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Feilkode 418

Krimi-Satire

Krimi-Satire · Romane

Eine alte Krimiautorin kann Gerüche nicht leiden und die Suche nach dem Bösen nicht lassen. Seltsame Figuren am Absprung zur Ewigkeit.

Hva vil du med boka?

Da ich bisher hauptsächlich eher tragische Geschichten geschrieben habe, möchte ich hier in erster Linie unterhalten, gleichzeitig aber in satirischer Form auf Missstände in Altersheimen und anderswo hinweisen. Der Leser soll lachen können, gleichzeitig aber gewisse Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Verhältnissen feststellen.

Om forfatteren

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Ich wohne und schreibe in Wien. Seit 8 Jahren veröffentliche ich Krimis und Kurzgeschichten als Selfpublisher unter dem Namen "Ingrid J. Poljak". Website. www.ingrid-j-poljak.com

01   Melli geht wandern

Dienstag, 13:00 Uhr

„Wohin gehst du, Melli? Lasst du dir unterwegs einen neuen Mord einfallen?“

„An die frische Luft. Hier stinkt’s mir.“

„Hier stinkt es doch nicht.“

„Du riechst nichts, du bist Raucherin.“

„Du bist eklig, Melli.“

„Trotzdem geh ich jetzt.“

„Weil dir fad ist.“

„Weil es hier stinkt.“

Wenn die Olga nur gewusst hätte, wie sie stinkt … Drei Meter gegen den Wind roch Melli, dass Olga im Garten geraucht hatte, auch wenn es schon eine halbe Stunde vorher gewesen war. Dabei saß sie ohnehin längst im Rollstuhl mit ihren blau angelaufenen Beinen. Sie roch genauso penetrant wie Max. Aber Max war ein Mann, und alte Männer stanken sowieso.

Melli fasste die Wanderstöcke fester und marschierte los. Wenigstens im Lainzer Tiergarten roch es noch nach frischer Luft, nach Gras und blühenden Bäumen. Manchmal auch nach Wildschweinsuhle.

Vor einigen Jahren noch konnte sie mit einer Buslinie bis direkt vors Tor des Tiergarten fahren. Seit die Stadtwerke die Linienführung geändert hatten, musste sie umsteigen. Die Fahrt dauerte dementsprechend länger. Olga im Rollstuhl war das egal. „Als Pensionistin hast du ohnehin Zeit genug.“ Das sagte sie aber nur aus Neid auf die, die das Heim noch verlassen konnten. Wie der stinkende Max zum Beispiel. Den wohl niemand im Heim riechen konnte, auch weil er sich noch für attraktiv genug hielt, Krankenschwestern begrabschen zu dürfen. Und wenn sie sich von ihm abwendeten, beschwerte er sich noch. Typisch arrogantes, seniles Machogehabe.

Melli hatte nie genug Zeit. Zehn Minuten wartete sie jetzt auf den Bus, und an der Umsteigstelle würde sich nochmals zehn Minuten warten. Das waren insgesamt 20 Minuten Wartezeit. 20 Minuten vergeudete Zeit. Ja, Zeitvergeudung! Als sie jung war, störte sie diese Zeitverschwendung nicht, da hatte sie ja noch das ganze Leben vor sich. Aber jetzt war Melli 82. Wie viele Jahre hatte sie denn noch zu leben? Wie viele Monate, Wochen, Tage? Jede Stunde konnte ihr Leben zu Ende gehen.

Sie stieg in den Bus.

Der Bus blieb länger in der Station stehen als gewöhnlich, weil eine Alte aus dem Heim mit ihrem Rollator angerollt kam und heftig winkte. Sie musste ja unbedingt den Bus noch erreichen. Als ob es ihr bei ihrer Warterei aufs Abkratzen auf eine Viertelstund‘ ankäme. Sitzt sonst eh nur blöd herum und schaut in die Luft.

Der Fahrer half ihr noch in den Bus. Der gute Herr Erdic.

Inzwischen fuhr sogar der Gegenbus in die Haltestelle gegenüber ein. Ein paar vom Heim stiegen aus, darunter der stinkende Max. Der arme Erdic! Wenn ich mir vorstelle, was er und seine Kollegen alles aushalten müssen …

Na endlich! Erdic stieg wieder ein und unser Bus fuhr ab. Melli blickte dem Max noch nach, wie er im Eingang zum Heim verschwand. Gott sei Dank waren sie einander nicht begegnet.

Melli saß auf einem Fensterplatz und dachte an den letzten Mord. Besser gesagt, an die Morde. Das Buch hatte sich nicht besonders gut verkauft. Jetzt, wo alles rundherum eskalierten, waren wohl die Morde zu wenig brutal. Da mussten ja mindestens aufgespießte, zerstückelte Leichen herumhängen. Oder die Opfer lebend geröstet werden. Bei Melli waren es halt nur simple Morde: Mann ersticht Frau aus Eifersucht. Bankräuber erschießt Kumpel auf der Flucht. Das holte heutzutage wohl keine Sau mehr hinterm Ofen hervor. Gut, sie würde sich auch etwas Deftigeres einfallen lassen. Vielleicht fand jemand eine halb aufgefressene Leiche in einer Schweinesuhle. Schließlich kannte sie einige solcher Schlammlöcher im Lainzer Tiergarten.

Diesmal musste Melli bei der Umsteigstelle nicht lange auf den anderen Bus warten. Zehn Minuten später schritt sie fröhlich durch das Tor. Ihr zweites Paradies. Das erste war immer noch ihre kriminelle Phantasie.

Diese Hermesvilla. Vielleicht sollte sie hier einmal einen richtig makabren Mord geschehen lassen. Die Leichenteile in den Vitrinen einer Ausstellung verfaulen oder von den Kronleuchtern hängen lassen. Geil! Ja, geil und grauslich! Genau das musste es sein, wenn man heutzutage Erfolg haben wollte …

Sie bewegte sich mit Hilfe ihrer beiden Wanderstöcke schneller weiter als so manche Junge, die hier ihre Frischluftrationen konsumierten. Hinter den Nebengebäuden der Villa hielt sie kurz an. Im steinernen Brunnen lagen Münzen, hauptsächlich Fünf-Cent-Stücke. Sie stapfte den steilen Waldweg hinauf bis zur Brücke. Dort entschied sie sich, den Waldweg zu verlassen und die Fahrstraße weiterzuwandern. War zwar unsportlich, aber es schonte die Gelenke. Während sie die große Kehre passierte, roch sie das erste Mal Schweine. Wildschweine.

Die Leichenteile auf den Kronleuchtern waren eine gute Idee. Aber wer konnte sie dorthin platziert haben? Und vor allem: wie? Der Mörder musste sich längere Zeit in der Halle aufgehalten haben. Natürlich außerhalb der Öffnungszeiten. Es durfte auch niemand von außen in die Halle blicken. Also durfte sich auch niemand im Park bewegen. Also in der Nacht.

Der Geruch nach Wildschweinen wurde immer intensiver. Da drang auch schon ein Grunzen an Mellis Ohr. Sie erblickte das Vieh. Links von der Straße, auf den leicht abfallenden Waldboden. Es stand bis zum Bauch im Schlamm, bohrte die Nase in den Grund. Schmatzte und sabberte.

Es hob den Kopf und eine Sekunde lang schaute Melli genau in die Schweinsaugen dieser Sau. Sie fasst ihre Stöcke fester, bereit sich zu verteidigen, wenn die Sau angreifen sollte.

Doch die Sau stand wie angewachsen da und rührte sich nicht.

Blöde Sau!

Melli fuchtelte mit den Stöcken in der Luft herum, die Sau schien nicht beeindruckt. Im Gegenteil, das Viech steckte den Rüssel wieder in den Schlamm und wühlte und grunzte weiter. Irgendwas erregte mehr seine Aufmerksamkeit als Melli. Es zerrte an einem großen Ding herum, das dort in der Suhle lag.

Melli ging ein paar Schritte näher, verließ das Straßenbankett. Das trockene Laub vom Vorjahr raschelte unter ihren Füßen. Vorsichtig stakte sie den leichten Abhang hinunter. Stützte sich auf ihre Stöcke. Sie kam dem Schwein näher. Die Brille lief ihr an. Da trat sei auf etwas Glitschiges, riss die Arme in die Höhe, schwankte, hielt sich gerade noch aufrecht.

Sie selber stand jetzt im Schlamm. Griff sich an die Brust, schnaufte. Das Schwein warf ihr einen langen, gelassenen Blick zu, aber dann drehte es sich um und trottete davon. Einfach den Hang hinunter, dem dichteren Wald entgegen.

Gott sei Dank!

Froh, dass sie nicht selbst im Schlamm gelandet war, brauchte Melli eine Weile, bis sie sich gefasst hatte. Sie putzte die Brille und schnäuzte sich. Während sie das Taschentuch einsteckte, erkannte sie – mit jetzt wieder klarem Blick, was das Schwein interessiert hatte:

Da lag eine Leiche.

 

02   Melli und die Polizei

Dienstag, 14:00 Uhr

Melli rettete sich auf den festen Waldboden weiter oben bei der Straße. Sie nestelte ihr Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer der Polizei. Dann suchte sie sich in der Nähe einen Baumstumpf, breitete ihr alu-beschichtetes Sitzdackerl aus und wartete.

Dass sie das noch erleben durfte! Eine echte Tote! Echte Polizei! Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. Hoffentlich war es nicht die Leiche einer verunglückten, die zufällig nach einem Herzinfarkt oder sonst einer tödlichen Krankheit das Zeitlich gesegnet hatte. Hoffentlich war es ein richtiger Mord!

Die Leiche lag 20 Meter von der Straße entfernt, vielleicht 25. Ein Spaziergängerpärchen ging vorüber, schaute kurz zu Melli herüber, winkte, bemerkte aber glücklicherweise nichts von der Toten. Doch was, wenn andere Leute hier auftauchten, die neugieriger waren als die zwei? Wie sollte sie diese Leute verscheuchen? Schließlich war es IHRE Tote! IHR Mord!

So ein Glück, dass Max jetzt nicht auftauchen würde. Der hatte ja seinen heutigen Ausflug beendet. Hoffentlich konnte er sich in zwei Stunde noch daran erinnern und nahm heute keine zweites Mal die Gelegenheit zu einer solchen Tour wahr.

Aber halt! War er nicht vor einer Stunde ins Heim zurückgekehrt? Er war doch mit dem Gegenbus angekommen! Er konnte tatsächlich bereits hier gewesen sein, hier im Lainzer Tiergarten. Schließlich kam er öfter hierher. Melli hatte ihn manchmal gesehen, war ihm ausgewichen, weil sie seinen Geruch nicht ertrug. Vielleicht war er hier gewesen, hier! Vielleicht hatte er …!

Melli wartete also auf die Polizei. Wie ihr der Beamte am Telefon geraten hatte. Sie müssten ohnehin bald hier sein.

Aber wenn Max …

Im Augenblick war jedenfalls niemand unterwegs, weder die Polizei noch irgendwelche Ausflügler. Melli stand von ihrem Baumstumpf auf, rollte ihre Sitzmatte zusammen, verstaute sie in der Tasche. Sie spähte hinüber zu diesem unförmigen, teilwiese mit Schlamm bedeckten Haufen, der aussah wie eine weibliche Leiche. Auf ihre Stöcke gestützt ging sie näher. Sie hatte ja bis jetzt keine Ahnung, woran die Tote gestorben war. Erstochen! Erwürgt! Mit einem Stein auf den Kopf geschlagen? Man konnte doch von der Todesart auf den Täter schließen. Jedenfalls hatte sie das in ihren Romanen einige Male geschrieben.

Vorsichtig arbeitete sie sich näher, immer bedacht, dass sie nicht das Geleichgewicht verlor. Nicht ausrutschte. Das Laub bedeckte den Boden, sie sah die rutschigen Stellen nicht, aber sie spürte die Glätte. Sie näherte sich bis auf zwei Meter der Leiche.

Kein Zweifel, es war eine dicke Frau, die da mit dem Gesicht im Schlamm lag. Mellis Nackenhärchen stellten sich auf. Sie zog ihre Jacke fester an sich. Sie hatte ja Leichen oft beschrieben, aber gesehen? Mit eingezogenem Kopf schaute sie sich um, ob nicht bald die Polizei auftauchte. Da zog es ihr auf den glitschigen Untergrund den linken Fuß weg. Sie ruderte mit den Armen, fuchtelte mit den Stöcken. Landete auf dem Hintern im Laub. Scheiße!

Gerade rechtzeitig kam die Polizei.

Während Melli versuchte aufzustehen, knallten auf der Straße die Autotüren. Die beiden Polizisten eilten auf sie zu. Der eine half ihr auf die Beine, den andere riss es selbst beinahe von den Füßen. Zu dritt kämpften sie sich aus der Schlammfalle. Weiter unten im Wald grunzte eine Sau. Ob das dieselbe war?

Als Melli dann am sicheren Straßenrand stand, spürte sie, dass die Feuchtigkeit, die sich unter dem Laub verborgen hatte, nicht vor ihrer Hose Halt gemacht hatte. Vermutlich hatte sie am Hintern einen großen dunklen Fleck. Wie peinlich! Sie griff sich an den Hosenboden. Da klebten auch Blätter daran.

Die beiden Polizisten gingen zurück zu ihrem Wagen. Melli bemühte sich, ihnen nur ihre Vorderseite zuzuwenden. Aber einer der beiden rief ihr zu:

„Sie haben uns angerufen, Gnädigste? Dann rennen S‘ nicht davon.“

Von Rennen konnte keine Rede sein mit dem Laub am Hintern. Außerdem hatte Melli gar nicht die Absicht davonzurennen. Sie hatte die Leiche gefunden, sie erwartete, dass die Polizei sie fragte. Aber die beiden Polizisten waren damit beschäftigt, rot-weiße Plastikleinen weitläufig um das Schlammloch herumzuspannen.

„Wollen S’net was wissen von mir?“ Sie schaute sich um: Bisher war sie die Einzige, die hier etwas aussagen konnte. Auch auf der Straße waren bisher keine weiteren Spaziergänger aufgetaucht. Hoffentlich blieb das so!

„Gnädigste, da müssen S‘ auf die Kripo warten. Mir sind nur der Streifendienst.“

Ach ja, auch in ihren Romanen dauerte es immer eine Weile, bis die Kommissare und die Kriminaltechniker eintrafen. Dabei hätte sie denen schon jetzt einen Tipp geben können.

„Ich bin öfter in der Gegend, wissen S‘“, sagte sie. „Und man kennt die Leut‘, die immer wieder herkommen.“

Sie dachte dabei schon an den Max. Der war ja auch heute hier gewesen. Sie schaute auf die Uhr. Vor einer Stunde war sie in den Bus gestiegen und er aus dem Bus.

„Ich könnt‘ Ihnen a paar Leut nennen, die S‘ fragen könnten.“ Nein, nicht verdächtigen, nur fragen. Schließlich konnte es ja auch ganz anders gewesen sein. Auch in ihren Romanen hatte sie die Leser immer überraschen müssen.

Die Blätter fielen langsam von ihrem Hosenboden ab, sie half auch mit den Händen nach. Der Stoff fühlte sich bereits trocken an. Gerade rechtzeitig, denn da kamen auch schon zwei Polizeiautos mit rotierenden Blaulichtern die Straße herauf.

Aus dem ersten Wagen stiegen ein Mann und eine Frau. Der Mann stämmiger, mittelalterlicher Typ mit rundem Gesicht und einer blonden Stoppelglatze. Die Frau etwas jünger und rundlicher. Jedenfalls nicht so, wie Melli bisher ihre Kriminalbeamten beschrieben hatte.

Da kam der Mann auch schon auf sie zu.

„Haben Sie die Tote gefunden?“ Er nahm sich nicht einmal die Mühe zu grüßen. Melli kam nur dazu, knapp zu nicken.

„Haben Sie ihre Daten schon den Kollegen durchgegeben?“

„Wir sind auch noch nicht lang da, Herr Inspektor.“ Der junge Polizist hob die Absperrleine und ließ den Herrn Inspektor durchschlüpfen. „Achtung, rutschig“, sagte er noch, da riss es auch diesem Grießgram die Beine weg. Nur mit der Hand landete der Inspektor im Gatsch, den Aufsitzer konnte er gerade noch vermeiden. Melli verbiss sich das Grinsen.

Er wischte sich die Hand mit einem Papiertaschentuch ab. „Ihre Daten können S‘ der Frau Inspektor sagen.“ Damit hatte er Melli entlassen. Auch so ein arrogantes Mannsbild.

Na gut, sie würde sich überlegen, ob sie ihn mit Tipps unterstützen würde.

Seine Assistentin war umso freundlicher.

„Melanie Pospischil“, sagte Melli. „Zweiundachtzig und zehn Monate, übrigens auf den Tag genau.“

„Sieht man Ihnen gar nicht an, Frau Pospischil.“

Melli hörte das gern. Dass die Haare schon ein bisschen schütter wurden, verdeckte sie mit ihrer Nick-Knatterton-Mütze. „Wohnen tu ich im Pensionistenheim, nicht weit mit dem Bus, allerdings mit einmal umsteigen.“ Sie sagte dann auch noch die Adresse dazu und die Beamtin tippte alles in ihr Tablett. „Handy-Nummer können Sie auch haben.“

Die Beamtin notierte auch das

Melli schaute hinüber zu dem Grießgram, der sich gerade über die Leiche beugte. „Ist das Ihr Boss?“

„Ja, das ist er. Hier meine Karte und seine auch.“ Gleich darauf hielt Melli zwei Visitenkarten in der Hand. Während sie sich die Namen einprägte, sagte Frau Inspektor Brigitte Sokol: „Heute ist er schlecht gelaunt.“

Sie nickten einander zu.

Soso, schlecht gelaunt. Er hockte jetzt neben der Toten und Melli stellte sich vor, wie bei Aufstehen seine Knie knackten und er das Gleichgewicht verlor. Er würde wie sie in der Schweinesuhle landen. Da fiel ihr wieder der eigene Hintern ein. Sie brauchte dringend ein Klo.

Als hätte sie ihre Gedanken gehört, sagte diese Sokol: „Wenn Sie nach Hause wollen – Ihre Daten haben wir. Wir rufen Sie an, wenn wir Sie brauchen.“

Melli schaute auf die Uhr. Für eine Jause würde sie noch zurechtkommen. Die Sokol winkte ihr zu. Melli nahm ihre Stöcke fester und marschierte Richtung Hermesvilla.

Die Feuchtigkeit an ihrer Hose war nur oberflächlich, Gott sein Dank. Daraufhin gönnte sie sich im Restaurant einen Apfelstrudel.

„Haben S‘ g‘sehen, Herr Franz“, fragte sie den Ober, „die Polizei ist vorhin raufgefahren.“

„Ja, bei der Hubertuswarte haben irgendwelche Jugendliche randaliert.“

Der Herr Franz wusste also noch nichts von dem Mord. „Haben S‘ vielleicht auch den Sti…“ Fast hätte Melli Stinke-Max gesagt. „… den Max Meier hier gesehen?“

„Ja, der hat wieder einmal nur unsere Toilette hier benützt.“

„Wann?“

„So um zwölf, halb eins.“

Das passte. Um eins war er vorm Heim aus dem Bus gestiegen. Melli zahlte und machte sich auf den Weg nach Hause.

Im Bus blieb sie neben dem Fahrersitz stehen. „Hallo, Herr Erdic. Machen S‘ heut wieder die Pensionistenrunde?“

Er grinste und nickte. Auf dieser Strecke kam er an drei Pensionistenheimen vorbei. Und die Alten suchten oft eine Ansprach‘ bei ihm.

Melli fiel gleich mit der Tür ins Haus. „Den Max Meier haben S‘ heut nicht gerochen?“

Erdic lachte. „Mein Kollege hatte das Vergnügen.“

Vor ihrem Heim stieg Melli aus. Das hatte also nichts gebracht. Sie musste es anders versuchen.

 

03   Melli kann’s nicht lassen

Dienstag, 16:30

Schon bei der Rezeption kam ihr Olga entgegen. Auch das noch. So aufregend der Nachmittag begonnen hatte, so enttäuschend schien er zu Ende zu gehen. Zum Glück was Olga unterwegs zur Raucherzone, dem einzigen Ort im Garten, wo das Rauchen erlaubt war. Die Alten, die unmittelbar darüber ihre Fenster hatten, waren nie gefragt worden. Die waren ohnehin krank und abgestumpft.

Ohne noch von jemandem anderen belästigt zu werden, ging Melli in ihr Appartement. Sie wechselte die Jeans und die Unterhose. Dann nestelte sie die beiden Karten aus dem abgelegten Gürteltäschchen hervor. Sie legte sie vor sich auf den Tisch und starrte sie an. Landeskriminalamt Wien Süd stand in fetten Buchstaben darauf, darunter die Namen von Chefinspektor Paul Angermann und Inspektor Brigitte Sokol. Die beiden hatten die gleiche Telefonnummer. Sie legte ihr Handy daneben.

Wenn diese Sokol sie nur anrufen würde. Sie könnte ihr genau berichten, dass sie oft am Fundort der Leiche vorbeiging. Und dass auch manchmal alte Leute aus den Heimen dort vorbei gingen. Zum Beispiel Max Meier. Dass Max Meier heute mittags dort unterwegs gewesen war. Ganz sicher. Der Herr Franz hatte ihn gesehen, wie er dort aufs Klo ging.

Max wohnte im gleichen Stock wie sie, nur ein paar Zimmer weiter. Sie wusste ziemlich genau, wann er an ihrer Tür vorbeiging. Sie roch ihn.

Wir rufen Sie an, wenn wir Sie brauchen. Warum rief die Polizei jetzt nicht an?

Vielleicht sollte sie sich auch ein paar Notizen machen. Damit sie nicht lange überlegen musste, wenn sie Fragen stellten. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Laptop ein. Tod im LTG nannte sie die neue Datei. Kaum hatte sie das Datum eingetragen, läutete das Handy.

„Nur du?“ Zum Glück war Elfi schwerhörig, Melli konnte also hoffen, dass Elfi anstatt der fast beleidigenden Frage nur Buhuu verstanden hatte.

„Buhuu“, sagte Elfi.

Sie waren Freundinnen seit dem Gymnasium und sie begrüßten einander oft so. Dann kicherten sie immer. Auch diesmal.

„Du trägst jetzt nicht deine Hörgeräte?“

„Du musst lauter reden, damit ich dich verstehe.“

„Verschieben wir das auf Abend?“

„Okay.“ Also hatte Elfi es verstanden.

Schließlich wartete Melli auf einen Anruf.

Fünf Minuten später wählte sie die angegebene Nummer.

„Angermann.“

Oje, das klang stressig. Sie sei die Zeugin, die die Tote gefunden habe … zu mehr kam Melli nicht. Angermann schrie herum, und es klang, als wäre er mit anderen Leuten noch am Tatort.

„Hallo?“ Diesmal bellte er ins Telefon.

„Soll ich hinkommen?“ Die Idee war gerade in ihr aufgeblitzt.

„Nein. Auf Wiederschaun.“

Zack!

Auch gut. Er wusste noch nicht, wie lästig Melli werden konnte.

Sie schaute nach dem Busfahrplan, der an ihrer Tür hing, und fünf Minuten später sagte sie zum Fahrer: „Noch immer auf der Strecke, Herr Erdic?“

„Heute die letzte Runde.“

Als sie ausstieg, wünschte sie ihm noch einen schönen Abend.

Um zehn vor sechs passierte sie das zweite Mal das Eingangstor. Manchmal sah sie ein, dass die Sommerzeit auch etwas Gutes hatte: Es war noch taghell und das Tor würde erst um 20:30 Uhr geschlossen werden. Sie marschierte los Richtung Auffindungsort der Leiche. Sie hoffte, sie würde dort noch auf die Polizei stoßen.

Auf der Höhe des Forsthauses kam ihr ein Streifenwagen entgegen. Nur zwei Polizisten in Uniform saßen drin. Vielleicht standen die Kriminalbeamten und -techniker noch oben. Das Rauschen der Autoreifen verebbte hinter ihr. Ausgerechnet auf dem steilsten Straßenstück vernahm sie etwas anderes: schnelle Schritte und ein Keuchen. Das Gatter im Weidezaun stand offen, genau dort überholte sie ein Mann. Während sie durch die Seitentür das riesige Wildgehege betrat, balancierte er übers Viehgitter. Er japste und stöhnte.

„Mei Frau, mei Frau.“ Jedenfalls war es das, was Melli verstand. Sie wollte ihm schon etwas zurufen, aber auf der jetzt schwach abfallenden Straße beschleunigte er wie ein Dampfross.

Melli traf ihn wieder bei der scharfen Kurve, wo die Straße ihre tiefste Stelle erreicht hatte. Er saß zusammengekauert auf der Bank, hielt sich die Hände gegen Brust und schnaufte. Ein rotblonder, dünner Mensch mit Sommersprossen, der aussah, als brauche er Hilfe. Wieder so ein blödes Mannsbild, das sich maßlos überschätzte. Ein Spund von einem Mann, der vergeblich für die Stadtmarathon trainierte. Die dünnen, quergelegten Fäden auf seinem Kopf hingen ihm jetzt bis über die Nase.

Melli setzte sich neben ihn, war versucht, ihn anzusprechen. Er starrte sie aus aufgerissenen, verheulten Augen an. Sie rückte ein paar Handbreit von ihm ab. Aus dem Wald wehte es den Wildschweingestank herüber.

Melli ahnte Böses.

„Was is mit Ihrer Frau?“

Er sank noch tiefer in sich zusammen, sog den Rotz auf. „Ich muss hin!“

Da rollte gerade ein grauer Kastenwagen die Straße entlang, passierte die Kurve. Das Motorengeräusch schwoll an, weil es von hier an wieder bergauf ging.

Melli lehnte sich zurück. Sie seufzte. „Ist eh schon zu spät.“ Sie war versucht, ihn zu trösten, aber ihr Krimi-Instinkt trieb sie zum Aufbruch. Sie wollte wenigstens dabei sein, wenn sie die Tote einluden.

„Lassen Sie sich Zeit“, sagte sie und stapfte los.

Für sie war es noch nicht zu spät. Die Beamten standen noch um die Tote herum. Sie hatten sogar Pfosten auf den Boden rund um die Leiche gelegt, damit sie bei ihren Amtshandlungen nicht bis zu den halben Waden im Schlamm einsanken. Auch der Herr Chefinspektor handelte noch Amt.

Melli näherte sich dem Kastenwagen, aus dem zwei Mann in grauen Arbeitsmänteln gerade den Blechsarg herauszogen. Sie beachteten sie nicht. Aber als sie an die Absperrleine herantrat, drehte sich der arrogante – wie hieß er bloß? – Herr Angermann gerade um.

„Sie schon wieder?!“

Nicht gerade ein freundlicher Empfang. Melli versuchte es anders.

„Da unten“, sie deutete auf die letzte Kurve der Straße, „da unten kommt grad der Mann der Toten herauf.“

„Na und?“

„Er könnte sie identifizieren.“

„Verschwinden Sie.“

Melli rührte sich nicht von der Stelle, ließ aber die Absperrleine los. Sie spürte wieder den rutschigen Boden unter den Füßen. Vorsichtig trat sie den nächsten Baum und hielt sich daran fest. Kein schlechter Aussichtspunkt, sie hatte genau die Leiche im Blickfeld.

Die Frau lag jetzt mit dem Gesicht nach oben im Schlamm. Die Beamten hatte das Gesicht halbwegs gereinigt und fotografierten sie jetzt. Das hatten sie vermutlich auch schon, als sie noch auf dem Bauch lag. Der linke Ärmel ihrer Bluse war aufgerissen, der Unterarm und das Handgelenk waren voll Schlamm oder Blut, oder beides.

Der Herr Angermann hatte aufgehört, sich um Melli zu kümmern. Er machte sich wichtig, indem er die Männer mit dem offenen, leeren Blechsarg auf den richtigen Weg über die Bretter dirigierte. Der erste rutschte trotzdem mit einem Fuß vom Brett und trat in den Schlamm. Melli hielt sich an ihrem Baum fest. Außerdem hielt sie Ausschau nach dem sommersprossigen Marathonläufer. Hoffentlich war er tatsächlich der Ehemann des Opfers, wie sie Angermann angekündigt hatte. Leider war er noch nirgends zu sehen.

Die grauen Männer legten den Sarg neben die Tote. Dann packten sie sie an Armen und Beinen und versuchten, sie in den Sarg zu heben. Vorläufig ohne Erfolg. Der eine Graue, der schon einmal ausgerutscht war, rutsche nochmals aus. Klar, er hatte Schlamm an den Sohlen. Da kam auf Angermann Anweisung einer der Uniformierten zu Hilfe. Zu dritt hoben sie die Tote in den Sarg. Sie war schon steif wie ein Stock. Und dabei ziemlich gewichtig. Ob es nur Schlamm war, der rundherum an ihr klebte?

Die Männer trugen den offenen Sarg an eine trittsichere Stelle, dann holten sie den Deckel und legten ihn drauf. Die anderen begannen, ihre Sachen und Utensilien einzusammeln und zu verstauen. Die Alukoffer schnappten zu. Angermann redete noch mit seinen Mannen; die Frau Inspektor war offensichtlich nicht mehr da. Schade. Die hätte Melli sicher mehr Dank für die angebotene Hilfe erwiesen. Einige Autotüren fielen zu. Auch Angermann stapfte hinauf zur Straße.

Das Spektakel war beendet.

Da tauchte plötzlich der Marathonläufer neben dem Kastenwagen auf. Im Lärm waren weder seine Tritte noch sein Keuchen zu hören gewesen. Jetzt war es ruhig und alle schauten hin. Er hielt sich an der Bordwand aufrecht. Angermann trat auf ihn zu und schnauzte ihn an.

Der Mann deutete auf den Sarg, den die Grauen schon halb in den Wagen geschoben hatte. „I bin der Mann.“ Er schnappte nach Luft. „Der Mann von ihr.“

Melli ließ ihren Baum los und tappte zum nächsten. Jetzt wurde es spannend.

Angermann machte einen Schritt zurück, prüfte dabei mit einem Blick, ob er noch auf dem sicheren Straßenbankett stand.

„Und?“ Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Woher wollen S‘ das denn wissen?“

Melli erwischte nur einen dünnen Baum.

„I bin der Werner Pichler. Des is mei Frau.“ Er schnäuzte sich.

„Aha.“

Endlich ratlos, der Herr Chefinspektor? Die Sekunden, die er nicht reagierte, zogen sich dahin. Melli hätte am liebsten aufgejault.

Werner Pichler trommelte auf den Sarg. Angermann regte sich. Er riss Pichler vom Sarg weg. Pichler stürzte, schlug auf dem Straßenbankett auf, krümmte sich auf dem Boden. Da kam aus einem der Autos ein Mann angerannt, einer von denen, die grad wegfahren wollten. Ein hagerer, alter Mann. Er beugte sich über Pichler, entschuldigte sich, half ihm auf die Beine. Zu Angermann sagte er:

„Bist deppert, Paul?“

Melli wagte sich vor. Bis aufs Bankett, bis auch sie neben dem Leichenwagen stand. Parkett, erste Reihe. Angermanns Blick streifte sie. Er schüttelte sich ab.

„Nehmt seine Daten auf“, sagte er zu den Umstehenden, „und ihre auch.“ Damit stieg er in sein Auto und fuhr weg.

Auch der Wagen mit dem Sarg setzte sich in Bewegung. Allgemeiner Aufbruch, nur Pichler, der Alte und zwei jüngere Beamte blieben zurück. Und Melli.

Sie ging auf den Alten zu. Er erinnerte sie mit seiner ausgemergelten Statur zwar an Stinke-Max, aber sie fand ihn sympathisch.

„Ich bin Melli Pospischil, ich hab die tote Frau gefunden.“

Der Alte, der dem Pichler gerade das Gesicht abwischte, zwinkerte ihr zu. „Hat heut keinen guten Tag, der Chef. Hat heut erfahren, dass sein Freund Lungenkrebs hat. Vom Rauchen.“

Erst als Melli das hörte, bemerkte sie den Geruch in der Luft, der nicht von den Schweinen stammte. „Sie rauchen aber auch.“

„Schon seit fünf Jahren nicht mehr.“

Ja ja, so ein Gestank hielt sich. Jahrelang. Ohne dass diese Leute selber etwas davon rochen. Melli wusste das von ihrem Ex-Freund.

„So“, sagte der Alte und betrachtete den aufgelösten Pichler von der Seite. „Jetzt können S‘ mit dem Herrn Inspektor da reden.“ Er winkte einen jungen Mann zu sich.

Inspektor? Der schaute ja noch aus wie ein halbes Kind. Mit Drei-Tage-Flaum im Gesicht. Er setzte sich auf einen der herumliegenden Baumstämme und klappte ein Notebook auf. Die Anwesenheit des Alten wirkte sichtlich beruhigend auf Pichler. Pichler antwortete zwar stockend, aber sinngemäß auf die Fragen, die das Flaumgesicht stellte. Name, Adresse, wo und wann, wie und warum. Pichler verschluckte einiges, Melli verstand nicht jedes Wort. Aber sie wollte ihn ohnehin selber fragen. Jetzt, wo Angermann sich ihrem Zugriff entzogen hatte. Zugriff. Dieses Wort aus der Polizistensprache gefiel ihr. Sie wartete also.

Sie würde auf Pichler zugreifen, sobald sich die Gelegenheit bot. Während der Flaumige emsig in die Tastatur klopfte, rang Pichler nach Luft. Seine Augen suchten nach Hilfe. Melli winkte ihm zu. Er hielt inne, schaute zu ihr herüber. Erkannte er sie wieder? Er schien verwirrt. Die Hand mit dem Schnäuztuch zuckte, schnell wandte er sich dem Flaumgesicht zu.

Melli war sicher, er hatte sich an sie erinnert.

Da machte sich der Alte bemerkbar. „Seid ihr bald fertig?“ Er tippte dem Jungen auf die Schulter. Der nickte, tippte noch ein paar Mal auf die Tasten und klappte den Laptop zu.

Melli machte sich bereit.

Zugriff.

Sie trat vor, aber der Alte schob sich dazwischen. „Schluss für heute, Adi. Fahrt nach Hause.“ Er berührte Pichler an der Schulter. „Und Sie? Ich kann Sie bis zum Lainzer Tor mitnehmen.“

Und Pichler, das arme Würstchen, wehrte sich nicht. Der ließ sich tatsächlich von diesem Seelentröster, diesem Ex-Raucher, zu seinem Wagen schieben. Der half ihm auch noch beim Einsteigen.

Melli schaute Ihnen nach, wie sie wegfuhren.

Die Polizei, dein Freund und Helfer!

 

04   Mellis zweiter Versuch

Mittwoch, 08:30 Uhr

Sie saßen beim Frühstück, Melli vor ihrer Schüssel mit Müsli, Joghurt und Himbeeren, Elfi vor ihrem Teller, angehäuft mit Semmeln, Butter, Käse und Wurst vom Buffet. Das Müsli würde sich die Elfi eh später noch holen.

„Heut bist aber sparsam“, sagte Melli.

„Wieso?“

„Nur vier Radeln Wurst.“ Melli kicherte.

„Du mit deiner Faden-Diät …“

Das Ritual wiederholte sich fast jeden Morgen. Heute unterbrach Melli das Spiel: „Ich fahr dann wieder.“

„Schon wieder Lainzer Tiergarten?“

Mit der Hand versuchte Melli die laute Stimme Elfis zu dämpfen. Auch indem sie selbst nur leise sprach. „Ist ja das einzige Stück Grünland in der Gegend, wo man sich als alte Frau allein noch sicher fühlen kann.“

Gott sei Dank führte das Manöver diesmal nicht dazu, dass Elfi noch lauter sprach. „Ich glaub eher“, sagte Elfi und beugte sich vor. „Du bist hinter dem da her.“ Ihre rollenden Augen wiesen zu einem der anderen Tische. Dort stand der Stinke-Max gerade auf, der Sessel rumpelte und dröhnte hinter seinen Kniekehlen.

„Und wenn‘s so wäre?“

Da brachen sie beide wieder in Gelächter aus.

„Ich geh“, sagte Melli schließlich und machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

Der Täter kehrt immer zum Tatort zurück.

War das nicht eine der Binsenweisheiten, die jeder, der ein Verbrechen aufklären wollte, wissen musste?

Diesmal wartete sie hinter dem Schranken zum Parkplatz, bis Max in den Bus gestiegen war. Sie nahm ihren 500er und fuhr dem Bus hinterher. Auf dem Parkplatz vorm Tiergarten parkte sie und blieb im Auto sitzen, bis der Bus der anderen Linie in der Endstelle einfuhr. Sie reckte den Hals, aber Max stieg nicht aus. Ihn würde sie nie übersehen, er war an die eins neunzig. Er ging zwar etwas gebeugt, aber jetzt ging er gar nicht, jedenfalls nicht hier. Hatte sie ihn bei der Umsteigestelle verloren?

Hätte sie den Bus genommen, hätte sie ihn dort aussteigen sehen und seinem Geruch folgen können.

Sie nahm ihre Stöcke fester in die Hand und marschierte durchs Tor. Bei der Hermesvilla war noch nicht viel los. Sie ging um den ganzen Komplex herum, jetzt langsamer, weil sie hoffte, dass Max doch noch irgendwo auftauchte. Sie setzte sich auf den Brunnenrand, fand, dass es kühl war, und stand wieder auf.

Wo war ihre Sitzunterlage? Oh Scheiße, die lag noch bei der Schweinesuhle! – Aber dorthin wollte sie sowieso …

Das Wasser im Becken glitzerte, die Sonne stand ja anders als am Nachmittag. Melli schaute genauer hin: Da lag doch tatsächlich eine Uhr im Wasser, eine Armbanduhr! Der Größe nach eine Herrenuhr. Doch sahen die Gegenstände nicht alle viel kleiner aus, wenn man sie aus dem Wasser herauszug?

Sie schob den rechten Ärmel hoch und griff ins Wasser. Eiskalt! Sie fischte die Uhr heraus, legt sie auf den Brunnenrand, betrachtete sie. Nur etwas Schlamm und Wassertröpfchen hafteten daran, kein Sinter. Keine der grünlichen Algen, die an den Brunnenwänden klebten. Die Uhr war sicher noch nicht lange im Brunnen gelegen. Melli hätte sie gestern schon entdeckt. Sie wischte die Uhr schließlich mit einem Papiertaschentuch trocken und inspizierte sie dann genauer. Eine HOREX, sauteuer.

Sie steckte die Uhr ein und marschierte weiter. Als sie die Brücke beim Forsthaus erreichte rollte auf der Fahrstraße – von oben kommend – ein Auto heran. Auf dem Dach ein einzelne Blaulicht-Leuchte, die aber nicht leuchtete. Drinnen saß – der Chefinspektor. Melli hob die Arme, wedelte mit den Stöcken.

Der Wagen blieb tatsächlich ein paar Meter vor ihr stehen. Der Inspektor ließ die Seitenscheibe herunter. Er nahm die Sonnenbrille ab und streckte sogar den Kopf heraus. Winkte Melli näher. Heute weniger arrogant?

„Sie haben doch die Tote gefunden …“

Und gestern hatte es ihn nicht interessiert!

„Sind Sie öfter hier?“

„Sehr oft. Warum wollen S’denn das wissen?“

„Was haben Sie mir denn gestern sagen wollen?“

Oh, er wich ihrer Frage aus.

„Das hab ich Ihrer netten Kollegin schon gesagt.“ Sie betonte das nett. Dabei konnte sie sich gar nicht mehr so genau erinnern, was sie der Kollegin gesagt hatte. Ob das schon der Beginn von Alzheimer war?

„Ich hab jemanden gesehen.“ Da konnte sie sich immer noch überlegen, wen sie gesehen hatte. Natürlich, sie hatte Max gesehen, den Stinke-Max. Gerochen? Nein, gerochen hatte sie ihn nicht. Gerochen hatte sie nur die Wildschweine.

„Aha“, sagte der Inspektor. „Und wen haben S’gesehen?“

Reiß dich zusammen, jetzt wird es ernst.

„Und wann und wo?“

„Den Meier. Den aus dem Heim.“

„Wer soll das sein? – Jetzt reden S’schon.“

Melli schluckte. Sie hatte den Max ja nicht am Tatort gesehen.

„Er war jedenfalls zu Mittag hier, der Herr Franz hat ihn auch gesehen.“ Mellis Mund trocknete langsam aus. Petzn!, sagte ihre innere Stimme. „Der Ober in der Hermesvilla.“

Der Inspektor ließ die Hand aus dem Seitenfenster baumeln. Er blinzelte gegen die Sonne.

„Aha,“ sagte er wieder, „der Ober. Und wer ist der Meier?“

Glaubte er ihr nicht? Machte er sich lustig über sie? Und sie war ein paar Sekunden lang der Meinung gewesen, er wäre heute weniger arrogant!

„Wenn Sie’s nicht interessiert, Herr Chefinspektor …“ Aber Melli wusste nicht weiter. Sie ging in sich. Ihre Worte waren ein aufgelegter Elfer für ihn …Was dann?

Sie wartete, aber er sagte es nicht.

Sie beugte sich vor, lehnte sich auf ihre Stöcke, sah einen plattgewalzten Käfer vor sich auf der Fahrbahn. Wenn es ihn interessiert hätte, hätte er jetzt gefragt. Aber er fragte nicht.

Also gut, nichts würde er von ihr erfahren, keinen Tipp, keinen Hinweis, damit er schneller den Täter fassen konnte. Sie würde der Sache selber nachgehen. Wäre doch gelacht, wenn sie den Täter nicht auch selbst entlarven würde.

Sie stampfte mit den Stöcken auf dem Boden auf und wandte sich zum Gehen.

„Hallo, Gnädigste!“

Nein, sie wollte nicht mehr. Sie drehte sich ein letztes Mal um und winkte ihm zu.

Er setzte die Sonnenbrille wieder auf und ließ den Wagen langsam anrollen. Der Kies knirschte unter den Rädern.

„Hallo, Frau Pospischil!“

Ach, jetzt wusste er plötzlich ihren Namen! Hatte er sich also doch mit der Frau Inspektor beraten! Über sie gesprochen! Melli ließ die Hand sinken.

„Ich wollte Ihnen nur sagen“, begann er und beugte sich näher. Streckte die Hand wieder aus dem Wagen. Aber nur, um den Rückspiegel neu einzustellen. Als ob er das nicht auch von innen hätte bewerkstelligen können. „Wollte Ihnen nur sagen“, setzte er fort, „dass wir noch auf den Obduktionsbericht warten.“

„Oh!“

Im ersten Augenblick war Melli verwirrt. Klar, daran hatte sie nicht gedacht.

„Sie ist doch erwürgt worden, oder?“ Sie konnte sich selbst nicht erklären, wie sie auf die Vorstellung gekommen war, der Stinke-Max könne die Frau nur erwürgt haben. Aber hatte nicht alles darauf hingedeutet? Sie hatte keine Wunden gesehen außer diesen Abschürfungen am Arm. Da hatte sich die arme Frau sicher gewehrt. Man wehrt sich nicht, wenn man von hinter erschlagen oder erstochen wird.

Der Chefinspektor stand mit deinem Wagen noch immer ein paar Schritte vor ihr. Jetzt lächelte er sogar. „Und außerdem“, sagte er, „könnte es genauso gut ein Unfall gewesen sein.“ Damit wünschte er ihr noch einen schönen Tag und fuhr davon.

Dieser Falott!

Melli schnaubte. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich erholte.

Er war von oben gekommen, wahrscheinlich von Fundort der Leiche. Nur, was hatte er allein und so früh am Tag da oben gesucht? Oder war er gar nicht allein? Hatte er Kollegen bei der Schweinesuhle zurückgelassen? Suchten sie noch nach irgendwelchen Spuren?

Die Uhr. Melli tastete nach der Uhr in ihrer Tasche. Aber wie war diese Uhr in den Brunnen gekommen? Der Mörder wird sie wohl kaum dort versenkt haben. Melli ging am Forsthaus vorbei, bergauf die Straße entlang und suchte nach einer Bank. Aber die nächste Bank war wohl oben in der Kurve, wo sie diesen armen Pichler getroffen hatte. Also marschierte sie weiter, passierte den Wildzaun – das Gatter stand natürlich offen – und erreicht schließlich diese Bank.

Sie hatte gedacht, die Uhr könnte vom Arm der Toten stammen, aber jetzt stellte sie fest: Es war eine Herrenuhr. Eine Horex. Eine sauteure Marke. Was konnte das bedeuten? Wohl nicht, dass sie dem Mörder gehört hatte. Oder doch? Aber warum im Brunnen?

Gab es nicht Krähen, die glitzernde Gegenstände stahlen und sie woanders deponierten? Sie hatte das einmal im Film oder Fernsehen gesehen. Trotzdem: Sie war froh, dass sie das Ding gefunden und der Polizei noch nichts davon gesagt hatte. Sie hielt möglicherweise einen Trumpf in der Hand.

Sie marschierte weiter. In fünf Minuten brachte sie das steile Stück der Straße hinter sich. Nach der letzten Kurve leuchteten bereits die Absperrbänder zwischen den Bäumen hervor. Polizeiauto stand keines in der Nähe. Aber hinter den Bändern bewegte sich jemand. Ein Mann bückte sich, als suche er etwas im Schlamm. Vorsichtig ging sie näher. Sie holte Luft.

„Hallo!“

Er erschrak, richtete sich plötzlich auf. Schaute herüber. Ruderte mit den Armen. Tja, der Schlamm! Aber der Mann hielt sich aufrecht.

Das war doch Pichler! Ja, Pichler, der Ehemann!

Wieso war der hier? Melli schlüpfte unter der Absperrleine durch, ging vorsichtig näher an ihn ran. „Herr Pichler, was machen Sie denn hier?“

Er kam auch ein paar Schritte näher, schwankend. Er fasste nach dem nächsten Baum. Melli nahm den Baum zwei Meter daneben ins Visier und hielt sich daran fest. Sicher ist sicher. Ein Schwall des Gestanks nach aufgewühlter Suhle stieg ihr in die Nase.

Pichler nickte ihr zu und stotterte: „Nett, Sie zu sehen.“ Steif wie der Baum, an dem er sich festhielt.

„Wos mochen S’denn do?“ Vielleicht war ihm der Dialekt geläufiger. Er kniff wie ein Hund, der den Schwanz einzieht.

„Setz ma uns wohin.“ Melli deutete auf den Baumstumpf, auf dem sie gestern gesessen war. Da war Platz für zwei. Sie stakte dorthin.

Er kam nur zögernd nach. Kämpfte unterwegs mit seiner Jacke, nestelte ein Papiertaschentuch hervor. „Darf ich?“

Melli rückte ein wenig zur Seite und tatsächlich setzte er sich. Er nahm die Hornbrille ab und schnäuzte sich. Stützte dann die Ellbogen auf die Knie und schüttelte den Kopf.

„Ich wollt‘ nur sehen, wo sie g’legen ist. Mei Henni.“

Melli spitzte die Ohren. „Ist das der Name Ihrer Frau?“ Sie hatte Hendi verstanden.

„Henriette.“ Er schluchzte und wischte sich das Gesicht ab. Der Ärmel seiner Jacke verrutschte. Gab seine Uhr frei.

Seine Uhr! Die sah akkurat aus wie die Uhr aus dem Brunnen. Melli tastete in ihre Hosentasche. Das Ding war noch da.

„Haben Sie vorhin was gesucht?“

Er drehte ihr das Gesicht zu. Schaute sie ratlos an. Er hatte wohl seit gestern nicht aufgehört zu heulen. Aber so waren die Männer nun einmal. Betrügen ihre Frauen nach Strich und Faden und nachher heulen sie Rotz und Wasser. Oder waren es nur die Sommersprossen, die sein geschwollenes Gesicht wie einen Paradeiser ausschauen ließen? Melli überlegte. Vielleicht war dieser Pichler eine Ausnahme.

Sie versuchte es mit ihrem sanftesten Tonfall. „Was haben S‘ denn gesucht vorhin?“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich wollt sie nur sehen. Ihre Spur, ihren Abdruck.“

Fast tat er ihr leid.

Die Uhr? Sollte sie ihm die Uhr zeigen? Irgendetwas musste es doch mit dieser teuren Uhr auf sich haben … eine Horex. Die bekam man wohl nicht unter fünftausend Euro. Partnerlook? Pichler sah aber nicht danach aus, als hätte er zehntausend Euro für einen Partnerlook locker gemacht. Absurd.

Er schaute eher wie ein Durchschnittsverdiener aus. Oder Melli täuschte sich, weil er nicht im gepflegten Anzug in Schlammlöchern herumkriechen wollte.

„Schade“, sagte Melli, „dass Sie gestern zu spät gekommen sind. Aber haben Sie nicht Ihre Frau in der Prosektur identifizieren müssen? Haben Sie sie nicht sehen dürfen?“

Wieder schluchzte er auf.

„Heute“, stammelte er. „Heute um acht …“

„Heut in der Früh sind Sie dort gewesen?“

Er nickte. Nahm ein frisches Taschentuch heraus, putzte seine Hornbrille. Melli hatte sich nicht geirrt: Es war eine Horex an seinem Unterarm.

„Was sind Sie denn von Beruf, Herr Pichler?“ Hoffentlich klang die Frage nicht zu direkt, zu aufdringlich.

Pichler schob sich die Brille wieder auf die Nase. „Der Inspektor hat mich heut früh mitgenommen. Er hat mich auch hergebracht.“

„Der Angermann?“

Wieder nickte Pichler.

Das erklärte vieles. Jedenfalls warum sie Angermann vor einer halben Stunde bei der Brücke begegnet war. Vermutlich war Angermann gerade unterwegs, mögliche Zeugen zu finden. Gut, das wollte Melli auch. Aber zuerst:

„Wo arbeiten Sie, Herr Pichler?“

Langsam schien er die Frage zu begreifen. „Henni hat auch dort gearbeitet.“ Oder kapierte er sie doch nicht?

Männer durfte man eben nicht überschätzen. Wie konnte sie ihn trotzdem noch unauffällig zur Beantwortung ihrer Frage bewegen? „Ihr Chef hat Ihnen freigegeben?“

„Mein Chef? Der gibt mir immer frei, wenn ich will.“

„Welche Branche?“

Pichler schaute sie an, ohne zu antworten.

Sie wechselte das Thema. „Er hat sie also hergebracht.“

„Mein Chef? – Nein, der Polizist Wie kommen Sie auf meinen Chef?“

Gut, vielleicht kam sie auf diese Art weiter. „Aber wenn der Polizist hier abgesetzt hat, wie kommen Sie dann wieder nach Hause?“ Die Idee war ihr plötzlich gekommen. Und sie fand sie nicht schlecht.

„Sie sollten etwas zur Ruhe kommen, sich entspannen. Mein Auto steht unten beim Lainzer Tor: Ich könnte Sie von dort nach Hause bringen.“

Er dachte lange über den Vorschlag nach.

Als sie beim Lainzer Tor in den 500er stiegen, schlug ihr Herz höher. Sie war überzeugt:

Der Täter kehrt an den Tatort zurück.

Sie musste nur etwas Geduld haben.

 

05   Mellis erste Recherchen

Mittwoch, 12:00 Uhr

„Na“, sagte Elfi, als sie sich an den Tisch setzte. „Du siehst ja so fröhlich aus.“

Der Ober kam und servierte das Menu. Melli rümpfte die Nase. Sie hatte vergessen, sich für heute vom Mittagessen abzumelden. Immer wenn es totgekochtes Gemüse in Mehlpapp gab, verzichtete sie darauf und ging ins nächste Restaurant essen.

Sie beugte sich näher zu Elfi. „Du musst nicht so laut reden.“ Sie selbst dämpfte dabei ihre Stimme. Sie sah geraden den Stinke-Max in den Speisesaal kommen und zu seinem Platz schlendern.

„Was?“ Elfis Laustärke schwoll aufs Doppelte an.

„Hast wieder auf deine Ohren vergessen?“

Elfi griff sich ans Ohr. Sie nickte und holte ihre Hörgeräte aus dem Täschchen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Dinger drinhatte. Dann lächelte sie Melli an. „Und? Hast du was herausgefunden?“

Melli wartete, bis Max auf seinem Platz saß, der – den Göttern sei Dank – vier Tische weit entfernt war. Sie wartete, bis der Ober ihm das Menü vor die Nase stellte. Bis Max sich – wie üblich – lautstark über die Suppe beschwerte.

„Rat einmal“, sagte sie dann zu Elfi gebeugt, „wen ich heute mit dem Auto nach Hause gebracht habe.“

Elfi schielte hinüber zu Max. „Den?“

„Der? Der steigt mir doch nicht in mein Auto. Da müsste ich nachher drei Stunden lüften.“

Mellis Zimmernachbarin grinste vom Nebentisch herüber. Eine der wenigen im Heim, die noch gut hörte, genau wie Melli. Melli grinste zurück.

Sie wandte sich wieder an Elfi und legte den Finger an ihre Lippen. „Den Werner Pichler.“

„Den wen?“

„Na, den Ehemann“, sie verfiel wieder in den Flüsterton, „den Ehemann vom Opfer.“

Einen Augenblick lang blieb der Elfi der Mund offenstehen. War sie überrascht oder hatte sie bloß nicht verstanden? Sie platzte heraus. „Den Mann von der Leich?“ Damit war die Frage geklärt. Nur, dass jetzt die Nachbarin ihren Löffel in die Suppe fallen ließ und noch mehr herübergrinste.

Melli schnitt eine Grimasse hinüber und widmete sich wieder ihrer Freundin. „Ich weiß jetzt, wo er wohnt und dass er Steuerberater ist.“

„Aha.“

„Natürlich nur Angestellter bei einem Steuerberater. Der hat so einen komischen türkischen Namen, Özi … Öza … Özamar oder so ähnlich.“

„Ötzi?“ Elfi lachte.

„Ich werd dann googeln.“

„Du kannst es halt nicht lassen.“

Melli flüsterte wieder. „Ich will hier nicht versumpern. Schau dir doch die Leut hier an. Die meisten sitzen da und schauen blöd in die Luft. Und warten den ganzen Tag auf den nächsten Schlangenfraß.“

„Bist heut wieder schief gewickelt.“

Melli schaute in die Runde, ob nicht doch die Tischnachbarn mitgehört hatten. Aber der Kellner lärmte beim Servieren und auch am Nebentisch ging die Nörgelei los.

„Dem Pichler seine Frau hat in derselben Firma gearbeitet. Die wissen dort bestimmt mehr über die beiden.“

„Geh, bitt‘ dich.“

„Es interessiert mich halt.“

„Na und? Willst du vielleicht dorthin gehen und sagen, die Frau Pichler ist ermordet worden. Ich schreibe einen Krimi und ich möchte gern mehr darüber herausfinden?“

„Eh.“ Nur das mit dem Krimi wollte Melli weglassen. Sie verschwieg Elfi außerdem, dass die Polizei noch gar nicht von Mord überzeugt war. Die wussten ja auch das mit der sauteuren Uhr noch nicht. Natürlich vermutete Melli nur, dass das mit den Uhren kein Zufall war. Aber eben das musste sie herausfinden.

„Ich will nur nicht“, sagte Elfi, „dass sich wieder die Polizei für dich interessiert.“

Melli lachte. „Ach, das ist über zehn Jahre her. Aber lustig war’s. Die Nachbarn haben die Köpfe zusammengesteckt und geglaubt, die Polizei verhaftet mich.“

„Eben. Genau das kannst du dir hier nicht leisten. Hier wohnst du in einem Heim mit lauter …“

Melli winkte ab. Mit lauter Verrückten. Sie war ja auch dieser Meinung, aber Elfi verfiel trotz ihrer Hörgeräte immer wieder in eine Lautstärke, die ihre Tischnachbarn aufschreckte. Sogar der Max drehte sich manchmal um.

Und es ging ja wirklich niemanden was an, wie Melli ihre Wartezeit zwischen den Mahlzeiten verbrachte, abgesehen vom Fernsehen in Elfis Zimmer.

Das Essen schmeckte wieder einmal nach ausgekochten Unterhosen, das Fleisch darin wie in Streifen geschnittene Schuhsohlen. Melli schob den Teller beiseite.

„Gehst wieder in die Konditorei essen?“

Melli nickte. „Zehn Euro für eine Eierspeise aus drei Eiern, inklusive Brot und Butter.“ Die Zuteilung eines harten Eies im Heim einmal pro Woche fand sie ohnehin lächerlich.

Sie wartete noch auf die Nachspeise. Auch diesmal ein Minikuchen, oben eine papierdünne Cremeschicht, der Rest darunter bestand aus einer trockenen Bröselmasse, die aus irgendeinem Grund nicht auseinanderrieselte. Melli hatte einmal gekostet: die Brösel waren ihr im Hals stecken geblieben.

Sie verzichtete darauf.

 

Oben in ihrem Appartement setzte sie sich an den PC und tippte in die Suchmaschine Steuerberater und Öz und Wien ein. Google meldete 668.000 Treffer. Irgendetwas stimmte da nicht. Erst in einer Liste der Steuerberater in Wien wurde sie fündig. Er hieß Kemal Özdamar.

Der Adresse nach konnte dieser Mann doch nur Millionäre beraten. Unter welchem Vorwand sollte sie sich dort anmelden? Sie hatte auch früher nicht von ihrer Schreiberei leben können. Aber weil sie von zwei verschiedenen Seiten Einkünfte bezog, hatte sie ihre Buchhaltung eine ehemalige Schulfreundin durchführen lassen. Zu einem Freundschaftspreis, versteht sich. Seit sie im Heim wohnte, kümmerte sie sich überhaupt nicht mehr darum. Die Tantiemen tröpfelten nur mehr im zweieistelligen Bereich pro Monat bei ihr ein.

Sie fischte Pichlers Visitenkarte aus der Tasche. Ihn anrufen? Fragen, ob sie sich auf ihn berufen dürfe? Schließlich hatte sie ihm Trost gespendet und er war ihr etwas schuldig.

Gerade als sie nach dem Handy griff und seine Nummer eintippen wollte, läutete das blöde Ding.

Es war Elfi.

„Du, ich hab gerade auf Facebook nachgeschaut. Dein Pichler krebst dort auch herum.“

„Und woher willst du wissen, dass es mein Pichler ist?“

„Weil er auch Werner heißt und eine Henriette Pichler ein Foto von der Hermesvilla veröffentlicht hat, auf dem er drauf ist. Und darunter steht: Mit meinem lieben Mann im Lainzer Tiergarten.“

Melli klappte den Mund wieder zu. „Oh.“

Elfi auf Recherche-Trip! Das war neu. Auf Elfis akustische Wahrnehmungen konnte Melli sich nicht verlassen, aber mit den Augen und mit dem Hirn war sie noch ziemlich gut drauf.

„Danke“, sagte Melli. Trotzdem wollte sie sich selbst von der Neuigkeit überzeugen. „Hast du noch etwas herausgefunden?“

Nach einigem Zögern sagte Elfi: „Ich hab den Max wieder in den Bus steigen sehen, Richtung Lainzer Tiergarten. Und die Olga hat ihm blöd nachgeschaut.“

„Na dann bleib an der Olga dran. Vielleicht weiß die was über ihn.“

„Ich mag aber die Olga nicht.“

Okay, das verstand Melli. „Hat sie wieder einmal unter deinem Fenster geraucht?“

„Heute noch nicht.“

„Dann viel Glück, Elfi, ich hab noch zu tun.“

Es war eins vorbei, Melli wollte ja noch Pichler anrufen.

„Okay, bis später.“

Aber vielleicht sollte Melli jetzt wieder versuchen, Max zu beobachten. Immer noch war Max ihr Verdächtiger Nummer eins. Sie hatte ihn einmal durchs Dickicht schleichen sehen, dabei hatte er obszöne und gefährliche Flüche ausgestoßen.

I stich di o, du blede Sau!

Mehr als einmal hatte die Polizei ihn ins Heim zurückgebracht, einmal hatten sie ihm vorher ein Messer abgenommen.

Melli wählte Pichlers Nummer, aber der hob nicht ab. Auch gut.

Sollte sie Max‘ Verfolgung aufnehmen? Bei der Erinnerung an seine Flüche schüttelte sie sich ab. War jedenfalls nicht besonders einladend, sich an seine Fersen zu heften. Was, wenn er sich plötzlich umdrehte und auf sie losging?

Da würde sie sich bei einem Steuerberater schon weniger gefährdet fühlen.

 

 

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