völker begegnet."

"Ein Pisaner!", rief Beatrice erstaunt. Sie dachte an die verächtliche Art, mit der man in Florenz von den Einwohnern Pisas sprach.

Messer Bonaventura musste lächeln: "Oh Beatrice, du glaubst doch nicht etwa alles, was die Leute so reden? Die Florentiner halten sich für das Volk, das allen anderen voransteht, fürwahr. Aber geh einmal nach Siena, nach Pisa oder gar nach Rom. Dort wird dir ebenso viel Überheblichkeit begegnen. Sieh dir bloß die Einwohner hier von Assisi an. Egal wie sündhaft und verderbt ihr eigenes Leben sein mag, halten sie sich doch alle für heilige Franziskuse und heilige Claras! Nein, Beatrice, es ist völlig unwichtig, wo ein Mensch geboren wird. Und schreiben wir nicht auch alle in der gleichen Sprache, der Sprache der Alten?

Und durch die indischen Figuren, die Messer Leonardo hier beschreibt, haben wir noch eine Sprache, die alle Völker verbindet: die Arithmetik. Die indischen Figuren sind also so etwas wie das Latein der Zahlen. Gelernt hat Leonardo sie von den Arabern, war er doch der Sohn eines Kaufmannes, der im Quartier der Italiener in Bugia in Magreb lebte.

Dieses Buch hier aber, das die Lehren Messer Leonardos wiedergibt, wurde am Hofe Friedrichs II. geschrieben. Als großer Geist hatte Friedrich die Vorteile dieser Figuren gegenüber den alten Zeichen erkannt. Anders übrigens als viele Florentiner. Denn es sind die Einwohner deiner Stadt, die sich noch heute gegen die indischen Figuren stellen. Die Zunft der Wechsler verbietet in ihren Statuten sogar das Rechnen im Sinne des Abakus, also im Sinne Messer Leonardos."

"Die Arte del Cambio, aber warum denn?"

"Ja, warum, das erklären sie in ihren Statuten natürlich nicht. Vielleicht, weil sich manche Leute gegen alles sperren, was neu ist, das Neue stets vom Teufel kommend vermuten. Vielleicht glauben die Herren der Hohen Zunft, die Methode, die von Handwerkern und Angehörigen der niederen Zünfte verwendet wird, könne ihrer Zunft zur Unehre gereichen. Wir wissen es nicht."

Giotto empfing den Generalminister des Franziskanerordens, Michele da Cesena, am Tag des heiligen Joseph in seinem Haus. Wegen der Fastenzeit hatte man auf einen großen Empfang verzichtet und nur ein wenig verdünnten Rotwein, getrockneten Fisch und Früchte dargereicht. Auch Francesco war bei dem Gespräch zugegen, konnte er doch kaum noch erwarten, endlich das Programm der Malereien im Gewölbe zu besprechen und mit den Arbeiten beginnen zu können. Michele begrüßte Giotto wie einen alten Freund, waren die beiden sich doch schon vor Jahren begegnet, als Michele noch ein einfacher Student in Paris war. Daher folgten der Begrüßung wortreiche Erzählungen, das Leben beider seit jener Zeit betreffend, die Francescos mit zunehmender Ungeduld ertragen musste. Mithin hatte er sogar den Eindruck, Michele vermeide es, die Sache anzusprechen, deretwegen er eigentlich gekommen war. Endlich aber lenkte Giotto das Gespräch auf das eigentliche Thema.

"Verehrter Michele", sagte er, "es ist mir eine Quelle der Freude, dass Ihr meine bescheidene Behausung aufsuchtet, um Euch nach meinem werten Befinden zu erkundigen. Allein, mir scheint, es gibt da noch weitere Gründe für Euren Besuch. Sollte die Ausmalung des Gewölbes über dem Grab Eures heiligen Ordensstifters, die aufgrund unseres Müßiggangs schon so lange Zeit brach liegt, einer dieser Gründe sein?"

"Lieber Freund, dein florentiner Witz erheitert mich, weißt du doch sehr wohl, dass der Grund der Verzögerung keinesfalls in dir oder deinem Sohn begründet ist. Es ist vielmehr ...", hier zögerte Michele, "nun, der hochverehrte Kardinal Orsini und sein Kaplan – du kennst wohl Ubertino da Casale, er war als Magister im Franziskanerkonvent deiner Heimatstadt tätig – ihnen schwebt eine Art der Bilder vor, die, würden wir sie genau so malen, wie Ubertino uns das vorschlägt, von einigen Menschen nicht richtig verstanden werden könnte. Und du weißt sicher auch, dass dies ein empfindlicher Moment für unseren Orden ist; dass ich sogar gezwungen war, einige Konvente zu schließen, ein paar Brüder, die starrsinnig in ihrem Irrglauben verharrten, der heiligen Inquisition zu übergeben, die ihrerseits einige – glücklicherweise nur wenige – auf den Scheiterhaufen geschickt hat.

Ubertino selbst musste den Orden verlassen. Du weißt, dass auch hier im Konvent von Assisi einige Brüder mit den Irrlehren der Spiritualen liebäugeln, dass oben im Wald beim Eremo delle Carceri gar eine Gruppe lebt, die die Herrin Armut als ihre Braut ansieht und sie als solche auch verehrt, dass aber auch Fratizellen manchmal in unsere Stadt kommen, und ihre Reden von den Bürgern mit Zustimmung aufgenommen werden. Wir glauben mit Gottes Hilfe und hoffen, die Anhänger der Spiritualen, die Fratizellen, auf den Weg des rechten Glaubens zurückführen zu können. Besteht ihre Ketzerei doch darin, dass sie die Armut als Tugend Christi betrachten und deswegen als Pflicht eines jeden Nachfolgers Christi.

Auch die Brüder, die der Regel des heiligen Franziskus den Rang des Evangeliums einräumen, und die deswegen keinerlei Änderung, auch nicht durch die Autorität des Heiligen Vaters selbst, an ihr zuzulassen bereit sind, auch die hoffen wir, mit Hilfe des heiligen Geistes zur Umkehr bewegen zu können.

Aber es gibt noch eine andere Gruppe, deren Anhänger sich seit einiger Zeit auch hier in Assisi breit machen. Es sind Ketzer der schlimmsten Sorte, die nicht nur selbst bereits dem ewigen Höllenfeuer verfallen, auch viele unbedarfte Schafe mit in die Verdammung ziehen. Und das sind …", wieder zögerte Michele, "es ist eine Gruppe, die sich die Brüder des freien Geistes nennt. Ihre Irrlehren sind zu verworren, als dass ich sie beschreiben könnte. Sie glauben, wenn sie erst eine bestimmte Stufe der Göttlichkeit erreicht haben, jede Sünde, auch die verwerflichste, begehen zu können ohne deren Folgen fürchten zu müssen. Wir bekämpfen diese Gruppe und ihre Freveltaten bereits mit all unseren Mitteln. Doch stehen uns natürlich nicht die Mittel der heiligen Inquisition zur Verfügung. Freilich könnten wir diese zur Hilfe rufen. Die heilige Inquisition würde zweifelsohne jede Form der Fäulnis ausrotten. Aber muss man eine Frucht, die an einer Stelle faul ist, wirklich verwerfen? Muss man einen Baum fällen, weil einer seiner Äste verdorrte? Kann er nicht noch Früchte tragen, wenn man nur den kranken Ast entfernte? Im Falle des Zweifels würde wohl jeder Gärtner zunächst versuchen, den Baum zu erhalten und nur den Ast zu entfernen. Ein Gärtner aber, der den ganzen Baum sofort dem Feuer übergäbe, müsste sich um alle seine Bäume sorgen und würde vielleicht sogar die benachbarten Bäume, obwohl gesund, ebenfalls den Flammen zuführen.

Nun, lieber Meister Giotto, wir möchten es zunächst wie der wohlwollende Gärtner halten und den anderen deshalb aus unserem Garten fernhalten. Deswegen dürfen wir mit unseren Malereien nicht die Neugier oder die Aufmerksamkeit der heiligen Inquisition erregen. Gleichzeitig musst du natürlich zur vollkommenen Zufriedenheit des Kardinals arbeiten, und deswegen werden wir seine Vorschläge übernehmen, aber doch so umändern, dass wir nicht in den Verdacht der Häresie geraten können."

Francesco war während der Rede des Generalministers unruhig geworden. Er spürte, wie sein Herz stärker schlug und allerlei Säfte aus seinem Körper entwichen. Er nahm sich vor, sofort nach diesem Gespräch mit dem Großmeister zu reden.

Giotto und Michele besprachen bereits die Einzelheiten der Malereien. Man einigte sich, Ubertinos Vorschlag vom Christus im Schlussstein zu übernehmen.

"Haltet euch aber zurück mit Hinweisen auf das Weltende", schlug Michele vor, "malt nicht die Apokalypse in die Apsis, sondern malt sie nur ganz klein, vielleicht in die Rippen des Gewölbes. Die vier Winde aber malt ganz nach unten auf die Rippen, dort, wo niemand mehr so genau hinsieht. Wir alle wissen, dass der Engel mit dem Siegel des lebendigen Gottes aufsteigen wird, wenn an allen vier Ecken der Welt die Engel die Winde festhalten. und dass dieser Engel unser heiliger Franziskus ist. Auch der Doctor Seraphicus nennt ihn schließlich so. Wenn du aber die Winde nicht so sichtbar malst, dann können wir dem Kardinal sagen, wir haben den heiligen Franziskus sehr wohl als den Engel des sechsten Siegels gezeigt, dem unbedarften Zuschauer aber fällt es nicht sofort auf."

"Und was malen wir dann in die Apsis?", fragte Giotto.

"Da wird uns noch etwas einfallen", gab Michele zur Antwort, "ich suche ein bisschen in den Schriften des verehrten Ubertino. Am besten eine Allegorie, die so kompliziert ist, dass nur gewiefte Theologen wie er sie verstehen. Damit gibt es die wenigsten Schwierigkeiten."

Weiter besprach man dann, die drei Tugenden – Gehorsam, Keuschheit und Armut – zu malen, wie es Ubertino bereits angeregt hatte. Allerdings sollte der Platz der Armut nicht im Gewölbefeld über der Apsis sein, vielmehr sollte sie auf dem Feld gemalt werden, das dem Langhaus zugewandt war. Denn auf ausdrücklichen Wunsch des Kardinals sollte die Armut als Braut Christi gezeigt werden, die sie ja auch wirklich war, wie Michele flüsternd bestätigte. Und so sei es besser, dieses Thema auf dem Feld zu malen, welches das am wenigsten sichtbare von allen war, um die Gemüter nicht in Aufruhr zu bringen. Für den Laien, war sie damit gar nicht zu sehen. Auf dem sichtbaren Feld über der Apsis sollte dann der heilige Franziskus triumphierend in den Himmel auffahren.

"Dann ist er aber nicht mehr im Osten", bemerkte Francesco, "die Apsis ist im Westen, muss nicht der Engel des sechsten Siegels dort aufsteigen, wo auch die Sonne aufsteigt?"

"Sehr gut, mein Sohn", lobte Giotto, "so haben wir gleich noch einen Grund, dass wir den heilige Franziskus hier nicht als Engel des sechsten Siegels verstehen. Liegt doch der Altar und die Apsis wie bei fast allen Kirchen der Franziskaner im Westen."

"Ja, genau wie das heilige Grab unseres Herrn Jesus Christus in Jerusalem!", fügte Michele hinzu.

Man einigte sich noch über weitere Kleinigkeiten. So sollten im Triumphbogen, dem Bogen zwischen Langhaus und Gewölbe, keine Brüder der strengen Armutsbewegung gemalt werden, wie Ubertino es gerne gesehen hätte, sondern die ersten Nachfolger des heiligen Franziskus. Diese waren gerade zwölf wie die Apostel Christi und das zeige wiederum, dass Franziskus wirklich der neue Christus war. Alles fand seine Ordnung. Sie kamen überein, den Hintergrund der Fresken wirklich mit Blattgold auszulegen, handelte es sich doch um Allegorien, die in einem Raum jenseits der menschlichen Vorstellungswelt handelten.

"Sorge dich nicht um die Ausgaben, lieber Meister Giotto", beschwichtigte Michele, "der Kardinal verfügt über die Mittel. Du kennst ihn. Kamen seine Zahlungen nicht immer pünktlich? Und was das Ultramarin angeht, du sagst, es sei noch teurer als Gold?"

Giotto bejahte.

"Dann scheint mir Gold doch die beste Lösung. Du sparst an Ausgaben, und die einfachen Gemüter lassen sich mit Gold viel stärker beeindrucken als durch Ultramarin, dessen Wert du zwar kennst, das aber ein schlichter Geist wahrscheinlich kaum von preisgünstigeren Blautönen unterscheiden kann."

Bevor Michele sich aber verabschiedete, brannte ihn noch etwas auf der Seele: "Lieber Meister Giotto, bevor du mit den Arbeiten beginnst, gibt es noch eine Sache, die ich dir nahelegen möchte."

"Redet nur frei heraus, lieber Michele."

"Nun, ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll ... Man rühmt dich allerorts für deine Kunst, besonders für dein Vermögen, die Natur abzubilden, in welchem du wohl alle anderen übertriffst. Ja, man nennt dich gar den Affen der Natur. Kurz, man sagt, das, was du malst, ist kein Bild mehr, es ist Natur, und von dieser nicht mehr zu unterscheiden. In Neapel erzählte man, dass du eine Fliege mit solcher Vorzüglichkeit auf eine Wand gemalt habest, dass der Herr des Hauses mehrfach mit der Klatsche darauf schlug, weil er sie für lebendig hielt."

"Worauf wollt Ihr hinaus, werter Michele?"

"Lieber Meister Giotto, verstehe mich recht, ich schätze und bewundere deine Fähigkeiten, aber es gibt Stimmen, die sagen, es sei nicht recht, danach zu trachten, die Natur abzubilden. Vor allem an deinen Verkürzungen der Körper, der Häuser und Gebäude, nimmt man Anstoß."

"Verkürzungen? Meint Ihr die räumliche Sicht? Sehen wir einen Körper aber nicht verkürzt, wenn seine Fläche zum Blick unserer Augen seitlich liegt?"

"Richtig, wir sehen die Dinge verkürzt. In unserem irdischen Raum sehen wir sie verkürzt. Und genau das erregt Unmut. Denn wie sieht das Auge des Schöpfers wohl die Dinge? Er sieht alles in jedem Moment, Gott hat keinen Blickpunkt, keine Perspektive und damit keine Verkürzungen!"

"Ihr meint, wir sollen wieder malen wie die Alten in der groben griechischen Manier? Satt verkürzter Seiten eines Hauses sollen wir alle vier Seiten gleich malen, so dass nicht erkennbar ist, von wo das Haus gesehen wird?"

"Ja, oder nein, nicht ganz so schlimm. Ich weiß, dass dein Herz an der Naturnachahmung hängt. Allein, ich bitte dich, mache es nicht so deutlich sichtbar. Male keine schräg stehenden Kruzifixe von hinten, keine verwinkelt gebauten Häuser. Das alles entspricht nicht der Sicht des Schöpfers, es ist die Sicht des Menschen."

"Lieber Michele, arbeiten wir für den Schöpfer, der unserer Arbeit wohl kaum bedarf, oder arbeiten wir für die Menschen, denen unsere Bilder Anleitung und Lehre sein sollen?", ereiferte sich Giotto.

"Du hast recht, mein Freund", beschwichtigte Michele, bereits im Gehen begriffen, "aber diesmal sind wir in einer heiklen Situation. Halte dich daher mit deinem Können etwas zurück. Deinem Ruhm wird das keinen Abbruch tun, aber uns erspart es womöglich einige Komplikationen, und manchen rettest du vielleicht sogar das Seelenheil, oder wenigstens das Leben."

Mit diesen Worten zog der Generalminister davon.

"Ja, mein Sohn, sie sind kompliziert, die Herren der Kirche!", sagte Giotto zu Francesco nachdem Michele gegangen war, "wieviel einfacher waren doch die Verhandlungen mit Messer Scrovegni damals in Padua, obschon auch er nur sein Seelenheil retten wollte!"

Im großen Saal der Casa di Bondone blieb ein Stuhl unbesetzt. Es war der Stuhl, der für den freundlichen alten Herrn, Salvestro de' Moriconi, bestimmt war. Sollte es wirklich wahr sein? War das der eisige Wind? Verschwand schon wieder einer von ihnen? Abgesehen von ein paar Gedichten, die er wohl geschrieben hatte, weil es dazu gehörte, war Salvestro zwar kein Künstler, aber doch ein Mann, der sein Vermögen in der Dienst der Künstler stellte. Niccolò stieß Bruder Onofrio an und zeigte auf den freien Sitz.

„Messer Salvestro hat sich wohl nicht gut gefühlt. Wegen seiner Krankheit leidet er manchmal starke Schmerzen, der Arme“, flüsterte dieser.

„Wir erwarten bald das Kommen dieses Merkurs“, berichtete Messer Bonaventura gerade und blickte in Francescos Richtung, „ich hoffe, wir sind soweit gerüstet, dass er uns erkennt.“

Francescos Stimme zitterte: „Wie soll ich soweit sein? Wir konnten doch nicht anfangen, bevor Michele mit uns gesprochen hat. Wie soll Merkur uns also erkennen? An den weißen Wänden?“

Wieder stieß Niccolò Onofrio in die Seite. „Was meinen die?“

„Das musst du als Novize noch gar nicht verstehen ...“

„Immer, wenn ich irgendetwas wissen will oder um eine Antwort frage, heißt es, das soll ich noch nicht verstehen. Gleichzeitig soll ich aber irgendwelche Schriften studieren, um zu verstehen. Warum macht ihr so ein Durcheinander? Und außerdem, glaube ich verstanden zu haben, geht es hier um unsere Fresken – was immer die mit irgendeinem Merkur zu tun haben – also werde ich wohl auch etwas verstehen dürfen! Was ist das für ein Merkur, der kommen soll?“

„Es geht um Lemmo da Gubbio, den Kurier Muzio di Francescos.“

„Und wer ist das?“

„Das wirst du noch zur gegebenen Zeit erfahren. Höre jetzt einfach zu!“

Nachdem Messer Bonaventura einen unwirschen Blick in Richtung der flüsternden Stimmen geworfen hatte, redete er weiter: „Du hast recht, Francesco. Doch jetzt könnt ihr ja endlich beginnen. Denke daran, dass Bilder nichts anderes sind, als gemalte Poesie. Und so wie wir die Gedichte als Schleier benutzen, so seien die Bilder ein Schleier für euch. Ein Schleier für Michele, für den Kardinal und für Ubertino, aber für die Diener der Dame macht den Schleier durchsichtig, so dass sie erkennen können, was darunter ist, genauso wie sie unter den Schleier unserer Gedichte sehen können.

Malt daher zuerst das Wichtige, was wichtig für ist, um uns zu erkennen. Daran kann er uns erkennen. Er wird nach Zeichen suchen, sobald er in der Stadt ist. Dann muss er uns finden.“

„Warum fragt er nicht einfach am Tor nach uns?“ flüsterte Niccolò wieder.

Onofrio ließ das Gesicht in beide Hände sinken.

6. Kapitel


Sie begannen mit dem Ende, dem Ende der Welt.

In den Rippen des Gewölbes zwischen den Rahmen. Kleine Bilder, die doch alle zusammen eine Geschichte ergaben, die Geschichte des Endes. In der Mitte des ganzen Gewölbes, dem Schlussstein, dem Zentrum des Kosmos, hatten sie bereits den Menschen – den Gottessohn – vollendet. So wie er Johannes damals erschienen war, als dieser seine großartige Version vom Weltende hatte: mit dem breiten goldenen Gürtel, dem schneeweißen Haar, den feuerglühenden Augen. Das zweischneidige Schwert wuchs aus seinem Mund; statt der sieben Sterne aber hielt er das Buch Von der Weisheit der Welt in der Hand, aus dem die Sterne heraus leuchteten.

Nun waren sie also dabei, in den Gewölberippen mannigfaltige Motive des himmlischen Jerusalem zu malen, wie die sieben Leuchter der sieben Gemeinden, die von ihrem Platze gestoßen würden, wenn diese nicht umkehrten und sich auf den rechten Glauben besannen, die Throne, die Ältesten, die vier geflügelten Wesen, über und über mit Augen bedeckt, das Lamm mit den sieben Hörnern und eine riesige Schar von Engeln. Engel mit Schriftrollen, Posaunen, Schwertern, Schlüsseln, oder solche mit zwei Gesichtern und sogar den Engel, der gerade den Himmel aufrollte. Gleichsam den Thronsaal des himmlischen Jerusalems bildeten alle diese Bilder zusammen. Doch es gab auch Hinweise auf die schrecklichen Qualen, die die Menschen erwarteten: die toten Märtyrer unter dem Altar oder die vier Reiter, sie sollten übrigens aus den Bildern heraus geritten kommen, ihren Rahmen sprengen – eine Idee Bruder Onofrios – deswegen mussten sie später, wenn alles trocken war, mit Temperafarben vollendet und über den Rahmen hinaus gemalt werden.

Es war anstrengend, von morgens bis zum Sonnenuntergang auf dem Gerüst zu stehen, den Kopf in den Nacken zu legen und die Arme nach oben zu strecken; es verursachte Schmerzen in allen Gliedern. Die älteren Werkstattmitglieder schickten deswegen lieber die jungen auf das Gerüst und redeten sich mit allerlei dem Alter zuzuschreibenden körperlichen Unpässlichkeiten heraus. Auch wenn Niccolò zwar den Geruch des frischen Putzes liebte, wenn dieser sich geschmeidig auf die Wand auftragen ließ, selbst das quietschende Geräusch der Kelle beim Glattstreichen liebte er, das vielen seiner Kameraden in den Ohren schmerzte, besonders aber mochte er den Moment, an dem er die erste Farbe auf den frischen Putz auftrug, die – sofern dieser zuvor richtig behandelt worden war – von diesem aufgesogen wurde, so als trinke die Wand die Farben.

Die kleinen Dimensionen der Bilder in den Gewölberippen aber schränkten diese Freuden ein wenig ein. Nicht die ausholenden Bewegungen der Arme, um große Flächen mit Putz zu bestreichen, sondern nur kleine, verwinkelte. Man musste eine winzige Kelle benutzen, mit der die Wand nie so richtig glatt und eben wurde. Und auch das Malen selbst glich mehr der Arbeit eines Buchmalers. Es war keine Arbeit für den ganzen Körper, sondern nur für die Finger der rechten Hand. Und doch schmerzte am Abend der gesamte Körper!

Wenig wunderte es Niccolò dagegen, obgleich ihm das Verständnis dafür fehlte, dass Beatrice genau diesen Moment der Arbeit so liebte. Stundenlang, sogar tagelang konnte sie kleine Quadrate, Dreiecke und sonstige Formen malen, ohne dabei jemals über Schmerzen zu klagen. Sie vergaß sogar das Essen, und es schien fast, als ob sie es bedauerte, wenn die Abenddämmerung das Ende der Arbeit erzwang. Die Jungs machten sich zuweilen einen Spaß daraus, Beatrice, während sie in ihre Formen vertieft war, anzusprechen. Sie mussten sie stets drei bis vier Mal anrufen, bevor sie etwas hörte. „Bice, die Mäuse fressen gerade dein Frühstück!“ oder „Bice, dein Vater verhandelt gerade über deine Mitgift (sie wird nicht allzu groß sein) mit einem komischen Gesellen aus dem Orient!“

Diese und ähnliche dummen Sprüche jedoch perlten an Beatrice ab wie Regentropfen an den Blättern der Steineichen. Sie war glücklich in ihrer Arbeit, versunken in ihre Welt der geometrischen Formen und der sich ins Unendliche wiederholenden mathematischen Rhythmen.

Da stellte der tollpatschige Anselmo eines Tages die Frage, die alle, selbst diejenigen, die sonst weniger zum Denken geneigt waren, ins Grübeln brachte. Mit seinem drolligen Akzent fragte er ganz beiläufig, warum man eigentlich diesen Aufwand triebe, schwere Sandsäcke und Kalk anschleppte, um dann den Putz anzurühren und wieder wochenlang zu warten, dann das schwere Zeug auf das Gerüst tragen müsse, wenn man doch auch gleich auf die Wand malen könnte, wie bei der Tafelmalerei oder der Temperamalerei, mit der sowieso jedes Fresko schließlich vollendet würde.

Puccio Capanna hatte ihm bereits seinen Ellbogen in die Rippen gestoßen und gesagt: „Ei, du Depp! Wir haben doch schon immer im frischen Putz gemalt! Du weißt doch, dass nur, was wirklich ein echtes Fresko ist, auch ewig hält! Das werden noch in 700 Jahren, wenn dich schon längst die Würmer gefressen haben (vorausgesetzt, das die dich wenigstens wollen), die Menschen sehen!“

Doch mit der unerschrockenen Logik des Schlichten hatte Anselmo geantwortet: „Oh Puccio, wenn das Ende der Welt doch so nahe ist, dann gibt es doch in 700 Jahren niemanden mehr, der die Bilder sehen könnte, nicht einmal mehr in sieben Jahren. Du weißt doch, dass das Ende nahe ist, das sagen doch alle und alle Zeichen deuten darauf hin, und wir malen doch auch das Ende.“

Puccio wusste darauf nur zu antworten: „Quatsch' nicht, arbeite! Überlass' das Denken den Magistern!“

Obgleich die Diskussion damit beendet war und die Arbeiten weitergingen, breitete sich eine ungewohnte Schweigsamkeit aus. Die übliche Albernheiten und Scherze blieben aus. Es schien sogar beinahe als ob sich alle langsamer, fast wie im Traum, bewegten.

Seitdem man die Malereien wirklich begonnen hatte, hatten Niccolò und seine Freunde kaum noch Zeit, die Brüder am Monte Subasio mit ihren Kräuteraufgüssen zu besuchen. Bald merkten sie aber, dass auch Bernabò da Bevagna in allem, was Kräuter und ihre Wirkung betraf, durchaus bewandert war. Seine Methoden der Zubereitung waren denen der Brüder sogar noch überlegen.

Immer häufiger traf dieser sich mit Niccolò, Bartolo und Onofrio, um ihnen Kostproben seiner Zubereitungskunst anzubieten. Heute hatte er eine kleine Menge der Samen des Schwarzen Bilsenkrautes angezündet, als die Freunde zu ihm kamen. Ob es die Wirkung des Rauches war oder ob die drei einfach nach diesem bedrückenden Nachmittag gesprächiger als sonst waren, wusste niemand zu sagen. Jedenfalls plapperten sie bald alle drauflos. Natürlich wurde auch das angesprochen, was eigentlich alle seit der Frage Anselmos beschäftigte. Wann wird das Ende der Welt kommen und wie wird es sein? Die Zeichen deuteten unzweifelhaft darauf hin, dass es nicht mehr lange dauerte. Nicht nur die Erzählungen der Menschen aus dem Norden von den furchtbaren Hungersnöten und den Überschwemmungen in ihrer Heimat waren Zeichen. In einer Stadt namens Köln, die irgendwo dort oben liegen musste, hatte es im letzten Sommer am Tage des heiligen Otto geschneit! Sicher ist es im Norden sehr kalt, aber Schnee im Juli war wohl auch dort nicht alltäglich. Und dann, hat nicht erst vor wenigen Jahren die Erde gebebt und ausgerechnet die Stadt Kaiser Friedrichs zerstört, obendrein sogar die Kathedrale, die der heilige Pietro del Morrone selbst bauen ließ und in der er zum Papst gekrönt worden war? Das alles waren doch Zeichen, Hinweise darauf, dass diese Welt nicht mehr lange bestehen würde.

Und hieß es nicht, Gott kennzeichne die Seinen mit seinem Zeichen? Hatte er nicht genau den heiligen Franziskus gekennzeichnet? Und Chiara von Montefalco? Konnte es also noch irgendeinen Zweifel geben? Das Ende war nahe, das war sicher. Doch wie würde es aussehen? Wer würde gerettet werden? Wer verdammt?

Bartolo meinte, das Weltende sei wohl wie ein Erdbeben. So ein Beben, wie sie es alle schon erlebt haben, nur unermesslich viel schlimmer, weil zusätzlich noch ein feuriger, blutiger Hagel vom Himmel fiele und ein brennender Berg das Meer zum Kochen brachte.

Niccolò fröstelte beim Gedanken an die bevorstehende Feuersbrunst. Und plötzlich hörte er die Posaunen! Immer wieder bliesen die Engel in ihre Posaunen. Sterne stürzten auf die Erde, feurig und schrecklich. Er sah das Meer, dessen Wellen rot wie Blut waren und immer höher aufstiegen. Scharen von Heuschrecken kamen auf ihn zu. Sie kamen so nah, dass er ihre Gesichter sehen konnte. Denn sie hatten Gesichter! Menschliche Gesichter, aber zu fürchterlichen Fratzen verzerrt. Mit den spitzen Zähnen von Raubtieren bissen sie ihn. Er schlug nach ihnen, doch es wurden immer mehr. Da kamen Reiter auf Pferden mit den Köpfen von Löwen, deren Mähne lodernde Feuerflammen bildeten. Der weiße Reiter war da, ausgesandt, um zu siegen. Der Reiter des roten Pferdes, der den Krieg unter die Menschen brachte, der schwarze Reiter mit der Waage brachte Hunger und Elend brachte. Und dann das Pferd mit der grausigen Farbe von Leichen. Der Tod selbst ritt es. Ihre Hufe machten einen ohrenbetäubenden Lärm, übertönten selbst die Posaunen der Engel.

„Nein!“, schrie Niccolò, „nein! Gnade!“

Und da sprachen die Reiter auf den löwenköpfigen Pferden zu ihm. Aber ihre Stimmen tönten alle durcheinander, so dass er nichts verstehen konnte. Das frenetische Getöse drang in seinen Kopf, in seine Brust, wollte ihn zerreißen. Niccolò schrie nicht mehr. Er wurde von dem Getöse aufgesaugt, hin und her geschleudert als sei er nur eine Feder, mit der der Wind sein Spiel treibt. Zuletzt schleuderte es ihn in die Tiefe, in den Abgrund. Es war zu Ende. Er hatte keine Kraft mehr, wehrte sich nicht mehr.

Langsam, sehr langsam, ließ das Getöse nach. Er konnte jetzt die Worte des roten Reiters verstehen: „Was hast du nur? Beruhige dich doch!“, rief er mit erregter Stimme. Die Stimme des Reiters des leichenfarbenen Pferdes dagegen war ganz ruhig:

„Das war wohl zuviel für ihn, lieber Bruder, so starkes Kraut ist er nicht gewöhnt. Bartolo, du musst ihn nach Hause bringen!“

„Ja, er soll sich ausschlafen, und gib ihm recht viel frischen Quellwasser zu trinken!“, bemerkte der weiße Reiter.

Und Niccolò merkte, dass er nur die Auge öffnen musste, und die Heuschrecken, die löwenköpfigen Pferde und der Feuerregen waren verschwunden. Die Welt sah noch genauso aus wie vor diesem schrecklichen Traum. Dieses Mal war er noch einmal davongekommen. Aber gleich morgen, nahm er sich vor, während er an Bartolo gestützt nach Hause stolperte, sobald die Sonne aufginge, würde er seine Sünden bereuen, ja, vielleicht würde er sogar dem Orden der Minderen Brüder beitreten. Und nie wieder würde er den Rauch dieser schrecklichen Kräuter inhalieren.

Teil 3 – fermentatio



1. Kapitel


Astrolabio hatte die Kutte eines Mitbruders übergestreift, und wie immer, wenn er das Gewand eines Anderen trug, war ihm, als wäre er selbst ein bisschen dieser Andere. Weniger energisch und aufrecht als gewöhnlich schritt er daher, sein Gang glich den bedachten Schritten Bruder Giacomos, die Füße nur wenig über dem Boden empor hebend, trennte er den hinteren Fuß erst dann völlig vom sicheren Boden , wenn der andere diesen mit ganzer Sohle berührte. So wurde der große Astrolabio ein wenig zu Bruder Giacomo, dem gebrechlichen, alten, kürzlich an seinem Siechtum gestorbenen. Niemand im Konvent würde die Kutte eines Toten suchen. So war für Astrolabio dieser zufällige Tod des Mitbruders ein passender Anlass, das Zerreißen und womöglich Schlimmeres seiner eigenen Kutte und die darauffolgenden Fragen seitens der Mitbrüder zu vermeiden.

Das Dornengestrüpp an beiden Seiten des Pfades setzte nicht nur dem Gewand zu, sondern auch seinen Beinen, war doch ihr unterer Teil ob der geringen Länge des Habits ungeschützt. Dennoch kam es ihm, der ohne Licht umher ging, willkommen, zeigte es ihm doch sicher an, dass er auf dem richtigen Weg war.

Endlich konnte er die Hütte ertasten, er spürte das raue Holz und, obgleich er sie nicht sehen konnte, schien es ihm fast euphemistisch, dies „Hütte“ zu nennen.

Sowenig man auch die Tür so nennen konnte, passierte Astrolabio diese. Ein kleines Feuer brannte in einer Art Kamin (eher einem aus vier Steinen zusammengesetzten Gebilde) und spendete gerade genug Licht, dass Astrolabio beide erkennen konnte. Den Lebendigen, wohlgeformten, der auf dem Boden kauerte, schwer atmend und mit hörbarem Herzschlag, und den leblosen, grotesk deformierten Körper, der sogar jetzt noch, wo er doch unbeseelt war, Schmerz und Leid ausstrahlte. Denn obschon man ihn rücklings gelagert hatte, berührte sein Kopf nicht den Boden. Er ähnelte mehr einem gerade aus einem Alptraum Erwachten, zwar noch wirr, sich doch schon zum Aufstehen Anschickenden, als einem Toten. Die Verformung des Körpers mit dem fehlenden Hals ließ nicht einmal der leblosen Larve ihren Frieden.

Astrolabio beeilte sich, den mitgebrachten Sack über den Toten zu streifen. Gemeinsam schleppten sie ihn heraus, den dornigen Weg wieder hinauf bis zu den Quellen von Moiano. Sie öffneten die kleine Pforte zum Hof des Hauses und schleppten den Sack einige Treppenstufen hinab, dann weiter durch mehrere finstere Kammern bis Astrolabio endlich eine Lampe anzündete und auf eines der Weinfässer stellte. Wie die Wächter einer Burg standen die Fässer um einen großen Tisch herum, auf den die beiden Ihre Fracht hievten.

„Damit hast du deine Aufgabe erfüllt“, sagte Astrolabio, „du hast dir deinen Lohn verdient. Für diese Mal. Ich gebe dir mehr als vereinbart, damit auch die nächsten Male zu erfolgreichem Ende führen.“

Der Jüngling streckte langsam die Hand dem kleinen Beutel entgegen, den der Benediktiner ihm reichte, zog sie einen Moment wieder zurück, griff aber schließlich doch danach. Zögernd sagte er: „Herr, ich glaube, es war das letzte Mal, wenigstens auf diese Weise. Es wird nicht mehr gehen.“

„Warum soll es nicht mehr gehen? War diese Methode bislang nicht gut, sogar vollkommen? Niemand hat etwas bemerkt, niemand kann etwas bemerken. Ja, und noch nicht einmal die Toten selbst haben großes Leid ertragen müssen, wenngleich das doch kaum ein Maß ist, mit dem uns zu vermessen zusteht.“ Astrolabios Stimme klang ruhig, fast eintönig wie die Glocken einer Kirche bei ihrem täglichen Ruf zur Messe, in deren die Ewigkeit zeichnenden Melodie doch das Unheil einer Leid verheißenden Predigt mitschwang.

„Das ist es nicht ..., versteht doch, Herr. Dieser war freundlich, selbstlos, jener aber ist es nicht, und deswegen wird die Vorgehensweise nicht dahin führen, wo Ihr es gerne hättet, dass sie führt.“

„Was soll das heißen?“

„Es wird nicht gehen, nicht wie bei den anderen mit der Speise. Vielleicht, wenn ich ein Mädchen wäre, aber auch dann ... Er war anders“, er sah den seltsam geformten Sack an, „er dachte an mich, freute sich an meiner Freude, das war sein Wunsch. Er lud mich in sein Haus ein und besuchte mich sogar hier. Aber die anderen, die denken nur an ihre eigene Lust. Versteht Ihr ...“

„Nein, aber wenn es auf die eine Weise nicht geht, so wirst du eine andere finden. Wichtig ist, dass der Weg zum Ziel führt, welchen Weg du gehst, steht dir an, zu entscheiden.“

Endlich konnten sie die Vorzeichnungen anfertigen, diese dann auf die Kartons vergrößern und auf die Gewölbefelder übertragen, Sinopien auf den trockenen Putz aufmalen, und was dergleichen Vorarbeiten mehr waren. Francesco hielt seine Mitarbeiter gehörig in Atem, so als gelte es, die verbummelte Zeit des Winters wieder aufzuholen, als könne er die vergangene Zeit wiedergewinnen. Und so wurde in der Werkstatt gezeichnet, entworfen und vermessen. Ständig drängte Francesco die anderen zur Arbeit. Er wolle nun endlich fertige Zeichnungen sehen, zumindest des Gehorsams und der Keuschheit, war man sich bei diesen beiden doch weitgehend einig. Der Gehorsam, die heilige Oboedientia, sollte ein Joch auf ihren Schultern tragen und einem demütig vor ihr knienden Mönch ebenfalls ein Joch auflegen. Klugheit und Demut sollten ihre Begleiterinnen sein. Die Keuschheit dagegen sollte im Turmstübchen einer Festung von allem weltlichen Geschehen abgeschieden sein. Die Festung aber – die feste Burg des Glaubens – würde von bewaffneten Männern bewacht. Nur durch das heilige Sakrament der Taufe sollte sie zugänglich sein. „Wie die Geliebte des Ritters Durante“, flüsterte Chiara zu Beatrice und sah von ihrer Zeichnung eines Kentauren auf, „sitzt nicht auch sie in einem Turm und wird von allerlei Unwesen bewacht? Ekel, Scham, Angst ...“

Auch Beatrice musste zugeben, dass die Zeichnung des Turms der Keuschheit dem der Geliebten des Romans ähnelte. Doch war die Geliebte gegen ihren Willen gefangen genommen worden und wartete auf ihre Befreiung.

„Diese hier sitzt freiwillig in ihrem Turm, niemand wird sie befreien. Sie ist wie die Frauen auf der Ponte alle Grazie.“ Beatrice dachte an die kleinen Zellen auf der Brücke über dem Arno in Florenz, in denen sich fromme Frauen einmauern ließen, um ihr Leben in Gebet und Meditation zu verbringen. Als kleines Mädchen hatte Beatrice einmal versucht, einen ganzen Tag unbeweglich zu knien wie diese Frauen. Sie hatte nicht aufgegeben, als ihre Beine schmerzten, sie wollte verstehen, was diese Frauen empfanden. Doch es war damals der eine Moment gekommen, als sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Es war nur ein Augenblick, doch sie war wie durch eine stärkere Macht getrieben ohne Zutun des eigenen Willens aufgesprungen und, nachdem sie mit den Füßen, die kribbelten wie von tausend Ameisen durchwandert, mehrmals aufgestampft hatte, los gerannt war, hinaus aus ihrer Kammer und durch die Straßen und Gassen von San Pancrazio, ihrem Stadtteil, wo die Nachbarn sie für toll gehalten hatten.

„Aber warum wird sie dann bewacht“, unterbrach Chiara ihre Gedanken, „die heiligen Frauen auf der Ponte alle Grazie bewacht doch auch keiner.“

„Ja, wahrscheinlich ist die Keuschheit etwas, das viele erreichen wollen, aber nicht jeder wird zu ihr gelassen. Nur die, die wirklich ein reines Herz haben; deswegen ist da auch die Reinheit, die sich über die Mauer beugt und dem Getauften die weiße Fahne reicht. Die anderen dagegen fallen in den Höllenschlund.“

Beatrice drängte es, sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Sie leitete gerade die Lehrlinge an, die Gewölbefelder zu vermessen. Mit Senkloten bestimmten sie die Vertikalen; die Horizontalen dagegen markierten sie mit in Farbpulver getauchten Schnüren, die von zwei Personen zu beiden Seiten auf gleicher Höhe gespannt wurden und von einer dritten wie die Saite einer Laute gezogen wurde und dann gegen die Mauer schlug. Und auch Chiara setzte sich wieder auf den Boden, um sich ihrer Zeichnung des Mischwesens aus Pferd und Mensch zuzuwenden. Um sie herum lagen mehrere Zeichnungen von Pferden in verschiedenen Zuständen der Bewegungen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Während diese beiden sich in ihre Arbeit vertieften, suchte Guido di Giacomo in der Werkstatt zwischen Tiegeln und Behältern. Er hatte seine Bemalung einer Hochzeitstruhe unterbrochen.

"Puccio, wo hast du unsere Farben schon wieder hin geräumt? Musst du immer unsere Farben verräumen, Maremma cane? Reicht es nicht, wenn du deine Sachen in Ordnung hältst?"

"Ich habe überhaupt nichts verräumt", gab Puccio Capanna zurück, "ich bin Freskomaler und keine Magd, die die Werkstatt aufräumt! Frag' doch den Kameraden Anselmo, sind es nicht die Deutschen, die die Ordnung so lieben! Was fehlt dir überhaupt?"

"Gestern habe ich in langer und schweißtreibender Arbeit das Rauschgelb gerieben. Ich habe auch Glasstaub dazugegeben. Du weißt wohl, dass es von allen Farben die am schwersten zu reibende ist?"

"Ich bin Freskomaler, ich benutze kein Rauschgelb", erwiderte Puccio Capanna brüskiert.

"Jedenfalls habe ich es in einen irdenen Behälter gegeben, den ich dann in die hintere Reihe auf dieses Brett gestellt habe. Jetzt ist er aber nicht mehr da, weder hier noch anderswo sehe ich ihn."

"Der Behälter wird schon irgendwo sein", schimpfte wiederum Puccio, "such' halt ein wenig. Wenn ihr Holz- und Stoffbemaler ein bisschen ordentlicher mit eurem Kram wäret, dann würdet ihr es auch finden. Porca miseria, unsere Arbeit ist schon schwer genug. Wir können uns nicht auch noch um eure Ordnung und eure Farben kümmern, wie eine Amme um kleine Kinder!"

Guido aber suchte die Werkstatt ab, befragte weitere Mitglieder nach dem Verbleib des besagten Behälters, doch keiner wusste etwas davon.

"Oh Guido, warst du gestern etwa so betrunken, dass du dir nur einbildest, die Farbe gerieben zu haben?", stichelte schon wieder Puccio.

"Ich habe die Farbe gemahlen, bevor wir ins Wirtshaus gingen, das weißt du ganz genau!" Guido ballte die Fäuste.

Wahrscheinlich wäre es zwischen den beiden wirklich zu einer Schlägerei gekommen, hätte nicht Beatrice in diesem Moment den Kauf einer größeren Menge von Rauschgelb bestätigt, den sie zusammen mit ihrer Schwester selbst vorgenommen und auch in den Rechnungen verzeichnet hatte. Die beiden Streithähne beruhigten sich, doch die Farbe blieb verschwunden, was umso ärgerlicher war, da Guido am Tage zuvor wirklich große Mühe aufgewendet hatte, um das Rauschgelb möglichst fein zu reiben. Keine andere Farbe kam dem Gold so nahe wie diese, deswegen bearbeitete Guido sie auch stets mit größter Sorgfalt. Und nun war sie verschwunden. Eine Angelegenheit, die auch Francesco zu allgemeinen Unmutsäußerungen veranlasste. Doch seine schlechte Laune wurde schlagartig von einem Neuankömmling erhellt.

„Sei gegrüßt, Meister Pietro! Wie laufen die Geschäfte? Wie es scheint, nur allzu gut, erwarten wir dich doch schon seit geraumer Zeit!“ Francesco sprang vom Gerüst gesprungen und begrüßte den gerade Angekommenen. Niccolò sah ihm nach. Das war also der berühmte Maler aus Siena!

Meister Pietro umarmte Francesco wie einen alten Freund. „Lieber Francesco, wenn es doch nur die Geschäfte gewesen wären, die mich abhielten, früher in diese schöne und ruhige Stadt zu kommen! Aber sag, wie geht es deinem viel gerühmten Vater Giotto? Selbst bei uns in Siena redet man ständig von ihm, wo es uns doch an großen Meistern nicht mangelt und der Geist des großen Duccio di Buoninsegna immer noch alles überstrahlt.“

„Vater kann es kaum erwarten, dich zu begrüßen. Doch ich glaube, du täuschst dich, in dem, was du über Assisi sagst. Hier ist es lange nicht so ruhig, wie es aussieht“, und etwas leiser fügte er hinzu: „weit entfernt sind wir hier von der wunderbaren kommunalen Ordnung, der Herrschaft des Volkes, deren deine Stadt sich rühmt und deren Licht noch heller zu strahlen scheint als das der Sonne.“

Endlich verstand Niccolò, was Francesco wollte. Das Volk sollte regieren. Warum verbrachte er dann aber seine Zeit mit Männern, die so taten, als seien sie Dichter, statt sich einfach in die Signoria wählen zu lassen? Als Mitglied einer Zunft war ihm das doch möglich. Niccolò dachte an die Regierung in Florenz. Regierte dort nicht das Volk? Und die Ordinamenti della giustizia hatte man dereinst ohne solch seltsames Getue durchgesetzt.

„Deine Rede gefällt mir wohl, lieber Francesco“, und nun senkte auch Meister Pietro seine Stimme, „nur die Regierung kann gerecht sein, in der das Volk regiert, das ganze Volk. Jeder, der durch seine Arbeit Gott und der Kommune dient, muss an der Regierung beteiligt sein. Doch leider sieht die Wirklichkeit in diesen schlechten Zeiten ganz anders aus, auch in meiner Stadt, lieber Francesco, die sich doch so ihrer guten Regierung rühmt.“

„Was sagst du? Herrscht in Siena nicht der Rat der Neun, die vortrefflichste alle Regierungen?“

„Nun, einige Zünfte wurden von der Regierung der Neun schon lange schlechter behandelt als andere, mit höheren Abgaben belegt oder gar von der Regierung ausgeschlossen. Und das nicht etwa, wie damals, als sie die Magnaten ausschlossen, die mit ihrem Geld die Dinge beeinflussten und damit mehr Macht an sich rissen als ihnen zustand. Du weißt sicher, dass zeitweise sogar unsere Zunft, die Zunft der Ärzte und Apotheker, ausgeschlossen wurde, nur weil sie in Verdacht stand, sich an den schmutzigen Geschäften jener zu beteiligen. Und doch wurden jene zu Recht von der Regierung entfernt.

Nein, ich rede von der Zunft der Metzger und Schlachter, denn mit ihr liegt die Regierung der Neun seit einiger Zeit in Streit. Es ist seit langem das gleiche Spiel: in Zeiten, in denen das Volk ihres Dienstes besonders bedurfte, wie an Weihnachten oder Ostern, wurden sie von der Regierung mit höheren Abgaben belegt. Du weißt ja, dass in unserer Stadt mit dem Handel von Fleisch ein gutes Geschäft zu machen ist, besitzen wir doch die sumpfige Maremma, wo die Tiere auf das Beste gedeihen. Die Zunft reagierte auf die erhöhten Abgaben allerdings mit Streiks; die Regierung gab nach, man einigte sich zumeist auf halbem Wege, und die Gemüter beruhigten sich leidlich bis zum nächsten Aufstand.

Aber heute sind vielleicht neun Räte nicht mehr genug für eine Stadt wie die unsere. In der Stadt tobten die Kämpfe der Parteien, der Tolomei und der Salimbeni, und draußen im Umland bekriegten sich die Orte der Maremma, belagerten und zerstörten sich gegenseitig. Gleichzeitig ließ sich zu unserer großen Freude und Ehre auch unser geschätzter Kaiser Heinrich in unserer Stadt nieder und bedurfte für seine heilige Mission des Schutzes und des Friedens.

Kurz und gut, die Neun hatten alles versucht, damals vor vier Jahren. Dicke eiserne Ketten schützten die Piazza del Campo vor den wild gewordenen Horden der Tolomei und Salimbeni. Dann ging plötzlich das Gerücht in der Stadt um, Truppen aus Arezzo rückten an, um die Tolomei zu unterstützen. Und die Regierung versperrte die Stadttore. Wer sich nicht an die Sperre hielt, dem sollte sogar der Fuß amputiert werden! Und trotzdem wurden sechs Männer aus dem Umland festgenommen. Doch als ihnen noch im Palazzo Pubblico der Prozess gemacht wurde, hatte sich bereits das Volk, Handwerker und Ladenbesitzer – ich selbst war auch dabei – auf der Piazza versammelt. Große Steine auf den Palazzo werfend schrien wir: 'Lasst sie frei, lasst sie frei!'

So gelang es uns auch, fünf der Männer zu befreien. Aber dem sechsten erging es arg. Während wir noch auf der Piazza versammelt waren, sahen wir plötzlich etwas aus dem Fenster des Palazzo fliegen und wenige Fuß vor mir in der Menge landen. Ich kämpfte mich durch das Gewühl und – da sah ich das furchtbare Relikt: es war der Kopf des Mannes! Frisches Blut lief heraus, er war gerade erst vom Körper abgetrennt worden. Der Aufruhr auf der Piazza war enorm. Und bald war auch die ganze Stadt bewaffnet. Es fehlte nicht viel, und die Regierung wäre gestürzt worden!

Unsere Regierung hingegen, statt die Gemüter auszugleichen, statt für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, schloss die Zunft der Metzger erneut aus und legte ihnen gleichzeitig noch höhere Steuern auf. Vor einigen Wochen kam es daher zum Aufstand der Metzger. Nun weißt du vielleicht, dass die Läden der Metzger wohl über die ganze Stadt verteilt sind, besonders aber in der Nähe der Piazza del Campo. Unter den Metzgern aber, durch ihr tägliches Handwerk an Blutvergießen gewöhnt, außerdem mit allerlei Waffen ausgestattet, machte sich immer größere Wut breit. 'Sorgen wir nicht durch unsere Arbeit mit für den Reichtum unserer Stadt? Gehören wir nicht auch zur Mezza Gente?', fragten sie.

Als nun im letzten Sommer der Krieg gegen Massa Marittima im Gange war, und die Truppen unserer Stadt in der Maremma und wir in Siena damit ohne eine richtige Verteidigung waren, kam es erneut zur Belagerung. Eine Gruppe von Verschwörern, Metzger, Notare und Schmiede besetzten den Palazzo Pubblico, versperrten die Wege, die zum Campo führten, und konnten dabei beinahe ungestört vorgehen. Manch einer glaubte gar, der Krieg gegen Massa Marittima sei nur ein Vorwand gewesen, um die Truppen aus der Stadt zu entfernen. Und wirklich, so schnell dieser Krieg begonnen hatte, so schnell war er auch wieder vorbei. Die Soldaten kehrten in die Stadt zurück, die Stimmung war schlecht, war doch die Kriegsbeute längst nicht in der erwarteten Höhe ausgefallen, und so war es nicht schwer, auch die Soldaten zum Aufstand gegen die Neun anzustacheln.

Wie glaubt Ihr nun aber, lieber Francesco, war die Reaktion der Neun auf diesen Aufstand?“

„Nun“, sagte Francesco ein wenig zögerlich, „ich vermute, sie reagierten mit einiger Härte ...“

Pietro Lorenzetti fiel ihm ins Wort: „Genau das taten sie nicht! Alle haben wir uns Verurteilungen der Rädelsführer erwartet, zumal ihre Namen allen Bürgern und erst recht den Neun bekannt waren. Doch nichts geschah! Der Capitano del Popolo zog sich zurück und verschloss seine Tore. Niemand wurde bestraft. Man ließ die aufständischen Metzger in den Palazzo Pubblico, man ließ sie sogar an der Regierung teilhaben. Die Richter und Notare aber, die schloss man aus.“

„Ausgerechnet Richter und Notare!“, rief Francesco entsetzt, „hängt nicht die Wahrung des Friedens genau von ihnen ab?“

„So ist es. Die Metzger schienen den Neun so schwach, dass sie nichts von ihnen befürchteten. Die Richter und Notare aber ... Jedenfalls kam es im letzten Herbst schon wieder zum Kampf. Doch diesmal kamen verschiedene Familien der Adeligen der Regierung zur Hilfe, die natürlich selbst wieder an die Macht wollten. Nun am Ende, was soll ich sagen, einige Aufständische wurden vor aller Augen verurteilt, die anderen machten sich des Nachts still und leise davon. Der Aufstand aber war endgültig gescheitert.“

„Und jetzt, wie sieht es heute aus in Siena?“

„Nun, es fehlt an allem, wir haben keine Richter – nur noch solche, die die Regierung selbst einsetzt – du kannst dir vielleicht vorstellen, wie die Einstellung zur Gerechtigkeit dieser Herren aussieht; wir haben kein Fleisch. Die Leute glauben, wir lebten in Frieden, aber es sieht nur so aus. Der Frieden mit seinem sanften Gesicht ruht eigentlich auf Waffen; Waffen, die jederzeit wieder hervorgeholt werden können. Ich sage dir, ohne Gerechtigkeit ist der Frieden nur ein falscher Frieden, wie ein junges Mädchen mit goldenen Locken und von lichtem Antlitz, wenn du aber nach unten schaust, dann siehst du, dass es Teufelskrallen hat.“

Niccolò lauschte dem Gespräch mit steigendem Erstaunen. Warum gibt es keine Gerechtigkeit? Wenn die Regierung gerecht ist, die die Richter einsetzt, dann müssen diese doch auch gerecht sein? Oder war es doch komplizierter?

„Der eisige Wind hat also auch Siena ergriffen, die Stadt, die uns immer ein Vorbild war! Doch hier ...“ Francesco zögerte und senkte seine Stimme noch mehr, so dass Niccolò kaum noch lauschen konnte, „hier ist er schon zu einem heftigen Sturm angewachsen. Einige Ritter haben auch schon im Kampf ihr Leben gelassen.“

„Was sagst du da, Francesco?“

„Zwei – bis jetzt – sind zu Stein erstarrt. Beide besaßen einen Teil ...“

Die weiteren Worte flüsterte Francesco, und Niccolò konnte sie nicht mehr verstehen. Schließlich ergrifft wieder Pietro das Wort:

„Nun aber genug davon, ich habe etwas mitgebracht, das Eurem Großmeister sicher gefallen wir. Ein Maler, der mit unserem Kollegen Simone gearbeitet hat, kam direkt aus Neapel und brachte dieses Werk mit. Er sagte, es sei sehr erhellend.“

Francesco sah das Pergament an, das Pietro ihm reichte. „Was ist das für eine Sprache?“

„Es ist eine Übersetzung von irgendeinem Briten, gemacht von einem Anderen, der in Paris studiert. Also unverständlich für unsereins.“

Einmal begrüßte Giotto auch den Bischof Tebaldo da Pontano und seinen Begleiter Astrolabio da Salerno in der Werkstatt. Er führte sie zu den teilweise schon fertiggestellten Fresken seines Schwiegersohns im Querhaus und erbot sich, ihnen die Entwürfe zu erläutern, die freilich zunächst nur in kleinem Maßstabe und auf Papier vorlägen. Der Bischof zeigte sich geneigt und begab sich sofort mitten in die arbeitende Schar, wo er sich von den Gesellen ihre Tätigkeit erklären ließ, alles mit den Händen berührte, einen Napf mit roter Erde aus Siena umstieß und es nicht an Beifall mangeln ließ.

Astrolabio da Salerno sah dem Treiben von weitem zu, richtete seine Augen mehrfach auf Niccolò, und wandte sich schließlich an den Meister selbst, um ihn für die gute Organisation seiner Werkstatt und das zügige Voranschreiten der Arbeiten zu loben. Nicht gutheißen könne er jedoch, als Mann der Wissenschaft und als Mann der Kirche, jedoch, dass es den Anschein haben, in des Meisters Werkstatt führten auch Weibsbilder Arbeiten aus, die der Schöpfer nicht für sie bestimmt habe. Er sähe, des Meisters Töchter beim Zeichnen und sogar auf dem Gerüst. Wenn er sich recht erinnere, habe der Meister Giotto selbst dereinst die Äußerung getan, die Malerei sei keine mechanische Kunst, sondern gehöre zu den freien Künsten, denn ihr Ziel sei keineswegs nur das Produkt, das sie herstelle. Vielmehr sei das Ziel der Malerei aber die Vervollkommnung des Menschen. Er, Astrolabio, frage sich aber nun, wie kann eine Arbeit, an der Frauen direkt beteiligt sind, an der sie gleichsam ihren Anteil haben, statt sich ihrer Bestimmung nach dahinein zu bemühen, den Männern die Arbeit so erträglich wie es nur möglich sei, zu gestalten, zur Vervollkommnung des Menschen beitragen? Aber sicherlich sei das nur eine Ausnahme, weil es dem Meister an männlicher Arbeitskraft fehle.

Obgleich selbst nicht Gegenstand der Kritik fühlte Niccolò Astrolabios Blick wie einen kalten Pfeil in seinen Körper dringen und seine Hand begann zu zittern. Er hielt den Blick auf seine Zeichnung gesenkt, als könne er sich darin verstecken.

Giotto indes lobte das rhetorische Vermögen des Benediktiners und entgegnete dann:

"Was sagt Ihr, lieber Freund, es gefalle Gott nicht, dass meine Töchter zeichnen und malen wie meine Söhne? Ist es nicht genau Euer Landsmann, der Doctor Angelicus, der sagt: 'Je näher ein Werk seiner Vollkommenheit ist, desto größer ist das Vergnügen des Handwerkers'? Die Aufgabe unserer Kunst ist die Nachahmung der Natur, weil die Natur direkt der Vernunft Gottes entstammt. Meine Tochter Beatrice vermag aber die Natur und die Welt, die Gott geschaffen hat, besser darzustellen als viele meiner Lehrlinge. Und meine Chiara, wenngleich noch arm an Erfahrung ob ihrer jungen Jahre, zeichnet schon Tiere, die direkt dem Leben entsprungen scheinen. Wäre es daher nicht vielmehr Sünde, die beiden zu Hausarbeit zu verdonnern wie sie Eurer Ansicht nach den Frauen ansteht? Beide empfinden Freude bei ihrer Arbeit. Und das zeigt doch, dass ihre Arbeit gottgefällig ist. Die Freude, die aus der Arbeit folgt, und ihre große Kunstfertigkeit sind die Antwort Gottes auf ihre Werke.

Ich selbst bin als Sohn eines Schmiedes aufgewachsen. Hätte mein Vater so gedacht wie Ihr, lieber Bruder Astrolabio, dann wäre ich heute als Schmied in Florenz tätig, und die Geschichten des heiligen Franziskus, die Ihr hier über uns sehen könnt, gäbe es eben sowenig wie Enrico Scrovegnis Kapelle in Padua. Nein, Ihr seid reich an Wissen und Lehre. Aber glaubt einem alten Mann, der Euch an Lebenserfahrung um einige Jahre voraus ist. Die Freude an der Arbeit und ihr Gelingen bei allen Schwierigkeiten, die deine Arbeit mit sich bringt, sind Gottes Lohn und zeigen dir, dass deine Arbeit Gott gefällt."

Vom Laster der Neugier getrieben, blickte Niccolò zaghaft nach oben bis die farblosen Pfeile des Blicks Astrolabios ihn wieder in seine Deckung zwangen.

"Meister Giotto, du bist ein großer Maler", entgegnete Astrolabio, "du bist der erste in deiner Kunst. Doch das Auslegen der Werke der Philosophen sowie der Heiligen Schrift obliegt den Gelehrten Gottes, den Männern der Kirche. Die Frau ist der Grund, warum der Mensch sich von Gott entfernt hat. Sie war es, die den Mann verführte, von der verbotenen Frucht zu essen. Die Strafe aber für diese erste Sünde des Ungehorsams bestand in der Arbeit mit ihren Mühen. Arbeit soll keine Freude machen, Arbeit ist Mühe! Sie soll uns ständig unserer Sündhaftigkeit erinnern. Die Arbeit des Weibes ist deshalb auch mühevoller und freudloser, weil sie die größere Schuld an der Strafe trägt!"

"Geschätzter Magister, mir scheint, Ihr vergesst den großen Augustinus. Nur die Mühe der Arbeit ist die Strafe für den Ungehorsam des Menschen, nicht die Arbeit selbst. Arbeit gab es bereits im Paradies, allein sie war noch frei von Mühsal. War es nicht Gottes Auftrag an den Menschen im Paradies, selbiges zu bebauen und zu bewahren? Auch nach dem Abfall von Gott sollen wir mit unserer Arbeit Gottes Schöpfung schöner und herrlicher machen. Deswegen gab er uns die Vernunft und die Fähigkeit zum Schaffen in unseren in Sünde verhangenen Körper.

Und was die Verführung durch das Weib angeht, lieber Bruder Astrolabio, liegt nicht die Schuld ebenso beim Verführten wie beim Verführer? Ich selbst, obschon der Schöpfer mir nicht Eure wohlgefällige Gestalt gegeben hat, war im Laufe meines langen Lebens doch mehrmals das Ziel weiblicher Verführungsversuche. Denn nicht nur die schöne Gestalt des Körpers, auch Kunstfertigkeit und vor allem der aus ihr hervorgehende Ruhm reizen das Weibsvolk. Allein der Gedanke an meine Frau, der ich von ganzem Herzen zugetan bin und der ich kein Leid zufügen möchte, machte mich stark genug, diesen Versuchen zu widerstehen. Und Ihr? Seid ihr nicht auch ständig ähnlichen Angriffen ausgesetzt? Die schlechten Frauenzimmer lassen sich nicht vom geistlichen Gewand abschrecken, sie sehen nur den wohlgeformten Körper darunter. Und dann sind da auch noch andere Verführungen des Fleisches wie gute, aber zu üppige Mahlzeiten, Wein und andere Genüsse, deren Verführungskraft Ihr wohl kennt. Trotzdem zweifelt niemand an Eurer Festigkeit. Wenn nun aber wir Sünder in der Lage sind, Verführungen zu widerstehen, wäre es nicht auch unser Urvater im irdischen Paradies gewesen? Wenn doch obendrein die Standhaftigkeit des Mannes, wie Ihr sagt, der des wankelmütigen Weibes um so vieles überlegen ist, muss dann nicht seine Schuld sogar die der Frau übersteigen?"

"Meister Giotto," versetzte Astrolabio mit kühler Stimme und seine Oberlippe bildete einen rechten Winkel, "ich werde Fragen der Theologie nicht mit einem Handwerker erörtern."

Mit einem letzten Blick auf Niccolò verließ er die Werkstatt.

Niccolò verharrte in seiner Position. Er richtete seine Augen auf die Zeichnung der Unwesen, die nach dem gescheiterten Versuch, die Festung der Keuschheit zu erobern, in den Abgrund stürzten. Doch er fühlte sich wie in Eis fest gefroren. Warum aber fürchtete er diesen Astrolabio so? Was sollte dieser ihm antun? Er selbst war doch nur ein Maler in der Werkstatt Giottos, und auch wenn die Ansichten des Meisters nicht auf das Wohlgefallen irgendeines Mönches stießen, was hatte er damit zu tun? Betraf es ihn nicht ebenso wenig wie Bartolo oder Guido oder Puccio oder all die anderen Maler? „Aber warum schaute er ständig nach mir?“ fragte sich Niccolò, „was will er von mir? Was will er überhaupt? Warum kommt er in unsere Werkstatt, schaut sich Bilder an, die weder er noch sein Bischof bezahlen und meckert dann auch noch an unserer Arbeitsweise herum? Ist es denn die Kunst, die ihn stört? Die Kunst an sich, die Kunst, deren Herstellung dem Künstler Arbeit und Mühsal, aber am Ende doch Freude bedeutet?“ Niccolòs Hände zitterten jetzt weniger vor Angst als vielmehr vor Zorn. Warum konnte dieser Mann der Kirche ihn und seine Kollegen nicht einfach ihre Arbeit verrichten lassen? Jedoch, hatte Meister Giotto ihn nicht auf intelligente Weise zum Schweigen gebracht, diesen gelehrten Herrn? Sogar Augustinus hatte Giotto erwähnt! Woher kannte er wohl die Werke eines Theologen? Ohne die Lippen zu bewegen, musste Niccolò lächeln. Er griff nach seinem Stift. Eine seiner Figuren harrte noch ihrer Vollendung. Ein Mischwesen mit Bärentatzen und dem Oberkörper eines Menschen, aus dessen Körper Flammen züngelten, stürzte mit den anderen in den Höllenschlund. Niccolò zeichnete das Gesicht des Unwesens, weit aufgerissene Augen blickten entsetzt zurück, die Oberlippe rechtwinklig verformt stand der Mund halboffen, als sei gerade ein Schrei des Entsetzens aus ihm ertönt.

2. Kapitel


Niccolò hockte in der Ruine der alten Festung auf einem Stein. Zwei Miniaturen waren diesmal in der Rolle, die Bruder Onofrio ihm vor einigen Tagen überreicht hatte. Patientia, die Geduld, betete ruhig in einem Stübchen, wo Iniuria, die Schmähung, mit den Fäusten auf sie einschlug. Wie schrecklich verwachsen war die Figur der Iniuria! Ihre Füße zeigten nach vorne aus dem Bild heraus, ebenso wie das Gesäß, die Schultern vollzogen eine weitere Drehung, der zu groß geratene Kopf seinerseits wandte sich ins Bild hinein. Der Hörner hätte es gar nicht bedurft, um sie als eine Anfechtung darzustellen. Wie harmonisch nahm sich dagegen Patentia aus! Ihr Gesicht entsprach allen Regeln der Proportion, auch die Faltung ihres Schleiers und ihres Gewandes zeigte eine kalligrafische Schönlinigkeit.

Spes dagegen, die Hoffnung, stand auf den Mauern einer Festung. Quadratisch und mit fünf Türmen ähnelte der massige Bau der Festung der Keuschheit. Am Mauerwerk eines jeden Turmes aber war an einem eisernen Ring ein Seil angebunden. Die geflügelte Gestalt der Hoffnung bündelte alle fünf Seile in der Mitte zusammen, während die anderen Enden von der Festung herunter hingen und von Gläubigen flehend ergriffen wurden.

„Niccò! Kommst du mit uns?“ Bartolo erschien plötzlich neben den Resten einer Mauer, gleich daneben das Kugelgesicht Bruder Onofrios.

„Du weißt doch, dass ich lernen muss!“ Niccolò bemühte sich, Gleichgültigkeit in seine Stimme zu legen, doch insgeheim hoffte er, den Neid des Freundes zu erregen.

„Du mit deinen komischen Figuren, die du dir immer anschaust! Was hast du denn heute, wieder irgendwelche moppeligen Frauen, die Taschen nähen?“

„Sicher nicht so moppelig wie du, das geht ja kaum noch! Der Mond ist nicht so rund wie du!“

„Denn Weisheit wird in dein Herz eingehen, auf dass du gerne lernst. Ich sehe, der Scholar ist fleißig.“

Niccolò blickte in das schelmische Grinsen Bruder Onofrios. „Was soll das, Bruder Onofrio, warum muss ich das alles lernen? Sag mir doch einfach, was darin steht und vor allem, was dieses seltsame Bild mit der Frau und der Festung soll, und ich habe wieder Zeit für andere Dinge ...“

„O nein, lieber Freund, da verkennst du den Sinn der heiligen Discretio und Spes, der Tugenden der Novizen und Scholaren. Du musst selbst lernen, du musst dich anstrengen, nur dann wird deine Arbeit Früchte tragen.“

„Meine Arbeit!“ entgegnete Niccolò, „meine Arbeit ist das Malen, ich bin kein Dichter, was soll ich also in eurem Dichterkreis? Ihr redet seltsame Worte; seit ich hier in Assisi bin, höre ich lauter Reden, die ich nicht verstehe. Ich bin aber Maler, kein Poet, und schon gar kein Magister. Warum lasst ihr mich nicht einfach meine Arbeit machen?“

„Siehst du“, antwortete Bruder Onofrio und sein Grinsen wurde breiter, „du hast noch nichts verstanden, noch gar nichts! Meister Francesco will dich in die Gruppe aufnehmen, und du, du hast noch nicht einmal verstanden, worum es geht. Die Cavalieri, sind nicht einfach ein Dichterkreis, auch wenn wir uns manchmal mit Worten ausdrücken, die nicht sofort jeder versteht, die nicht jeder verstehen soll. Lerne du nur fleißig, dann wirst du es eines Tages auch verstehen. Meister Francesco jedenfalls vertraut darauf. Lerne erst einmal emsig die Regeln des Fleißes, dann wird diese Tugend irgendwann ein Teil deiner Seele und dich keine Anstrengung mehr kosten. Dann hört sie auch auf, Tugend zu sein. Denn Dinge, die wir nicht durch Anstrengung erwerben, sondern die uns von unserer Natur her leicht fallen, sind kaum besonders zu loben. Deswegen wird deine Seele auch erst wirklich befreit sein, wenn du dich von den Tugenden verabschiedet haben wirst.“

„Ich soll lernen, um das, was ich gelernt habe, wenn ich es erst kann, wieder zu vergessen?“

„Ja, wenn du die Tugend an sich zu der Deinen gemacht hast, gleich so, als wäre sie deine Geliebte, dann wird sie zu deiner Ehefrau. Du besitzt sie und musst dich nicht mehr darum kümmern, sie zu erobern.“

„Ein trefflicher Vergleich für einen Minderen Bruder“, dachte Niccolò, laut aber sagte er: „und du, Bruder Onofrio, bist wohl schon auf dieser Stufe? Dich kostet das Einhalten der Tugenden wohl keinerlei Anstrengung mehr?“

„Sorge dich nicht, irgendwann wirst auch du das Licht sehen. Die Liebe wird dich befreien von den Tugenden. Dann wirst du nur noch für deine Geliebte leben, du wirst keine Angst mehr haben, weil deine Liebe dir alles gibt. Deine Seele wird in ihrer Ruhe erstrahlen, du wirst ...“

„Bruder Onofrio!“ Bartolo unterbrach seinen Redefluss, „wollten wir nicht den Brüdern im Eremo zum Abendessen Gesellschaft leisten?“

Niccolò spürte einen brennenden Geschmack auf der Zunge. Er sprang auf. „So, das soll also die höhere Stufe sein? Sich mit irgendwelchen Dämpfen zu berauschen und dann philosophische Reden zu halten, denen ohnehin keiner zuhört? Und dich, Bartolo, sah ich heute Morgen aus der Vorratskammer kommen. Du kautest sogar noch, und auf deinem Gewand waren Krümel. Ich glaube kaum, dass die spärlichen Mahlzeiten, die die Brüder bereiten, dich sättigen könnten. Mit jedem Tag wird dein Teller voller und du immer runder. Ihr beiden seid wahrhaftig die wahren Liebhaber der Herrin Armut!“

„Siehst du, wie sie toben, die kleinen Wesen in seiner Seele, Zorn und Neid“, Onofrio drehte sich dem verlegen grinsenden Bartolo zu, „diese Teufelchen bohren ihren Spieß in sein Herz und werfen mit Giftpfeilen um sich. Lieber Bruder, widme du dich erst einmal deinem Studium, dann wirst du lernen, dass es andere Mahlzeiten gibt als die leiblichen. Komm, Bartolo, lassen wir den Herrn Magister studieren.“

Mit diesen Worten schob er Bartolo davon. Niccolò sah ihnen nach wie sie den Berg hinauf stiegen, Bruder Onofrio voran. „Er sieht aus wie eine watschelnde Ente“, dachte Niccolò, „und hinter der Ente stakst ein Storch.“ Denn obwohl der lange Bartolo mit einem Schritt etwa die Strecke zurückzulegen vermochte, für die der Franziskaner seine Watschelfüße dreimal in Schwung setzen musste, hatte er dennoch Mühe, mit jenem mitzuhalten.

„O rocca de fortezza, – en la qual è gran tesoro,

de fore si pare aspreza – e dentro è mèl savoro;

non se ce vol pigreza – a guardare a tutt'ore.“

Oh feste Burg – die einen großen Schatz birgt,

von außen scheint sie bitter – aber innen ist süßester Honig;

meiden muss man Faulheit – um dich stets anzuschauen.

(Jacopone da Todi, Lauda XXXVII)

Niccolò beugte sich über den Rest der alte Festungsmauer. Doch die Stimme kam aus der anderen Richtung. Torsolo kroch hinter einem Haufen Steinen hervor.

„Sei gegrüßt, Torsolo! Welches Vorhaben treibt dich hierher?“ Niccolò atmete hörbar, er sollte wohl keinen Moment der Ruhe mehr haben!

„Ich wohne hier, willkommen in meiner Burg! Ein Greis wie ich hat keine 'Vorhaben' mehr. Doch sag, was fesselt dich hier, wo doch die Mauern der Festung unseres Friedenskaisers schon lange in Trümmern liegen und du doch frei wärst, mit deinen Freunden zu gehen?“

Die Aufforderung, das zu tun, was er eigentlich gerne wollte, brachte Niccolò vollends in Rage. „Was soll ich? Warum soll ich meine Zeit mit diesen Taugenichtsen verbringen, die am Abend nichts hervorgebracht haben werden?“

„Was wirst du hervorgebracht haben?“

„Ich …, ich befasse mich mit dem Studium, es wird meinen Geist auf eine höhere Stufe erheben, ich werde dann frei sein ...“

„Du sperrst dich in einer Festung ein, aus der du leicht heraus könntest, um irgendwann einmal die Freiheit zu haben, die du dir jetzt einfach nehmen könntest?“

„Nein, es geht um die Freiheit von, von ...“

„Von was?“

Niccolò schaute verlegen zu Boden. Eine Eidechse kroch über einen Stein, blieb am einzigen Punkt, der vom Sonnenlicht erhellt war, stehen und reckte das Köpfchen in die Höhe.

„Von allem, das heißt von allen Dingen …, die Armut ...“

„Armut also, die suchst du. Warum verkaufst du dann nicht alles, was du hast, und gibst das Geld den Bettlern?“

„Ich habe nichts.“

„Bist du dann nicht schon arm?“

„Ja, vielleicht, aber … bist du nicht noch ärmer? Oder die Brüder des heiligen Franziskus, ich meine, die, die wirklich die Armut des heiligen Franziskus leben?“

„So wie eure Freunde oben im Eremo?“

„Ja.“

„Was ist mit Bruder Onofrio, können wir ihn trotz seines wohlgenährten Leibes zu den Armen zählen?“

„Nun, er ist ein Minderer Bruder, er liebt die Herrin Armut wie seine Braut ...“

„Entbehrt er irgendetwas?“ Torsolo streckte den Arm aus und wies hinunter ins Tal, „hast du dir je die Bauern angesehen. Sie arbeiten Tag und Nacht, sie liefern das, womit Bruder Onofrio seinen Teller füllt. Ja, er mag sich sein Essen erbetteln wie alle Franziskaner; der Teller, von dem er isst, mag vielleicht nicht ihm gehören, dennoch ist er gut gefüllt. Denn wer ist es denn, der ihnen, den Onofrios und den anderen heiligen Bettlern, zu essen gibt? Es sind die Reichen hier in der Stadt, die, die Handel treiben oder ein Handwerk beherrschen, wie dein Meister, die, die – schlimmer noch – Geld gegen Zins verleihen, oder die, die überhaupt nichts dergleichen tun, weil sie entweder Vorfahren haben, die schon Berge von Geld zusammen gerafft haben, oder weil sie in eine Familie eingeheiratet haben, in der bereits alles vorhanden war. Aber die Bauern dort unten, die können nichts anhäufen. Sie rackern und je mehr sie rackern, desto mehr wird ihnen wieder weggenommen. Sie zeugen fünfzehn Kinder in der Hoffnung, dass eines davon die Kindheit überlebt und für sie sorgen kann, wenn ihr Körper völlig verbraucht nicht mehr zur Arbeit fähig ist. Stirbt aber auch dieses eine Kind, dann kommen sie hier herauf, um ihr Leben als Bettler zu beschließen. Nicht als Bettler etwa, der mit den Wohlhabenden an der Tafel sitzt, wie Bruder Onofrio. Fragst du sie freilich, ob sie die Herrin Armut lieben, werden sie dich nur dumm anschauen. Sie sind die wahren Knechte der Herrin Armut! Sie fragen nicht nach Liebe, sie dienen ihr einfach, weil sie nicht anders können.“

„Ja, aber ist nicht die Armut nur dann eine Tugend, wenn sie geliebt und ersehnt wird und nur dann, wenn man freiwillig auf alles verzichtet, um die Armut zu lieben?“

„Oh ja, das lehren sie! Und was sagen sie uns damit? Nur der Reiche kann wirklich arm sein, der Arme ist einfach arm. Sogar den Schatz im Himmel, den der erhält, der um der Armut willen auf seinen Reichtum verzichtet, kann nur erstreben, wer unter einem sehr günstigen Stern geboren ist. Bernardus, Aegidius und wie sie alle heißen, alle waren reich geboren. All die Jünglinge und Jungfrauen, die ihre Elternhäuser verlassen haben, um den Franziskanern zu folgen, was glaubst du, passierte mit denen, die nach einiger Zeit merkten, dass ein Leben in Armut anstrengend und unbequem ist? Die eines Tages an des Vaters Tür klopften, weil ihr Magen knurrte, sie froren oder die Knochen schmerzten? Glaubst du, ein Vater schlägt seinem Kind einfach die Tür vor der Nase zu? Nein, viele sind wieder in ihren Vaterhäusern aufgenommen worden, es gab Feste zur Freude über die Rückkehr eines verlorenen Sohnes. Nur über diese wird nicht geredet, ihnen eilt kein Ruhm voran. Doch jeder kennt mindestens einen solchen. Und auch denen, die geblieben sind, wurde das Leben immer bequemer gemacht. Schliefen Franziskus und seine Brüder noch auf dem Boden, liegt man heute in den Konventen auf weichen Matratzen.

Nennst du das Armut? Und noch mehr: nennst du es Freiheit? Du sagst, wer wirklich arm ist, der muss die Armut lieben? Aber was ist denn Liebe? Ist Liebe nicht das Gegenteil von Freiheit?“

Niccolò grübelte. „Was sagst du, Torsolo? Liebe ist Unfreiheit? Ist denn nicht die Liebe die größte Freiheit? Und macht denn die Liebe zur Armut nicht frei von allem anderen, allem Begehren, allem Wollen, aller Gier?“

„Oh du jugendliche Einfalt! Man kann doch immer nur das lieben und begehren, was man nicht hat! Hast du noch nie ein Mädchen begehrt? Haben dich noch nie körperliche Wohlgestalt, strahlende Augen, süße Worte nachts wach liegen lassen? Doch begehrst du sie immer nur so lange sie nicht dein ist. Wenn du wirklich die Frau gewinnst, nach der du dich so lange verzehrst, dann wirst du bald merken, dass die Wohlgestalt ihres Körpers von ihrer Kleidung vorgegeben war, das Strahlen ihrer Augen nur das Sonnenlicht reflektierte und selbst die Süße ihre Reden nur aus nachgeplapperten Phrasen besteht, ebenso reflektiert wie das Licht ihrer Augen. Kein Weib strahlt von sich aus, auch wenn du, solange du sie begehrst, ihre Strahlen, ihr Licht zu spüren vermeinst. Sie ist nur der Spiegel des fremden Lichts. Glaube mir, Junge, nichts, was du besitzt, ist es wert geliebt zu werden, also kannst du genauso gut nichts besitzen. Erst, wenn du das wirklich verstanden hast, dann bist du frei.“

„Aber die Herrin Armut …“.

„Auch die ist nur ein Spiegel, niemand liebt die Armut. Alle lieben nur ein Bild; ein Bild, das sie selbst malen. Natürlich ist sie schön, anmutig und edel, weil sie sie so malen; genauso wie sie irgendeine Giovanna oder Francesca schön malen würden, weil sie das Bild lieben wollen. Lass ab davon, von allem Wollen, von allem Begehren, wenn du frei sein willst!“

Während er diese letzten Worte sprach, stieg Torsolo bereits den Hügel hinunter. Niccolò sah ihn nach, wie er gleich einem Wiesel gleich flink hüpfte, dann wieder stehen blieb und den Kopf lauschend zur Seite legte, als müsse er fürchten, die Beute eines größeren Raubtiers zu werde. War Torsolo frei?

Wie ging es weiter?

Astrolabio hatte Vitriolöl mit verschiedenen Salzen vermischt und destilliert. Aqua regis und Aqua ardens, Seele und Geist, die beiden Zwillige hatte er geboren. Die Schwärze wurde jeden Tag stärker. Je dunkler sie wurde, desto heller würde das Licht erstrahlen. Doch wie konnte er das Licht hervorbringen. Wie er geahnt hatte, besaß er nur einen Teil der Schrift. Ein weiterer Teil musste bei Salvestro sein. Wann würde Ranieri diesen endlich bringen? Doch auch diese Teil würde nicht der letzte sein. Er musste weitermachen.

Er hatte keine andere Wahl, er musste den nächsten Kopf des Drachen abschlagen, den Kopf des Tiers, der so nahe war.

3. Kapitel


Wie alle Florentiner, Pisaner und noch ein paar andere bereiteten sich die Mitglieder der Familie Giotto di Bondones auf das Neujahrsfest am Tag von Christi Verkündigung vor. Beatrice grübelte über der Seltsamkeit der Jahreszahlen. Denn während für die Florentiner das Jahr 1319 seit der Fleischwerdung Christi begann, war für die Pisaner dagegen bereits 1320, während für die Venezianer das Jahr 1319 etwa drei Wochen zuvor angebrochen war. Wann ist Christus den eigentlich geboren, wenn es so viele verschiedene Daten gab, an denen seine Verkündigung gefeiert wurde? Freilich feierten die Florentiner den Tag, an dem die Sonne den Mond und die Nacht einholte, von nun an würde das Licht regieren bis es am Tag des heiligen Johannes den Thron besteigen würde, um dann langsam wieder dem Mond das Zepter zu überlassen, der am herbstlichen Äquinoktium seinerseits die Vorherrschaft übernahm und am Tag der heiligen Lucia den Thron bestieg. Musste also die Ankunft Christi, des Lichts, nicht an diesem Tage verkündet worden sein, damit seine Geburt selbst dann in der dunkelsten Zeit des Jahres geschehen konnte?

Beatrices Schwägerin Lauretta hingegen war mir praktischeren Dingen beschäftigt. Die Vorbereitung eines Festessens in der vorosterlichen Fastenzeit verlangte ein sorgfältiges Abwägen der Speisen.

"In Florenz haben wir an diesem Tag immer Huhn gegessen", sagte sie, "sind doch die Hühner am gleichen Tag geschaffen worden wie die Fische und daher während der Fastenzeit erlaubt. Aber hier ist alles anders. Wird es Vater recht sein, wenn es nur Fisch gibt?"

"Dem Babbo ist das wahrscheinlich egal", antwortete Beatrice, "wenn es nur schmeckt und satt macht."

Und so einigte man sich schließlich auf eine Blasmangiere aus Fisch, die keine verbotenen Zutaten enthielt, der man aber, wenn man den Anteil an Mandeln, Gewürzen und Pinienkernen gegenüber dem Üblichen erhöhte, doch den Charakter eines Festessens verleihen konnte.

Als an jenem Abend dann die Speisen aufgetragen wurden, war die Stimmung schon bald so ausgelassen, dass schnell vergessen war, dass eigentlich der Verkündigung Christi zu gedenken geboten war. Alle sahen zuversichtlich dem neuen Jahr entgegen, stießen mit den Bechern verdünnten Weines an und sagten sich gute Wünsche und sonstige Trinksprüche zumeist vom Inhalte, dass es nur besser werden könne. Einzig Francesco fehlte. Doch außer Lauretta, die zusehends unruhiger wurde, bemerkte niemand seine Abwesenheit.

Niccolò hatte in Erinnerung an seine schreckliche Vision sich im Essen und Trinken zurückgehalten und sich in eine Fensternische gesetzt, um das Treiben der anderen zu beobachten. Giotto, wie er von seinen Erlebnissen in Arezzo und vom dortigen Bischof erzählte, dabei wild gestikulierte, den Bischof auch zuweilen nachahmte und bei den Zuhörern damit unbändiges Gelächter hervorrief. Lauretta, die bei der Erwähnung des Bischofs Tarlati kurz aufhorchte, ansonsten aber ständig zur Tür blickte. Onofrio, wie er sein Brot immer wieder in die Schüssel tauchte, als gäbe es für ihn keine Fastenzeit. Bartolo, wie er öfter verschämt zu Beatrice blickte, sobald er aber meinte, dass jemand seinen Blick bemerke, so tat, als fixiere er irgendeinen Punkt, der zufällig in ihrer Richtung lag.

„Armer Bartolo! Du wirst nie frei sein, du wirst dich immer nach etwas sehnen und doch nie bekommen, wonach du dich verzehrst“, dachte Niccolò. Doch waren Bartolos Leiden nicht unwesentlich im Vergleich zu dem, was kommen würde? Welchen Sinn hatte es, so ausgelassen zu feiern, so fröhlich zu sein, welchen Sinn hatte es gar, zu lieben, die Freiheit oder die Armut oder ein Mädchen, wenn doch bald alles zu Ende ginge?

Bei aller Furcht vor dem Ende war Niccolò doch um eine Sache froh. „Wenigstens hängt mein Herz an keinem Mädchen“, dachte er.

Bruder Onofrio hielt gerade dem Bildhauer Aloisio eine Laute hin: „Sing uns doch bitte ein Lied, lieber Aloisio, gerne auch in deiner Sprache, die in einer so eigenen Melodie schwingt. Wir wissen, dass du ein geborener Barde bist.“

Aloisio ließ zwar die von der Höflichkeit gebotenen Widersprüche vermelden, griff aber sogleich nach der Laute und begann, sanft deren Saiten zu streicheln.

„Ich vernahm, dass Leute sterben,
Und, welch Wunder ist's, verderben,
Weil die Minne sie versehre:
Gott bewahr mir Leib und Ehre!
Wo ich bin, wohin ich kehre,
Werb ich um die Einzighehre.
Will sie eine Frau denn sein?
Wahrlich ja, bei Gott! und mein!“

Aloisio machte eine Pause, die anderen applaudierten und forderten ihn auf, weiter zu singen, aber er schien sie nicht zu bemerken. Seine Augen blickten auf etwas, das nur er sah.

„Eines wohnt mir tief im Herzen,
Dadurch leid ich Sehnsuchtsschmerzen,
Die von außen und von innen
Mich bedrängen in den Sinnen:
Alles dies bewirkt das Minnen;
Warum muss ich's auch beginnen?
Schilt und schmäh' nicht so verstockt:
Iss, was du dir eingebrockt!“

Überrascht horchte Niccolò auf und sah den Sänger an. Er hatte Aloisio wohl ein paar Mal bei den Versammlungen der Cavalieri gesehen, ihm aber nie Aufmerksamkeit geschenkt. Niccolò hatte angenommen, Aloisio müsse ähnlich tollpatschig und einfältig wie sein Sohn Anselmo sein. Nun aber bemerkte er zum ersten Mal diese Stimme, sie war wie ein tiefblaues Gewölbe, in dem vereinzelte goldene Sterne glitzerten. War Aloisio mehr als nur ein Bildhauer? War auch er ein Künstler? Niccolò wollte plötzlich wissen, was Aloisio da in dieser für ihn selbst unverständlichen Sprache gesungen hatte. Er winkte Anselmo zu sich.

„Einige sind aus Liebe zu einer Frau gestorben“, fasste Anselmo zusammen, „Liebe ist gefährlich, aber man muss trotzdem lieben man kann nicht anders, und am Ende muss man leiden. 'Iss, was du dir eingebrockt!'“

„Wenn er von der Liebe zu einer Frau singt, dann ist das einzig Sichere, dass es nicht um die Liebe zu einer Frau geht“, erwiderte Niccolò.

Anselmo sah ihn verständnislos an.

Als es an der Tür klopfte, sprang Lauretta sogleich auf. Doch statt ihres erwarteten Ehemannes trat Bruder Alberto herein, den Blick verlegen zu Boden gerichtet.

„Man schickt mich, Bruder Onofrio abzuholen“, flüsterte er, „im Konvent machen sie sich schon Sorgen ...“

„Ach was?“, rief da Giotto, „ihr wisst doch, dass Onofrio bei uns in guten Händen ist. Setz' dich zu uns, lieber Bruder, und trinke etwas; der Wein ist verdünnt, den darfst du trinken!“

Bruder Alberto schaute Onofrieideo bittend an: „Komm doch bitte, sie sorgen sich wirklich!“

Onofrio grinste verlegen, aber Giotto sagte: „Sorgen sie sich wirklich um ihren Mitbruder oder fürchten sie nur, Onofrio könne Freude empfinden, während sie selbst in ihren dunklen Zellen sitzen? In diesem Falle, frage ich dich aber, was ändert sich an ihrer traurigen Lage, wenn sich Onofrio ebenfalls in seine Zelle kniete, um vor sich hin zu leiden?“

„Nein, nein“, stotterte Alberto, „es geht doch um das Seelenheil Bruder Onofrios, er hat doch die Tugenden geschworen ..., Gehorsam ..., und vor allem Armut ...“

Da unterbrach ihn Bruder Onofrio: „Armut! Du wirst mich sicher nicht belehren wollen, was Armut ist! Ihr Brüder im Konvent, die ihr alles habt! Jede Bequemlichkeit! Ich aber, ich habe nichts, ich bin so arm wie Christus und die Apostel! Wenn ich hier esse und trinke, dann verdanke ich das der Gastfreundschaft des Meisters Giotto; nichts von dem, was ich esse oder trinke, gehört mir, genauso wenig wie die Kleider, die ich auf dem Leib trage, mir gehören. Ihr aber, ihr habt eure Kutte, eure Zelle, euer Bett. Du kannst mich gar nicht nach Hause holen, weil ich kein Zuhause habe. Ich bin arm! Ich lebe nur von Almosen! Eure Armut, die sieht nur aus wie Armut, in Wahrheit ist sie aber nur Schein!“

Giotto dagegen griff nach der Laute und begann zu singen:

„Di quella povertà che heletta pare,

si può veder per chiara sperienza,

che sanza usar fallenza,

s'osserva o no, sicchome si conta:

E l'osservanzia non è da lodare,

perchè discretion ne chognioscienza

o alcuna valenza

di costumi o di virtute le s'afronta.

Certo, parmi grand'onta

chiamar virtute quel che spegnie 'l bene;

e molto mal s'avene,

cosa bestial preporre alle virtute,

le qua' donan salute,

a ogni savio intendimento accietta:

e chi più vale, in ciò più si diletta.

Bruder Alberto blickte immer noch verlegen zu Boden. Giotto legte den Arm um seine Schulter. „Gefällt dir mein Lied? Ich habe es selbst geschrieben, doch ich habe dabei gemerkt, dass der Schöpfer mich zum Maler bestimmt hat, nicht zum Dichter. Und doch, wem tut es denn weh, wenn ich auch manchmal dichte? Lass Bruder Onofrio noch ein Bisschen hier bleiben, lieber Bruder. Wenn du mein Geschenk nicht annehmen und mit uns speisen und trinken möchtest, dann kehre nur zu den Brüder zurück und sage ihnen, Bruder Onofrio tut genau das, wozu unser Vater ihn bestimmt hat. Er kann gar nicht sündigen, solange er hier bei uns ist.“

R E X

E X P

R E X

Was konnte er damit gemeint haben? Der Tag dämmerte, aber Messer Bonaventura saß immer noch an seinem Schreibpult, den Kopf auf beide Hände gelegte, die Ellbogen auf der Tischoberfläche. Er fixierte die Tischfläche, es konnte doch nicht sein, dass er es nicht verstand! Waren es gar nur Buchstaben, einzig um des Quadrates Willen angeordnet? Nur eine Figur, eine zufällige Anordnung, nur ihrer Form wegen gewählt, eine Zeichnung eher als ein Text?

Er hatte Francesco nichts von dem Quadrat gesagt. Dieser Jüngling mit seinem ungeduldigen Wesen! Beinahe die ganze Nacht war er hier gewesen. Auch nicht als Messer Bonaventura ihm angeraten hatte, doch an seine Eltern, seine Frau zu denken, die doch sein Fehlen beunruhige müsse, war er zum Aufbruch zu bewegen.

„Was ich mache, das ist denen vollkommen egal!“ hatte Francesco lediglich mit einem Ton bemerkt, der Messer Bonaventura nicht von seiner Besonnenheit überzeugte.

Der eisige Wind setzte auch das ruhigste Gemüt in Aufruhr. Messer Salvestro war seit Tagen nicht mehr gesehen worden. Sein Schwiegersohn erzählte zwar, er habe sich einige Tage auf seine Besitztümer auf dem Land zurückgezogen, doch seine Tochter hatte Bruder Onofrio – ihrem persönlichen Beichtvater – berichtet, dass ihr Vater nie abgereist wäre, ohne ihr auch nur eine Nachricht zu hinterlassen.

„Sollen wir nicht sein Kapitel der Schrift suchen, solange Ranieri noch glaubt, er sei am Leben?“ fragte Francesco.

„Ja, lieber Francesco, wir müssen froh sein, wenn Ranieri die Schrift noch nicht an sich gerissen hat!“

„Aber, hätte er sie nicht uns, den Cavalieri, gegeben?“

„Du traust doch nicht etwa Ranieri! Es soll mich nicht wundern, wenn er zwei Damen dient. Nein, Bruder Onofrio als Vertrauter von Salvestros Tochter soll nach der Schrift suchen. Wie ich Salvestro kenne, hat er sie eher seiner Tochter anvertraut als seinem windigen Schwiegersohn.“

„Aber wird Ranieri dann nicht danach suchen und uns keine Ruhe lassen, bis er sie gefunden hat?“

„Dann gebt ihm etwas anderes“, Messer Bonaventura zog ein kleines gebundenes Bändchen vom Wandbrett hervor. „Gebt ihm das, dann hat er etwas. Ranieri fühlt sich wichtig und der Inhalt dieses Buches ist so vollkommen unsinnig, dass niemand damit etwas Übles anstellen kann, auch der Dümmste nicht.“

Francesco war darauf endlich nach Hause gegangen, doch er selbst war keinen Schritt weiter.

„REX EX PREX - Der König aus dem Gebet“, was sollte das? Was für ein König? Was für ein Gebet? Aber vielleicht …, da war noch der andere Satz! Ein Satz, der ihm bis dahin ebenfalls wie ein Aufreihen einzelner Wörter ohne Zusammenhang vorgekommen war: Sinus vultum bifrontis sub eo cathedra cuculi parvi. Pervenis ad eum per portam quattuor praecationis.(Das Haus der zwei Gesichter ist der Schoß des kleinen Kuckuck. Du kommst zu ihm durch die Tür der vier Gebete.)

Messer Bonaventura griff nach der Lampe und verließ das Haus.

In der Werkstatt von San Francesco war man dem seltsamen Verschwinden des Rauschgelb nachgegangen, dabei jedoch zu keinem Ergebnis gekommen, und so hatte die Tätigkeit wieder ihren gewohnten Verlauf genommen. Guido di Giacomo hatte murrend seine Arbeit an der Hochzeitstruhe wieder aufgenommen. Jeder Ausspruch, den er in den nächsten Tagen tat, begann mit einem Fluch auf den unbekannten Farbdieb. (Da die anderen aber bald vermieden, ihn anzusprechen, tat er an jenen Tagen nur noch wenige Aussprüche.) Francesco seinerseits war sehr ungehalten über das Verschwinden von Farbe, die er bereits bezahlt hatte. Schwager Ricco schlug vor, die verschwundene Farbe dem Kardinal Orsini in Rechnung zu stellen, worauf Francesco ihn belehrte, dass diese Farbe, die sich nicht für die Malerei an der Wand eignete, mit dem Auftrag des Kardinals überhaupt nichts zu tun habe.

"Das weiß doch der Kardinal nicht!", entgegnete Ricco seelenruhig, "ein Mann der Bücher und des Studiums der göttlichen Weisheit! Glaubst du, der kennt sich mit Dingen aus, die uns Handwerker betreffen? Es würde jedenfalls keinen Armen treffen, überlege es dir, lieber Schwager."

Francesco verspürte den Drang, seinen Schwager zu prügeln, verschob das aber auf einen zukünftigen Moment, in welchem er mit ihm allein sein würde, und ohrfeigte statt seiner den ungeschickten Anselmo, der gerade einen anderen irdenen Behälter mit Farbe – zum Glück nur Ocker – zu Boden fallen gelassen hatte.

Ricco di Lapo war in der Tat mit der Aufstellung seiner pekuniären Angelegenheiten weit weniger skrupulös als sein Schwager. Die Abrechnung, die die endgültigen Ausgaben seines Lebens der heiligen Magdalena betrafen, war so verworren, dass Giotto, bevor er sie unterzeichnen konnte, sie fast gänzlich neu abfassen musste. Beatrice war ihrem Vater dabei behilflich, und beide wunderten sich immer wieder, wie jemand so wenig Sinn für Zahlen haben konnte wie Ricco. Er schrieb auch noch die alten römischen Ziffern. Doch endlich schien die Rechnung korrekt zu sein; Beatrice schrieb sie neu mit zierlichen Lettern auf zwei saubere Bögen Hanfpapier, um der Würde des Hauses Bondone den angemessenen Ausdruck zu verleihen.

Beim Bischof Tebaldo da Pontano erzielte man auch die gewünschte Wirkung. Er lobte die ordentliche Aufstellung, die korrekten Berechnungen, die saubere Schrift. Nicht jeder Handwerker arbeitete mit einer solchen Genauigkeit, das wusste der Bischof. Zufrieden zeigte er die Bögen sogleich seinem Sekretär, als erfreuliches Beispiel eines Produkts braven Handwerks. Astrolabio da Salerno zog beinahe unmerklich die Oberlippe zu einem Winkel in die Höhe. Er sagte nichts, aber der Bischof bemerkte dennoch seine Missbilligung.

"Redet nur, lieber Astrolabio", forderte er ihn daher auf, "Ihr wisst sehr wohl, dass Ihr mir nichts vormachen könnt. Ich bemerke jede Eurer Gemütsbewegungen auch ohne Worte."

"Nun, ich war lediglich ein wenig konsterniert", begann Astrolabio, und tat, als suche er, der in Wahrheit nie um Worte verlegen war, nach denselben, "ein wenig irritiert war ich, ob der Verwendung der indischen Figuren in diesem Dokument."

"Aber guter Astrolabio, die indischen Figuren sind keine Sache für uns alte Männer", der Bischof blinzelte dem Benediktiner zu,“ aber den jungen Leuten erleichtern sie die Arbeit. Wie mir verschiedentlich die Magister bestätigten, geht das Multiplizieren und das Dividieren mit diesen neuen Figuren, den indischen, wie sie sie nennen, viel einfacher und unkomplizierter von der Hand. Ich verstehe ja von diesen Dingen nichts, aber ich habe es mir sagen lassen."

"Verehrter Bischof", stimmte Giotto bei, "genau so ist es. Die indischen Figuren stellen für uns eine Erleichterung dar, so wie das Spindelspinnrad die Arbeit der Tuchmacher erleichtert. Wie Ihr selbst sagtet, sind wir keine Magister, wir sind nur Handwerker. Unsere Aufgabe ist das Malen und das Abbilden der Natur. Sollten wir uns deswegen über Gebühr mit unnötig schwierigen Rechnereien aufhalten, Aufgaben, die auch einfacher zu bewältigen sind?"

In Astrolabios Augen blitzte bereits der unterdrückte Zorn auf:

"Meister Giotto, Ihr seid für wahr kein Gelehrter. Wäret Ihr nämlich nur ein wenig in der Kunst der Dialektik bewandert, dann würdet Ihr verstehen, dass der Vergleich mit dem Spindelspinnrad, den Ihr selbst zu Euren Gunsten anführt, eigentlich gegen Euch spricht. Denn wo konnte je die Wolle, die mit besagtem Spinnrad gesponnen wurde, die Qualität der Wolle erreichen, die die Arbeit mit der Handspindel hervorbringt? Neuerungen bringen also selten Verbesserungen mit sich. Ihr als Florentiner müsstet die indischen Figuren sogar noch ablehnender als alle anderen betrachten, sind es doch genau Eure Zünfte in Florenz, die sie verbieten."

"Bei allem Respekt, verehrter Herr, Ihr irrt in diesem Punkt", erwiderte Giotto, "nicht alle Zünfte meiner Stadt verbieten in ihren Statuten die indischen Figuren. Die Zunft der Wechsler, wiewohl die Zunft, deren vorrangigste Aufgabe das Rechnen mit Zahlen ist, verbietet sie. Meine Zunft dagegen – wir Ihr wisst, bin ich als Maler der Zunft der Ärzte und Apotheker eingeschrieben – meine Zunft begrüßte die Verwendung der indischen Figuren aus bereits erwähnten Gründen."

"Anmaßung und Hybris", ereiferte sich Astrolabio erneut, "was sind denn Ärzte, wenn nicht Handwerker, Handwerker, deren Aufgabe das Heil des Körpers ist, des Körpers! Noch tiefer steht der Apotheker, liefert er doch nur dem Arzt das medizinische Rohmaterial. Beide aber sind Handwerker! Der Körper ist ihr Werkstoff, so wie das Holz der Werkstoff des Tischlers oder die Farben Euer Werkstoff sind. Ihr glaubt, Ihr könntet selbst beurteilen, was Eurer Arbeit zuträglich ist? Das mag für Eure Farben durchaus gelten. Doch gibt es Dinge, bei deren Beurteilung Ihr euch auf uns, die Männer der Kirche und des Geistes verlassen solltet. Und so fällt es nicht in das Gebiet Eures Verständnisses, die Angemessenheit der indischen oder der römischen Zahlen zu erkennen.

Ich sage Euch nur so viel, (und nur, weil ich Euren scharfen Geist kenne, der Dinge durchdringt, die es besser wäre nicht zu durchdringen): die indischen Figuren sind einer der vielen Idiome des Teufels! Ihr sagt, sie erleichtern das Rechnen. Ja, ist das nicht das wesentliche Merkmal eines Teufelspaktes? 'Alle Macht und Herrlichkeit dieser Welt ist mir übergeben und ich will sie Dir geben, wenn Du mich anbetest', verspricht der Teufel. Doch was nützen Macht und Herrlichkeit dieser Welt, wenn diese Welt nicht von ewiger Dauer ist! War nicht auch der Vicedominus Theophilus ein Mann von großer Weisheit und Demut. Dennoch ließ er sich auf den Pakt mit dem Teufel ein. Wenn aber die fallen können, die so fest in ihrer Tugend und Demut sind, um wie viel mehr in Gefahr sind dann die einfachen Sünder.

Die indischen Figuren aber sind ohne Substanz und das ist das dämonische an ihnen. Sie sind nur Relation, keine Form ist in ihnen, außer der, die wir ihnen geben. Erhält nicht jede Figur ihre Bedeutung nur durch die Position, an der sie gerade steht? Damit verliert sie jedes Wesen. Sie sind Worte ohne Inhalt, Geschwätz ohne Bedeutung, gleich dem Geschwätz der Weiber! Wie der Prediger sagt: 'Des Narren Lippen verschlingen ihn selbst!' Deswegen hütet euch vor dem Pakt mit dem Teufel, hütet euch vor allem neuen!"

Astrolabio redete auch weiter, während er dem Bischof aus der Werkstatt folgte, seine Rede dabei ständig mit Zitaten der heiligen Schrift unterlegend.

Als die beiden gegangen waren, fragte Beatrice verunsichert:

"Babbo, ist das wirklich wahr, dass die indischen Figuren vom Teufel kommen?"

"Aber Kind, der Teufel hat keinen Grund, sich zu verstecken. Wenn er einen Pakt mit uns schließen will, dann sagt er uns ganz deutlich, wer er ist. Hat sich dir aber jemals eine von den indischen Figuren als Teufel vorgestellt, vielleicht die Neun: 'Salve Bice, ich bin der Teufel. Deswegen kringel ich mich auch wie eine Schlange.'"

Bei diesen Worten rollte er seinen dünnen Oberkörper rund auf, so dass er durch seine Beine durchschaute und wirklich der Zahl Neun glich. Beatrice musste lachen, dennoch lies die Frage nach dem Teufel sie nicht los.

"Aber warum verbietet die Wechslerzunft dann die indischen Figuren?"

"Ach weißt du, mein Kind, es gibt viele Leute, die davon leben, dass andere nicht rechnen können. All die Magister des Abakus würden sich einer beachtlichen Einnahmequelle berauben, wenn alle Menschen selbst rechnen könnten. Glaubst du, dann würde noch jemand einen solchen Magister für seine Dienste bezahlen? Zu viele Menschen machen gute Geschäfte mit der Dummheit anderer Menschen."

4. Kapitel


„Etwas Seltsames ist im Gange“, bemerkte Niccolò, während er am nächsten Tag nach der Arbeit mit Beatrice und Bruder Onofrio nach Hause ging.

„Was meinst du?“ fragte Beatrice.

„Nun, ich habe gestern solche Andeutungen von Francesco gehört; er sprach mit dem Maler aus Siena ...“

„Mein Bruder drückt sich nur noch in rätselhaften Andeutungen aus. Ging es wieder um irgendwelche Frauen und Rosen und eisige Winde?“

„Nein, Bice, nicht das übliche Gelaber; es scheint, dass der Tod des Lehrers und das Verschwinden Messer Salvestros zusammen hängen.“

„Weil die beide zu dem komischen Verein gehörten?“

„Ja, weil sie beide dazu gehörten. Die Cavalieri haben etwas, was ein Anderer sucht, und um das zu kriegen, tötet er sogar. Und irgendetwas hat auch die Regierung damit zu tun.“

„Du meinst ...“ Beatrice war stehengeblieben, ihre Augen leuchteten, „du meinst, das sind doch nicht nur Dichter? Aber was können sie haben, was für jemand anderen so wichtig ist?“

„Nichts!“ rief plötzlich Bruder Onofrio, „was redet ihr da für einen Mist? Erstmal ist nur einer tot, und der hat sich wahrscheinlich selbst tot gegeißelt. Messer Salvestro aber, der ist lediglich aufs Land gefahren!“

„Aber Onofrio, du hast doch selbst gesagt ...“

„Was wisst ihr denn, was ich gesagt habe? Zu euch habe ich sicher nichts gesagt, das von irgendeiner Wichtigkeit gewesen wäre! Glaubt ihr, ich erzähle euch irgendetwas? Einem Novizen und einem Mädchen!“

„Onofrio!“

„Macht am besten das, was eurem Stand zukommt: haltet die Klappe!“

Statt seinen Weg zusammen mit den beiden fortzusetzen, bog Onofrio in eine der seitliche Gassen ein und ging schnurstracks davon.

„Was war das?“ fragte Niccolò, „war nicht immer er einer von denen, die vom eisigen Wind und von der Gefahr geredet haben?“

„Das war einfach das Zeichen, dass du recht hast“, antwortete Beatrice, „aber Niccò, wenn das wirklich so ist, wie du sagst, dann heißt das ja, dass alle in Gefahr sind, Francesco, Messer Bonaventura und auch Onofrio selbst ...“

„Wahrscheinlich schon, wenn auch die wissen, wo das Ding ist, das der Mörder sucht.“

„Sollten wir nicht herausfinden, was das ist, dieses Ding. Ich meine, es geht doch schließlich um das Leben meiner Familie! Wir könnten doch mal zum Haus des Lehrers gehen und nach Spuren suchen, vielleicht sogar – jetzt gleich?“

„Bice, es sind fünf Monate vergangen! Glaubst du vielleicht, wenn der Mörder damals Spuren hinterlassen hat, dann sind die heute noch da? Vielleicht hat er seinen Umhang dort hängen lassen und er liegt noch dort, oder aber seine Trippen stehen noch vor der Tür ...“

„Das Haus ist doch nie untersucht worden, weil der Podestà und alle anderen sicher waren dass Meister Leone an seinen Geißelungen gestorben sei. Warum sollten sie also nach Spuren eines Mörders suchen, wenn es ihrer Ansicht nach keinen Mörder gibt? Gehen wir doch einfach mal gucken!“

Niccolò verdrehte die Augen, folgte aber Beatrice zum Haus, in dem einst der Lehrer Leone gewohnt hatte. Zu ihrem Erstaunen fanden sie die Haustür offen vor. Als sie herein lugten, erkannten sie den Raum, in dem der Lehrer seinen Unterricht abgehalten hatte. Doch die Schemel und Holzkisten waren ordentlich an einer Wand aufgereiht. Nur noch zwei Hocker standen an einer größeren Kiste, auf dieser stand hölzernes Geschirr. Ein Huhn rannte gackernd davon. Alles sah danach aus, als sei das Haus wieder bewohnt. Das Brennholz neben dem Kamin, die Töpfe, das Geschirr, der gefegte Boden, sogar die Tongefäße auf dem Wandbrett waren frei von Staub.

„Die hatte es schon gegeben, als Meister Leone noch hier war“, bemerkte Beatrice, „Chiara sagt, er habe dort Honig aufbewahrt. 'Für die Kinder, die ihre Aufgaben gut machen', habe er immer gesagt. Leider waren die Kinder alle zu faul oder zu dumm. Nie hat ein Kind von dem Honig bekommen ...“

„Was macht ihr da an meinem Haus, ihr Lumpengesindel?“ unterbrach sie eine laute Stimme. Sie gehörte einem Mann, der sich mit einer Axt über der Schulter ihnen näherte. Da rannte Beatrice los und Niccolò folgte ihr.

„Ihr wollt wohl klauen! Vermaledeite Pfaffenfurze! Vermaledeit auch die Hure, die euch geboren hat ...“ seine weiteren Segnungen hörten sie nicht mehr.

Hatte sich die schwarze Galle in Bruder Onofrios Körper schon erhitzt durch das Gerede Niccolòs und Beatrices, so schlug nun auch noch sein Herz kräftiger, als er den Mann aus dem Portal des Palazzo Moriconi treten sah. Er lief hinter ihm her und packte ihn an einer Falte seiner weiten Heuke, die in seltsamen Kontrast zu seinen nackten Beinen und Füßen stand.

„So, hat sie dich neu eingekleidet! Hab' ich dir nicht verboten, hierher zu kommen! Was hast du hier zu suchen?“

Der Mann grinste Onofrio ins Gesicht.

„Was kannst du mir wohl verbieten, einem freien Mann. Nichts! Ich schwebe vom hohem Olymp hinab und ziehe in Menschengestalt durch die Lande, obwohl ich ein Gott bin.“

„Zur Sünde willst du sie verführen!“

„Werter Bruder, was ist schon Sünde?“ sagte der andere leise mit seiner heiseren Stimme, „lehrt ihr nicht euer Augustinus und noch ein paar andere, dass der Mensch nichts ist, nichts kann, ohne die Gnade Gottes?“

„Ja, aber ...“

„Wenn es also keinen Willen gibt, alles von der göttlichen Gnade abhängt, dann kommt doch auch alles, was wir Menschen machen, von der göttlichen Gnade, oder? Wenn aber alles, was wir tun, von Gott kommt, dann können wir doch gar nicht mehr sündigen. Auch was aussieht wie Sünde, ist in Wahrheit keine.“

Bruder Onofrio holte Luft, er wollte widersprechen, doch der Andere redete schon weiter:

„Ist das nicht wie bei dir mit der Armut? Du bist arm, weil du nichts besitzt, dennoch ist dein Bauch rund, du isst und trinkst wie ein König. Und wie du es erst mit den Weibern hältst, das weiß nur Gott allein!“

„Ich habe Keuschheit gelobt!“, schrie Bruder Onofrio.

„Ja, genauso wie Armut. Und was machst du dann hier?“

„Monna Ginevra ist mein Beichtkind, ich muss in dieser schweren Stunde, da sie sich um ihren Vater sorgt, nach ihr sehen!“

„Hättest du es auch so eilig, wenn dein Beichtkind alt und hässlich wäre? Doch nur zu, lass deine Kräfte austoben! So muss es sein. Öffne deine Pforten, beseitige deine Dämme und lass deinen Strömen ganz und gar die Zügel schießen!“

„Du hast sie zur Sünde verführt! Das wird ihr das Seelenheil verwehren!“

„Oh, lieber Bruder, ich kann dir versichern, zu dem, was ihr Heuchler Sünde nennt, kann sie keiner mehr verführen. Das hat sie schon ganz alleine geschafft. Ihre Almosen an die Armen bestehen schon lange nicht mehr nur in Speise und Kleidung.“

„Du Verworfener, reicht es nicht, dass es für dich keine Hoffnung mehr gibt, musst du auch noch andere in deinen Schmutz mit hinein ziehen?“

Onofrio packte den Mann an seinem eleganten Gewand, er atmete seinen Geruch nach Schweiß und Erde ein.

„Sollte das etwa Eifersucht sein, bei dem kleinen Mönch?“ Das Grinsen wurde immer breiter, „du würdest sie wohl lieber selbst in deinen Schmutz ziehen?“

Onofrio schlug ihm eine Faust ins Gesicht. Als jener nur weiter grinste, holte Onofrio erneut aus und schlug mehrmals zu. Ohne sagen zu können, wie es dazu gekommen war, lag der Andere plötzlich am Boden, Onofrio saß auf seinem Körper und schlug unaufhörlich auf ihn ein. Erst als sich ihnen einige Bürger näherten, ihre Belustigung über ein solches Verhalten seitens eines Minderen Bruders ausdrückend, kam Onofrio wieder zu sich. Er stieg von dem Anderen herunter, blickte ein paar Mal verlegen in die Gruppe lachender Menschen und verdrückte sich verschämt.

5. Kapitel


Mit dem Frühling zogen Scharen von Pilgern nach Assisi. Wieder konnte man alle Sprachen der Welt auf den Straßen der Stadt hören. Kirchen und Wirtshäuser waren voll. Die Stadt erwachte erneut zum Leben. Niccolò und Beatrice gefiel es, die Pilgerscharen zu beobachten und sich dann vorzustellen, wer da wohl im Pilgergewand unterwegs war. Wanderten denn nicht auch Fürsten und Könige im schlichten Gewand unerkannt als Pilger umher?

Hätte Beatrice, als sie sich mit diesen Spielen der Phantasie die Zeit vertrieb, gewusst, dass sich auch der Mann unter ihnen befand, der den Roman, der ihr und ihrer Freundin solchen Anlass zum Disput war, in ihre Sprache übertragen und ihr damit überhaupt erst zugänglich gemacht hatte, sie wäre sofort zu Federica gelaufen, um ihr und ihrem Vater davon zu berichten. Hätte sie außerdem geahnt, dass dieser Mann eigens nach Assisi gekommen war, um seinen Landsmann Giotto, ihren Vater, hier aufzusuchen, dass er mit Giotto, Francesco, Ricco und den anderen im Salon des Palazzo di Bondone versammelt war und geheime Dinge besprach, sie wäre sofort zu ihrem Lauschposten unter dem Saal gesprungen. Vielleicht wäre sie sogar allen väterlichen und brüderlichen Verboten zum Trotz in den Saal gelaufen, die darauffolgende Strafe freudig hinnehmend. Doch da sie nichts davon ahnte, schlief sie ruhig in ihrer Kammer, ohne einer Spur des illustren Gastes gewahr zu werden.

Vielleicht war sie ihm sogar bei Tage auf den Straßen von Assisi begegnet, diesem gebeugten Mann, mit der nach Adlerart gebogenen Nase, den großen Augen mit dem durchdringenden Blick, dem nachdenklichen und melancholischen Gesichtsausdruck. Doch hätte sie ihn auch dann nicht erkannt, nicht geahnt, dass dieser Mann – bereits wie ein Schatten aus dem Reich der Toten – schon bald ihren Namen Beatrice, der doch Seligkeit verhieß, für immer mit seiner Person verbunden, unsterblich machen würde.

Am Abend der Vigilie des Passionssonntags, als die Mönche von S. Francesco nach der Vesper die Hungertücher aus der Sakristei geholt hatten, um mit ihnen am nächsten Tag Bilder und Kruzifixe zu verhüllen, klopfte ein Pilger an die Pforten des Konvents und erbat Einlass. Er selbst trug das Habit der Franziskaner und stellte sich als Bruder Stefano aus dem Konvent von Nocera vor. Nachdem die Brüder von S. Francesco ihn der Fastenzeit und ihrem Armutsgelöbnis entsprechend mit Speise und Trank versorgt hatten, berichtete er vom Grund seines Kommens:

In Nocera haben sich vor wenigen Tagen, genau gesagt am Tag des heiligen Rupert die Kanoniker und der Bischof im feierlichen Kapitel versammelt. Die Notwendigkeit des Anlasses habe alle vereint. Man sei einstimmig der Ansicht, dass der Zehnte, den man seit sechs Jahren im Namen des heiligen Vaters gesammelt und im Konvent des heiligen Franziskus aufbewahrt hatte, dort nicht mehr sicher sei.

Zu viele Nachrichten erreichten Nocera von den Truppen des unseligen Muzio di ser Francesco, die das Herzogtum durchzogen. Dieser Muzio war der Sohn von Francesco dei Brancaleoni und verwandt mit Guido da Montefeltro. Man erinnere sich in Assisi doch sicher an Guido da Montefeltro?

Natürlich erinnerte man sich in Assisi an den Feldherren der Ghibellinen. Nicht nur in Assisi sondern wahrscheinlich auf der gesamten italienischen Halbinsel war er bekannt. Mehr als 30 Schlachten hatte er geschlagen, die meisten siegreich, man nannte ihn den dux bellorum. In seinem Hass auf den Papst hatte Guido vor keiner Grausamkeit zurückgeschreckt; allein in der Schlacht von Forlì soll er über 2.000 Franzosen getötet haben. Seit Clemens IV. gab es wohl keinen Papst, der Guido nicht mit dem Bann belegt hatte.

Doch man erinnerte sich auch seiner treuen Liebe zum heiligen Franziskus. Als greiser Mann, müde vom Krieg und vom Töten, war Guido dem Orden beigetreten. Am heiligen Abend des Jahres 1296 hatte er das Habit des Ordens aus der Hand des Generalministers Giovanni da Murrovalle selbst empfangen, gleichzeitig mit dem sanftmütigen Fürsten von Salerno, Ludwig von Anjou, so dass die Prophetie des Jesaja erfüllt war: "der Wolf wird bei dem Lamm wohnen". Ja, man erinnerte sich der Besucher aus aller Welt, die den berühmten Ordensbruder sehen wollten. Man erinnerte sich auch, dass Guido, als er beinahe 80 Jahre zählte, einen Kreuzzug in den Orient geplant hatte. Bei den Vorbereitungen aber war er am Tage des heiligen Michael des Jahres 1298 gestorben.

Muzio di ser Francesco, sein Nepos, soll Guido an Grausamkeit in nichts nachstehen. Ihm fehlte nur dessen Frömmigkeit. Papst Johannes schleuderte die Blitze der Exkommunikation auf ihn, der Gefahr seiner Häresie für die anderen Tiere der Herde gewahr. Den Gebannten selbst störe das indes wenig. Er erklärte, Papst Johannes sei nicht der rechtmäßige Papst, nicht der Kopf der Christenheit, Sentenzen der Exkommunikation daher nicht zu fürchten. Längst habe Muzio sich mit den dunkelsten Mächten verbrüdert, so erzählte man. Vertraut solle er sein mit den Dämonen, die die Wälder der Gegend bevölkerten. Hexen, teuflische Feenwesen und sonstige Unholde seien seine Verbündeten. Wen wundere es bei einer solchen Allianz noch, dass seine Truppen einen Ort nach dem anderen einnahmen, plünderten und brandschatzten?

So habe man in Nocera beratschlagt, was zu tun sei, die verschiedenen Vorschläge abgewägt, mehr oder weniger heftig disputiert, doch schließlich sei man zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinen sichereren Ort für einen solchen Schatz geben könne als den Konvent von S. Francesco in Assisi. Werde hier doch auch das Vermögen des Kardinals Napoleone Orsini aufbewahrt?

Der Generalminister stimmte dem zu, und man beschloss, den Schatz von Nocera in den Konvent von S. Francesco in Assisi zu überführen, wo der Schutz des heiligen Franziskus jeder Art von Hexerei oder schwarzer Magie trotzte. Bruder Stefano zog also gen Nocera, um seinen Mitbrüdern die freudige Nachricht zu überbringen.

In der Grabeskirche von S. Francesco sah Niccolò Anselmo zu wie er den Kalkputz auf das Gewölbe auftrug. Wo hatte Anselmo das Anbringen des Putzes nur gelernt? Nicht wie er selbst, Niccolò, oder alle anderen Maler ging Anselmo dabei vor, die Kardätsche mit dem Putz in einer Hand haltend, den Putz mit der Kelle in der anderen Hand stückchenweise gegen die Wand drückend und glattstreichend. Vielmehr nahm Anselmo ein größeres Stück des Putzes als üblich auf eine Kelle, strich dies grob über die Wand, um dann mit einer zweiten Kelle den Putz sofort wieder in die andere Richtung zu streichen. Ja, Anselmo hielt wirklich zwei Kellen, eine in jeder Hand, und glättete den Putz abwechselnd in beide Richtungen. Die Kardätsche mit dem weitere Vorrat an Putz legte er dazwischen stets auf dem Gerüst zu seinen Füßen ab, wobei er sich im Verlauf der Arbeit zunehmend verhaspelte, statt ihrer eine der Kellen ablegte und den gesamten Putz gleichzeitig gegen die Mauer drückte, von wo dieser sogleich wieder herunter bröckelte.

„Wie dumm aber auch, dass du keine drei Hände hast“, bemerkte Niccolò.

Anselmo überlegte einen Moment, dann sagte er: „Das gibt es doch gar nicht!“

„Was?“

„Menschen mit drei Armen. Aber die Sechsarmigen, die wären sicher gute Maler, sie wären schneller.“

„War das ein Sechsarmiger, der dich gelehrt hat, den Putz so aufzutragen?“

„Glaubst du wirklich, ich bin so weit herum gekommen, dass ich die Menschen mit den sechs Armen getroffen haben könnte?“

„Leben die denn nicht bei euch da oben im Norden?“

„Bei uns? Nein, das glaube ich nicht, ich bin wenigstens nie einem begegnet.“

„Aber irgendwo da oben leben doch auch Hundsköpfige und solche mit einem Auge auf der Brust und Nasenlose ...“

„Die habe ich nie getroffen.“

Schließlich hatte Anselmo in seiner umständlichen Art doch den Putz aufgetragen, den Niccolò zum Malen benötigte. Er malte das Gesicht einer Frau, einer betagten und gewichtigen Frau, die dem vor ihr knienden Mönch ein Joch auf die Schultern legen sollte. Einstweilen war der obere Teil des Feldes fertiggestellt: der heilige Franziskus, der, selbst ein Joch auf den Schultern tragend, auf dem Dach eines Kreuzgangs stand, die Hände zur Seite haltend und damit deren Wundmale präsentierend. Beatrice hatte die Architektur des Bildes sorgfältig konstruiert und vermessen, damit alle gewünschten Personen, darin Platz finden konnten. Die Frau, die Niccolò gerade zu malen begann, saß in der Mitte des Kreuzganges. Hinter ihr war die Kreuzigung Christi dargestellt, auf der Wand des gemalten Kreuzganges war sie noch im Stadium der Sinopie dargestellt, ein ungewöhnlicher Einfall, die Niccolò vor einigen Tagen in den Sinn gekommen war.

"Wenn wir das Leben so abbilden wollen, wie es ist, dann kann doch eine Sinopie im Kreuzgang sein. Die Maler könnten es nicht mehr geschafft haben, das Fresko fertig zu malen oder der Auftraggeber könnte gestorben sein, oder ihm könnte das Geld ausgegangen sein, weil er sich auf unsichere Geschäfte eingelassen hat, oder ...", hatte er erklärt, als Puccio Capanna ihm mit einem schroffen "Blödsinn, das hat es doch noch nie gegeben!" ins Wort gefallen war. Somit verwarf Niccolò seinen Einfall und hätte ihn wahrscheinlich vollends vergessen, wenn Francesco nicht einige Stunden später zu ihm gesagt hätte: "Oh Niccolò, deine Gedanken sind gut. Male nur eine Sinopie auf die Wand des Kreuzgangs. Eine Sinopie im Fresko, oder ein Fresko, das aussieht wie eine Sinopie, also etwas vollendetes, das den Anschein erweckt, nicht vollendet zu sein, das hat es noch nie gegeben! Das ist gut, man wird von uns reden."

Und so wurde Niccolò zum Schöpfer einer neuen Idee.

Dem Gehorsam zur Rechten saß die Klugheit, S. Prudentia. Niccolò übertrug die Zeichnung vom Karton auf den frischen Putz. Er hatte bereits den Kopf mit den zwei Gesichtern fertiggestellt. Schon Giotto hatte in Padua die Klugheit mit einem alten und einem jungen Gesicht gemalt, durchschaut die Klugheit doch das Vergangene und das Zukünftige. Niccolò aber hatte das alte Gesicht nach oben blicken lassen, zu einem der Cherubim im Rahmen. In einer Hand hielt sie einen Zirkel, das Gerät zum Ermessen des Mittelpunktes zweier Extreme, mit der anderen dagegen richtete sie einen Hohlspiegel in Form einer Halbkugel auf den knienden Mönch. Die Zeichnung hierzu stammte von Bruder Onofrio. Niccolò fand diese Motiv zuerst sehr seltsam, konnte doch der Mönch den Spiegel nicht sehen, weil er den Blick demütig zu Boden gerichtet hielt. Aber Onofrio erklärte: „Das ist die Halbkugel, die andere Hälfte hat der Mönch im Kopf. Siehst du, wie schön kugelig sein Schädel ist? Das Licht der Weisheit wird in der Hohlkugel gebündelt und fließt von dort in den Spiegel unseres Innensinns. Dort, im Schädel des Mönchs, kommt alle Weisheit zusammen, auch das Licht, das er nicht sieht.“

„Glaubst du, das verstehen alle, die das sehen?“ fragte Niccolò.

„Das schreiben wir auch nochmal darunter. Dort in der Inschrift wird stehen: 'per virtutis speculum obedientie frenulat'. Damit ist es doch klar, oder?“

„Das verstehen dann ganz sicher alle.“ Niccolò schien nicht überzeugt.

„Oh Niccò, das müssen doch gar nicht alle verstehen. Wer nicht lesen kann oder die alte Sprache nicht versteht und auch das Bild nicht, der ist doch genau wie der Mönch. Er blickt zu Boden, er studiert nicht, er rackert sich nicht ab, aber dennoch erleuchtet ihn das Licht das Weisheit. Das ist es doch genau, was wir sagen wollen! Die Inschriften übrigens, die brauchen wir eigentlich gar nicht, denn sie sagen das Gleiche wie die Bilder. Aber Meister Francesco meint, das gehört dazu. Ohne irgend etwas Geschriebenes wird man von den Gelehrten doch immer nur als Handwerker betrachtet, als einer, der nur ausführt, was andere sich erdacht haben, als einer ohne eigenen Geist.“

Doch nicht nur Francesco, auch Kardinal Orsini und vor allem Ubertino da Casale hatten den Inschriften große Wichtigkeit beigemessen. Und da keiner der Maler in der alten Sprache gebildet genug war, sich allein den poetischen Höhen nähern zu können, hatte Ubertino ihnen einige Texte überreicht. Sie mussten daher nur noch den Text dem verfügbaren Raum anpassen, und das konnte doch nicht schwer sein, meinte wenigstens Ubertino.

Zu Lösung dieser einfachen Aufgabe hatte Francesco aber Messer Bonaventura um Hilfe gebeten. Dieser hatte Ubertinos Texte und Francescos Entwürfe betrachtet, einige Unstimmigkeiten verbessert, andere gelassen. („Es müsste 'Oboedientiae' heißen, lieber Francesco, nicht 'Obedientie“; aber ich verstehe, euch fehlt der Raum für derartige Spitzfindigkeiten. Nun, ein A und ein O wird man verschmerzen können.“)

Doch auch Bonaventura reizte Onofrios Dialektik zum Widerspruch. „Glaubst du wirklich, werter Bruder, man gelangt allein durch Demut zum Licht? Oder wollt ihr nicht vielmehr sagen, dass Gelehrsamkeit nur einigen Wenigen zusteht, die anderen aber besser einfältig bleiben? Was ist das für ein Gerät, das auf dem Pult der Prudentia steht?“

„Aber Bonaventura, erkennst du das denn nicht?“ Onofrio war empört, „es ist doch eine Himmelsscheibe, ein Astrolabium!“

„Ein Astrolabium, das in einem Rahmen aufgehängt ist? Wie soll man damit in den Himmel schauen?“

„Du sollst nicht zu den Sternen sehen oder nach diesen greifen“, ereiferte sich Bruder Onofrio, „der Gehorsam lässt uns nach unten blicken in aller Demut. Nicht die Sterne, nicht das Neue, das vor uns noch keiner geschaut hat, sollen wir suchen.“

„Wir sollen immer nur das betrachten, das schon andere gesehen haben? Ich sage dir aber, lieber Onofrio, wenn auch Aristoteles dieser Ansicht gewesen wäre, was wüssten wir dann heute? Wenn auch er und die anderen Großen ihren Drang nach Wissen eingesperrt hätten, wie ihr euer Astrolabium! Sie hätten nicht viel zu tun gehabt, damals, und wir heute ebenso wenig!“

„Lieber Bonaventura“, lenkte nun Francesco ein, „ereifere dich nicht. Das ist doch gar kein Astrolabium. Das ist ein Gong. 'Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein klingender Gong.' Wir wollen damit sagen, dass das allein nicht reicht. Klugheit ohne Liebe ist nur eine schöne Melodie ohne Inhalt. Und steht das nicht auch in der Inschrift, irgendwas mit 'circulum'?“

„Oh ja, und das ist fast noch besser“ ereiferte sich Messer Bonaventura „da steht wirklich 'quasi per sexti circulum'! Das hat Ubertino geschrieben, nicht etwa 'circinum', wie man glauben könnte, hält die Klugheit doch auch den Zirkel in der Hand?“

„Ubertino meint, das sei schon richtig so. Das merkt auch keiner, 'circulum' oder 'circinum', was ist schon der Unterschied?“

„Lieber Onofrio, da ist ein großer Unterschied! 'Quasi per sexti circulum'. Was glaubst du wohl, ist damit gemeint?“

„Der sechste Kreis, also das sechste Siegel. Du weißt wohl, was geschieht, wenn das sechste Siegel geöffnet wird? Die vier Engel stehen an den Enden der Welt und halten die Winde, auf das kein Wind mehr über die Erde bläst, noch über das Meer oder in den Bäumen. Von Osten her aber wird ein anderer Engel aufsteigen, der mit lauter Stimme zu den vier Engeln rufen wird: 'Beschädigt die Erde nicht, noch das Meer, noch die Bäume, bis wir versiegeln die Knechte unseres Gottes an ihren Stirnen!' Und dann werden 144.000 der Kinder Israels versiegelt. Und alle, die ihre Kleider im Blut des Lammes gewaschen haben, werden erstrahlen und vor seinem Thron stehen, sie werden nicht mehr hungern und dürsten. Das Lamm aber wird sie leiten zu dem lebendigen Brunnen und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen!“

„Brav, lieber Onofrio, brav, aber warum schreibt er dann nicht 'circulum sextum' sondern 'sexti circulum', der Kreis des Sechsten? Glaubst du denn, dass ein Gelehrter wie Ubertino, der ein so umfangreiches Werk wie den arbor vitae crucifixae geschrieben hat, sich in deinem Küchenlatein ausdrückt? Wenn Ubertino 'sexti' und nicht 'sextum' schreibt, dann weiß er sehr wohl, was er damit sagen will.“

„Und was will er damit sagen?“

„Oh Onofrio, stell dich nicht einfältiger als du bist! Er meint natürlich das sechste Zeitalter, die Zeit vor dem Ende, die Zeit der letzten Verfolgungen. Schon der sechste Ort ist der Ort, an dem die Christen im Exil unter der Herrschaft der Gallier leben. Und du wirst kaum abstreiten, dass wir in dieser Zeit leben. Der Kreis aber kann nur der der Herrschaft des Heiligen Geistes sein, in den das sechste Zeitalter ja fällt – immer im Sinne Ubertinos natürlich.“

Während hier über das letzte Zeitalter disputiert wurde, geschah nicht wenige Schritte von San Francesco entfernt ein Unglück. Einer der Männer, die gerade an der Fassade der Kirche von San Pietro arbeiteten, war vom Gerüst gestürzt. Es war Aloisio, der Bildhauer und Vater Anselmos. Er war ganz allein auf das Gerüst gestiegen, um die Säulen der großen Rosette zu untersuchen, von denen er seit einiger Zeit den Eindruck hatte, dass Staub herunter rieselte. Noch bevor er jedoch auf der gewünschten Höhe angekommen war, – so scheint es – war eines der oberen Bretter der Leiter zerbrochen. Nun war aber Aloisio keineswegs von schwerer Statur, er war eher klein und schmal gebaut. Seinen Mitarbeitern, zu denen auch Aloisios älterer Sohn Tobia gehörten, stand jedoch nicht der Sinn, über diese Seltsamkeit nachzugrübeln. Zu sehr waren sie damit beschäftigt, den Verunglückten ins Hospital des Konvents zu tragen, wo sie, von den Brüdern unterstützt, seine Verletzungen behandelten, Umschläge mit gekochtem Tausengüldenkraut auf die Brüche legten und seine blutende Kopfwunde mit einer Mischung aus Weingeist, Olivenöl und Rosenöl reinigten. Doch schon als sie ihm in Wein aufgelöste pulverisierte Schafgarbe zu trinken geben wollten, schloss er die geöffneten Lippen nicht mehr. Als der Trank ungeschluckt über seine Wangen rann, erkannten sie, dass die Seele des Bildhauers Aloisio ihr sterbliches Gefäß verlassen hatte.

6. Kapitel


Wie es die Tradition verlangte, gaben die Meister aller Werkstätten am Gründonnerstag ein Essen für alle ihre Mitarbeiter, um an das letzte Mahl Christi mit seinen Aposteln zu erinnern. Die Schar von Giottos Mitarbeitern überstieg aber die der Apostel bei weitem, so dass der Platz in der Küche nicht ausreichte und man eine große Tafel im Saal aufbauen musste. Nicht nur die Werkstätten Francescos und Riccos, auch die verschiedenen anderen Gruppen, die im Namen Giottos in Assisi tätig waren, wie die Maler des Oratorium der Bruderschaft von S. Maria, erschien zu diesem Anlass so vollzählig wie selten.

Seit den frühen Morgenstunden wurden deswegen riesige Mengen von Ribollita und Zwiebelsuppe gekocht. Der Duft des Pane di ramerino, des Rosmarinbrotes, das sobald es den Ofen des Bäckers verlassen hatte, von einem Priester gesegnet worden war, erfüllte das ganze Haus mit seinem Duft und versetzte seine Einwohner in das freudige Erwarten des sich ankündigenden Frühlings.

Am Nachmittag kam dann ein Regen nieder, der in Kürze die Straßen der Stadt in Schlammlöcher verwandelte. All die von Giotto eingeladenen Gäste, die an jenem Abend im Dom S. Rufino an der Messe teilgenommen, dabei die lebensgroße Christusfigur, die die Herren der Bruderschaft von S. Stefano eigens vom Kreuz genommen und in den mit schwarzem Samt ausgelegten Sarg gelegt hatten, geküsst hatten, brachten sie solche Mengen von Schmutz und Schlamm mit, dass man das Haus nachher tagelang hätte putzen müssen, hätten nicht die heiligsten Feiertage des Jahres eine übermäßige körperliche Arbeit verboten.

Auch während des gesamten Karfreitags regnete es. Die Brüder von S. Stefano trugen den Sarg Christi vom Dom nach S. Francesco und versanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln im Morast. Die weißen Säcke und die farbigen Umhänge der Brüder waren mit Schlamm gesprenkelt. Aus dem schwarzen Samttuch, das den Sarg bedeckte, tropfte das Wasser. Die schwarzen Mäntel der Brüder von S. Antonio, die denen von S. Stefano folgten, schleiften durch de Schmutz. Alle sangen die Reime der Passion:

„Quando i Giudei Cristo pigliaro,

d'ogni parte lo circondaro;

le sue mani strette legaro,

come ladro, villanamente.”

Niccolò und die anderen Bewohner von Assisi, antworteten:

“Da la crudel morte di Cristo

ogni uom pianga amaramente.”

Singend zog die gesamte Schar durch Schlamm und Regen.

“Trenta denari fu il mercato

che fece Giuda e fu pagato;

meglio sarebbe non esser nato

che aver peccato sì duramente.”

“Da la crudel morte di Cristo

ogni uom pianga amaramente.”

Der barfüßige Cireneo rutschte mit dem schweren, wurmstichigen Kreuz im nassen Schlamm aus. Seine Dornenkrone fiel vom Kopf.

“Alla colonna fu spogliato,

per tutto il corpo flagellato,

d'ogni parte insanguinato,

come falso, amaramente.”

“Da la crudel morte di Cristo

ogni uom pianga amaramente.”

Es zogen noch viele vorbei: auf die Bruderschaft von S. Antonio folgte die Bruderschaft von S. Crispino, dann die Bruderschaft von S. Rufino mit roten Überhängen und den Emblemen des Martyrium, Rad und Palme, die Bruderschaften von S. Pietro und von S. Lorenzo, von S. Francesco und S. Chiara, mit rosa Überhängen, zuletzt folgten die franziskanischen Terziäre. Es gab niemanden in Assisi, der dem Zug nicht beiwohnte. Auch die Kranken waren gekommen und sangen im Regen. Wer nicht laufen konnte, hatte sich tragen lassen. Niemand wollte am heiligsten aller Festtage die Prozession versäumen.

Den Sarg Christi trug man in die Unterkirche von S. Francesco zum Grab des heiligen Franziskus. Als Niccolò eintrat, sah er nur noch das Licht der Fackeln, das die Gottesmutter beleuchtete. Die sieben Klingen im Leib Marias funkelten wie Scharen von Glühwürmchen in ihrem taumelnden Tanz. Der Gesang der Gläubigen gab die Melodie zu diesem Tanz.

„Stabat mater dolorosa
Iuxta crucem lacrimosa,
Dum pendebat filius;
Cuius animam gementem,
Contristantem et dolentem
Pertransivit gladius.“

Wenn viele Menschen sangen und dabei Christus im Herzen hatten, sangen auch die Engel mit ihnen. Heute konnte Niccolò das Lied der Engel hören. Zusammen mit den Menschen, aber doch über ihnen erschallen die himmlischen Harmonien. Die Töne lösten die Grenze zwischen Himmel und Erde auf.

Am Ostermontag hörte der Regen endlich auf, und die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen kamen zögerlich wie scheue Hasen hervor, um den Schlamm und den Schmutz der vorausgegangenen Tage in ihren lichtgrünen Schleier zu hüllen. Als Niccolò nach der Messe aus der Kirche trat, vertrieb die Leichtigkeit und Heiterkeit der Atmosphäre seine Schwermut, als sei er selbst einer der Jünglinge, die auf dem Weg nach Emmaus dem Herrn begegnet sind. "Die Güte des Herrn entspringt seiner Liebe," hatte der Generalminister gepredigt, und Niccolò glaubte gerade, seine Worte zu verstehen. Mit leichter Seele ging er durch die Straßen von Assisi, in denen noch das Wasser stand. Die Schlammspritzer zeichneten immer noch ihre bizarren Muster auf die Häuserwände, auf ihre Türen und Fenster. Erst am nächsten Tag, wenn die Feiertage vorüber waren, würden die Bewohner anfangen, sie zu reinigen. Niccolò beobachtete das Spiel der Lichtstrahlen auf den spiegelnden Oberflächen der Pfützen, bewunderte die vielen Farbe, die auf einmal da waren, so als habe die Natur ihre Vorzeichnung in Verdaccio beendet und malte nun alles in bunten Farben aus.

In einer größeren Pfütze betrachtete er sein Spiegelbild und ihm gefiel, was er sah. Es gefiel ihm so gut, dass er sein Holztäfelchen und den Griffel herauszog und zu zeichnen begann. Schon früher hatte er manchmal sein eigenes Gesicht gezeichnet. Er hatte es lange in Gläsern oder auf Wasseroberflächen studiert, um jede Einzelheit festhalten zu können. Vielleicht würden es manche eine Sünde nennen, doch Niccolò strebte danach, genau das festzuhalten, was er war, was das Gesicht zu seinem eigenen, ganz besonderen machte. Er wollte herausfinden, warum jedes Gesicht anders war, seinen ganz eigenen Ausdruck hatte, obschon doch alle Gesichter aus den gleichen Elementen zusammengesetzt waren. Manchmal, wenn er mit seiner Arbeit im großen ganzen zufrieden war, hatte er sich weiter beobachtet, hatte in seinem Spiegelbild noch weitere Merkmale, eine leichte Falte am Auge, ein kleines Grübchen oder ähnliches, entdeckt und dieses sogleich gezeichnet. Doch es geschah dann zuweilen, dass die Zeichnung an Naturtreue wieder einbüßte, dass sie gleichsam schlechter wurde, je mehr er hinzufügte. So als habe jede Darstellung ihren ganz eigenen Höhepunkt, über den hinauszugehen ihr nicht mehr zum Guten gereichte. Aber wie wenig war wohl notwendig, um den Charakter einer Person abzubilden? Wenn manche Einzelheiten unnötig, ja sogar störend waren, wie viel konnte er dann weglassen, damit es noch als Portrait seiner selbst erkennbar war? So überlegte Niccolò jeden Strich sehr bedacht und gründlich. Er vergaß die anderen Menschen, die auf den Straßen umher gingen, er vergaß sich selbst.

Er war noch nicht zufrieden, der Moment, der eine vollkommene Moment, an dem jeder weitere Strich zu viel wäre, war noch nicht erreicht, und Niccolò kamen plötzlich Zweifel, ob er auf dem richtigen Weg dahin war.

Da merkte er plötzlich, dass er nicht allein war, dass jemand ihn beobachtete. Er sah ein zweites Gesicht auf der Wasseroberfläche. Doch es war nicht einfach der Anblick eines Gesichts, es war etwas höheres! Noch nie hatte Niccolò etwas derart vollkommenes gesehen! Ein Gesicht, von Sanftmut weich gefärbt, mit Augen, so dunkel wie der nächtliche Himmel, ein Licht heller als das der Sterne ausstrahlend, umgeben von goldenem Haar, dessen weichen Welle ihre Anmut durch die Atmosphäre verbreiteten wie die Sonne ihre Strahlen. Es war eine himmlische Erscheinung! Dieser eine Augenblick, als die beiden dunklen Sternenaugen ihr Licht auf Niccolò richteten, dann auf seine Zeichnung und wieder auf ihn, dieser eine Moment, als ihm war, als spräche die Stimme eines Engels zu ihm Worte, deren Sinn er nicht verstand, deren Klang ihn aber mit einer nie gefühlten Süße erfüllten, entzündeten das Feuer in Niccolòs Seele. Als er jener Erscheinung nachsah, wie sie mit ihren beiden Gefährtinnen davonging, vielmehr über den schlammigen Straßen der Stadt schwebte, fühlte er, dass er von diesem Augenblick an nicht mehr der war, der er bisher gewesen ist. Wie im Traum griff er nach seinen Zeichenutensilien und ging davon.

Während des Weges nach Hause ging das Gesehene ständig durch seinen Kopf, die Begegnung fand in seinem Geiste immer wieder statt, und jedes Mal entdeckte er darin weitere Details, die ihm zuvor entgangen waren.

Niccolò hörte auch nicht die Stimme Torsolos, die rief: „Niccolò, wohin des Weges?“ Er sah ihn nicht einmal, als dieser hinter ihm herlief, dabei aber in seiner gewohnten Manier nach rechts und links hüpfte wie der Schwanz eines glücklichen Hundes. Torsolo seinerseits hatte die Erfahrung gelehrt, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer nicht als notwendig zu erachten. Was waren schon Worte? Waren Worte nicht wie Wassertropfen, die auf eine Festungsmauer regneten? Oder Blumen, die auf Eis rieselten? Worte waren sinnlos und überflüssig, dennoch drängten sie danach, ausgesprochen zu werden. Und so sprang der Bizzocco, von Niccolò unbeachtet, von anderen belächelt und verlacht, hinter dem Jüngling her und sang:

„D’april vi dono la gentil campagna
tutta fiorita di bell’erba fresca;
fontane d’acqua, che non vi rincresca;
donn’ e donzelle per vostra compagna;

7. Kapitel


Niemand wusste, warum Monna Ginevra gerade Onofrio di San Clemente zu ihrem persönlichen Beichtvater erwählt hatte, wahrscheinlich war nicht einmal sie selbst sich des eigentlichen Grundes bewusst. Vielleicht gefiel ihr die Unbekümmertheit des Franziskaners, die Leichtigkeit, mit der er auf das Leben blickte und sein Talent, diese unbeschwerte Sicht auch andere einnehmen zu lassen. Vielleicht hoffte die edle Dame auch, ein Beichtvater ihres gleichen Alters, wenngleich sein tägliches Leben sich zwar von ihrem unterschied, mochte ihr und ihren Anliegen mehr Verständnis entgegenbringen als ein älterer Priester, die von ihm verhängten Bußübungen daher milder ausfallen. Jedenfalls pflegte sie seit langem ein besonderes Vertrauen zu Bruder Onofrio und suchte ihn deswegen in dieser schweren Stunde auf. Nachdem sie ihm ihre Sünden – alles lässliche Vergehen – gebeichtet hatte, berichtete sie vom eigentlichen Grund ihres Kommens, von den Sorgen, den schlaflosen Nächten, der Sorgen um ihren Vater und der seltsamen Gleichgültigkeit ihres Gatten.

Bruder Onofrio staunte insgeheim ein wenig darüber, dass, obwohl Messer Salvestro nun bereits seit vielen Tagen von niemandem gesehen worden war, noch eine Nachricht hinterlassen hatte, Ranieri das Verschwinden seines Schwiegervaters noch nicht dem Podestà gemeldet hatte.

„Weißt du, lieber Bruder Onofrio“, erklärte Monna Ginevra, „ich erinnere ihn jeden Tag daran, mehrmals am Tag. Er sagt mir dann zuweilen, er würde gleich nach der Erledigung seiner heutigen Geschäfte den Podestà aufsuchen, und kommt am Abend nach Hause, ohne auch nur beim Podestà gewesen zu sein. Andere Male will er mich beruhigen und sagt mir, Vater habe sicher nur seine Ruhe haben wollen und sich in unser Landhaus zurückgezogen. Allein es fehlt keines der Pferde, und Vater wird kaum zu Fuß gelaufen sein. Aber es scheint, als ob es Messer Ranieri überhaupt nicht interessiert, was aus Vater geworden ist! Ich glaube, ich sollte nicht länger warten, ich werde selbst zum Podestà gehen.“

„Haltet Euch zurück, liebe Monna Ginevra“, rief Bruder Onofrio, „Messer Ranieri ist sicher ein vielbeschäftigter Mann und muss während des Tagesgeschäftes an viele Dinge denken. Auch weiß er wohl, dass der Podestá auf diese Nachricht mit nichts reagieren wird. Wir kennen doch seine Arbeitsweise. Er wird alles von seinen Schreibern aufschreiben lassen, das dann von anderen Schreibern mehrfach kopieren, um am Ende doch nur alles mit Schnüren zusammenzubinden und seiner Sammlung von unerledigten Akten zuzufügen. Es geht hier um eine zu ernste Sache, den eisigen Wind, und wer weiß, ob der Podestà nicht selbst eine Böe desselben ist. Und außerdem ...“, Bruder Onofrio sprach jetzt sehr leise, „es kann sein, dass sie dann hier alles durchsuchen werden. Deswegen bitte, verbrenne die Briefe, die ich dir in der Vergangenheit geschickt habe! Du weißt, wenn sie einer findet von denen, dann könnten die glauben … Vernichte sie, bitte!“ Weiter in gewohnter Lautstärke: „Deshalb kann ich Euch nur raten, Euch in Geduld zu üben und Eurem Ehemann zu vertrauen. Aber es gibt noch etwas, was ich Euch sagen will ...“

Onofrio zögerte.

„Rede frei heraus, lieber Bruder Onofrio“, ermunterte ihn Monna Ginevra.

„Nun, ich sah vor wenigen Tagen ein verworfenes Subjekt aus Eurem Haus kommen, den liederlichen Francesco di Vanne. Ich bin sicher, er kam nur, um die üblichen Almosen zu erbetteln, die Ihr ihm ja auch gabt.“

„Ja, ist das nicht die Pflicht eines jeden Menschen? Sagt doch Christus selbst: 'Was ihr einem der Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan'?“

„Sicher, aber es gibt Geringe, durch die spricht Christus, und es gibt Geringe, durch die spricht der Teufel. Und zu diesen gehört Francesco di Vanne.“

„Wie kannst du da so sicher sein, lehrtest du selbst mich nicht, dass dieses Urteil allein Gott zusteht?“

„Er verbreitet ketzerische Lehren, die jeden, der sie anhört, ins Verderben führen! Er gehört der schlimmsten aller Ketzergruppen an, den Brüdern des freien Geistes! Nicht Söhne Christi sind sie sondern Söhne Epikurs; sie lehren, dass ein Mensch, der eine bestimmte Stufe erreicht hat, nicht mehr sündigen kann, auch wenn seine Taten Sünden sind. Und Francesco di Vanne selbst wandelt natürlich längst auf dieser Stufe. Nicht genug damit, will er auch noch andere verführen und begeht daher allerlei Freveltaten wie Ehebruch ...“

Monna Ginevra blickte Onofrio an:

„Ist es das, was du von mir wissen willst, ob er mich zum Ehebruch verführte.“

„Es ist die Erlösung Eurer Seele, um die ich mich sorge!“

„Erlösung, was heißt das? Ist Erlösung nicht Freiheit von allen Fesseln des irdischen Daseins? Auch das sind deine Worte.“

„Ja, die Freiheit, die wir nur durch Verzicht und Liebe erlangen, Liebe zum Verzicht, Liebe zur Armut!“

„Liebe! Da sagst etwas Wichtiges, lieber Bruder Onofio. Was ist denn aber Liebe, wenn sie nicht frei ist? Hat es irgendetwas mit Liebe zu tun, dem Manne beizuliegen, den sie dir gegeben haben, ohne deinen eigenen Wunsch auch nur zu achten? Ist es Liebe, wenn du das vollziehst, was sie die 'Pflicht der Ehefrau' nennen und du dabei gar nichts empfindest, außer vielleicht dem Wunsch, es möge schnell vorbeigehen? Nennt man es nicht eher Hurerei? Sind das nicht gerade die irdischen Fesseln, von denen wir uns lösen sollen? Ist Liebe nicht vielmehr das, was du dir selbst in Freiheit erwählst? Erwähltest du nicht auch die Armut als deine Geliebte in völliger Freiheit? Was wäre deine Armut wert, wenn du sie nicht freiwillig gewählt hättest? Etwas, das jeder Bauer besitzt. Nur weil du sie freiwillig wähltest, dich nach ihr verzehrst, nach ihr verlangst, ist es wirklich Liebe. Du kann kaum etwas lieben, was dir einfach so zustößt.“

Onofrio spürte die Wärme in seinem Kopf.

„Was sagt Ihr da, edle Dame? Ihr habt Euren Gatten nicht freiwillig erwählt? Kann man denn einer jungen Frau, eigentlich einem Kind, eine solche Wahl zumuten? Euer Vater hat entschieden, wie es üblich ist. Seine Wahl ist sicher von großer Liebe zu Euch bestimmt und von größerer Weisheit, als die Wahl, die ein Mädchen treffen könnte, das doch falsche Gefühle nicht von wahren unterscheiden kann, weil ihm aufgrund der jungen Jahre und des angeborenen Unvermögens des Weibes die Weisheit dazu fehlt. Ihr aber konntet in Freiheit entscheiden. Viele Jungfern aus den besten Familien waren schon verlobt und haben sich doch für Christus entschieden.“

„Heute bin ich kein Kind mehr; die Weisheit, dass ich dem, dem ich angetraut bin, nie ein liebendes Weib sein kann, hat sich längst bei mir eingenistet und wohnt in meiner Seele, so wie die Armut in deiner wohnt. Aber sag, lieber Bruder Onofrio, wie verspürst du diese Liebe zur Armut? Wie weißt du sicher, mit ihr die richtige Braut gewählt zu haben?“

Onofrio spürte jetzt alle Säfte seines Körpers in den Kopf steigen.

„Ich, ich weiß es eben. Es ist ein Gefühl der Liebe!“

„Hast du stets dieses Gefühl, immer in der gleichen Weise?“

„Nein, ich liebe die Herrin Armut immer, aber es gibt Momente, in denen ich diese Liebe verstärkt verspüre, in denen ich tiefes Glück empfinde über meine Braut, es kommt plötzlich, es ist eine Heimsuchung, sie und mit ihr der geliebte Bräutigam, der vor mir war, reicht mir ihre Hand durch die Öffnung, bei ihrem Anblick durchströmt mich süßester Balsamduft, mein Herz erbebt von der Kraft des Geistes, der seine Gnade in mich ergießt ...“

„Es beginnt mit der Wärme, die du in deinem Kopf spürst, das ist der Vorgeschmack, dann erbebt dein ganzer Leib, du möchtest sie in innigem Jubel stets anschauen, du vergisst alles andere, dich selbst, deine Zukunft, es gibt nur noch den einen Moment?“

„Ja.“

„Würdest du es als Entrückung bezeichnen, Bruder Onofrio?“

„Ja, du bist entrückt, die Seele ist nicht mehr im Körper, sondern verlässt diesen und schmeckt eine Kostprobe des Paradieses!“

„Du hältst es also für eine Entrückung der Seele?“

„Natürlich der Seele, Gott wohnt doch in der Seele, die selbst im Körper wohnt ...“

„Du redest wohl, lieber Bruder, Gott wohnt in der Seele. Wohnt er dann nicht genauso im Körper? Das, was du beschreibst, die Entrückung der Seele, empfinde ich – manchmal – bei der körperlichen Vereinigung. Meine Seele verlässt den Körper und genießt einen Vorgeschmack des himmlischen Vergnügens! Es muss doch von Gott kommen, wenn Gott in der Seele ist, dann muss er doch auch im Körper sein!“

„Das ist falsch!“ schrie Onofrio aufgebracht, „das hat nichts mit der Entrückung der Seele zu tun! Du versündigst dich, wenn du beides zusammen nennst! Fleischeslust und Verzückung der Seele!“

„Ist es nicht die Seele selbst, die beides zusammenfügt? Das gleiche Gefühl, hervorgerufen durch die Liebe?“

„Es ist keine Liebe, es ist Wollust! Du kannst ..., Ihr könnt das nicht verstehen, ich meine …, als Weib, geht gleich in die Kirche, betet für Euer Seelenheil, bittet Gott, Euch wieder in seine Gemeinschaft aufzunehmen, euch von diesen ketzerischen Ideen zu reinigen! Tut Buße, sogleich! Es bleibt nicht mehr viel Zeit! Geht!“ Onofrio wollte die Dame schon zur Tür schieben, doch sie sagte:

„Halt, lieber Bruder, für mein Seelenheit und vor allem das meines Vaters, etwas soll ich die noch geben!“ Sie zog eine kleine Schrift unter ihrem Umhang hervor. „Vater sagte mir, dass, falls ihm etwas zustößt …, nun er wollte nicht, dass mein Gatte es bekommt ...“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Onofrios Stimme wurde sanfter:

„Vielen Dank, liebe Monna Ginevra. Ihr seid noch nicht verloren, aber geht bitte sogleich Abbitte leisten. Es ist nicht mehr viel Zeit!“

Ein wenig perplex ob des ungewohnten Verhaltens ihres Beichtvaters ging Monna Ginevra tatsächlich in die Kirche des heiligen Franziskus und betete. Sie blieb dort sehr lange, vertiefte sich ins Gebet, bat Gott darum, wieder aufgenommen zu werden, auch wenn ihr nie bewusst war, verstoßen zu sein. Mehr und mehr aber wurden die Gebete um ihre Tugend von den Gedanken an ihren verschwundenen Vater verdrängt, und plötzlich kamen ihr weitere Merkwürdigkeiten der Rede Bruder Onofrios in den Sinn. Warum schien es, als wolle Onofrio Salvestros Verschwinden anscheinend am liebsten geheim halten? Was ging in diesem Franziskaner vor?

Onofrio dagegen blieb allein in der Sakristei zurück. Er bewegte sich mehrmals in verschiedene Richtungen, um sich gleich darauf wieder umzudrehen und die gegenläufige Richtung einzuschlagen. Erst als er nach einem Kelch gegriffen und diesen gegen die Wand geworfen hatte, zog sich die schwarzen Galle zurück. Sich der Freveltat der Schändung bewusst werdend hob Onofrio den Kelch auf, streichelte ihn zärtlich und stellte ihn an seinen Ort zurück. Er schlich sich aus dem Konvent hinaus ins Freie, lief zuerst etwas zögerlich, dann aber zügig durch die Stadt. Irgendwann – er wusste selbst nicht mehr wie lang er durch die Straßen gelaufen war – stand er vor dem Haus Giotto di Bondones.



Ranieri hatte endlich eine Schrift gefunden im Zimmer von Salvestro. Astrolabio brannte danach, sie gleich zu studieren. Doch leider enfilierte jener sein dummes Gerede:

„Was soll ich ihr aber erzählen? Sie fragt mich jeden Tag mehrmals, wann ich sein Verschwinden endlich dem Podestà melde.“

„Meine Güte, ist sie etwa der Herr in deinem Haus? Erzähl ihr irgendetwas, dir wird schon was einfallen. Du wirst kaum von mir Ratschläge zur Bändigung der Neugier eines Weibes erwarten.“ Astrolabio atmete laut, wenngleich er fürchtete, dass die deutliche Bekundung seines Überdrusses den anderen wenig beeindruckte, dieser sie nicht einmal bemerkte.

„Reden wir nicht mehr von diesem Kinderkram, sag mir lieber, ob dir der Giftmischer etwas über seinen Meister berichtet hat.“

„Was?“ Ranieri verstand nicht.

„Hast du vom Apotheker, Buonaventura Guidotti, etwas über seinen ehemaligen Lehrer, Buoninsegna d'Assisi erfahren, insbesondere, wo letzterer sich gegenwärtig aufhält?“

„Ja, eh, Messer Bonaventura sagt, Buoninsegna lebe jetzt bei den Antipoden.“

„Was?“ Jetzt verstand Astrolabio nicht.

„Die Antipoden, das sind Menschen, oder besser Wesen, sagt Messer Bonaventura, die auf der anderen Seite der Erde leben und deswegen mit den Füßen nach oben laufen. So wie bei ihnen die Bäume und die Pflanzen nach unten wachsen, Schnee, Regen oder Hagel aber nach oben fällt. Wenn bei uns Tag ist, dann ist bei ihnen Nacht, unser Winter ist ihr Sommer ...“

„Ich weiß, was Antipoden sind, oder besser, was sie nicht sind, denn sie sind nicht!“ Astrolabios Lippen zuckten. „Wie stellst du dir das vor, Regen, der nach oben fällt, und Gras, das nach unten wächst? Und die Antipoden selbst, hängen die etwa am Boden?“

„Bonaventura sagt, weil doch die Erde schwerer ist als das Wasser muss es auch unten Erde geben. Gäbe es unten nämlich keine Erde, dann müsste sich doch die ganze Erde umdrehen und dann würden wir mit den Füßen nach oben herumlaufen. Deswegen muss es die Terra australis incognita geben, sagt Messer Bonaventura, als Gegengewicht.“

„Als Gegengewicht müssen dort wohl auch Menschen leben? Und natürlich müssen es genauso viele sein wir hier, den sonst wäre die Welt aus dem Gleichgewicht?“

„Ja, so sagt Messer Bonaventura ...“

„Das bedeutet also, für jeden Menschen, der in den bekannten Teilen der Erde lebt, muss es einen Menschen auf er anderen Seite geben?“

„Ja, ich glaube schon.“

„Wenn also hier ein Mensch stirbt, muss auch auf der anderen Seite einer sterben? Wenn hier einer geboren wird, dann auch auf der anderen Seite?“

„Ja, das ist wohl so, oder?“

„Das muss wohl so sein, soll die Erde ihr Equilibrium bewahren. Aber lieber Magister, erkläre mir dann eine Sache: woher wissen die Antipoden, dass hier ein Mensch gestorben ist, sie also auch bei sich für den Tod eines ihrer Genossen sorgen müssen?“

„Ja, hm, ich weiß nicht ...“

„Waren nicht Noahs Söhne drei: Sem, der Stammvater der Völker Asiens, Ham, der Vater der Afrikaner, und Japhet, der Stammvater Europas. Dies sind die von Gott geschaffenen Völker, glaubst du wirklich, dass es daneben andere Völker geben kann? Wegen der großen Hitze, die weiter im Süden herrscht und die jedes menschliche Wesen sogleich verbrennen würde kann nie ein Nachkomme Noahs die südlichen Gebiete der Erde erreichen. Siehst du das ein?“

„Ja, doch ...“

„Gott hat uns außerdem aufgetragen, allen Völkern seine Botschaft zu bringen. Wie könnten wir aber Gottes Botschaft den Völkern bringen, die wir aus nämlichen Grunde nie erreichen können? Du bist dir also bewusst, dass es sich bei jeder Art der Mutmaßung über die Existenz von Antipoden um Unsinn handeln muss, wie schon Augustinus sagte?“

„Ja, aber wenn nun dieser Buoninsegna einen Weg gefunden hat, die heiße Zone zu durchqueren? Messer Bonaventura erzählt von Schiffen, die unter Wasser fahren können, und Wagen, die kein Pferd oder Esel mehr ziehen muss. Kann dieser Buoninsegna nicht mit irgend so einer Maschine die große Hitze durchquert haben? Er hat doch so vieles erfunden, was unglaublich schien.“

„Erfunden! Was soll dieser Buoninsegna denn erfunden haben? Du Dummkopf! Weißt du nicht, dass der Mensch nichts erfinden kann, weil alles, was möglich ist, bereits ist! Was ist denn unsere Welt, wenn nicht das Abbild der Ideen Gottes? Alles Forschen, Suchen, Finden ist doch nur ein Erinnern. Wie soll ein Mensch, geschaffene Kreatur, selbst etwas erschaffen? Kannst du mir das sagen?“

„Ja, nun ...“

„Kannst du nicht, weil es nicht möglich ist. Unser Geist ist begrenzt, und deiner ganz besonders. Also lass ab von diesen albernen Ideen und berichte mir erst wieder, wenn du wirklich etwas zu sagen hast!“

„Ja, also … dann gehe ich jetzt?“

„Der schlauste deiner Gedanken!“

Verwirrt verließ Ranieri den Raum. Astrolabio stöhnte. „Herr, warum musst du mir solche Trottel zur Seite stellen?“ Dieser Ranieri, gesegnet mit Geld und sonst mit nichts, genauso wie dieser andere, dieser Vitellozzo! Warum musste er, Astrolabio, das dümmste Heer aller Zeiten befehlen! Nun, wenigsten hatte er die Schrift gefunden.

Astrolabio öffnete das kleine Büchlein, das Ranieri ihm gebracht hatte. Aber was war das? Dieser Idiot! Er hatte wirklich …, nein, das war unmöglich! Astrolabio warf das Buch an die Wand. Wie konnte diese Schrift zu Ranieri gelangen? Ranieri, sicher kein Liebhaber des geschriebenen Wortes, würde kaum einen Teil seines Geldes für ein Buch ausgeben. Es konnte daher keine Verwechslung sein. Das sollte der von Salvestro gehütete Teil des Geheimnisses sein? Das war unmöglich! Irgend jemand spielte ein Spiel mit ihm, irgend jemand wusste Bescheid!

Niccolò kniete in der Kirche, als sie hereinkam. Er war ins Gebet versunken, doch nicht so tief, dass er sie nicht bemerkt hätte. Was ihn selbst aber am meisten erstaunte war der Umstand, dass er sie bereits spürte, noch bevor er sie sehen konnte. Seit er hier war hatte sich die Tür der Kirche mehrmals geöffnet, Gläubige waren hereingekommen, andere wieder hinausgegangen. Doch diesmal war etwas anders. War es das Geräusch der Tür oder der Klang ihrer Schritte, so leicht und beinahe tonlos? War es der leichte Luftzug, der jeden Eintretenden begleitete, diesmal aber einen schwachen Duft nach Wacholder mitführte? Es war wohl ihre Aria, die Niccolò eine Veränderung in der Atmosphäre fühlen ließ. Eine Welle durchzog seinen Körper, brachte alle Körpersäfte in Wallung. Als sie dann an ihm vorbeiging – oder vielmehr schwebte – konnte er nicht anders, als den Kopf zu heben und ihr nachzusehen. Und wieder war es diese Erscheinung, so vollkommen, dass sie nur himmlisch sein konnte! Sie schwebte an ihm vorbei, ganz in ihren grünen Umhang gehüllt schritt sie bis zu einem Platz vor dem Altar am Lettner, wo sie sich niederkniete und sogleich ins Gebet vertiefte. Niccolò blickte von hinten auf ihre Form, durch den Mantel verhüllt, dennoch Vollkommenheit versprechend, dass es seinen ganzen Körper zittern ließ. Nicht mehr das Altarbild war nun der Gegenstand seiner Andacht, nicht mehr in das Bild der Heiligen vertiefte er sich, sondern dieser grüne Brokatstoff über und über bestickt mit einem Muster aus Tropfen – oder waren es Herzen? – saugte ihn jetzt auf. Dieses Grün, diese Herzen tanzten vor seinen Augen, schimmerten überall um ihn herum, so dass er nicht mehr entkommen konnte.

Bruder Onofrio ließ sich indes in der Küche des Hauses Bondone bewirten. Er hatte an die Tür geklopft, das dringende Bedürfnis vorgebracht, Meister Francesco zu sprechen, und, da dieser nicht zuhause war, darauf bestanden, auf ihn zu warten, egal, ob drinnen oder draußen, und so war er in die Küche gebeten worden, wo er sich an Brot, Früchten und Wein genüsslich hielt. Das vorherige Laufen durch die Stadt sowie das Essen hatten ihn ein wenig beruhigt. So plauderte er mit der alten Margherita.

„Glaube mir, mein Junge“, sagte diese, „was sie dir so über das Alter erzählen, es sei Vollkommenheit, Weisheit, das ist alles Unsinn. Nichts ist vollkommen an einem Körper, der schlaff und labberig wird, gleich einem Hefeteig, den man vergessen hat und der deshalb den Moment der Brauchbarkeit lange überschritten hat. Und, glaube mir, du riechst dann auch so ...“

„Wie?“, fragte Onofrio.

„Wie ein vergammelter Hefeteig. Und wie dieser, wenn du ihn an die Wand werfen würdest, zäh und träge nach unten liefe, so zieht es auch an deinem Körper alles nach unten. Es kommt der Tag, an dem du platt wie ein Kuhfladen am Boden liegst und dich nur noch mit der größten Anstrengung des Willens wieder auf die Füße stellen kannst.

Alles an dir strebt nach unten, dem Erdreich zu, sowohl die Haare, die erst ihre Farbe verlieren, dann ausfallen wie die Blätter im Herbst – du wirst es nicht glauben, aber auch ich hatte einst volle Locken von der Farbe reifer Kastanien – als auch die Zähne, diese bleichen nicht aus, sondern im Gegenteil, sie werden schwarz, schmerzen fürchterlich, nur, um am Ende doch auszufallen. Damit bleiben dir auch im Munde die Kastanien versagt. Aber das Schlimmste ist, erst wenn du alt bist wird dir bewusst, was für ein kurzer, unglaublich kurzer Moment doch die Jugend ist, und wie viel unendlich länger Alter und Siechtum weilen. Deswegen, mein Junge, beherzige meinen Ratschlag und genieße deine Jugend. Auch wenn du das Ordenshabit trägst, du hast noch dein gesamtes Alter, um irgendwelche Sünden zu bereuen.“

„Aber Margherita, Ihr vergesst, dass die körperlichen Leiden durch den tiefen Seelenfrieden des Alters ausgeglichen werden, oder etwa nicht?“, warf Onofrio ein.

„Seelenfrieden? Auch das ist so ein Unsinn. Es gibt keinen Seelenfrieden. Du hörst nur irgendwann auf, zu kämpfen, weil du einsiehst, dass deine Waffen ihre Schärfe verloren haben. Es ist der Frieden der Kapitulation! Du weißt, dass du nichts mehr versuchen musst, weil jede Anstrengung vergebens ist. Aber in dir drin, da brodelt es weiter. Alles, was sie dir erzählen von Frieden und Weisheit, das sind nur Lügen, glaube mir, Lügen, die sie vielleicht sogar selbst glauben, um sich die Zeit, die sie auf den Tod, den Erlöser, warten, zu verkürzen. Ist es nicht das Gleiche mit unserer Welt, die jetzt alt ist und dem Tode nahe? Haben wir deswegen etwa Frieden? Nein, wir haben mehr Kriege als jemals zuvor! Das ist das Alter der Welt! Wer weiß, vielleicht lässt sich das Alter nur mit Lügen aushalten? Die Lügen der Welt aber heißen Genuss und Vergnügen. Deswegen sage ich dir nochmal, genieße deine Jugend, denn genauso wie die Welt ist sie schon bald vorbei!“

Niccolò kam gerade von seinem Gebet zurück, als er die beiden Gestalten am Ende der Straße in der Abenddämmerung verschwinden sah. Schwermut hatte sein Herz ergriffen, die Erregung seines Körpers war einer enttäuschten Ruhe gewichen. Als ihr Ehemann erschienen und durch den Kirchenraum gegangen war, um schließlich den Platz neben ihr einzunehmen, da war es, als ob eine turbulente Brise sich plötzlich legte. Als sie dann aber langsam, sehr langsam die Hand ihres Mannes ergriffen und mit ihren beiden Händen umschlossen hatte, fühlte Niccolò eine eisige Hand sein bis dahin heftig pochendes Herz ergreifen und es zum Stillstand bringen. Aus diesem Grund und aufgrund der Unfähigkeit, sich ins Gebet zu vertiefen, hatte er die Kirche verlassen. Er war Francesco und Onofrio ein Stück gefolgt, mehr aus Gewohnheit als aus Interesse, verlor aber ihre Spur und wandelte dann ziellos durch die Straßen von Assisi. Nach einiger Zeit setzte er sich auf einen Stapel Holzbretter und folgte dem Disput in seiner Seele. Die ruhige Stimme der Vernunft versuchte ihn zu überzeugen, all die Dinge, die ihn seit einiger Zeit aufwühlten, seien doch nur Illusionen. Eigentlich sei doch alles noch wie zuvor, er habe lediglich ein hübsches Antlitz gesehen, dessen Schönheit ebenso zu bewundern war, wie die der Fresken des Simone Martini. Das Antlitz einer Frau, die selbst noch nicht einmal wusste, dass es ihn gab. „Was willst du also?“ fragte die Vernunft, „dein Leben ist doch angenehm. Warum kannst du den früheren Vergnügungen, wie den Treffen mit den Freunden, den Gesprächen, den Kräuterextrakten nicht mehr die Freude abgewinnen, die sie dir einst bereiteten? Nicht einmal mehr die Malerei und das Zeichnen, nehmen deine Gedanken jetzt über das Notwendige hinaus gefangen.“ Niccolò musste zugeben, dass die Vernunft recht sprach. Vorbei waren die Zeiten, als er aufrichtigen Herzens in die Natur zog, um sich im Zeichnen zu üben, Tage vorher seine Zeichenutensilien sorgfältig vorbereitend. Dabei war doch nichts geschehen. Seine Freunde hatten noch nicht einmal eine Veränderung bemerkt. Warum konnte er sich nur nicht so leicht fühlen wie zuvor? Warum konnte er nicht einfach den Sternenhimmel betrachten und es sich an der Schönheit der Schöpfung genügen lassen?

Niccolò lehnte sich zurück und sah in den Himmel. Der Mond hatte die Form einer Saubohne, doch leuchtete er mit ganzer Kraft. Erst nach dem Erklingen der vierten Posaune würde er ein Drittel seiner Leuchtkraft verlieren. Aber vorher müsste ein Drittel der Erde verbrennen, Hagel, Feuer und Blut auf die Erde fallen, ein brennender Berg ins Wasser stürzen und ein Drittel alles Lebens im Wasser vernichten, außerdem müssten ein Drittel der Menschen sterben, weil das Wasser durch einen herabstürzenden Stern vergiftet wäre. Erst dann würde der Adler dreimal „Wehe“ rufen. Das alles war noch nicht passiert, könnte aber jeden Moment passieren. Würde Niccolò dann noch an die Verwirrungen seiner Seele denken?

Niccolòs Hände stützten sich auf das obere Brett des Holzstapels, auf dem er saß. Er strich mit den Händen den Rand des Brettes entlang. Seine kurze Seite fühlte sich glatt an, doch sobald Niccolò seine Finger ein wenig hinuntergleiten ließ, fühlte er raue Holzsplitter. Das Brett war wohl an der einen Seite angesägt worden und dann durchgebrochen. Auch am zweiten Brett des Stapels, länger als das obere, konnte einen solchen Rand ertasten, währen die anderen Bretter doppelt so lang waren und glatte Ränder hatten. Erst jetzt merkte Niccolò, wo er sich niedergesetzt hatte, wozu die Mauer aus roten und weißen Ziegeln hinter ihm gehörte. Zu seiner Linken sah er die glatte graue Mauer der Chorapsis von San Pietro. Entlang der Mauer lagen weitere Stapel Holz, größtenteils morsche Bretter und Scheite. Anscheinend lagerten die Benediktiner hier das Brennholz. Die Bretter, auf denen Niccolò saß jedoch waren nicht brüchig oder wurmstichig. Entsetzen packte ihn, als er gewahr wurde, wozu diese Bretter bis vor kurzem gedient hatten.

Zuerst war Francesco überrascht, seinen Mitarbeiter zuhause anzutreffen. Jedoch verstand er schnell, dass Bruder Onofrio nicht gekommen war, um sich von Margherita über die Widrigkeiten des Alters belehren zu lassen und zog sich daher sogleich mit ihm in sein Schlafzimmer zurück. Onofrio berichtete von seinem Gespräch mit Monna Ginevra. Francesco ging unruhig im Zimmer auf und ab.

„Du meinst also, es sei wieder der kalte Wind der Eifersucht? Bist du sicher?“ Er schaute Onofrio ratlos an.

„Oh Francesco, wer soll es sonst gewesen sein? Und warum redest du verschleiert, hier hört uns doch keiner? Überleg' doch mal. Wenn es irgendein Räuber gewesen wäre, der Messer Salvestro vielleicht um seine Börse hätte erleichtern wollen, der ihn überfallen hätte und ihn dabei – absichtlich oder nicht – getötet hätte, es gäbe eine Leiche, und wenn nicht, dann doch wenigstens eine Spur. Und wer hätte Messer Salvestro töten oder entführen sollen, wenn nicht ein Räuber? Er hatte niemanden zum Feinde, außer ...“

„... außer ihnen“, ergänzte Francesco immer noch etwas zögernd.

„Bedenke auch das Verhalten Messer Ranieris! Er versucht, das Verschwinden seines Schwiegervaters geheim zu halten. Er erzählt sogar herum, Messer Salvestro sei in sein Landgut geritten und halte sich nun dort auf. Das kann nur bedeuten, dass er einer ihrer Soldaten ist, ein Hauch des eisigen Windes.“

„Ranieri? Ich sah ihn, als ich die Werkstatt verließ. Er ging in die Kirche zu seiner Frau. Ich glaubte, er wolle für seinen Schwiegervater beten, aber es sieht so aus ... Es sieht aus, als wolle er weinen.“

„Ja, Tränen der Freude vielleicht!“, brauste Onofrio auf, „er ist ein Narr, ein Spitzel! Doch wenn er wüsste, wie sehr seine Frau mir vertraut, was sie mir alles erzählt und was sie mir gegeben hat ...“ Er zeigte Francesco eine kleine Schrift.

„Du hast vielleicht recht“, gab Francesco zögerlich zu, „und sie, die ungehobelten Gesellen haben den Schatzmeister dem Kreis der Ritter entrissen wie zuvor schon den Maestro d'abbacco. Vielleicht hat der Krieg nun begonnen? Was aber ist dann mit Aloisio? Ist es dann nicht ein seltsamer Zufall, dass er gerade jetzt vom Gerüst stürzt?“

„Das würde mich sehr wundern, wenn es ein Zufall wäre!“

„Er war allein auf dem Gerüst.“

„Das war der Donner! Der Kampf ist längst eingeläutet! Wir müssen uns vorsehen, lieber Compagno! Wir müssen vor allem die anderen warnen, besonders vor dem falschen Ranieri!“

„Du hast recht, lass uns gleich zum Großmeister gehen! Er muss eine Generalversammlung am Minnehof einberufen!“

Onofrio zögerte noch einen Moment. „Eine Sache aber musst du mir versprechen, lieber Francesco ...“

Francesco horchte auf, Onofrio kaute auf seiner Zunge herum. „Rede schon! Was ist?“ drängte Francesco.

„Ginevra …, ich meine Monna Ginevra, Salvestros Tochter …; sie darf nichts erfahren vom Tod ihres Vaters, sie …, sie soll glauben, er sei noch am Leben, sie grämt sich sonst zu sehr, sie ist so zart, sie ...“

Wenngleich Francesco nicht verstand, worauf Onofrio hinauswollte, stimmte er ihm zu. Beide verließen eilig das Haus.

Niccolò traf Beatrice, als diese gerade die Apotheke verließ. Lange hatte er überlegt, wem er von seiner Entdeckung berichten sollte. Der Gehorsam hatte ihm aufgetragen, gleich Francesco oder Onofrio aufzusuchen. Doch Niccolò hatte das Joch des Gehorsams abgelegt und ins Licht der Vernunft geblickt. Den Gedanken, Francesco oder Onofrio aufzusuchen, hatte er bald verworfen. Die beiden glaubten ohnehin schon an den eisigen Wind. Niccolòs Neuigkeit würde nichts ändern. Er sehnte sich nach einer vernünftigen und unvoreingenommenen Stimme. Nachdem er alle Personen abgewogen hatte, kam er zur Erkenntnis, dass die einzige vernünftige und unvoreingenommene Person, mit der er reden konnte, eben Beatrice war, auch wenn ihr vielleicht wieder alberne Ideen, wie irgendwelche Häuser zu durchsuchen, kamen. Da Beatrice aber ihre Freundin Federica besucht hatte, womit sie ihre Besuche bei Messer Bonaventura und dessen Bibliothek gerne erklärte, wartete Niccolò auf der Straße vor dessen Haus.

„Du auch?“ fragte sie überrascht, als sie Niccolò erblickte.

„Wie? Ich auch? Wer denn noch?“

„Die zwei sind schon da, seit geraumer Zeit. Sie haben sich mit Messer Bonaventura in seinem Offizin eingeschlossen. Federica und ich haben den Laden weiter geführt.“

„Welche zwei denn?“

„Bruder Onofrio und mein werter Bruder.“

„Ach so“, Niccolò überlegte, wie er beginnen sollte. „Bice, ich habe heute etwas entdeckt.“

„Was? Dass die Tugend des Gehorsams dich lehrt, deine Verdienste zu verstecken?“

„Ich habe die Bretter gefunden, die Bretter von der Leiter, von der Aloisio gestürzt ist.“

„Ja, und weiter?“

„Eines dieser Bretter ist auf einer Seite angesägt worden. Verstehst du, was das bedeutet? Dass es stimmt, das mit dem eisigen Wind! Dass Leone, Salvestro und Aloisio umgebracht wurden und dass die anderen auch noch ermordet werden sollen!“

Beatrice sah Niccolò ruhig an. „Nein, das heißt doch erst einmal, dass Aloisio wahrscheinlich ermordet wurde, mehr nicht.“

„Warum sollte jemand Aloisio ermorden wollen, wenn nicht aus dem Grund, dass er zu den Cavalieri gehört?“

„Weiß ich nicht, aber es könnte einen Grund geben. Messer Bonaventura sagt, nur das als Beweis zu nehmen, was du wirklich sicher weißt. Und viel wichtiger sind doch andere Fragen: wer konnte wissen, dass Aloisio genau zu dem Zeitpunkt, an dem es passierte, auf das Gerüst steigen würde? Und dass es genau Aloisio sein würde, der auf das Gerüst steigt und nicht einer der anderen, die dort arbeiten?“

„Nur jemand, der die Gewohnheiten der Bildhauer von San Pietro gut kennt“, überlegte Niccolò.

„Und jemand, der Aloisio gut kannte“, wandte Beatrice ein, „war er nicht auf eigene Faust noch einmal hinauf geklettert, als die Arbeit an der Fassade eigentlich schon beendet war, weil er glaubte, dass irgendetwas an der Rosette nicht in Ordnung war? Er war ein sehr sorgfältiger Charakter und das muss der Mörder gewusst haben.“

„Also muss es einer der Bildhauer gewesen sein, die mit ihm arbeiten“ folgerte Niccolò.

„Oder? Wer kannte ihn noch gut?“ fragte Beatrice.

„Seine Söhne?“ Niccolò klang ungläubig.

„Oder wer noch?“

„Die Mönche von S. Pietro! Seit einigen Wochen arbeiten die Bildhauer und Steinmetze nun schon an der Kirche. Die Mönche hatten also genug Zeit, die Gepflogenheiten der Steinmetze kennenzulernen. Aber ...“, Niccolò zögerte, „ein Bruder des heiligen Benedikt soll einen Mord begangen haben?“

„Das wissen wir nicht, aber wir können es nicht ausschließen. Wir sollten aber erst einmal Aloisios Söhne genauer untersuchen. Hat Anselmo irgend etwas Ungewöhnliches gesagt oder gemacht in letzter Zeit?“

Niccolò überlegte. „Dieser einfältige Tropf ist doch gar nicht in der Lage, ein Verbrechen zu begehen, und wenn doch, würde er sich in seiner Schusseligkeit sofort verraten. Und warum sollte er seinem Vater nach dem Leben trachten?“

„Das ist die zweite Frage. Messer Bonaventura sagt, wenn du die Lösung eines Problems finden willst musst du einen Schritt nach dem anderen gehen. Wir sollten eine Liste machen aller Namen von Personen, die in Frage kommen. Hast du etwas zum Schreiben?“

Niccolò zog ein Stück Wollpapier hervor. Er begann, die Namen der Verdächtigen aufzuschreiben, angefangen bei Aloisios Söhnen Tobia und Anselmo, über die Mitarbeiter seiner Werkstatt, deren Namen er nicht alle kannte und die er daher mit Namen wie 'jüngerer blonder Steinmetz', 'älterer blonder Steinmetz', 'pummeliger Steinmetz', 'schielender Steinmetz' und so weiter bedachte, bis hin zu den Mönchen von San Pietro, von denen er nicht nur die Namen nicht kannte, sondern noch nicht einmal wusste, wie viele es eigentlich waren. Als Niccolò nun beinahe das ganze Blatt vollgeschrieben hatte, sagte Beatrice etwas Überraschendes:

„Kann es nicht einer von euch gewesen sein, einer aus eurer Gruppe?“

„Einer der Cavalieri? Warum sollten die sich selbst beseitigen?“

„Oh Niccò, wenn es wahr ist, dass die irgendetwas besitzen, das ein anderer haben will, also wenn du hinter irgendeiner Sacher her wärst und wüsstest, dass irgendeine Gruppe diese Sache hat, würdest du dann nicht versuchen, von der Gruppe aufgenommen zu werden? Die Cavalieri kennen sich doch untereinander besser als alle anderen. Sie wussten, wo Aloisio arbeiten würde, sie kennen die Gewohnheiten Messer Salvestros. Sie wussten wahrscheinlich auch, dass der Lehrer sich heimlich in seinem Keller geißelte, auch wenn sie hinterher alle so taten, als sei ihnen das neu.“

„Aber wer von den Cavalieri sollte ein Mörder sein?“

„Wer verhält sich seltsam?“

Niccolò überlegte, die meisten verhielten sich wie immer, der einzige, dessen Verhalten ihn in den letzten Tagen überrascht hatte, war – Bruder Onofrio!

„Du glaubst doch nicht etwa …! Bice, nur weil du Bruder Onofrio nicht besonders magst, heißt das doch nicht …“

„Ich habe nicht gesagt, dass er ein Mörder ist. Aber er verhält sich in letzter Zeit schon etwas merkwürdig. Warum regte er sich letzthin so auf, als wir überlegten, ob Meister Leones Tod und das Verschwinden Messer Salvestros zusammenhängen könnten? Warum bestand er sogar auf einmal wieder darauf, der Lehrer sei gar nicht ermordet worden, und Messer Salvestro sei sogar noch am Leben, wo er doch zuvor immer betont hatte, dass gerade das nicht sein könne, dass Messer Salvestro nie länger fernblieb, ohne seiner Tochter wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen? Und wenn er doch ihr Beichtvater ist, warum bringt er sie dann nicht dazu, die Sache endlich dem Podestà zu melden? Warum versucht er, geheim zu halten, dass es Morde waren, gerade er, der doch immer vom eisigen Wind und irgendwelchen feindlichen Ritter, die uns angreifen, sprach? Jetzt, wo wir wirklich angegriffen werden, leugnet er, dass es überhaupt einen Angreifer gibt. Und warum trachtet er danach, die Freundschaft zwischen dir und Bartolo zu zerstören?“

„Er zerstört unsere Freundschaft?“

„Sag bloß, du hast nichts gemerkt? Dass Onofrio dich ständig zum Lernen ermahnt, selbst aber mit Bartolo im Wald umherstreift und müßig geht?“

„Nun, sie spazieren nicht einfach im Wald umher, und ich …, ich soll eben lernen, weil Bartolo vielleicht etwas zu einfältig dafür ist und weil die Cavalieri meinen ...“

„Oh nein, Bruder Onofrio meint, nicht die Cavalieri! Mein Bruder weiß gar nicht, was die da im Wald machen. Er glaubt wirklich, sie zeichnen. Der dicke Onofrio ist es, der Bartolo ständig zum Faulenzen auffordert. Und zum Essen! Hast du nicht gemerkt, wie rund Bartolo geworden ist, und welche Mengen an Essen er verschlingt!“

Auch Niccolò gab zu, das mit Verwunderung bemerkt zu haben.

„Aber warum sollte Onofrio, ich meine, was kann es ihm nützen?“

„Das eben müssen wir herausfinden. Wir sollten Onofrio genauer beobachten! Noch etwas anderes ist nämlich seltsam an seinem Verhalten. Er schleicht dauernd um den Palazzo Moricone herum, gerade jetzt, wo Messer Salvestro verschwunden ist.“

„Er besucht Ranieri, die Cavalieri hängen doch dauernd zusammen.“

„Ich glaube nicht, dass er wegen Ranieri dorthin geht. Ich habe zufällig beobachtet, dass Onofrio häufig Ranieris Haus zu den Zeiten besucht, wenn Ranieri mit Ricco ins Badehaus oder sonstwohin geht. Ist das nicht seltsam? Sicher, er ist der persönlicher Beichtvater seiner Frau, aber dennoch ...“

„Bice, was meinst du? Onofrio ist ein Minderer Bruder! Er mag nicht frei von Sünden sein, aber, aber ...“

Niccolò fielen keine Worte ein; in seiner Seele lächelte Diffidentia triumphierend.

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