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Feilkode 418

Vom Sterben und Schweigen

Vom Sterben und Schweigen · Romane

Ein Liebesdrama zwischen den Wirren des Syrienkrieges und den politischen Veränderungen in der Türkei hin zur Autokratie.

Hva vil du med boka?

Ich habe in der Vergangenheit bei verschiedenen Verlagen (Rowohlt, Peter Hammer, Schmetterling) Romane und Sachbücher veröffentlicht, vornehmlich mit politischem Inhalt. Nach einer Schreibpause und vielen Jahren im Ausland - zuletzt fünf Jahre in der Türkei - bin ich nun dabei, einen neuen Roman fertigzustellen. Mit dem Roman möchte ich den Lesern die Flüchtlingsrealität näher bringen als auch die Entwicklung der Türkei hin zur Autokratie nachzeichnen, in der Meinungs- und Pressefreiheit außer Kraft gesetzt werden. In der Haupthandlung leitet Richard eine Flüchtlingsorganisation in der Türkei und begegnet der iranischen Fotografin Faribaa. Sie verlieben sich ineinander. Durch die junge, unangepasste Frau angetrieben, stellt sich Richard mehr und gegen die Zustände im Land und plant eine gemeinsame Zukunft mit Faribaa. Doch als sich Faribaa als Fotografin dem Kampf gegen den Islamischen Staat in Mossul und Rakka anschließt, nehmen die Dinge eine dramatische Wende. In einer ersten Nebenhandlung repräsentiert der desertierte Soldat Yehia den Bürgerkrieg in Syrien. Die Fluchtursachen sollen nicht in der Vorstellung des Lesers verharren, sondern durch diese Nebenhandlung greifbar werden. In der zweiten Nebenhandlung verliert Bassam seine Freundin auf einer Demonstration in Daraa. Er flieht in die Türkei. Bassam repräsentiert die zigtausend Flüchtlinge, die unter Traumata leiden und von einem besseren Leben träumen. Seine weitere Flucht nach Deutschland scheitert tragisch.

Om forfatteren

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Dirk Hegmanns wurde in Düsseldorf geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Soziologie in Düsseldorf und Bielefeld und promovierte in Soziologie. Nach vielen Jahren in Lateinamerika, Afrika ...

1

Irgendwo in der Ferne, aber auch nicht allzu weit weg, grollte das Geschützfeuer der türkischen Artillerie. In einem ruhigen Rhythmus, der eine gewisse Gleichgültigkeit ausdrückte, schoss die Armee ihre Granaten hinüber auf die syrische Seite der Grenze, die nur wenige hundert Meter entfernt war. Dort drüben, unsichtbar und abwartend, verschanzten sich die Kämpfer des Islamischen Staats.

Richard stieg aus dem Wagen und schaute über die Felder von Elbeyli, der türkischen Kleinstadt einige Minuten Autofahrt weiter östlich. Die Nähe des Krieges beunruhigte ihn nicht. Bei seinen zahlreichen humanitären Einsätzen in Krisengebieten hatte es in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren weitaus brenzligere Situationen gegeben. Daher war er mittlerweile ziemlich abgebrüht. Seit er vor sechs Monaten in der Türkei die Leitung einer deutschen Flüchtlingsorganisation übernommen hatte, war der Krieg sein ständiger Begleiter. Meistens fand er zwar dort statt, wo er ihn nicht unmittelbar erlebte, aber manchmal kam er auch bis auf Reichweite heran, wie jetzt vor Elbeyli.

Der Fahrer stellte den Motor ab und beeilte sich, Richards Kollegen Levent und den beiden Journalisten beim Aussteigen zu helfen.

„Das hört sich aber nicht gut an“, sagte Harald, der Radioreporter, als er neben Richard trat und in die Richtung blickte, aus der das Geschützfeuer kam. „Sind wir hier sicher?“ Er fingerte unentschlossen an seinem Aufnahmegerät herum.

„Keine Sorge“, beruhigte Richard ihn. „Elbeyli ist das letzte Mal vor zwei Monaten vom IS beschossen worden. Jetzt ist das Gebiet hier unter Kontrolle. Sonst hätten wir euch nicht hierhergebracht.“

 

Auf dem Feld vor ihnen bearbeiteten ein paar ärmlich gekleidete Männer den Boden mit Hacken und Schaufeln. Flüchtlinge aus Syrien, die in der Türkei Zuflucht gefunden hatten und durch Richards Organisation unterstützt wurden. Richard hob grüßend den Arm. Sie winkten zurück. Wenige Tage zuvor hatten seine Kollegen sie auf diesen Besuch vorbereitet, denn wenn Journalisten kamen, durfte nichts schiefgehen.

Richard deutete auf die Männer auf dem Feld. „Ihr werdet erwartet“, sagte er zu Harald und hoffte, dass sich dessen Bedenken zerstreuten. „Ihr fangt hier mit den Interviews an, und später besuchen wir noch die Familie eines der Bauern.“

Harald zögerte und schaute in Richtung des Artilleriedonners. „Also, ich weiß nicht…“

Bevor Richard etwas erwidern konnte, trat Haralds iranische Kollegin Faribaa zu ihnen und rückte die zwei Kameras zurecht, die ihr um den Hals hingen. „Was ist denn los?“

 „Vielleicht sollten wir uns einen weniger gefährlichen Ort suchen, um die Leute zu interviewen“, sagte Harald.

„Euch droht hier ganz bestimmt keine Gefahr,“ versuchte Richard noch einmal zu beschwichtigen. „Es ist eines unserer erfolgreichsten Projekte. Ich war auch schon mit anderen Besuchern hier.“

Harald und Faribaa wollten über Flüchtlinge aus Syrien und über die Arbeit einer Hilfsorganisation berichten, und zum Einstieg begleiteten Richard und sein Kollege Levent sie an diesem Tag zu den syrischen Bauern auf den Feldern vor Elbeyli. Hier konnten die beiden Journalisten aus erster Hand erfahren, wie die Bauern mit der Unterstützung von Richards Organisation ihr Land bestellten, wie sie sich eine neue Existenz aufbauten, wie sie lebten. Und die Reportagen dienten nicht nur der Information. Für Richard und sein Team waren sie mehr als notwendig, um weitere Spenden für ihre Arbeit einzuwerben. Er konnte den Besuch jetzt nicht einfach abbrechen und mit leeren Händen zurück zum Büro fahren.

Faribaa schaute sich um und stemmte die Hände in die Hüften. „Harald, wir wussten doch genau, auf was wir uns einlassen“, sagte sie voller Überzeugung. „Außerdem sind die Kanonen doch weit genug weg. Uns wird hier schon nichts passieren.“ Sie warf Richard einen kurzen Blick zu, und er war ihr in diesem Moment dankbar für die unerwartete Hilfe.

Harald atmete tief durch und kratzte sich am Kopf. „Okay“, sagte er schließlich. „Bringen wir´s hinter uns.“ Er gab Faribaa ein Zeichen. Die junge Frau nahm die Abdeckung der Kameraobjektive ab und folgte ihm auf das Feld. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um und lächelte Richard komplizenhaft an. Er nickte ihr erleichtert zu.

Levent, der Projektassistent, der eigentlich ausgebildeter Archäologe war, ging etwas abseits mit dem Handy am Ohr auf und ab und diskutierte gestenreich mit jemandem auf Türkisch. Als er fertig war, kam er zu Richard und lehnte sich an den Wagen. „Können wir nachher in Elbeyli noch bei einer Familie vorbeischauen?“, fragte er auf Englisch.

Richard schaute auf seine Armbanduhr. „Ja, wir haben genug Zeit. Was ist denn los?“

„Eine Familie aus Elbeyli konnte mit der Geldkarte, die sie von uns bekommen hat, nicht bezahlen und hat sich im Büro darüber beschwert. Ich habe einige Karten dabei und könnte sie austauschen.“

„Dann fahren wir später noch dort vorbei“, sagte Richard.

Sie beobachteten Harald und Faribaa, die jetzt auf dem Feld ihre ersten Eindrücke mit Aufnahmegerät und Kamera festhielten. Richard wischte sich über die Stirn, auf der sich kleine Schweißperlen gebildet hatten. „Ist ziemlich warm geworden“, stellte er fest und blinzelte in den wolkenlosen, kaltblauen Himmel.

Levent nickte. „Ja, zu dieser Jahreszeit unterschätzt man leicht die Kraft der Sonne.“

„Ich hätte heute Morgen einen Hut mitnehmen sollen.“

„Bist du empfindlich?“

Richard nickte. „Hab´ schon öfter einen Sonnenstich gehabt. Ist kein Vergnügen.“

Richard trug gerne Hut. Sein Lieblingsexemplar war ein Panama-Hut, den er tatsächlich in Panama gekauft hatte. Irgendeine Dienstreise hatte ihn vor Jahren dorthin verschlagen. In gewisser Weise war er sogar stolz darauf, ein Original zu besitzen, doch unglücklicherweise hatte er ihn heute in seiner Wohnung an einem Garderobenhaken hängen lassen. Also knallte ihm die Sonne auf den Schädel, und er konnte trotz der windstillen Frühlingskühle regelrecht spüren, wie sich seine Blutgefäße erweiterten und einen baldigen Kopfschmerz ankündigten. Aber es gab weit und breit keinen Schatten, nur baumlose, weite Felder und irgendwo, halb eingegraben, die Stellung der türkischen Artillerie.

Auf dem Feld hielt Harald sein Aufnahmegerät in die Höhe und drehte sich in verschiedene Richtungen, um geduldig die akustische Atmosphäre aufzuzeichnen. In dieser Landschaft, die zu dieser Jahreszeit von Erdfarben geprägt war, fiel er auf mit seinen roten Haaren und der roten Jacke. Er schritt mal in diese Richtung, mal in die andere, rückte von Zeit zu Zeit seine randlose Brille zurecht, die ihm ständig von der schweißfeuchten Nase zu rutschen drohte, und war vollkommen vertieft in seine Arbeit. Etwas abseits fotografierte Faribaa die Männer, die den Boden bearbeiteten. Sie ging in die Knie, um den richtigen Winkel zu finden, beugte sich nach vorne oder zurück und drückte ununterbrochen auf den Auslöser. Von Zeit zu Zeit schaute sie prüfend auf den kleinen Bildschirm ihrer Kamera, um danach wieder auf ihre Motive anzulegen.

Nach einer Weile drehte sie sich kurz zu Richard und Levent um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch da waren, und lächelte. Sie sah gut aus, fand Richard. Umwerfend gut. Anfang dreißig, lange, schwarze Haare, schwarz geränderte Brille, lange Wimpern, einen Kopf kleiner als er. Ein wenig zu schlank für seinen Geschmack, aber eben umwerfend gutaussehend. Wenn sie lachte, setzten ihre weißen, perfekten Zähne einen leuchtenden Kontrapunkt zu dem dunklen Rahmen ihrer Haare. In Richards Hose vibrierte das Handy. Er griff in die Hosentasche und zog es hervor. Es war Saban, der Sicherheitschef der Hilfsorganisation.

„Hallo, Saban“, grüßte Richard ihn. „Was gibt´s?“

„Hallo, Richard“, sagte Saban. „Ihr müsst auf dem Rückweg nach Gaziantep leider einen kleinen Umweg fahren.“

„Warum?“, fragte Richard, obwohl er ahnte, was das hieß.

„Die Polizei hat eben die Hauptverbindung zwischen Elbeyli und Gaziantep gesperrt, weil sie eine Bombe in einem abgestellten Auto vermutet. Das wird eine Weile dauern.“

„Schon klar“, sagte Richard. Dies war bereits die dritte Bombenwarnung innerhalb einer Woche.

„Kann ich dann mal mit dem Fahrer sprechen?“

Richard reichte dem Fahrer das Handy. „Saban“, sagte er nur.

Der Fahrer sprach sich kurz mit dem Sicherheitschef ab und gab dann das Handy zurück.

„Probleme?“, fragte Levent.

„Bombenwarnung“, erwiderte Richard knapp. „Wir müssen später einen Umweg zum Büro nehmen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die zwar immer noch dicht, doch ebenso wie sein stoppeliger Bart in den letzten Jahren merklich grauer geworden waren.

„Willst du eigentlich irgendwann wieder zur Archäologie zurückkehren?“, fragte Richard, um die Zeit ein wenig zu überbrücken, die Harald und Faribaa für die Aufnahmen ihrer ersten Eindrücke brauchten.

Levent, ein fast immer gutgelaunter Typ, den Richard auf Anfang dreißig schätzte, wog den Kopf mit den schwarzen, gelockten Haaren. „Die Region ist ein Paradies für Archäologen. Auch aus Deutschland kommen viele, um hier zu graben. Aber ich habe mich schon während des Archäologiestudiums zu sehr politisch engagiert, das macht die Jobsuche schwierig. Deshalb bin ich froh, dass ich für euch arbeiten kann.“

„Gefällt dir unsere Arbeit?“

„Oh ja! Es ist eine sehr dankbare Aufgabe, Menschen dabei zu unterstützen, sich ein neues Leben aufzubauen.“

Richard nickte. „Dazu sind wir hier. Das Überleben sichern, ein neues Leben aufbauen. Es kann einem aber auch ziemlich an die Nieren gehen.“

„Weil man viel Leid sieht?“

„Ja, man rettet zwar viele Menschen vor Kriegen, vor Naturkatastrophen oder vor dem Verhungern. Aber man erlebt auch viel Elend. Und Tod. Und das bleibt immer in deinem Kopf - und hier.“ Richard tippte sich mit dem Finger auf die Brust.

Levent nickte nachdenklich.

Richard schaute ihn mit ernster Miene an. „Wenn du das zu deinem Beruf machen willst, musst du vorbereitet sein“, sagte er und meinte es nicht nur als Ratschlag. „Ich war´s anfangs nicht immer.“

„Ich werde mir Mühe geben“.

„Ich weiß, und du wirst das schaffen.“ Richard klopfte Levent freundschaftlich auf die Schulter. Er schätzte ihn sehr, nicht nur als gewissenhaften Projektassistenten, sondern auch als klugen Gesprächspartner, der sich mit der Geschichte und Politik der Region auskannte und den Richard immer mal wieder ansprach, wenn er eine Erklärung über das türkische Wesen brauchte. Denn das Land an der Grenze zwischen Europa und dem Orient war weit mehr als nur das europäische Istanbul mit seiner Hagia Sophia oder das touristische Antalya mit seinen weißen Stränden. Richard befand sich in einer Region, die als Wiege der Zivilisation galt. Doch in dieser Region herrschte ein brutaler Krieg. Und dieser Krieg sollte ihm zeigen, wie schnell und einfach die dünne Schicht der Zivilisation zerbrechen konnte.

 

 

Harald winkte zu Richard und Levent herüber. „Können wir?“, rief er und deutete auf die Flüchtlinge auf dem Feld.

„Dein Part“, sagte Richard zu Levent.

Levent nickte und ging gemeinsam mit Harald zu den syrischen Bauern, um zu übersetzen. Neben Englisch sprach er auch fließend Arabisch. Richard blieb am Wagen und nahm eine Flasche Wasser vom Rücksitz, um sich die Haare anzufeuchten. Dann griff er wieder zum Handy, um seine E-Mails durchzugehen.

Harald war gut vorbereitet, das hatte Richard schon bei dessen Anruf zwei Wochen zuvor erfahren. Im Gegensatz zu manch anderen Journalisten, denen Richard Rede und Antwort stehen musste, hatte er Ahnung von der Entwicklung des Syrienkrieges, von den Flüchtlingen in der Türkei, von den politischen Problemen des Landes, von den Schwierigkeiten einer unabhängigen und authentischen Berichterstattung. Sie diskutierten eine gute Stunde am Telefon, bevor sie seinen Besuch absprachen. Er würde eine Fotografin mitbringen, hatte Harald angekündigt. Sie und ihr Mann hatten ein Projekt entworfen, um ein paar syrische Jugendliche im Oudbau auszubilden. Aber darüber wollten sie dann reden, wenn er in Gaziantep war.

Faribaa war also verheiratet. Das konnte Richard eigentlich egal sein, schließlich war er nicht in der Türkei, um sich eine Frau zu suchen. Und in Deutschland hatte er zwei Kinder von zwei Ex-Ehefrauen, das reichte ihm erstmal. Außerdem wollte er ganz bestimmt kein Dirty Old Man sein, der solch jungen, umwerfend gutaussehenden Frauen, wie Faribaa es war, hinterherschaute.

Zugegeben, ein paar Gedanken gingen ihm schon durch den Kopf, als er Faribaa zum ersten Mal in der Lobby des Hotels sah, in dem sie und Harald untergebracht waren. Er hatte sich mit ihnen dort am Morgen verabredet, um mit ihnen gemeinsam zum Büro zu fahren. Sie kam die Treppe heruntergestakst, fast ein wenig unsicher, und Harald, der in der Sofaecke am Hoteleingang schon neben ihm saß, machte Richard auf sie aufmerksam. Sie kam mit einem offenen Lächeln auf ihn zu und gab ihm förmlich die Hand. Sie setzte sich ihm gegenüber, nahm ihre Kamera hervor und blickte ihn fragend aus ihren kajalumrandeten Augen an. Richard nickte, und irgendwie drängte sich der eine oder andere flüchtige Gedanke auf. Aber die konnte man schlicht als Komplimente verstehen. Umwerfend gutaussehend zum Beispiel. Und kein Gedanke an andere Sachen! In einem Leben, wie Richard es führte, gab es ohnehin keinen Platz für eine Frau.

Während Richard mit Harald redete – sie sprachen auf Englisch, damit Faribaa sich nicht ausgeschlossen fühlte – fotografierte sie ihn. Zuerst frontal, wenig später, ohne dass er es merkte. Wie beiläufig hatte sie ihre Kamera auf einem Beistelltisch platziert und drückte von Zeit zu Zeit auf den Auslöser, während Richard auf das Gespräch konzentriert war. Harald nahm noch nichts auf, er fühlte lediglich vor. Mit einer Geste der Gewohnheit setzte er immer wieder seine Brille auf und nahm sie wieder ab, um sie mit einem gelben Tuch zu putzen. Wenn er sie aufhatte, strich er sich nachdenklich über die Bartstoppeln und komponierte seine Fragen. Wenig später fuhren sie zum Büro, wo Richard die Besucher seinen Mitarbeitern vorstellte. Dann machten sie sich auf nach Elbeyli.

 

 

Nach ihrer Rückkehr am frühen Nachmittag machten Harald und Faribaa im Büro Interviews mit dem Team, während Richard sich mit seinen beiden Programmdirektoren zusammensetzte, um die dringendsten Probleme zu besprechen. Und in der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg gab es jede Menge dringendster Probleme.

Danach kam Julian, einer seiner Projektleiter, in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Wenn er das machte, ging es entweder um Personalangelegenheiten oder um etwas, das ihm an die Nieren ging. Julian war emotional. Manchmal etwas zu emotional, fand Richard. Er ließ die Dinge zu nahe an sich heran, konnte keinen Abstand mehr halten. Richard hatte ihn schon in Tränen aufgelöst irgendwo allein in einer ruhigen Ecke im Büro gefunden, wo er versuchte sich zu beruhigen. Wenn er so aufgewühlt war, konnte Richard ihn keine Entscheidungen treffen lassen.

„In Azaz sind in den letzten Wochen fast dreißigtausend neue Flüchtlinge aus Aleppo angekommen“, sagte Julian. „Die Lager haben keine Kapazitäten mehr.“

Richard nickte und schaute ihn fragend an. Die Flüchtlingslager von Azaz lagen im Norden Syriens, etwa zwanzig Kilometer vom türkischen Grenzübergang in Kilis entfernt.

„Man hat mich gefragt, ob wir helfen können“, fuhr Julian fort. „Man weiß nicht, wohin mit den vielen Leuten.“

„Wer hat dich gefragt?“

„Die Katastrophenbehörde ALERT und der Flüchtlingskoordinator von Kilis.“

„Was brauchen sie?“

„Zelte und Latrinen. Aber zuerst müsste das Gelände planiert und die Drainage angelegt werden. Sonst versinken die Menschen dort beim nächsten Regen im Schlamm.“

„Hast du eine Idee, wie viel das kostet?“

„Die Vorbereitung des Geländes plus fünfhundert Zelte plus Latrinen … Über´n Daumen um die Hunderttausend.“

„Aber das reicht doch nicht für dreißigtausend Menschen!“, wandte Richard ein.

„Das wäre nur unser Teil“, erklärte Julian. „Die Norweger und drei andere Organisationen würden ebenfalls mitmachen. Dann würde es reichen.“

„Das klingt nicht schlecht. Und woher nehmen wir die Hunderttausend?“

„In meinem Projekt habe ich Geld für solche Notfälle. Das könnte ich dafür verwenden, wenn du einverstanden bist.“

Richard dachte kurz nach. „Wem gehört das Land, auf dem das Lager errichtet werden soll?“, fragte er dann. „ALERT muss dafür sorgen, dass das alles legal ist!“

„ALERT würde das Gelände für fünf Jahre von einem syrischen Bauern pachten. Das habe ich schon geklärt.“

„Wenn das so ist, dann machen wir das.“

Julian lächelte, und wenn Richard nicht alles täuschte, wurden seine Augen wässrig. Er war glücklich, wenn er etwas Gutes tun konnte.

Vor der Tür warteten schon Harald und Faribaa und kamen jetzt in Richards Zimmer. Harald und er drapierten sich vor einer großen Landkarte der Region, die an der Wand hing, damit Faribaa ein paar Fotos schießen konnte. Besonders ansehnlich fand Richard sich und Harald nicht. Sie sahen beide überarbeitet aus, mit Ringen unter den Augen und tiefen Falten im Gesicht. Als Faribaa fertig war, hielt Harald Richard das Mikrofon vor den Mund und stellte förmlich seine Fragen.

„Was genau macht eine humanitäre Organisation wie Ihre hier in der Türkei?“

„Wir verteilen vor allem Geldkarten, mit denen sich die Flüchtlinge in Geschäften selbst versorgen können“, antwortete Richard ebenso förmlich. „Sie werden einmal im Monat von uns mit einem bestimmten Betrag aufgeladen. So können die Flüchtlinge selbst bestimmen, was sie kaufen. Wir stellen auch medizinische Güter in der Türkei und in Syrien bereit, reparieren Krankenhäuser und Schulen und bieten noch viele andere Dinge an, die die Menschen zum Überleben brauchen.“

„Wie viele Mitarbeiter haben Sie hier in der Türkei?“

„Unsere Organisation hat vor fünf Jahren mit einem Dutzend angefangen. Inzwischen sind es achtzig. Und wenn die Flüchtlingsströme weiter anhalten, werden wir noch mehr brauchen.“

„Sie sind der Leiter dieses humanitären Programms. Wie wird man so etwas?“

Richard dachte kurz nach. „Da gibt es kein eindeutiges Profil“, sagte er dann. „In solchen Positionen findet man Sozialwissenschaftler, Ökonomen oder auch Betriebswirte. Ich selbst bin Politologe und habe einige Jahre in Lateinamerika als Entwicklungsexperte verbracht, bevor ich ins Krisenmanagement eingestiegen bin. Dadurch bin ich dann nach Sierra Leone, Somalia und in andere Länder gekommen. Und jetzt bin ich hier in der Türkei.“

Harald ließ sich geduldig Projekte beschreiben, Zahlen nennen und Details erklären. Nach einer knappen Stunde lächelte er Richard an. „Das war gut“, sagte er. „Gibt es sonst noch etwas, das du loswerden willst?“

„Du hast mir doch schon ein Loch in den Bauch gefragt“, erwiderte Richard und lachte. „Ich glaube, wir haben so ziemlich alles abgedeckt.“

„Wunderbar!“, sagte Harald zufrieden und begann damit, seine Ausrüstung zusammenzupacken. „Können wir noch über das Oudprojekt sprechen?“, fragte er dann.

Richard schaute kurz auf seinen Terminkalender, aber da stand nichts weiter für den Rest des Nachmittags.

„Können wir“, erwiderte er. „Aber dazu sollten wir uns einen angenehmeren Ort suchen. Und Leon sollte dabei sein.“

Leon war einer der Programmdirektoren und zuständig für die Entwicklung der Projekte in Syrien und die spätere Koordination mit den Projektleitern. Jakob, der Programmdirektor für die Projekte in der Türkei, schrieb an einem Schlussbericht, der am folgenden Tag eingereicht werden musste. Also musste Leon für ihn einspringen. Richard ging zu seinem Zimmer ein paar Türen weiter. Er saß eingesunken vor seinem Laptop und tippte mit vier Fingern auf der Tastatur herum.

„Lust und Zeit, in der Altstadt einen Tee mit uns zu trinken?“, fragte Richard.

Leon schaute auf. „Keine schlechte Idee“, sagte er. „Lass mich nur noch die E-Mail zu Ende schreiben.“

Ein paar Minuten später schlurfte er in Richards Büro und blieb vor dem Schreibtisch stehen. Er hatte eine Halbglatze, trug eine Brille mit farblosem Rahmen und mochte etwa einsfünfundachtzig groß sein, aber er stand auch im Stehen eingesunken und war damit kaum größer als Richard. Und wenn er ging, dann ging er nicht, sondern schlurfte. Insgesamt machte er nicht gerade einen dynamischen Eindruck, was Richards Wertschätzung für ihn jedoch keineswegs minderte.

Er hatte ihn in Deutschland während seiner Vorbereitung auf den Job kennengelernt. Da sie im selben Hotel wohnten, blieben auch einige Abende beim Bier nicht aus. Wie sich bald herausstellte, waren sie sich vor Jahren sogar schon einmal auf einer Konferenz in Malawi begegnet. Die Welt der humanitären Experten war klein, auch wenn sie anderen groß erschien, und man wunderte sich nicht, wenn man alle paar Jahre wieder ein irgendwie bekanntes Gesicht traf.

Richard mochte Leons Humor und seine zupackende Art. Eigentlich sollte er als Projektleiter nach Tunesien gehen, aber die Erteilung seines Visums dauerte. Ja, es war nicht einmal sicher, dass er es überhaupt bekam. Richard warb ihn also kurzerhand ab. So schnell konnte das in der humanitären Arbeit gehen. Ganze Biografien änderten sich von einem Tag auf den anderen.

Sie machten sich auf den Weg. Mit dem Auto fuhren sie bis zu Richards Wohnung und gingen von dort aus zu Fuß weiter. Bis zur Altstadt waren es kaum fünfzehn Minuten, und in den engen Gassen war ein Auto nicht gerade das geeignetste Fortbewegungsmittel. Sie gingen an den kleinen Läden vorbei, die den Atatürk Bulvar säumten und in denen alles das angeboten wurde, was man für das tägliche Leben brauchte. Daneben gab es natürlich Dönerbuden, auf Baklava spezialisierte Konditoreien - in Gaziantep sollte es das beste Baklava der Türkei geben - Restaurants und kleine Hotels.

Der Atatürk Bulvar war eine nervöse Straße. Da die Autos oft in zweiter oder gar dritter Reihe parkten, blieb nur eine schmale Gasse frei, durch die sich Busse, Autos, Mopeds, Motorroller und manchmal sogar der eine oder andere mutige Fahrradfahrer drängten. Ständig wurde gehupt und aus den heruntergekurbelten Autofenstern gerufen oder gewunken, um das Durcheinander zu organisieren. Aus gelben Taxis hingen lässige Arme, die qualmende Zigaretten zwischen den Fingern hielten. Mopedfahrer drehten am Gasgriff und ließen die quäkenden Motoren aufheulen, als ob sie dadurch Stärke demonstrieren könnten. Motorroller transportierten vierköpfige Familien, aber es ging noch mehr, wie Richard schon oft beobachtet hatte.

Vor einigen Läden, an denen sie vorbeigingen, hieß man sie willkommen und zeigte auf die Körbe mit Pistazien, Gewürzen oder getrockneten Früchten. Alles war bunt und einladend, aber sie dankten mit einem Lächeln und gingen weiter. Vor einer kleinen Teestube saßen drei Männer und spielten Domino, jeder mit einer Zigarette im Mund. In der Tür eines Tattoo-Ladens stand ein Mann im T-Shirt und machte mit seinen Armen Werbung für sein Handwerk. Frauen mit und ohne Kopftuch trieben ihre Kinder zur Eile an, da die Geschäfte bald schließen würden. Geschäftsmänner trugen ihre Statussymbole zur Schau – die überdimensionierte goldene Armbanduhr oder den Schlüssel für ihren Mercedes.

 Die Altstadt lag unterhalb der gewaltigen Festung, deren erste Mauern man schon in der Antike angelegt hatte. Vor einiger Zeit hatte man damit begonnen, die Altstadt stückweise zu restaurieren, um mehr Touristen anzulocken. Sie war nicht allzu groß, aber mit ihren verwinkelten, kopfsteingepflasterten Wegen war sie eine entschleunigte und ruhige Oase in der Zwei-Millionen-Stadt Gaziantep. In vielen Innen- oder Hinterhöfen der Häuser waren Teestuben eingerichtet.

Sie setzten sich in eine dieser Teestuben und bestellten – natürlich – Tee, der in weniger als zwei Minuten vor ihnen stand. Sie hatten einen Tisch im Garten gewählt, denn es gab kaum einen Gast, der nicht rauchte. Im Innern der Teestube war es nebelig wie in einer Herbstnacht. Dann erklärten Harald und Faribaa ihr Oudprojekt.

Richard erfuhr, dass Faribaas Mann Mohammad nicht nur Musiker und Komponist war, sondern im Iran auch Saiteninstrumente gebaut hatte, darunter die traditionellen Ouds. Syrische Jugendliche, die nun in der Türkei auf eine mögliche Rückkehr in ihr zerbombtes Land warteten, brauchten eine Perspektive, erklärte Faribaa. Eine Ausbildung, einen Beruf, irgendetwas, auf das sie aufbauen konnten. Oudbauer, syrische Jugendliche, Ausbildung. Das passte doch. Auch Harald fand die Logik dahinter einleuchtend.

Leon hakte bei der Logik ein. War das Projekt logisch aufgebaut? Wie viele Jugendliche sollten ausgebildet werden? Wie lange sollte die Ausbildung dauern? Wie groß war der Markt für Ouds?

Faribaa antwortete geduldig. Richard merkte, sie hatte sich Gedanken gemacht. Oder ihr Mann. Jedenfalls klang alles logisch und sinnvoll. Das einzige Problem war das Geld.

Es gab viele Probleme bei Projekten, doch wenn das Geld fehlte, um ein Projekt durchzuführen, hatte man ein ziemlich großes Problem. Hier also kam Richards Organisation ins Spiel. Sie sollte das Projekt nicht nur durchführen, sondern auch die Finanzierung sichern.

„Ich denke, da lässt sich was machen“, sagte Richard nach kurzem Überlegen. „Die Idee passt jedenfalls zu unseren Plänen, neben der Nothilfe auch langfristige Beschäftigungsmöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen.“

„Und ich werde das Projekt von Anfang bis Ende begleiten“, sagte Harald begeistert. „Das ist eine schöne Geschichte. Wir wollen zeigen, dass es Hoffnung gibt für Flüchtlinge. Mediale Begleitung ist also garantiert.“

Richard nickte, wenn auch nicht ganz überzeugt. Harald hatte sicher Recht. Drei Millionen traumatisierte, vom Krieg vertriebene Menschen lebten in der Türkei. Die Hoffnung auf Besserung war überlebenswichtig. Aber mediale Begleitung? Wie sich das schon anhörte! Da stiegen die Flüchtlinge ja schon fast ins Showgeschäft ein.

Richard fand Haralds Enthusiasmus zwar ein wenig übertrieben, respektierte aber den guten Willen, der hinter seiner Idee steckte. Und wenn es tatsächlich klappte, das Projekt als Erfolgsstory ins Radio zu bringen, waren ein paar zusätzliche Spendeneinnahmen so gut wie sicher.

Sie einigten sich darauf, dass Faribaa oder ihr Mann einen vernünftigen Projektantrag schreiben sollte und Richards Team sich um die Finanzierung kümmern würde. Darauf tranken sie einen Tee und waren so guter Laune wie nach einem Bier. Aber das gab es in der Teestube leider nicht.

Sie besprachen noch den Ablauf des folgenden Tages und machten sich dann auf den Weg nach Hause oder ins Hotel. Richard bot an, später vielleicht zusammen noch irgendwo ein Bier trinken zu gehen, um den Tag abzurunden, aber Faribaa und Harald lehnten höflich ab. Sie schienen geschafft von den Eindrücken des Tages, der ihnen wahrscheinlich mehr Flüchtlingsrealität vor Augen geführt hatte als sie aus den Nachrichten des letzten Jahres gewohnt waren.

Und das ging ans Eingemachte. Das steckten sie nicht so einfach weg. Nicht so wie Richard, der so etwas fast jeden Tag miterlebte. Seit Jahrzehnten. In brasilianischen Favelas, wo Kinder an Masern oder Durchfall starben. Bei Nomaden im Nordosten Kenias, denen die Dürre zuerst die Ziegen und dann die Kinder wegraffte. Und jetzt in der Türkei, wo Millionen ohne Hilfe nicht überleben würden.

Richard steckte das weg. Irgendwohin, wo es das Eingemachte nicht erreichte. Fest verschlossen in einer Schublade. Und manchmal, wenn Richard ein paar Single Malts im Blut hatte, sprang die Schublade auf und alles fiel heraus. Und es kostete einiges, um alles wieder aufzusammeln und dorthin zu packen, wo es keinen Schaden anrichtete.

 

2

Faribaa stammte aus einem kleinen Nest nicht weit von der Grenze zur Türkei. Es war eine ruhige Gegend, in die der Fortschritt nur langsam einzog. Die Bevölkerung war genügsam, viele arbeiteten in der Landwirtschaft. Man sprach Kurdisch, und Farsi lernte Faribaa erst, als sie in die Schule ging.

Von den fünf Schwestern und zwei Brüdern in der Familie war sie die jüngste. Daher sahen es die Eltern ihr nach, dass sie schon in jungen Jahren ein wenig rebellisch und starrköpfig war. Sie war ein Kind mit ausgeprägtem eigenem Willen, das lieber Bilder malte, tanzte, sang und Gedichte schrieb, anstatt den Koran auswendig zu lernen. Oft ging sie hinaus auf die Felder außerhalb des Dorfes, wanderte über die Wiesen, streifte durch die Olivenhaine oder beobachtete von einem Hügel aus die Schafsherden beim Weiden. Immer nahm sie einen Zeichenblock mit, setzte sich irgendwann auf den Boden oder einen Baumstumpf und brachte ihre Eindrücke auf das Papier. Eine einzelne Blume, ein knorriger Olivenbaum, ein Mensch hinter einem Zaun, eine unendliche Landschaft. Vielfache Einsamkeit.

Es hatte sich bereits zu dieser Zeit abgezeichnet, dass sie nicht den traditionellen Weg heranwachsender Frauen in einem kurdischen iranischen Dorf gehen würde, der die frühe Heirat, das Kinderkriegen, den Gehorsam und die Ergebenheit einem Mann gegenüber vorsah, den sie nicht liebte.

Als es dann so weit war, hatte sie die Dinge selbst in die Hand genommen und Mohammad, den sie seit ihrer Kindheit kannte, gebeten sie zu heiraten. Beide hatten Gemeinsamkeiten. Die Musik, die Kunst, das freie Denken. Und Mohammad wusste, dass sein innerstes Geheimnis, das er Faribaa schon Jahre zuvor anvertraut hatte, bei niemandem besser aufgehoben war als bei ihr. Daher musste er nicht lange überlegen, um das Angebot anzunehmen.

Zwischen beiden gab es die Abmachung, dass die Ehe sie nicht daran hindern sollte, jedem ein Leben jenseits der Verpflichtungen auf dem Papier zu ermöglichen. Eben das zu tun und zu sein, was jeder tun und sein wollte.

Sie zogen nach Teheran, wo Mohammad genug verdiente, damit sie ein angenehmes Leben führen konnten. Er spielte in Restaurants, komponierte für Sänger und wurde von Zeit zu Zeit als Studiomusiker engagiert. Er schrieb auch Lieder für Faribaa, die sie auf privaten Festen singen konnte. In der Öffentlichkeit durfte sie das nicht. Sie war eine Frau, und bis eine Frau im Iran öffentlich singen durfte, waren viele Hürden zu nehmen. Und etliche Geschenke an einflussreiche Männer zu geben.

Zur Fotografie kam Faribaa eher zufällig, als Mohammad ihr eine Kamera zum Geburtstag schenkte. Nachdem sie ein wenig herumexperimentiert und zwei Dutzend Bücher über Fotografie gewälzt hatte, fand sie Gefallen an den Ergebnissen und nannte sich fortan Fotografin. Schließlich musste man ja irgendetwas sein. Faribaa war es, um sich in der Welt zu verorten.

Sie und Mohammad hätten sicher so weitermachen können. In den schmalen Lücken der starren Regeln der Mullahs einen Hauch von Bohème leben. Aber Faribaa wollte mehr. Sie wollte nicht nur die Rolle der Ehefrau ihres kreativen Mannes einnehmen, sie wollte selbst kreativ sein. Sie wollte ein anderes, ein selbstbestimmtes Leben. Und um dies zu verwirklichen, um sich vollends aus den Traditionen ihres Landes zu befreien und sich zu emanzipieren, musste sie radikaler sein, wusste sie. Sie musste den Iran verlassen.

„Was hältst du davon, nach Istanbul zu gehen?“, fragte sie eines Abends Mohammad, als sich beide eine TV-Serie anschauten. „Zumindest für eine Weile.“

„Warum?“, fragte Mohammad, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.

„Ich könnte dort als Fotografin arbeiten.“

„Du arbeitest doch schon als Fotografin.“

„Nicht wirklich. Ich habe zwar eine Webseite, aber niemand kauft meine Fotos, weil sie ohne Aussage sind. Sie sind nur Dekoration.“

„Dann mach doch Fotos mit Aussage.“

„Du weißt, dass das hier im Iran nicht möglich ist. Die Revolutionswächter sind überall. Und wir haben nicht so viel Geld, um die richtigen Leute zu bestechen.“

Mohammad starrte weiter auf den Bildschirm und steckte sich Pistazien in den Mund.

„Mohammad!“, sagte Faribaa jetzt lauter und stieß ihren Mann leicht an der Schulter an. „Ich meine es ernst! Du könntest dort auch freier leben.“

Jetzt drehte Mohammed sein Gesicht zu Faribaa, von seinen Lippen fielen ein paar Pistazienkrümel. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, sagte er. „Interessant.“

„Als Musiker kannst du überall auf der Welt arbeiten“, fügte Faribaa lächelnd hinzu. „Lass es uns ausprobieren.“

„Das muss gut geplant werden.“

„Dann fangen wir doch damit an!“

Zwei Monate später zog Faribaa mit Mohammad nach Istanbul um.

Faribaa war auf der Suche. Istanbul war ein erster Schritt, doch sie war entschlossen, noch weitere Schritte zu gehen. Viele weitere. Vielleicht nach Europa? Nach Frankreich oder nach Deutschland? Dort hatten die Frauen die gleichen Rechte wie die Männer!

Europa aber war Mohammad zu fremd. Dort würde er die Inspiration missen, die er für seine Musik brauchte, sagte er. Seine Musik war die des Irans, des Orients, und der war weit weg von Europa.

Also ein Weg ohne Mohammad? Er würde sie gehen lassen, da war sich Faribaa sicher. Doch wie sollte es ihr gelingen, allein nach Europa zu gehen? So viele Fragen, wie es sein könnte, wer sie sein könnte.

 

 

Harald, der Journalist, war gerade zur rechten Zeit in Faribaas Leben getreten, das jedoch nur, weil sie sich verirrte. Eigentlich suchte sie das Studio, in dem Mohammad Musikaufnahmen machte und das im selben Gebäude wie das Studio des deutschen Radiosenders lag, für den Harald arbeitete. Faribaa landete im falschen Stockwerk, in dem sie Harald antraf. Ein paar Fragen und Erklärungen später stand Harald im Musikstudio und ging seiner journalistischen Neugierde auf die Kultur der Region nach. Die zufällige Begegnung führte schließlich zu der beruflichen Zweierbeziehung, die die beiden nun auf das Feld an der syrischen Grenze gebracht hatte.

Faribaa wechselte das Objektiv, hob die Kamera vors Auge und drückte auf den Auslöser. Sie stapfte zu den Bauern, die den Boden bearbeiteten, ging in die Hocke und schoss drei, vier Fotos in schneller Reihenfolge. Dann drehte sie sich um, zoomte Levent und Richard heran, und fotografierte die beiden, ohne dass diese davon Notiz nahmen. Sie standen ans Auto gelehnt und unterhielten sich.

Sie zupfte das türkisblaue Tuch zurecht, das sie um den Kopf gelegt hatte. Das Tuch war eine Andeutung des Respekts gegenüber der muslimischen Tradition, von der sie sich bereits so weit entfernt hatte. Denn die engen Jeans und der blaue Pulli, den sie unter der offenen, gesteppten Weste trug, zeichneten sehr deutlich die Formen ihres Körpers nach. Und dies entsprach ganz und gar nicht den Interpretationen des Korans durch die Mullahs in ihrer Heimat. In Istanbul hätte sie auch das Tuch nicht getragen, aber hier, bei den syrischen Bauern und ihren Familien, ging sie den Kompromiss ein. 

Nachdem sie und Harald genug Bilder, Tonaufnahmen und ein Interview mit den syrischen Bauern gemacht hatten, fuhren sie mit Richard und Levent zur Wohnung eines der Bauern.

„Das ist ja furchtbar“, rutschte es Faribaa heraus, als sie durch die Eingangstür des niedrigen Häuschens schaute.

„Was ist furchtbar?“, fragte Richard.

„Wie sie wohnen.“

„Ja, das ist wirklich schrecklich“, sagte auch Harald.

Der Bauer Fawad, seine Frau und die fünf Kinder hausten in einem Raum, der in früheren Zeiten als eine Art Stall gedient haben mochte und lange nicht mehr benutzt worden war. Die Wände waren feucht, der Boden bestand aus festgestampfter Erde, die unter den ausgelegten, verschlissenen Teppichen hervorlugte. In einer Ecke stand ein kleiner Ofen, dessen Abzugsrohr durch eine zerschlagene Fensterscheibe führte, deren Reste durch eine transparente Plastikfolie abgedichtet waren. Zwei Einzelmatratzen waren an die Wand gelehnt, zwei weitere lagen auf dem Boden – für die Besucher, die Gäste aus Deutschland, der Türkei und dem Iran, damit diese sich setzen konnten.

Faribaa und die anderen zogen vor der Tür die Schuhe aus und nahmen Platz. Fawad blieb stehen und sagte etwas zu seiner Frau, die nach draußen ging und in einer angedeuteten improvisierten Küche an der äußeren Hauswand damit begann, Tee zuzubereiten. Die zwei jüngsten Kinder, blass und unterernährt, blieben dicht bei ihr und hatten die kleinen Hände in ihre Schürze gekrampft, als könnte die Mutter jeden Augenblick davonrennen.

  Harald blickte zu Levent und bat ihn zu übersetzen, dass er sehr dankbar sei, dass der Bauer ihm ein Interview auf dem Feld gegeben hatte. Es folgten einige Höflichkeiten und dann noch weitere Fragen. Auch an die Frau, als sie den Tee brachte.

Seit wie vielen Jahren leben Sie in Elbeyli?

Seit vier Jahren. Die beiden jüngsten Kinder sind hier geboren.

Woher sind Sie gekommen?

Aus Aleppo.

Haben Sie noch Familie dort?

„Ja, meine Eltern und zwei Schwestern“, sagte Fawad. Ein Bruder hatte sich den Rebellen angeschlossen, ein anderer Bruder war tot.

„Ja“, sagte auch seine Frau. „Mein Vater, meine vier Schwestern und drei Brüder.“ Die Mutter war tot.

Wovon leben Sie?

Vom Acker, auf dem Paprikaschoten wachsen.

Wollen Sie wieder zurück nach Syrien?

Ja, wenn der Krieg vorbei ist.

Fragen und Antworten fürs Radio, für die Menschen in Deutschland, damit die einen Eindruck vom Leben der Flüchtlinge bekamen.

Denn in Deutschland hatten sie Angst vor den Flüchtlingen, vor Männern mit Bärten und Frauen mit Kopftüchern, vor dieser Invasionsarmee aus dem Orient, die den deutschen Sozialstaat besetzte, den Deutschen die Arbeit stahl, Moscheen baute und womöglich Terroristen für den IS ausbildete. In einigen Teilen Deutschlands ging es der Wirtschaft und den Menschen nicht so gut, da kam dieses Feindbild gerade recht, auf dem man allerlei Schuld für die eigenen Probleme abladen konnte. Das hatte früher schonmal gut geklappt.

Im Haus des Bauern dagegen bot man einem Ankömmling Essen und Trinken an, woher er auch immer kommen, wie wenig der Bauer auch immer haben mochte. Seine Frau hatte neben dem Tee in Gläsern auch eine ungeöffnete Packung mit Keksen gebracht. Sie fragte, ob die Gäste Kekse essen wollten, aber Levent lehnte dankend ab. Es würden andere Gäste kommen, für die diese symbolische Versorgung angemessener erschien.

Die Besucher tranken den dampfenden Tee, stark und dunkel, während die Gespräche den Raum füllten. Faribaa sprach in gebrochenem Arabisch mit der Frau über ihre Alltagssorgen, von Frau zu Frau sozusagen, und machte Fotos. Die Kinder, alle barfuß, scharten sich um sie und hatten Spaß dabei, sich auf dem kleinen Bildschirm der Kamera selbst zu betrachten.

Die anderen sprachen über Ernteerträge, Marktpreise und andere Dinge, die sich in Zahlen ausdrücken ließen, sozusagen von Mann zu Mann, und Harald machte sich bei eingeschaltetem Mikrofon Notizen. Levent übersetzte. Sein Kopf zuckte hin und her, immer wieder rückte er seine Brille zurecht. Er gestikulierte, erklärte, fragte nach und ergänzte mit eigenem Wissen, wenn es nötig war.

Eine Frau erschien im Türrahmen, auf dem Arm ein vielleicht zweijähriges Kind, an der Hand einen kleinen Jungen. Sie nickte grüßend in den Raum hinein, mit Fragen in den Augen. Fawad deutete auf die Besucher und erklärte ihr gestenreich die Umstände.

„Wer ist das?“, fragte Harald.

Levent übersetzte ins Arabische, deutlich wortreicher und mit einem höflichen Lächeln. Fawad nickte und antwortete anstelle der Frau, während die Gäste am Tee nippten.

„Sie ist auch aus Aleppo“, sagte Levent, als der Bauer fertig war. „Ihr Mann ist auf der Flucht vor sechs Monaten gestorben. Sie war allein mit ihren beiden Kindern. Sie hatte nichts. Kein Geld, keine Arbeit, keinen Besitz. Fawad hat sie als seine zweite Frau angenommen.“

„Er hat eine Zweitfrau?“, fragte Harald. Die Überraschung stand ihm im Gesicht. „Er hat doch selbst kaum etwas zu essen!“

„Ohne Mann war sie schutzlos“, erklärte Levent. „Er hat sie zu ihrem eigenen Schutz als zweite Frau angenommen.“

Harald schaute ungläubig. „Und seine … Erstfrau hat das akzeptiert?“

„Ja“, antwortete Levent wie selbstverständlich. „Dort, wo sie herkommen, macht man das so. Auch anderswo im Orient.“

„Ist das legal?“

„Sie leben zusammen. Natürlich haben sie nicht wirklich geheiratet. Bigamie ist in der Türkei verboten. Aber es ist eine Abmachung, ein Vertrag. Der Mann hat eine Verpflichtung übernommen. Und alle sind einverstanden.“

„Ah ja.“ Harald nickte verstehend und notierte fleißig. „In Deutschland kann man auch noch Verträge per Handschlag machen“, sagte er. „Aber ich glaube, das geht nur im Handwerk.“

„Aber man könnte auch mit mehreren Partnern leben, wenn man wollte, oder?“

„Nun ja.“ Harald nickte und wog nachdenklich den Kopf. „Im Prinzip wäre das möglich.“

„Ist also gar nicht so anders als hier oder in Syrien“, meinte Levent lächelnd.

Eine Weile noch redeten sie über den Krieg, die Flucht und die neuen Lebensumstände, während Faribaa unaufdringlich ihre Fotos schoss. Sie fing die Gesichter ein und mit ihnen die Geschichten, die sie erzählten. Da war Erschöpfung, Leid, Trauer, Furcht. Und ein kurzes Aufblitzen der Freude im Lächeln der Kinder, wenn sie für einen Moment Krieg und Flucht vergaßen.

 Schließlich erhoben sich die Besucher und verabschiedeten sich vom Bauern und seinen Frauen. Vor dem Häuschen wartete der Wagen, der sie zurück nach Gaziantep bringen sollte. Sie machten noch einen kleinen Umweg zu der Familie, die Probleme mit der Geldkarte hatte, und Levent tauschte die Karte aus. Auf seinem Tablet trug er die Änderungen ein.

„In Deutschland kann man sich gar nicht vorstellen, wie die meisten Flüchtlinge leben müssen“, sagte Harald nachdenklich, als sie Elbeyli hinter sich ließen. 

„Könnt ihr solchen Familien keine bessere Unterkunft besorgen?“, wandte sich Faribaa an Richard.

Richard, der auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich zu ihr um. „Das würden wir gerne“, erwiderte er. „Aber es fehlt das Geld.“

„Im Iran gibt es auch Armut, aber so etwas wie hier habe ich dort noch nicht gesehen.“

„Kommst du aus Teheran?“

„Nein, aus einem kleinen kurdischen Dorf nicht weit von der Grenze zur Türkei. Ich habe dort bis zu meiner Heirat mit Mohammad gelebt.“

Faribaa saß am Fenster auf der Rückbank hinter dem Fahrer und beobachtete Richard, der sich immer wieder umwandte, um die Fragen zu beantworten. Von Zeit zu Zeit hob sie die Kamera und machte Fotos aus dem Fenster heraus, aber auch – ohne dass jemand Notiz davon nahm – von Richard, indem sie nicht durch die Kamera schaute, sondern aus der Hüfte schoss. Sie fühlte sich angezogen von Richard, wenn er auch wesentlich älter war als sie. Sie mochte seine Authentizität, mit der er seine Arbeit machte, und sein Engagement erschien ihr echt. Er war, was er tat.

Und seine Augen gefielen ihr. Sein Gesicht mochte noch so müde und faltig, sein Bart noch so stoppelig und angegraut sein. Die Augen wirkten wach und jung. Auch sein Körper schien sich dem Anrennen der Zeit entgegenzustemmen. Die Bewegungen waren dynamisch, der Bauchansatz hielt sich in Grenzen. In seinem Alter konnte man ihm ein paar kleine Reserven zugestehen.

Faribaa wollte mehr erfahren über Richard. Er sprach anders als sie, dachte anders als sie und er war ganz und gar anders als sie. Vor allem ganz anders als die Männer im Iran oder in der Türkei. Sie spürte eine bisher unbekannte, unbestimmte Verlockung, mental wie körperlich. Und sie spürte eine Notwendigkeit, dem nachzugehen.

Ihre Gedanken kreisten um Möglichkeiten, wie sie es anstellen könnte, mit Richard allein zu sprechen. Sie hatte seine Visitenkarte. Sie konnte ihn von ihrem Hotelzimmer aus anrufen.

Natürlich waren da ein paar Unwägbarkeiten. Vielleicht wartete zu Hause seine Frau oder Freundin auf ihn. Oder er fand sie nicht attraktiv. Oder waren ihre Gedanken einfach nur schlichte Tagträumereien, hinter denen sich ihre verborgenen Wünsche und Sehnsüchte versteckten?

3

Yehia lag auf dem Bauch und spähte durch das Loch in der Hauswand. Er konnte etwa zweihundert Meter der Straße unter ihm überblicken. Es war sein Abschnitt, und es war seine Aufgabe, an dieser Stelle keinen feindlichen Kämpfer die Straße überqueren zu lassen oder besser: jeden russischen, syrischen oder iranischen Kämpfer auszuschalten, den er ins Fadenkreuz bekam.

Durch das Zielfernrohr suchte er die türlosen Hauseingänge, verkohlten Fensterlöcher, rauchenden Ruinen und alles andere ab, das als Deckung dienen konnte. Sein Finger lag ausgestreckt über dem Abzug seines österreichischen Präzisionsgewehrs, bereit, auf einen Impuls hin einen Zentimeter nach unten zu rutschen und abzudrücken.

Auf der gegenüberliegenden Seite und ein wenig weiter die Straße hinunter lagen zwei weitere Scharfschützen wie er auf dem Bauch, seit Stunden, und warteten. Das taten sie die meiste Zeit: warten. Auf den Feind, auf eine Bewegung, einen Lichtreflex, die Rauchfahne einer Zigarette. Und wenn es so weit war, drückte man ohne zu zögern ab, spürte den harten Rückschlag an der Schulter und sah einen Menschen zusammensinken. Yehia war dafür ausgebildet worden, nicht zu zögern, wenn es darauf ankam, und nicht zu zweifeln. Denn Zweifel und Zögern waren die größten Hindernisse, die einen Scharfschützen versagen ließen.

Yehia versagte nie. Er war trainiert, im richtigen Moment weder ein Gewissen zu haben noch einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er ein Leben auslöschte. Bei Assads Armee hatten sie ihm das beigebracht.

Er war ein guter Soldat gewesen. Vier Jahre lang hatte er den Befehlen gehorcht und mehrere Spezialausbildungen durchlaufen, darunter auch die eines Scharfschützen. Die hatte er bei Sergej gemacht, einem russischen Ausbilder. Eigentlich ein ganz patenter Typ, hatte Yehia damals gedacht, der aber zu viel trank, meistens Wodka. Yehia trank keinen Alkohol.

Yehia hätte Karriere in der syrischen Armee machen können, denn er galt als loyal und vollkommen unpolitisch. Und als Alawit gehörte er zu der Bevölkerungsgruppe, die den größten Teil der politischen Ämter und der militärischen Führung besetzte. Auch Präsident Assad war Alawit.

Aber jetzt lag Yehia im zweiten Stock eines halbzerstörten Hauses ohne Dach in Ost-Aleppo und wartete und beobachtete. Mit kaum wahrnehmbaren und ruhigen Bewegungen tastete er sich durch das Zielfernrohr an den Häuserfassaden entlang. Er wusste, er hatte es mit einem ebenbürtigen Feind zu tun. Die Soldaten Assads oder Putins und die iranischen Milizen waren mindestens so gut ausgebildet wie er selbst, daher durfte er sich keinen Fehler erlauben.

Über ihm und seinem Gewehr lag ein Tarnnetz, um vor Drohnen oder Blicken aus Hubschraubern sicher zu sein. Er schwitzte, aber er wischte sich die Tropfen nicht ab. Sie rannen von seiner Stirn in die Augen und verursachten ein leichtes Brennen. Keine überflüssige Bewegung! Das war ein ehernes Gesetz. Zwar konnte er durch den dünnen Schlauch, der in seinem Mund steckte, aus einer Wasserflasche trinken, ohne mit der Hand danach greifen zu müssen, aber wenn er pinkeln musste, dann eben in die Hose. Besser als entdeckt und erschossen zu werden.

Manchmal, wenn er wusste, er würde den halben Tag oder länger fast bewegungslos auf der Lauer liegen müssen, öffnete er vorher die Hose und ließ den Schwanz herausschauen. Im Winter aber war es zu kalt dafür. Da blieb nur die Erleichterung in die Hose. Oder in eine Windel. Aber das machte kaum jemand freiwillig. 

Manche der Rebellen, die er in den letzten Jahren ausgebildet hatte, wollten dies nicht begreifen. Wie konnte man als junger und gesunder Mensch absichtlich in die Hose pinkeln? Zwei ihrer Kameraden mussten zuerst ein Beispiel geben, bevor jeder es verstand. Die beiden hatten sich sicher gefühlt in ihrem Versteck und waren aufgestanden, um sich an einer Wand zu erleichtern, und hatten wahrscheinlich nicht einmal die Schüsse gehört, die sie getötet hatten. Auch der Feind hatte Scharfschützen, und die bewegten sich nicht, solange sie auf der Lauer lagen. Nicht mal zum Pinkeln.

An einer Hausecke nahm Yehia plötzlich eine flüchtige Bewegung wahr. Ein Schatten an einer Säule, die eine Arkade getragen hatte. Für weniger als eine Sekunde. Aber dies war genug, um Yehia zu signalisieren, dass sich dort jemand versteckte.

Der Schatten tauchte nicht mehr auf. Wahrscheinlich hatte der, dem der Schatten gehörte, selbst gemerkt, dass es keine gute Idee war, bis zu dieser Ecke zu gehen, um in die Straße zu blicken. Die Sonne stand hinter ihm und sein Schatten eilte ihm voraus.

Yehia beobachtete durch das Zielfernrohr die Fassade des Hauses. Wer auch immer sich hinter der Ecke verbarg, würde nun wahrscheinlich an der Seite in das Haus eindringen und versuchen, durch eines der glaslosen Fenster zu spähen. Vielleicht würde er nicht einmal bis ans Fenster kommen, sondern weiter hinten im Raum bleiben und von dort aus auf die Straße schauen.

In den Fensterhöhlen blieb es ruhig. Im ersten Stock wehte der Rest einer Gardine, die den Blick ins Innere des Raumes behinderte. Im zweiten Stock hatte eine Granate die Fassade unter dem Fenster aufgerissen, so dass man bis an die hintere Wand des Raumes schauen konnte. Keine gute Deckung. In der dritten Etage schließlich war die Decke eingestürzt. Wahrscheinlich war der Zugang zu dieser Wohnung durch die Trümmer versperrt, aber das konnte Yehia nicht sehen.

Er entschied sich, die erste Etage im Auge zu behalten, auch wenn der wehende Gardinenrest den Blick teilweise und im Rhythmus der lauen Windstöße behinderte. Der Raum lag im Halbdunkel, doch durch das Zielfernrohr konnte er hinten links eine Tür sehen, rechts war ein Teil eines Schranks erkennbar.

„Palmyra Eins an Palmyra Vier“, raunte er in sein Sprechfunkgerät.

„Was gibt´s, Palmyra Eins?“, hörte er kaum eine Sekunde später aus seinem Ohrstöpsel.

„Bewegung in Haus Sieben“, sagte er.

„Brauchst du Unterstützung?“

„Negativ. Stand by.“

Die Sprache des Krieges war knapp, direkt und eindeutig. Keine überflüssigen Worte, keine Schnörkel in der Sprache, denn meistens musste alles sehr schnell gehen. Ein Wort konnte ein Leben retten, für einen ganzen Satz mochte es zu spät sein.

Yehias Einheit, eine Gruppe von zwölf jungen Männern, war jetzt alarmiert und bereit einzugreifen, wenn es zu brenzlig wurde. Zu ihr gehörten auch die anderen beiden Scharfschützen in der Straße, Palmyra Zwei und Drei, der Rest der Gruppe verbarg sich in einem fast unzerstörten Keller einen Steinwurf entfernt. Die meisten von ihnen ruhten sich aus, nur Palmyra Vier am Sprechfunkgerät war hellwach und würde einen Einsatz mit den anderen zur Unterstützung von Yehia leiten, wenn es notwendig werden sollte.

Die Einheit verfügte außer über drei Scharfschützen und sechs mit Kalaschnikows ausgerüsteten Kämpfern noch über einen Mann mit Granatwerfer, einen mit einem schweren Maschinengewehr und einen mit einer Panzerfaust, in dessen Rucksack noch drei weitere Sprengköpfe steckten. Der mit dem Maschinengewehr stand jetzt auf, griff aus einer Metallkiste einen Patronengurt, den er sich um den Nacken legte, und trat an das Sprechfunkgerät.

„Entspann dich“, sagte Palmyra Vier zu ihm. „Noch ist nichts passiert.“

„Hat er Kontakt?“, fragte der mit dem Maschinengewehr.

Palmyra Vier nickte. „Haus Sieben.“

In Haus Sieben nahm Yehia jetzt eine Bewegung in der ersten Etage wahr. Durch das Zielfernrohr erkannte er einen Armeestiefel, der sich durch die Tür auf der linken Seite des Raumes schob. Dann wurde der Unterschenkel des Soldaten sichtbar.

Der Soldat hielt inne. Offenbar spähte er durch den Türspalt in den Raum und durch das Fenster nach draußen. Yehias Finger rutschte ein wenig nach unten und legte sich auf den Abzug.

Nach einer halben Minute wurde die Tür nach innen geöffnet, der Soldat trat einen Schritt nach vorne und war für Yehia nun bis zum Bauch sichtbar. Davor hielten die behandschuhten Hände eine Maschinenpistole. Die Beine streckten sich, als der Soldat sich auf die Zehenspitzen stellte, um die Straße einzusehen. Dann ging er langsam seitwärts an der Wand entlang. Sein Oberkörper trat in Yehias Fadenkreuz.

Yehia krümmte den Finger um den Abzug, bis er den Widerstand spürte. In dem Moment, in dem der Soldat sich noch einmal auf die Zehenspitzen stellte, drückte er ab. Schlaff fiel der Körper in sich zusammen.

Augenblicklich stürmten zwei weitere Soldaten in den Raum, gingen am Fenster in Deckung und feuerten aus ihren Maschinenpistolen in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Hinter ihnen eilten zwei andere zu dem Erschossenen und schleiften ihn durch die Tür aus dem Raum. Yehia wusste, dass ihm nicht mehr zu helfen war.

Und er wusste auch, dass ihm nicht viel Zeit blieb, sich in Sicherheit zu bringen. Zwar feuerten die zwei Soldaten am Fenster in seine Richtung, aber es war unmöglich, seinen genauen Standort zu bestimmen. Er lag etwa einen Meter hinter dem Loch in der Wand, sein Schuss hatte ihn nicht mit Pulverdampf verraten. Doch Assads Soldaten würden seinen ungefähren Standort bombardieren lassen. Wahrscheinlich hatten sie bereits einen Funkspruch abgesetzt und das Gebäude markiert. In wenigen Minuten würde ein russischer Bomber seine lasergesteuerte Bombe über Yehia abwerfen.

Dennoch blieb Yehia ruhig. Die beiden Soldaten feuerten immer noch, verschwanden hinter ihrer Deckung, streckten die Köpfe kurz hervor, um ein paar Feuerstöße abzugeben, und duckten sich erneut weg. Das Fadenkreuz verharrte dort, wo gerade noch der Kopf eines der beiden abgetaucht war, Yehias Finger war um den Abzug gekrümmt.

Die Kugel traf den Soldaten in den Kopf, sobald er über den Fenstersims schaute und bevor er einen weiteren Schuss abgeben konnte. Er kippte nach hinten weg.

Yehia robbte zurück und rollte sich zur Seite. Mit schnellen Bewegungen raffte er das Tarnnetz zusammen, schulterte das Gewehr und kroch durch ein Loch in der Seitenwand in den angrenzenden Raum. Dann richtete er sich halb auf und lief geduckt durch weitere Räume, bis er in ein Treppenhaus gelangte. Dort stieg er ins Erdgeschoss hinunter und rannte durch ein paar Häuser, durch deren Wände man einen Fluchtweg geschlagen hatte, bis er zu dem Haus gelangte, in dessen Keller sich seine Einheit verbarg. Als er im Keller eintraf und wortlos seine Kameraden grüßte, griff Palmyra Vier zum Funkgerät und rief die anderen beiden Scharfschützen zurück. Dann warteten sie und horchten.

„Wie viele waren es?“, fragte Palmyra Vier leise.

„Ich habe fünf gesehen“, sagte Yehia. „Jetzt sind es nur noch drei.“

Palmyra Vier nickte und presste die Lippen zusammen. Wenige Augenblicke später hörten sie hastige Schritte die Treppe herunterkommen und ein in Staub gehüllter junger Mann mit Gewehr trat in den Kellerraum. Palmyra Zwei. Er setzte sich außer Atem auf einige aufgeschichtete Trümmerteile und nickte den anderen kurz zu.

 „Palmyra Drei, bitte Status“, sagte Palmyra Vier ins Funkgerät. Er musste seine Bitte zweimal wiederholen, bevor er eine Antwort bekam.

„Ich habe mich ein Stück nach Osten abgesetzt“, sagte Palmyra Drei. „Zu euch schaffe ich es nicht mehr. Müsste reichen.“

Mit müsste reichen meinte er, dass er sich außerhalb eines Bombeneinschlags befand. Wahrscheinlich. Denn man wusste nie, wie viele Bomben die feindlichen Piloten abwerfen würden und welchen Radius sie unter Beschuss nahmen. Aber Yehia war zuversichtlich, dass Palmyra Drei in Sicherheit war. Er hatte ihn ausgebildet.

Das weit entfernte Rauschen von Triebwerken wurde hörbar. Die Einheit kannte das schon. Die meisten Angriffe der Rebellen wurden umgehend mit ein paar Bomben beantwortet. Daher musste alles sehr schnell gehen. Angreifen, zurückziehen, in Deckung gehen vor den russischen Jagdbombern.

Die donnerten jetzt über die Stadt hinweg, und einen Moment später ließen zwei dicht aufeinanderfolgende Explosionen die Kellerwände erzittern. Von der Decke rieselte Putz. Yehia wusste, dass das Haus, in dessen zweiter Etage er vor wenigen Minuten noch auf dem Bauch gelegen hatte, nicht mehr existierte.

Sie warteten auf einen zweiten Angriff, aber die Flugzeuge kamen nicht zurück.

„Zwei Bomben?“, fragte Yehia mit hochgezogenen Augenbrauen. „Mehr bin ich ihnen nicht wert?“

Die anderen lachten, der Verstaubte stand auf und schlug ihm auf die Schulter. „Das wird ihnen zu teuer“, sagte er. „Wenn wir so weitermachen, werden wir Russland noch in den wirtschaftlichen Ruin treiben.“

Ihre Erleichterung machte sich Luft. Sie machten Witze und tranken Wasser aus Metallflaschen. Palmyra Vier griff wieder zum Funkgerät.

„Palmyra Drei, Status bitte“, sagte er.

„Ich lebe noch“, kam es sofort zurück. „Aber das hat ganz schön geknallt.“

„Schön, dass du noch lebst. Irgendwelche Feindbewegungen?“

„Vor dem Knall habe ich drei Soldaten gesehen. Sie haben sich aber zurückgezogen. Keine weitere Feindbewegung.“

„Gut“, sagte Palmyra Vier. „In einer Stunde an Point Sunshine. Schaffst du das?“

„Point Sunshine, eine Stunde“, sagte Palmyra Drei. „Ja, schaffe ich.“

Yehia schaute seine Männer an und nickte ihnen ermutigend zu. „Machen wir, dass wir hier rauskommen.“

Sie befanden sich in einer Art Niemandsland mitten in Aleppo. Die Rebellen hielten den Osten der Stadt, die syrischen Truppen den Rest. Zwischen den Fronten gab es einige Straßen, die mal von den Rebellen, mal von Assads Armee besetzt wurden, ohne dass es einen endgültigen Sieger gab. Täglich schwärmten sie in dieses Niemandsland aus, lieferten sich Gefechte mit dem Feind, zogen sich wieder zurück oder blieben ein paar Tage und wiederholten das Ganze, ohne dass es einen merklichen Fortschritt gab. Aber auch das Fehlen eines Fortschritts feierten sie wie einen Sieg, denn solange sie Ost-Aleppo hielten, solange war Assad der Verlierer.

Drei Stunden später erreichten sie ein fast vollständig zerbombtes Gebäude, das einmal Teile der Stadtverwaltung beherbergt hatte. Sie stiegen über die Trümmer bis zu einem Krater, an dessen Rand eine schmale, mannshohe Öffnung ins Innere der Ruine führte. Auf beiden Seiten lugten hinter aufgeschichteten Steinen die Mündungen von zwei Kalaschnikows hervor.

„Einheit Palmyra“, sagte Yehia laut. „Die Geschichte wird uns Recht geben.“ Das war die Parole des Tages.

„Die Geschichte wird neu geschrieben“, kam es von den Steinen zurück, und zwei grinsende junge Männer schauten hervor, einer mit einem grünen Stirnband, der andere mit einer blauen Baseballkappe.

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