Ich war erst sechs, als beinahe schon einmal alles zu Staub zerfallen wäre und dein Flüstern aus dem dunklen Meer der Einsamkeit an mein Ohr drang. Es war nur ein Wispern, sanft wie der Wind, der durch die kahlen Bäume zieht, und doch hatte es die Kraft eines Orkans.
»Du brauchst mich«, höre ich dich heute noch sagen. Wie ein rettender Anker, der mich fest im Hafen hält, dem Schwanken und Tosen des Ozeans trotzend. Du zogst mich an dich, kleidetest mich in Hoffnung, als alles Schlechte freigesetzt wurde und ich in Einsamkeit zu versinken drohte.
Doch dein Wind ließ nach, das Hoffnungskleid zerschliss und alles, was ich zu greifen versuchte, war die Leere in meinem kalten, dunklen Zimmer. Ja, deine Stimme schwand, war verbannt aus meinem Unterbewusstsein und ich gefangen, zurückgelassen im Strudel der Zeit, der Gnadenlosigkeit des Seins.
Da war kein Gemeinsam. Kein Wir. Nur Papier, auf das ich dich seitdem banne. Der Held aus meinem Kopf, der Freund, dessen Antlitz ich nie gesehen habe und doch so genau kenne.
Sag, wo bist du jetzt, nach all der Zeit? Lark, mein Retter, der mich aus den Schatten befreit?
An diesem Tag sehe ich es zum ersten Mal. Dasselbe Gesicht, das ich täglich auf Papier banne. Ich kenne jede seiner Ecken und Kanten: die stechenden Augen, den breiten Mund, die Lippen stets zu einem arroganten Lächeln verzogen.
Ich bin gerade dabei den Kopierer aufzufüllen, da grinst er zur offenen Tür ins Büro herein, sein Blick in meinem verankert, reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Es ist nur ein kurzer Moment. Der Anzug, den er trägt, brennt sich in mein Gedächtnis, als er schnellen Schrittes weiterzieht und die Welt unter mir ins Schwanken gerät.
Mit einem Knall rauscht das Kopierpapier zu Boden, zerstreut sich über das Parkett und wird mit dem nächsten Luftzug durch die offenen Fenster zu einem chaotischen Wirbelwind. Doch ich habe keine Augen mehr für das Chaos und die Protestrufe meiner Kollegen. Ach, was sage ich – Vorgesetzten. Ein Typ wie ich würde nie auf der Stufe der anderen landen. Die Hoffnung habe ich längst aufgegeben. Also ignoriere ich ihre Rufe, springe wie gebannt zur Tür hinaus, in der Hoffnung, einen weiteren Blick auf ihn zu erhaschen. Ich sehe noch, wie er das Besprechungszimmer betritt, sich die Tür vor dem schwarzen Anzug schließt, und ich bleibe zurück, nicht sicher, ob mir mein Kopf da gerade einen üblen Streich spielt. Wundern würde es mich nicht, nach dem, was Julie mir gestern erst offenbart hat. Das Blut rauscht in meinen Ohren und verschmilzt mit dem Pochen meines Herzens zu einem Takt, den ich die kommenden Stunden immer wieder hören würde und der nun von Mr. Calloways eiskalter Stimme unterbrochen wird.
»Drei Kaffee, Branford.« Eine Sekunde später verschwindet er hinter der Tür. Kein Danke, nicht mal ein Blick – und ich funktioniere.
Mit zittrigen Fingern fülle ich die Tassen und balanciere sie auf einem Tablett zum Besprechungsraum. Meine Nerven liegen blank. Jetzt nur nichts verschütten.
Das Beben in mir nimmt zu, als ich den Raum betrete. Der Typ von eben sitzt mit dem Rücken zu mir und die Zeit bleibt stehen.
Lark, sag, bist du das?
Beinahe hätte ich nach seiner Schulter gegriffen, ihm die Frage ins Ohr geflüstert, gebetet, dass er es ist. Stattdessen stelle ich das Tablett viel zu schnell ab, weil mein Hoffen und Bangen stärker ist als die Vernunft, doch kein Tropfen schwappt aus den Tassen, die ich jetzt verteile. Dabei lasse ich den eisigen Blick meines Chefs über mich ergehen, genau so wie das angestrengte Lächeln seiner Assistentin, und schon springt mein Blick zu ihm – ganz automatisch. Magnetisch. Wie Nord und Süd. Alle Hoffnung der letzten zwanzig Jahre in diesem Blick vereint. Doch meine Aufregung rauscht in den Keller. Nein, das ist er nicht. Nichts in diesem Gesicht hat etwas mit Lark gemein. Ich blinzle, ziehe das leere Tablett an mich und schwanke zurück.
Ein Tag wie jeder andere. Grau und trostlos wie die Nebelschwaden vor den Fenstern – kein Blick hindurch, nur mein Spiegelbild, das ich schon lang nicht mehr wiedererkenne.
Was ich eben sah – was ich geglaubt habe zu sehen – war nichts als Einbildung, Wunschdenken.
Mit eingezogenem Kopf gehe ich zurück ins Atelier. Ein Großraumbüro – zehn Illustratoren und der Idiot, dem jeder auf der Nase herumtanzt. Dent, der Chef-Illustrator, bemerkt mein Kommen lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue, ehe er sich wieder über das Grafiktablett beugt und das Kopierpapier noch unter seinen Füßen tanzt.
Ich seufze schwer und mache mich an die Arbeit, sammle die 2500 Blatt unter belustigten Grunzgeräuschen und herablassenden Blicken der anderen auf.
Ja, heute ist ein Tag wie jeder andere.
Wäre es doch nur mein Letzter.
***
Zweiundzwanzig Uhr zweiundzwanzig – der zweihundertste Burger heute.
Brötchen, Patty, Ketchup, Senf, Gurken, Brötchen. Einpacken. Weg damit.
Brötchen, Patty, Ketchup, Senf, Gurken, Brötchen. Einpacken. Weg damit.
Brötchen, Patty, Ketchup, Sen…
Das Handy in meiner Hosentasche vibriert und meine Gedanken wandern direkt zu Julie, zu Dingen, die mir einen Stich ins Herz versetzen. Dinge, über die ich jetzt nicht nachdenken will. Also mache ich schneller. Funktioniere wie ein Uhrwerk. Schmeiße ein paar weitere Pattys auf den Grill, Fritten ins Öl, ein Blick auf die Uhr und wieder zurück zu den Burgern.
Brötchen, Patty, Ketchup, Sen…
»Keegan?« Cliff, der Restaurantmanager, reißt mich aus dem Trott. »Du nimmst doch die Metro.«
Ich nicke und reibe meine öligen Finger an der Schürze ab, als er mir einen Zettel entgegenstreckt.
Lass mich raten. Wieder ein Gefallen? Das wäre dann der vierte diese Woche.
»Mach Schluss für heute und fahr den Fiat in die Werkstatt an der Dreiundsiebzigsten«, erklärt er. »Die wissen Bescheid. Meinten, dass er morgen schon durch ist. Bring ihn dann einfach wieder mit. Klar?«
»Klar«, antworte ich. Es klingt schwach in meinen Ohren. Als hätte ich bereits drei Leben gelebt. Drei Chancen verpasst, auch nur ein einziges Mal meinen verdammten Mund aufzumachen und Cliff zu fragen, wo eigentlich die Kohle bleibt. Doch auch jetzt schweift mein Blick nur über die Adresse, als ich die Notiz sowie Schlüssel und Fahrzeugschein entgegennehme.
Ein Gefallen gegen eine freie Nacht. Zeit, mich Wichtigerem zu widmen. So sehr es mich auch ankotzt: Bei dem Gedanken juckt es mir bereits in den Fingern.
Schnell baue ich den letzten Burger zusammen, packe ihn ein, entledige mich der Schürze und hetze aus dem Diner. Raus aus dem Drecksloch, raus aus dem Trott.
Erst als ich die kalte Nachtluft einsauge, fällt mir das Atmen nicht mehr so schwer.
»Ich komme, Lark«, flüstere ich in die Eiseskälte des Wagens, als ich den Motor anstelle und ihn die drei Blocks runter zur Werkstatt fahre. Der Hof ist hell erleuchtet. 24-Stunden-Service, schreit ein neonpinker Schriftzug allen Vorbeifahrenden entgegen. Ein Typ im Overall nickt mir zu und gibt mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich kurz warten solle. Nach ein paar Sekunden drängt sich der widerwärtige Bratgeruch wieder in meine Nase, also steige ich aus und warte im Freien. Die Kiste ist auf dem kurzen Weg sowieso nicht richtig warm geworden.
Ich starre ins Leere, ab und zu auf die weißen Wolken, die die stechende Luft beim Ausatmen formt, nur um mich erneut in der gedämpften Geräuschkulisse der Stadt zu verlieren, mich in mir selbst zu verlieren.
Mein Handy vibriert. Einmal, zweimal. Automatisch greife ich danach. Den schweren Fels, der mein Herz dabei überrollt und mich einhalten lässt, kann ich nicht ignorieren. Beinahe hilfesuchend lasse ich den Blick schweifen, als suche ich nach jemandem, der die Nachrichten für mich lesen, dieses Leben an meiner Stelle für mich weiterleben könnte. Doch außer fernen Motorengeräuschen, mechanischem Surren und dumpfen Gesprächen aus der Werkstatt ist da niemand, also schalte ich das Display an. Ganz oben ist eine Nachricht von Mom.
›Sag deinem bescheuerten Vater, er kann sich die Sticheleien über seine Schwester sparen. Das Miststück war heut im Laden. Hat sich aufgeführt, als gehöre der Schuppen ihr.‹
»Sag es ihm selbst«, seufze ich in die Nacht hinein und drücke die Nachricht weg.
›Frau Mama beteiligt sich nicht an den Kosten.‹ Mein Vater. ›Es fehlen noch hundert Dollar. Morgen steht der Gerichtsvollzieher auf der Matte, wenn ich sie nicht hab. Woher soll ich die nehmen, bitte schön?‹
»Und das weißt du erst seit heute?«, flüstere ich ungläubig und sehe ihn vor mir, eine Zigarette nach der anderen rauchend, den Schrank voller Alkohol, immer Geld für Nebensächlichkeiten, nie für Wichtiges.
Mein Arm bebt, so fest umgreife ich das Handy. Ich schreibe nichts. Habe nichts. Kann sowieso nichts tun. Kurz schließe ich die Augen, sehe den Abgrund auf mich zukommen, der mein Herz schwer macht, nach unten drückt.
Die nächste Nachricht ist von Julie – ein Name, den ich einfach nicht überlesen kann, egal wie sehr ich mich auch anstrenge.
Julie …
So viele Baustellen …
Es klingelt in meinen Ohren. Ich will die Nachricht nicht sehen. Will ihre Entschuldigung nicht lesen. Will sie vergessen. Einfach nur …
»Alles klar«, höre ich eine Stimme hinter mir und fahre herum. Röchelnd kommt der Typ im Overall angestapft und nimmt mir Schlüssel und Fahrzeugschein ab. »Morgen um sechs, Kleiner.«
Kleiner. Ich nicke nur. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, denke ich, aber verkneife mir ein Kommentar. Stattdessen mache ich mich auf den Weg zur Metro, tauche ein in die graue Masse ausdrucksloser Gesichter, toter Fratzen in toten Körpern.
Sechsundzwanzig. So jung und doch so kaputt. Gefühlt krieche ich meinem eigenen Grab entgegen – alt, gebrechlich, nicht lebensfähig. Wie viele Meter fehlen noch? Es fühlt sich an, als wäre ich schon viel zu lang ein selbstständiger Teil dieser traurigen Welt voller Baustellen. Baustellen anderer und meine eigenen.
Mr. Calloway sieht keine Zukunft für mich als Illustrator in der Agentur und für Cliff bin ich nichts weiter als eine billige Maschine, die man nur gut ölen muss.
Baustellen auf dem Konto, Baustellen in meinem Kopf und auch hier die reinste Baustelle, denke ich, als ich das schwache Licht im Flur meiner Wohnung anknipse und mir der Geruch der schimmligen Wände in die Nase dringt. Dennoch atme ich zum ersten Mal komplett durch. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich an die Eingangstür und warte. Nur ein, zwei Sekunden, lege die Maske ab, die ich getragen habe und die meine Gesichtsmuskeln aufschreien lässt.
Nie Ruhe, nie ich selbst sein.
Nur funktionieren.
Nur gehorchen.
Nur Ja und Amen sagen.
Als ich das Wasser im Bad aufdrehe, warte ich die üblichen drei Sekunden, bis es klar ist und ich es mir ins Gesicht schmeiße. Von meinem Anblick im Spiegel reiße ich mich sofort wieder los, zu ausgemergelt ist die Fratze, die mir entgegenstarrt – jämmerlich bleich, dunkle Schatten unter den Augen. Meine Hose und das Shirt sind noch voll vom Gestank des Fleisches, der an mir klebt. Wie Blut eines frisch erstochenen Schweins, sein Angstschweiß, kurz bevor es die Augen für immer geschlossen hat. Ich habe das Gefühl, dass sich der Geruch langsam in meine Haut frisst, und reiße alles von mir, wasche den Tag ab, Worte und Blicke meiner Kollegen – sei es in der Agentur oder im Diner. Wasche den aushöhlenden Schmerz fort, dieses leere Gefühl in der Brust, wenn ich auch nur eine Sekunde zu lang an Julie denke. Ich bin sie so satt, so unendlich müde.
»Wird dir das Gejammer auch manchmal zu viel, Lark?« Ich schnaube, als ich mir seine Antwort vorstelle, und schüttle den Kopf. »Tut mir leid, mein Freund.«
Als das Wasser kalt wird, stelle ich es ab, schlüpfe in Jogginghose und T-Shirt und begebe mich mit einer Schüssel Instant-Nudeln direkt an den Schreibtisch. Das penetrante Blinken des Anrufbeantworters ignoriere ich, genauso wie das Flackern der Schreibtischlampe oder einfach alles hier drin, das mich an Julie erinnert. Da ist nur eine Sache, die ich jetzt will. Dringend brauche …
»Hallo, Lark«, sage ich, als ich die neuesten Zeichnungen aus der obersten Schreibtischschublade nehme, und lächle zum ersten Mal wieder seit Stunden.
Da ist es, das Gesicht, das ich seit Jahren zeichne und von dem ich glaube, es heute in der Agentur gesehen zu haben. Wunschdenken. Lark, der Protagonist meines Graphic Novels, ist nicht real, zumindest nicht das Bild von ihm, das ich mir seit Kindertagen ausmale. Optisch ist er das krasse Gegenteil von mir: muskulös gebaut, hochgewachsen, aufrechte Haltung. Sein Wille so eisern wie sein Kohleblick und das Haar so golden wie Weizenfelder im Abendlicht, ungezügelt wie der Wind und von tausend Schattierungen durchsetzt – der Held eines Epos’. Ich dagegen bin nichts weiter als die Witzfigur meiner eigenen Tragödie.
Ich seufze schwer, sehe den Abgrund abermals vor mir. Dieses schwarze, klaffende Monstrum. Ich rausche darauf zu. Mit jedem Gedanken ein bisschen mehr. Als ich es merke, zwinge ich mich ins Hier und Jetzt zurück – an den Schreibtisch, das Papier vor mir. Lark. Ja, sein Gesicht ist nicht real, aber seine Stimme war es, damals in der Dunkelheit. Wie ein rhythmisches Tröpfeln hat sie sich in meinen Kopf geschlichen. Erst kaum wahrnehmbar, dann ganz klar. Nie werde ich ihren Klang vergessen, niemals leugnen können, dass sie da war. Dass seine Worte da waren, die mich eingehüllt haben wie ein benebelnder Schleier, erst samtig weich, dann rau und energisch, allumfassend, hypnotisierend – schlichtweg unvergesslich. Selbst als mein Fieber abklang und er längst verstummt war, sprach ich weiter zu ihm, gab ihm einen Namen, ein Gesicht. Er all die Jahre bei mir, ich nie allein.
Meine Schläfe pocht. Ich weiß, ich kann so viel mehr sein, wenn ich tue, was ich will, und mache, was ich kann. Das Zeichnen ist ein Hobby von mir. Ich bin ganz gut. Nicht gut genug für Calloway, wie es scheint, doch ein paar Leute online finden Gefallen daran. Immerhin.
»Ich dachte, ich hätte dich heute gesehen«, sage ich und beginne zu zeichnen. Einen Strich nach dem anderen. Die Augen … Immerzu beginne ich bei seinen intensiven Augen, die die Kraft haben, das Dunkel aus meinem Herzen zu verbannen, den schwarzen Abgrund von mir zu drücken, nur heute scheint es nicht zu klappen. Trotzdem versuche ich es, zeichne um mein Leben, zeichne, um zu vergessen, zeichne immer weiter, immer schneller. Bis mein Blick plötzlich verschwommen und ganz glasig ist.
Warum Lark? Wieso jetzt? Jetzt ist nicht die Zeit an Julie zu denken.
Doch ich sehe sie, überall. Sehe, wie sie mit meinem viel zu großen Shirt im Slip auf der Couch liegt und Playstation spielt. Irgendein Spiel, das sie mal angeschleppt hat, weil ihr meine immer zu schwer waren. Sehe die zerbrochenen Latten im Bett, als wir dort noch übereinander hergefallen sind – anfangs – und es später nicht mal mehr von der Couch heruntergeschafft haben. Jedes Mal eine schnelle Nummer, bei der das Herz fehlte und nach der wir uns, ohne ein Wort zu sprechen, wieder in Nebensächlichkeiten verloren. Zumindest waren das Julies Worte.
Das Zeichnen hat sie nie verstanden, doch es koexistierte mit uns, immer. Warum also? Der Griff um meinen Stift wird härter, das Zittern im Arm nimmt überhand. Warum, Julie? Warum mit ihm? Irgendwie hat es doch geklappt zwischen uns. Irgendwie war da doch was? Täusche ich mich? Sag mir, dass ich mich nicht irre!
Das Blinken des Anrufbeantworters stiehlt sich wieder in mein Sichtfeld, am liebsten würde ich das Kabel herausreißen. Penetrantes, rotes Blinken, das mein Herz beschleunigt, mich auf hundertachtzig bringt.
»WIESO?!«, schreie ich, werfe den Stift von mir und hetze dem Anrufbeantworter entgegen. Ein Tippen auf die Abspieltaste, ein donnerndes Herz in meiner Brust. Warten. Verzweiflung treibt mich auf das alte, löchrige Sofa. Ich stütze die Arme auf den Knien ab, das Gesicht in den Händen vergraben, die jetzt ganz nass sind von den Tränen, und warte auf ihre Stimme, die das schummrige Drecksloch einer Wohnung durchbricht. Warte auf ihre Worte, auf ihr Flehen und Seufzen, doch sie ist es nicht, die ich höre.
»Keegan, bist du da?« Daryls rauchige Stimme flutet meinen Kopf. Alles, jeden hätte ich erwartet, nur nicht dieses Arschloch. »Komm schon, Bro, hab dich nicht so. Nimm ab.«
Eine Pause. Die Ader in meiner Schläfe droht zu explodieren.
»Alter, ja, sie ist mit mir in die Kiste gesprungen, aber da waren keine Gefühle im Spiel«, durchbricht er das Schweigen. »Ich hab sie getestet. Für dich, Mann. Mehr nicht. Tut sie es oder tut sie es nicht? Hintergeht sie meinen besten Kumpel oder nicht. Und was soll ich sagen, die Schlampe hat dich an der Nase rumgeführt. Zwei verfickte Jahre lang. Vergiss sie, Bro.«
Ein Klicken. Das war’s.
Bester Kumpel? Das Blut rauscht in meinen Ohren und als kurz darauf eine neue SMS reinkommt – von Julie, Dad, Mom oder weiß der Teufel wem – reißt die unsichtbare Schnur, die mich festgehalten hat. Ich schmettere das Handy von mir, direkt gegen die Wand, und ziehe die Stecker des Telefons aus der Dose. Rausche auf den verdammten Abgrund zu, versinke im Selbstmitleid und verfluche diese beschissene Welt. Hetze vom Telefon zurück zum Schreibtisch, sehe Larks Grinsen auf der Skizze, jage zurück zum Sofa. Die Hände tief im Haar vergraben schwanke ich vor, zurück, vor, zurück. Ruhe. Alles, was ich will, ist Ruhe und … Daryl … Ich lache humorlos auf. Kein Wunder. Medizinstudent – charmant und braun gebrannt. Ich könnte kotzen.
Das Zeichnen fällt mir schwer heute Nacht, denn mein Kopf glüht und die Konzentration ist dahin. Mein Innerstes gleicht einem Scherbenhaufen. Irgendwann wird es schummrig um mich. Auch wenn ich noch so sehr versuche, wach zu bleiben, sie zu nutzen, die einzigen wertvollen Stunden am Tag, die ich habe, letzten Endes holen sie mich doch ein: der Schlaf, meine Träume, Julie und Daryl. Ich sehe, wie sie auf ihm sitzt und es gar nicht mehr erwarten kann, bis er sie nimmt. Erst als ich dein Gesicht sehe, wird mein Atem leichter, Lark. Das Pochen im Kopf nimmt ab und ich verliere mich ganz im Schlaf und unendlicher Dunkelheit.
***
Wie ein Schlag mitten in die Fresse. So fühlt es sich an, als mich der Handywecker um Punkt sieben aus dem Schlaf reißt. Offensichtlich hat das verdammte Ding den Stoß gegen die Wand überlebt.
Ich halte meinen steifen Nacken und muss mich am Schreibtisch abstützen, um überhaupt in die Höhe zu kommen. Die ganze Nacht habe ich dort verbracht und büße es nun mit jeder Bewegung.
Langsam schleppe ich mich zum Fenster, öffne es und seufze der Backsteinmauer zwei Meter vor mir entgegen. Die Kälte bahnt sich direkt einen Weg in meine Glieder und bringt die Bilder der letzten Nacht zurück, die mein Herz haben einfrieren lassen.
Ich will nicht. Nicht heute. Nicht wieder Calloways Gesicht sehen. Nach Daryls Nachricht gestern schaffe ich das nicht.
Er schmerzt, der Kloß, der sich in meiner Kehle festgesetzt hat. Wie ein eiserner Nagel klammert er sich an meinem Kiefer fest. Ich kann so niemandem begegnen. Zumindest nicht jetzt. Cliffs Schrottkiste kommt mir wieder in den Sinn, die ich heute Abend abholen muss, und ich seufze so laut, dass es zwischen den Häusern widerhallt und meinen Schmerz auf die Straße hinausträgt. Dort hört ihn keiner, im Treiben der Stadt, zu beschäftigt sind die Leute mit sich selbst. Kämpfen ihre eigenen Schlachten, kriechen vor ihren eigenen Abgründen davon.
Was würde Lark tun?
Das, was er verdammt noch mal möchte, beantworte ich meine eigene Frage.
Also melde ich mich krank und liege den ganzen Vormittag im Bett, während mein Handy überläuft von Julies Nachrichten. Eine lese ich und bin es gleich darauf wieder leid.
Erst am späten Nachmittag gehe ich in einen Zustand völliger Gleichgültigkeit über. Ich spüre nichts mehr, sondern trage nur noch ihre Namen auf den Lippen, als ich mich auf den Weg zur Werkstatt mache, um Cliffs Wagen zurück zum Diner zu bringen – nichts ahnend, dass ich der Apokalypse entgegenrausche.
Die ganze Strecke über fahren ihre Fratzen in meinem Kopf Achterbahn, verspotten mich: Julie und Daryl. Dad, der mir vor einer Stunde noch das Ohr vollgeheult hat, weil der Gerichtsvollzieher tatsächlich aufgetaucht ist. Überraschung, Dad: Andere halten sich an Abmachungen, Termine, Regelungen. So funktioniert die Welt nun mal.
Beinahe merke ich nicht, dass ich längst im Wagen sitze, durch die Straßen ziehe und der Regen auf die Scheibe prasselt. Werde aufgefressen von den Gedanken, die nach jedem noch so kleinen bisschen meiner Aufmerksamkeit verlangen, die Gleichgültigkeit aus mir heraussaugen, bis nichts mehr davon übrig ist und ich nur noch sie sehe – sie alle: Daryl und Julie. Julie und Daryl. Meinen alkoholabhängigen Vater. Mom, die nur noch die Wut auf Dad am Leben zu halten scheint. Mir platzt beinahe der Kopf.
Hasse sie.
Hasse alles.
Hasse die Welt.
Beschissene Kindheit.
Beschissenes Leben.
Nie gut genug.
Nie …
Der Schock fährt mir in alle Glieder. Ein Typ rennt auf die Straße. Mitten in den Verkehr. Direkt vors Auto. Ich bremse so stark, dass ich glaube, durch die Scheibe zu rauschen, doch ich treffe ihn – mit voller Wucht – und es macht einen Schlag, so ohrenbetäubend, dass ich nur noch schützend die Hände vor mich halte. Doch den Blick auf seinen Körper kann ich damit nicht ungeschehen machen – so seltsam verdreht, dass der Anblick mich zu Stein erstarren lässt.
Nein, nein, nein!
Das ist nicht wahr. Ich bin gar nicht hier. Nicht ich selbst. Ich schlafe, richtig?
Das ist ein Trugbild!
Ein Trick?
Verdammte Scheiße!
Bitte, lass das einen Albtraum sein.
Die Luft ist anders heute: staubig, trocken, viel zu knapp, niemals genug. Verzweiflung liegt darin und ein Geruch nach Schwefel …
Blut …
Da ist fremdes Blut an meinen Händen. Meine Finger zittern und kämpfen wie ein Träumender, der mit der Bettdecke ringt und einfach nicht aufwachen kann. Doch ich schlafe nicht. Das ist kein Traum. Der Tod ist um mich, ein lebloser Körper in meinen Armen. Ich weiß nicht, was zu tun ist, logisches Denken ist mir abhandengekommen. Ich will nur trösten, ihn im Arm halten, diesen Fremden, dessen Leben ich gerade ausgelöscht habe. Einfach so. Eiskalt, blitzschnell. Will ihn beschützen und alles, einfach alles ungeschehen machen.
Ich weine wie ein kleines Kind, die Knie auf dem nassen Asphalt, seinen Kopf auf meinem Schoß, wiege ich mich im Takt meines rasenden Pulses. Ich weiß, das ist nicht, was ich jetzt tun sollte, doch alles, was ich tun kann – heiße Tränen auf der Haut, Regen, der mir in Bächen die Schläfen hinabrinnt, die nun kalte Luft wie ein Ertrinkender in mich aufsaugend, mehr und mehr, weil es einfach nie genug ist. Kalt … Mir ist so verdammt kalt … Kann kaum atmen, hyperventiliere.
Plötzlich ist es furchtbar laut: Hupen, Schritte, aufgeregte Stimmen. Menschen vor mir, Menschen hinter mir, Menschen überall um mich herum.
Ich wollte das nicht.
Ich bin kein Mörder.
Bitte …
Ich sehe auf ihn hinab, wage wieder einen Blick. Zerstört sieht er aus und in dem Moment, in dem ich mein Gewicht verlagere, kippt der Kopf zur Seite, sein Mund leicht geöffnet, und ich sehe noch, wie etwas aus ihm herauskullert und mit einem klirrenden Geräusch auf dem Asphalt landet. Trotz der Aufregung um mich herum höre ich den Ton vollkommen klar und habe mit einem Mal nur noch Augen für sie – die bronzene Münze mit dem Loch in der Mitte, die eben aus seinem Mund gefallen ist. Wie abgeschottet unter einer Glocke greife ich danach, will einen näheren Blick auf sie werfen – da sehe ich die Spiegelung seines Gesichtes in der Pfütze neben mir.
Lark.
Nein, diesmal träume ich nicht.
Wie vom Teufel besessen drehe ich mich herum. Mein Blick wandert zum Himmel hinauf – zu ihm. Wie ein Heiligenschein umgibt ihn das grelle Licht des Himmels und zwingt mich, meine Augen zusammenzukneifen. Doch das Gesicht ist ein anderes. Wieder eine Täuschung, wieder Chaos im Kopf und ich habe das Gefühl zu fallen – vom hundertsten Stock direkt auf den Asphalt, zerschelle in tausend Stücke.
Tröstend reicht der Fremde mir die Hand. Wozu? Jetzt, da alles verloren ist?
Wie in Zeitlupe stecke ich die Münze ein, blicke auf die rauen Finger vor mir und greife schließlich danach.
»Alles wird gut. Wir haben gesehen, was passiert ist, mach dir keine Sorgen.«
Ich zittere. Meine Beine sind weich wie Pudding.
»Was?«, frage ich atemlos, sehe auf den Toten hinab, beobachte, wie sich andere Leute um ihn scharen, sehe wieder zu meinem Helfer und suche nach einem kleinen Hinweis, der geringsten Ähnlichkeit, aber ich finde sie nicht. Das vor mir ist nicht Lark. Das hier ist nicht das Diner. Die Menschen um mich kenne ich nicht. Ihre Worte klingen seltsam gedämpft. Bin ich überhaupt noch am Leben? Überhaupt noch ich selbst? Ich taste mich ab, werde mitgezogen, stolpere.
Langsam wird es dunkel draußen. Bunte Lichter vermischen sich mit noch lauteren Tönen. Sirenen. Stimmen. Cliffs Wagen. Was passiert jetzt damit?, frage ich mich noch, als ich weggebracht werde. Dann sitze ich in einem karg eingerichteten Raum, vor mir zwei Polizeibeamte. Fragen, so viele Fragen. Ich werde meinen Job verlieren, ganz sicher. Meine Wohnung, mein Leben. Ich will nicht in den Knast, habe nichts verbrochen, werde panisch. Erkläre mich. Worte. Worte fließen aus meinem Mund, doch was ich sage, ist mir nicht klar. Ich werde laut, immer lauter – schreie beinahe – bis das Hämmern im Kopf nachlässt. Irgendwann, nach unendlich vielen Stunden.
Jetzt liege ich auf dem Bett. Allein in meinem Zimmer. Wälze mich hin und her. Links, rechts. Rechts, links. Kann nicht schlafen, kann nicht denken. Ein Anruf von Mom. Ich nehme nicht ab. Irgendjemand klingelt an meiner Tür, doch ich verstecke mich unter der Bettdecke, verkrieche mich vor der Welt. Doch egal wie lange ich die Augen schließe, ob ich die Fenster verbarrikadiere, die Kabel aller Elektrogeräte aus den Wänden reiße, nur um kein Licht, kein Blinken, kein gar nichts mehr wahrzunehmen … sie sehe ich trotzdem noch. Sie stehen über mir, sehen auf mich herab, klagen mich an:
Julie. Daryl.
Mom. Dad.
Mr. Calloway.
Cliff.
Meine Kollegen.
Der Typ auf der Straße …
…
…
Er ist tot.
…
…
Ich habe jemanden umgebracht.
…
…
Sie sagen, sie hätten gesehen, dass es nicht meine Schuld war. Sagen, ich bräuchte mir keine Gedanken machen, doch wann konnte ich das jemals in meinem Leben? Wann konnte ich mir wirklich einmal keine Gedanken machen?
Dieses Leben ist nicht mein eigenes, war es nie, wird es niemals sein. Ich arbeite für Bosse, die sich täglich ihre Taschen mit Geldscheinen vollstopfen, sich teuren Champagner in den Rachen kippen. Nie ein gutes Wort übrig, nie Zeit, nie Gehör für das, was wir wollen, was wir brauchen, was uns fehlt. Nein, mein Leben ist das eines anderen und ich sehe mich selbst Dinge tun wie eine Marionette, die es hasst, nach der Pfeife anderer zu tanzen, und sich doch an den Fäden festklammert, um nicht unterzugehen im alles auffressenden Strom des Lebens, ersetzt zu werden und leblos zu Boden zu gehen, Staub zu fressen bis ans Ende aller Zeit.
Mein Herz schlägt nicht mehr nur einfach, es hämmert unaufhörlich und ich habe das Gefühl, hier und jetzt zu verrecken. Ich kann nicht mehr. Stehe auf. Stürme durch die Wohnung. Alles ist mir zu viel, ich sehe nichts mehr, denke nichts mehr, durchsuche meine Küchenschränke nach etwas, das den Schmerz lindert. Nichts. Eile ins Bad. Reiße alles aus den Schränken. Beruhigungsmittel, Pillen. Irgendetwas, verdammt noch mal.
Und ich sehe alles zu Boden gehen. Zersplitterndes Glas. Die spitzen Scherben am Boden. Höre, wie es kracht und knallt, und sehe mich selbst im Badezimmerspiegel wüten. Alles zerstören. Egal. Alles egal. Ich würde in den Knast wandern, alles verlieren, alles aufgeben müssen. Und plötzlich lache ich, ein hohes, verzweifeltes Lachen, weil ich gar nicht weiß was Alles überhaupt ist.
Ich habe nichts.
Kann nichts.
Bin nichts.
Die Welt will mich nicht.
Hat mich nie gewollt.
Und ich verfalle in Raserei, schreie, bis mir die Stimme versagt, meine Kehle schmerzt und ich kaum mehr durch den Tränenschleier vor meinen Augen sehe.
Erst nach einigen Minuten lässt das Zittern nach. Ganz langsam nur. Ich richte mich auf, eine Hand auf dem fleckigen Waschbecken aufgestützt, sehe ich mich im Spiegel an und atme, atme so heftig und habe doch das Gefühl zu ersticken. Es ist nur eine Sekunde, so schnell wie ein Blinzeln, doch ich sehe es: Dein Gesicht blitzt vor mir auf. Wieder. Das dritte Mal in den letzten zwei Tagen.
Mit einem Mal beruhigt sich mein Herzschlag. Rasendes Wüten wird zu sanftem Beben in meiner Brust. Ich atme durch, betrachte das Chaos um mich – teilnahmslos – und bewege mich langsam durchs Badezimmer. Am Rand der Badewanne bleibe ich stehen und drehe das heiße Wasser auf. Ein Bad. Etwas, das mich bereits als Kind getröstet hat, in Wärme hüllte, als es kein anderer tat. Und gerade jetzt brauche ich es so sehr, erscheint mir das einzig Richtige. Wärmende Arme. Ruhe. Trost. Bin so unendlich müde, will schlafen. Schlafen, oder einfach ertrinken in der Erinnerung. Ertrinken im tiefen Dunkel meines Herzens und nie wieder erwachen müssen – das wäre mein vollkommenes Glück.
Eiskaltes Wasser, rote Tinte, die das Nass verfärbt. Ich schwimme und bin ganz ruhig in meinen Träumen, treibe dahin im Meer der Stille, fühle das Wasser mich umspülen. Ein Tropfen hallt laut in meinen Ohren, und als mich ein Schauer durchfährt, fahre ich plötzlich hoch, sauge scharf die Luft ein vor Schreck und reiße genau in dem Moment die Augen auf, als mein Ellenbogen vom Rand der Badewanne rutscht.
Ich muss eingeschlafen sein, den Kopf auf der Hand abgestützt, habe ich mich endlich einnehmen lassen von der Stille, von vollkommener Ruhe. Zumindest ein paar Minuten lang. Oder sind bereits Stunden vergangen?
Orientierungslos sehe ich mich um, lasse den Blick zur Badezimmeruhr schweifen, die nur vom schwachen Licht am Spiegel erhellt wird. Kurz vor acht. Kein Wunder, dass es längst dunkel draußen ist. Das Wasser ist ganz kalt und meine Lippen beben, weil mein Körper nicht aufhören kann zu zittern.
Vorsichtig löse ich meine Starre und setze mich auf, wobei mir der Wannenboden ins Auge springt, die Stelle zwischen meinen Beinen, und mich innehalten lässt: Die bronzene Münze mit dem Loch in der Mitte liegt dort. Die Ansicht ist durch die Wasseroberfläche verzerrt. Mit zusammengekniffenen Brauen greife ich danach, umschließe sie mit der Faust und blicke mich nach meinen Sachen um, der blutverschmierten Hose, in die ich das Ding auf der Straße noch gesteckt hatte. Die Münze muss beim Ausziehen ins Wasser gefallen sein. Doch da hört es noch lange nicht auf. Der Fliesenboden ist begraben unter den Zeichen meiner Verzweiflung: Glassplitter, alte Zahnpastatuben, die ich längst hätte entsorgen müssen, Handtücher, eine Shampooflasche. Rein gar nichts habe ich an seinem Platz gelassen, als mich vor Stunden die Hoffnung verlassen hat. Beinahe schäme ich mich bei dem Anblick, während ich mich in ein Handtuch hülle, bis mir der Tote wieder in den Sinn kommt und die Scham der Leere in mir Platz macht. Sein Bild in meinem Kopf versetzt mir einen Stich ins Herz, doch ich kann nichts tun. Nichts mehr. Nur abwarten.
Auf Zehenspitzen taste ich mich durch das Chaos, knipse das Licht am Spiegel aus und lasse das Badezimmer hinter mir, die Wanne noch voller Wasser. Der Rest der Wohnung liegt im Schatten, eingehüllt in gespenstische Ruhe, nur vom sanften Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben untermalt. Die frei hängende Glühbirne in meinem Schlafzimmer taucht alles in schummrige, schwache Gelbtöne, als ich sie einschalte. Sie schwingt umher – links, rechts, wie von Geisterhand – und lässt die Schatten an den Wänden tanzen. Mechanisch ziehe ich mir frische Kleidung über, atme bewusster – versuche es zumindest. Mit der Münze in der Hand bewege ich mich raus aus dem Zimmer, durch die dunkle Wohnung hinüber zum Schreibtisch. Immer wieder lasse ich das bronzene Metall durch die Finger gleiten, frage mich, was sie zu bedeuten hat.
Im Dunkeln finde ich den Startknopf des Computers ganz automatisch. Das ruhige Summen, das kurz darauf ertönt, nimmt mir die Anspannung noch ein kleines Stück mehr – trotzdem werfe ich immer wieder einen prüfenden Blick hinter mich, kann das Gefühl nicht abschütteln, das mir seit dem Erwachen im Nacken sitzt.
Als der Monitor endlich anspringt, spiegelt sich sein grelles Licht in den kahlen Fenstern der Wohnung wider, gibt die Sicht frei auf die Schreibtischplatte, auf der meine Zeichnungen von gestern verstreut sind. Von der obersten starrt mir Lark entgegen, seine Augen zu arroganten Schlitzen verengt. Den Kopf in den Nacken gelegt, trägt er sein typisches breites Grinsen auf den Lippen. Während ich warte, bis der Rechner vollständig hochgefahren ist, fokussiere ich das Bild so lange und so intensiv, dass es sich in meine Netzhaut brennt und ich es überall sehe, als ich den Blick hebe.
Schnell öffne ich den Browser und gebe die Suchbegriffe ein, unter denen ich glaube, Antworten auf die Herkunft der Münze zu finden.
Der Typ hatte sie im Mund. Weshalb?
Während ich durch die Ergebnisse scrolle, beginnt mein Herz in einem Rhythmus zu schlagen, der Panik heraufbeschwört. Der erste Donnerschlag reicht aus, Larks Gesicht blitzt vor mir auf und ich fahre zusammen.
Wieder ein Blick hinunter auf die Zeichnung, einer zurück über die Schulter, stetig das Pochen in der Brust. Kurzerhand drehe ich die Zeichnung herum, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann.
Mir ist seltsam kalt. Unruhe kommt in mir auf, ich brauche Ablenkung, also lese ich weiter, was im Internet steht. Spiele wieder mit der Münze. Lasse sie über meine Finger tanzen.
Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger.
Zeigefinger, Mittelfinger …
Ein weiterer Donnerschlag und ich werde ganz klein. Die Münze entgleitet mir, kommt klappernd auf dem Boden auf, rollt davon und bahnt sich einen Weg über den alten Dielenboden. Ich eile ihr hinterher, trete darauf, um sie am Weiterrollen zu hindern, sammle sie ein, und als ich mich wieder aufrichte, erhellt erneut ein Blitz die Wohnung. Der gleißend helle Schein zieht meinen Blick zum Fenster und da sehe ich Larks Gesicht, wie es sich in der Scheibe spiegelt. Direkt hinter mir.
Ich fahre herum wie ein Kind, das vor seinem eigenen Schatten zurückschreckt. Doch da ist nichts. Das unwohle Gefühl nimmt überhand und ich knipse alle Lichter an. Überall. In der Küche, im Schlafzimmer. Ich vermeide es, in den Spiegel zu sehen, als ich auch das Badezimmerlicht einschalte. Meide die Fenster, spiegelnde Flächen.
Ich werde verrückt, denke ich und nähere mich wieder dem Schreibtisch – langsam, die Ohren gespitzt. Als nicht weit hinter mir erneut ein Klirren auf dem Dielenboden erklingt, das Gleiche wie das der Münze eben, erstarre ich zu Eis.
Das ist unmöglich. Sie ist doch hier – in meiner Hand.
Ein Tränenschleier versperrt mir die Sicht. Ich blinzle, schicke ein Stoßgebet zum Himmel, während mir mein Atem längst davongeeilt ist. Blanker Horror überkommt mich, als ich mich langsam umdrehe, die Angst so tief im Nacken, dass ich glaube, nur eine Ohnmacht könnte mich retten.
Und da sitzt er. Auf meinem Sofa. Ein Bein lässig auf dem Couchtisch abgestellt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt und das typische schiefe Grinsen im Gesicht.
»Hallo Keegan«, höre ich ihn sagen und hoffe noch immer auf die rettende Ohnmacht, die mich aus diesem Albtraum befreit.
Zwanzig Jahre ist es her, seit seine Stimme das letzte Mal in meinen Ohren klang. Habe gehofft und gebangt, gebetet, dass ich ihn wieder hören würde, meinen Retter aus der Dunkelheit. Ich wusste, dass es keine Einbildung war, nie ein Traum. Jetzt sitzt er hier, in Fleisch und Blut – sieht genau so aus wie in meiner Vorstellung. Wie die Tinte auf den Blättern, die sich in meiner Schreibtischschublade stapeln. Sein Blick, der auf mich gerichtet ist, beherbergt einen wissenden Glanz. Er fixiert mich und ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Kalter Schweiß liegt mir im Nacken, Klauen des Horrors greifen um meine Kehle. Ich sehe mich um nach einem Ausweg, blicke dann auf meine Hände, starre sie an, wie ein Klarträumer beim Realitycheck, und obwohl die Münze weg ist, die ich eben noch so fest umklammert hatte, suche ich weiter nach dem Fehler, dieser einen Sache, die mir unumstößlich klarmacht, dass das hier nicht die Realität ist, niemals sein kann.
Wach auf. Wach doch verdammt noch mal auf!
»Du träumst nicht, Keegan«, sagt Lark gelassen und erhebt sich mit einem Mal schwungvoll vom Sofa, wobei sein langer Mantel wie ein Pendel schwingt – von links nach rechts – und schwerelos um ihn schwebt.
»Du bist … warum jetzt …?« Die Worte, die meinen Mund verlassen, sind wirr. Das Geräusch meines Atems erfüllt die Distanz zwischen uns.
»Du hast heute dem Tod ins Auge geblickt, nicht wahr?«
Das Bild des Toten flutet wieder meinen Verstand und ich erinnere mich an Larks Spiegelung in der Pfütze auf dem Asphalt.
Langsam kommt er näher, lautlos, und ich weiche zurück – die Augen weit aufgerissen, jeden Muskel bis zum Zerbersten angespannt.
»Wird Zeit, dass wir uns endlich sprechen. Findest du nicht?«
»Nein«, hauche ich. »Du, du bist nicht …«
»Real?«, beendet er meinen Satz beinah gekränkt, und ich bewege mich rückwärts. Einen Schritt, dann einen weiteren.
Es hämmert in meinem Kopf und ich suche nach einer Lösung, einer versteckten Kamera, versuche aufzuwachen, doch nichts passiert. Also gehe ich noch ein paar Schritte zurück – jetzt panischer, als uns fast nur noch ein Meter trennt, bis ich über irgendetwas hinter mir stolpere und mich auf der Suche nach Halt nach unten sinken lasse, die Finger in den Boden gekrallt.
Nun steht er vor mir. Ein Bein aufgestellt, kniet er sich herunter, so nah, dass ich seinen Atem auf der Haut spüre. Seine Wange beinahe auf meiner, flüstert er mir ins Ohr: »Du kennst mich. Nicht wahr?«
Ich winde mich. Nicke schnell. Verzweifelt.
Ja, ja ich kenne dich. Hör auf damit, flehe ich in das Chaos meines Kopfes hinein und dann überkommt es mich: Ich lache. Lache das verzweifelte Lachen eines Wahnsinnigen.
»Das …«, setze ich an und raufe mir das Haar. »Das ist nicht …«
»Was, Keegan?« Er klingt jetzt ungeduldiger, lauter.
»Du bist nicht … Hab ich den Verstand verloren?« Unsere Blicke treffen sich und seine eben noch kalte Miene wird wieder sanfter.
»Nein«, sagt er, klingt beinahe belustigt. Die langen Silberketten über seinem weißen Shirt blinken auf, als er sich aufrichtet und nachdenklich durch das Wohnzimmer streift. »Ein klein wenig vielleicht? Jedenfalls nicht mehr als alle anderen.« Ein kurzer Blick zurück zu mir, eine Augenbraue angehoben, und er wandert weiter. Seine Finger berühren den abgesplitterten Putz der Wände, wandern über die Lehne des Sofas, streifen weiter über alles, was ihm in den Weg kommt. »Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als du dir vorstellen kannst«, sagt er schließlich und hält inne. Wieder wendet er sich mir zu. »Die Zeit des Schweigens zwischen uns ist nun endgültig vorbei.«
»Ich habe nie geschwiegen«, antworte ich atemlos.
»Nein, das hast du nicht.«
»Also, wo warst du dann all die Jahre?« Ich kauere mich zusammen, die Hände tief im Haar vergraben. Eigentlich erwarte ich keine Antwort. Er war weg, weil er nicht real ist. Nein, das stimmt nicht. Seine Stimme war es. Ganz sicher. Nur jetzt ist er hier, in Fleisch und Blut. Das muss Einbildung sein. Meine Nägel graben sich in meine Kopfhaut, wollen mein Haar raufen. »Nicht das noch«, jammere ich, schlage mir selbst mit dem Handballen gegen den Kopf. »Mach, dass es aufhört!«
Irgendwie schaffe ich es, mich aufzuraffen, kann mich kaum auf den Beinen halten, doch weiß, dass ich wegmuss, laufen muss, ohne zurückzublicken, und wüte in der Wohnung umher. Dabei sehe ich das aufgewühlte Bett in meinem Schlafzimmer, die noch immer volle Badewanne, das Chaos am Boden. Ich muss weg hier. Irgendwohin.
»Alles Kämpfen nützt nichts, Keegan.« Seine Stimme ist wieder lauter, strenger, drängender. Mit großen Schritten kommt er auf mich zu. Wieder schrecke ich zurück.
»Nein, ich will nicht verrückt sein. Bitte.«
»Du bist nicht verrückt, nur verzweifelt«, zischt er zwischen den Zähnen hervor, ergreift energisch meinen linken Arm, den Daumen fest auf mein Handgelenk gepresst, und hält ihn in die Höhe. »Dein gesamtes Leben lang fragst du dich, was hier eigentlich schiefläuft. Die Welt, nein, das ganze Universum scheint sich gegen dich verschworen zu haben und du kämpfst und kämpfst, doch es hat einfach kein Mitleid mit dir, du armer, armer Junge.«
Mein Brustkorb hebt und senkt sich in Rekordgeschwindigkeit. Sein kalter Griff legt sich fester um mein Handgelenk und ich sehe zu ihm auf. Wie eine Wand aus Haut und Knochen steht er vor mir. Seine Aura ist allumfassend. Seine Präsenz nimmt den gesamten Raum ein und ich fühle einen stechenden Schmerz, wo er seinen Daumen fest auf meine Haut presst.
»Genau dieses Gefühl hat mich zu dir gebracht«, flüstert er jetzt wieder und lässt meinen Arm sinken, sein Gesicht direkt vor meinem. »Jetzt wird sich alles ändern. Deine Träume und tiefsten Wünsche, sie alle liegen da und du musst nur danach greifen, mein Freund.«
»Nein«, flehe ich. »Nein, ich will das nicht. Geh weg!« Unendlich langsam gleite ich zu Boden und lege die Hände auf die Ohren, vergrabe den Kopf zwischen den Beinen. »Geh!«, schreie ich. »Geh!«
Sekunden verstreichen, in denen nur mein Weinen zu hören ist. Kein Geräusch von ihm. Keine Schritte, die über den Dielenboden gleiten, nur verzweifeltes Ringen nach Luft meinerseits.
Ganz langsam hebe ich den Kopf, bereit, mir einzugestehen, dass ich wahrhaftig verrückt geworden bin, er noch immer in der Wohnung sitzt, gleich wieder auf mich einredet, doch da ist nichts. Die Wohnung ist leer. Da bin nur ich, der dünne Teppich vor dem Sofa, der durch meine Flucht völlig zerknittert daliegt, und der Schmerz im linken Handgelenk, den ich eben schon gefühlt habe. Ich keuche auf, halte die Stelle und blicke darauf.
Nichts …
Nur die Tattoos, die sonst auch meinen Arm entlanglaufen – eine rebellische Aktion aus Teenagertagen, der verzweifelte Versuch, dazuzugehören. Doch der Schmerz ist da. Ich muss mich gestoßen haben, als ich davongelaufen bin. Also sehe ich genauer hin, blicke zwischen die schwarzen Linien und bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob dieses eine Tattoo schon immer da war: ein schwarzer Blitz, ein Riss wie gespaltener Stein.
Ich muss mir mehr angeschlagen haben – den Kopf wahrscheinlich – als ich alles aus den Schränken gerissen habe. Ja … ja, das wird es sein.
Völlig überfordert stütze ich mich an der Wand neben mir ab, versuche, auf meinen wackeligen Beinen zu stehen, die Augen stets auf der Hut. Mein Blick streift die offenen Türen, das Bad, das Schlafzimmer, wandert zum Fenster hinüber. Nichts. Langsam bahne ich mir einen Weg in die Küche, schiebe die Tür auf, spähe hinein und atme erleichtert aus. Alles wie zuvor. Alles gut.
Doch ich täusche mich. Zurück im Wohnzimmer angekommen, fällt mein Blick sofort darauf: ein kleines, kristallenes Fläschchen auf dem Tisch. Nie zuvor habe ich es gesehen. Es gehört nicht mir. Ich bin mir sicher, begreife einfach nicht, was los ist, was kaputt ist in meinem Kopf. Erst will ich mich dem Fläschchen nähern, doch ich bin vollkommen überfordert. Weiß nicht mehr, was Realität und Einbildung ist.
Die abgestandene Luft im Raum lässt mich sicher nicht klar denken, also gehe ich hinüber zum großen Fenster und öffne es weit. Draußen regnet es noch immer und der grollende Himmel heißt mich willkommen. Ich lehne mich weit hinaus und blicke in die dunkle Tiefe. Obwohl die Straße nur schwach beleuchtet ist, kann ich von hier oben das Glänzen des nassen Asphalts sehen.
Wie es sich wohl anfühlt zu springen?
Ein kurzer Moment nur.
Einfach alles loslassen – fallen und aufkommen –, es endlich beenden, den nicht enden wollenden Absturz meines Lebens.
Ich beuge mich noch weiter vor, bis plötzlich das Kreischen einer Krähe ertönt – laut, nahe. Ich blicke nach oben, reiße panisch die Augen auf und wirble herum, als sie direkt auf mich zugeflogen kommen. Nicht eine, nicht zwei, sondern gleich drei dieser Biester. Eine klatscht gegen die Scheibe, die ich gerade noch rechtzeitig schließe, die anderen ziehen davon. Meine Hand fährt zu meinem Herzen. Es schlägt. Noch.
Beruhige dich, das war nur ein dummer Zufall.
Es klingelt und ich fahre wieder zusammen.
Mein Gott, ich bin ein einziges Wrack. Misstrauisch beäuge ich die Sprechanlage von der anderen Seite des Raumes, zögere erst, ehe ich mich ihr nähere und dabei das Fläschchen auf dem Tisch so weit wie möglich umgehe. Schnell werfe ich einen Blick auf die Uhr. Kurz vor acht, war es das nicht eben schon?
Ich unterbreche den Gedanken und hebe den Hörer ab.
»Ja?«, sage ich und befeuchte nervös die Lippen, sehe mich um, fahre mir durchs Haar.
Ein Schluchzen erklingt, das ich sofort erkenne: »Keegan. Ich bin’s.«
»Julie …?« Auf einen Schlag bin ich wieder ganz bei mir. Und obwohl mir sofort Daryls Nachricht in den Sinn kommt, fällt alles von mir ab: die Anspannung, die Panik und der penetrante Pulsschlag in meiner Schläfe, der mir den letzten Nerv geraubt hat.
»Ich muss mit dir reden. Daryl, er …«, sagt sie und ringt nach Atem. »Er hat mich …« Ihre Stimme, die so gebrochen, so einsam, so allein klingt, verstummt.
Ich wäge keine Sekunde ab, ob es richtig oder falsch ist, antworte nichts, sondern lasse sie rein. Wir sind beide mit den Nerven am Ende. Vielleicht ist es das, was ich brauche. Ein klärendes Gespräch, nichts weiter. Also gehe ich ins Bad, wasche mein Gesicht. Das Licht hier brennt noch immer. Jetzt surrt es verräterisch, doch ich beachte es nicht länger, werfe einen Blick in den Spiegel und nehme die tiefsten Atemzüge des gesamten Tages. Einmal. Zweimal. Dreimal. Da klopft es auch schon sacht an der Wohnungstür.
Wäre sie gestern hier aufgetaucht, hätte ich ihr kein Gehör geschenkt. Heute jedoch ist sie wie ein rettender Anker, der mich vielleicht wieder an Land bringen kann.
»Ich wollte das alles nicht, Keegan. Es war falsch«, bricht es aus ihr heraus. Wieder trägt sie einen viel zu großen Pullover, dazu enge Leggings. Ihr sonst so gepflegtes blondes Haar sieht aus, als hätte sie sich die letzten zwei Tage überhaupt nicht mehr darum gekümmert. Ihre Miene ist von Trauer gezeichnet, die Wangen sind erhitzt, die Augen glasig, und als sie mir jetzt in die Arme fällt, fühle ich, wie sehr sie zittert. »Ich hab dich so vermisst.«
Tränen laufen ihr schmales Gesicht hinab, hinterlassen brennende Spuren auf meiner Haut. Und alles, was ich tun kann, ist sie zu halten, fester als jemals zuvor. Doch ich bin mit dieser Situation völlig überfordert. Überfordert von diesem Tag, meinen Gedanken, den Wahnvorstellungen und von ihrem plötzlichen Erscheinen.
»Julie«, flüstere ich tröstend, halte sie und vergrabe die Finger in ihrem Haar.
Minuten vergehen, in denen wir kein Wort sprechen, nur so dastehen und einander bemitleiden. Dafür, wie dumm wir waren und es noch immer sind.
Erst als sie sich langsam beruhigt, biete ich ihr ein Glas Wasser an, doch sie lehnt ab.
»Ich will jetzt einfach nur bei dir sein«, sagt sie und ich nicke.
»Vielleicht sollten wir …«, setze ich an und da küsst sie mich, fällt mir um den Hals – als wäre nie etwas gewesen.
»Julie«, wiederhole ich, weniger drängend, als ich es beabsichtigt habe. Drücke sie von mir, weniger energisch, als ich es möchte.
Sie antwortet nicht, schenkt mir nur einen schuldbewussten Blick, beißt sich auf die Lippen, die ich plötzlich nicht mehr aus den Augen lassen kann, und zieht mich zum Sofa.
Erschöpft lasse ich mich darauf nieder, versuche, sie auf Abstand zu halten, doch sie klettert auf meinen Schoß, ein Bein links, das andere rechts von mir, und beginnt meinen Hals zu küssen.
»Mein Tag war alles andere als … Ich meine, vielleicht sollten wir einfach reden?«
»Hm?« Ihre heißen Lippen saugen jetzt an meinem Ohr und ihre Hände sind überall gleichzeitig.
»Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben oder denken soll«, sage ich, will sie von mir schieben, doch meine Willenskraft lässt nach, als ihre Hand an mir hinabwandert und zu suchen beginnt. Ihr süßer Atem in meinem Ohr. Ein Hauchen, so sanft wie Seide auf meiner Haut.
»Lass es uns einfach vergessen«, flüstert sie. »Diesen Tag, die vergangene Woche, uns selbst.«
Als sie mir in den Schritt greift, kann ich nur noch meine Augen schließen und versinke in ihrer Halsbeuge. Einfach entspannen. Loslassen. Das ist es, was ich brauche, was meinen Verstand zurückbringen wird. Ganz sicher.
Meine Hände zeichnen ihre Hüfte nach, fahren unter ihren Pullover, umgreifen die weiche Haut ihrer Taille. Ich will sie näher an mich ziehen, einfach den Tag vergessen, doch plötzlich ist da ein stechender Schmerz in meiner Brust. Ein Schmerz, der bis in mein Innerstes vordringt. Nach etwas wühlt, mein Herz abtastet.
Ich krümme mich nach vorn, öffne die Augen und schreie entsetzt auf. Julies Hand steckt bis zum Handgelenk in meinem Brustkorb. Doch da ist kein Blut. Kein Schnitt. Keine Wunde.
»Schhh«, ertönt ihre Stimme beruhigend und ich halte still, voller Panik, zittere und sehe, wie sie langsam die Hand zurückzieht. Keine Wunde, kein Blut. Nichts. »Du gibst mir doch etwas davon ab, oder, Keegan? Nur ein kleines bisschen«, fleht sie. Ein Leuchten erhellt die Schatten zwischen uns. Sie hält einen Kristallsplitter in den Händen, so klein, so wunderbar warm leuchtend und ich fühle mich, als wäre ich etwas Wichtigem beraubt worden.
Entsetzt sehe ich sie an, spüre, wie mir der Schweiß von der Stirn rinnt, und da lächelt sie plötzlich – ein grauenhaftes Lachen, das direkt aus der Hölle kommt und ihr Gesicht mit einem Mal völlig entstellt.
Ich schreie, stoße sie von mir, doch sie ist stark und streckt die Finger erneut nach meiner Brust aus, um wieder in mein Herz zu greifen.
Ich strample, ringe um mein Leben.
Ein weiterer Stoß.
Sie fällt zurück.
Und da ertönt ein schneidendes Geräusch direkt vor mir. Eine Klinge fährt durch ihren Hals. So präzise. So tödlich.
Ein letztes Mal noch reißt sie die Augen auf, ihr Kopf längst nicht mehr Teil ihres Körpers, der Kristall gleitet aus ihrer Hand, dann verpufft sie zu Staub – einfach so – und Lark steht wieder vor mir, eine Sichel so groß wie er selbst in der Hand. Er fängt den Kristall und wirft ihn mir zu.
»Die hier zu verlieren, kann dich Kopf und Kragen kosten, mein Lieber. Schluck ihn runter.«
Automatisch fange ich ihn auf. »Ich soll was?«
»Schlucken, sofort!«
Seine Stimme hallt laut in meinen Ohren, lässt mich zusammenfahren und keine Widerrede zu, also mache ich, was er sagt. Es kratzt ein bisschen, doch ich merke, wie das Leeregefühl nachlässt – ich wieder ganz bin. Meine Hand krallt sich in mein Shirt. Ja, verdammt. Ich träume. Hundertprozentig. Das alles ist ein schlechter Scherz. Ein Albtraum der ganz besonderen Art. Ich muss ihn nur durchstehen, eine verfluchte Nacht lang, und danach ist alles wieder gut.
Ich beobachte, wie Lark sich misstrauisch in der Wohnung umsieht, die Ohren gespitzt. Die Sichel, die er eben noch in der Hand hatte, ist verschwunden.
»Was war das da eben? Das war nicht Julie, oder?«
Sein eiskalter Blick hört auf zu wandern, fällt auf mich.
»Ich kenne dich, Keegan. Ich weiß, was du dir nachts in deinem Kopf zusammenreimst. Dunkle Ideen, die dir so gar nicht bekommen.« Der Blick aus seinen eisigen Augen tastet mich ab. »Unaussprechliche Dinge sind hinter dir her, die dich auffressen, wenn du nicht bald handelst.«
…