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Feilkode 418

Nefarius - Lüsterne Schatten

Nefarius - Lüsterne Schatten · Romane

,,Ich bin ihre Nachfolgerin, ich habe es im Blut dich aufzuhalten" ,,Mag sein. Doch zugleich auch ihre Schwäche. Deine Gefühle bedeuten Tod"

Hva vil du med boka?

Ich möchte den Menschen die gleiche Freude beim lesen schenken, wie ich sie beim schreiben hatte. Eine ausgefallene, besondere und direkte Geschichte, in welcher über zehn Jahre Arbeit stecken. Mit nachvollziehbaren, emotionalen Kämpfen. Spannend verarbeiteten Klischees. Unvorhersehbare Entwicklungen, unverblümte Konversationen und das Leben wie man es kennt, aus einer neuen Sichtweise sehen. Das Ziel meiner Geschichte? Die innere Komfortzone zu verlassen. Zu lachen, zu weinen und nachts nicht schlafen können, da man sich trotz der Bosheit dieser Welt weiterhin darin aufhalten will. Ich schreibe nicht um zu leben, ich lebe um zu schreiben.

Om forfatteren

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Schreiben ist Mut, Hoffnung, Liebe. Doch zugleich auch Angst und Schmerz. Erst wenn man seine Geschichten fühlen, im Innersten spüren kann, erst dann erkennt man was ein Buch ausmacht

Kapitel 01


,,Und, Miss Nuvoir? Weshalb sind wir denn heute zu spät?“ sagte Mr. Hester gelangweilt.
Er war Amalies Klassenlehrer. Ein äußerst dürrer, arroganter Mann.
,,Ich hab wieder verschlafen“ sagte sie ausdruckslos und setzte sich eilig auf ihren Platz.

Das war gelogen. In Wahrheit hatte sie die Schulsachen für ihre Schwestern suchen
müssen, da diese zu faul dafür gewesen waren.
,,Mal etwas ganz neues. Na gut, Kinder. Öffnet eure Bücher auf Seite 35“
Tuschelnd und lachend blickten die anderen in der Klasse zu Amalie.
Diese war es schon gewohnt, dass man über sie lachte oder mit dem Finger auf sie
zeigte.
Sie war der typische Außenseiter, keiner sprach je mit ihr oder war auf ihrer Seite.
Auch wenn sie nicht wusste weshalb.
Nun war Pause und Amalie setzte sich an das andere Ende des Schulhofes. Direkt unter
den Baum, unter welchem sie jeden Tag saß.
Amalie war ein ruhiger Mensch. Was unter anderem davon kam, dass man sie dazu
erzogen hatte niemals auch nur ansatzweise zu widersprechen.
Und dies wurde teilweise mit Ohrfeigen ihres Vaters untermauert.
Ihre beiden Schwestern waren die Prinzessinnen in der Familie. Verwöhnte Gören in
den neusten Klamotten.
Amalie dagegen war eher schmuddelig gekleidet, in Sachen welche ihre Schwestern
nicht einmal anrühren würden.
Ihre langen, dunkelblonden Haare hingen Amalie fettig ins Gesicht. Schminken kam für
sie nicht in Frage, weshalb sie ihre großen, grünen Augen immer hinter einer riesigen,
braunen Hornbrille versteckte.
Sie hatte volle Lippen und einen leicht korpulenten Körperbau. Wobei die paar Gramm
zu viel an den richtigen Stellen saßen.
Der Tag würde wie jeder andere enden und am liebsten wäre sie jetzt in ihrem Bett.
Doch dies würde bedeuten, sie wäre wieder zu Hause. Und das war noch schlimmer als
hier zu sein.
Es gab keinen Ort auf dieser Welt, den sie mehr hasste.
Allerdings hatte Amalie dies inzwischen akzeptiert. In genau zwei Tagen würde sie
nämlich sterben.

Amalie würde sich umbringen. Der Entschluss war nun gefasst.
,,Und vergesst nicht, Kinder, übermorgen gibt es ein Fest zu Ehren des neuen
Bürgermeisters. Ich möchte, dass ihr euch dort alle einfindet und einen Aufsatz darüber
schreibt!“ sagte Mr. Hester mit leicht nasaler Stimmlage und schob seine Notizen zur
Seite.
Lautes Gemurmel ging durch die Klasse. Nur Amalie war weniger interessiert an dem
was ihr Lehrer sagte. Sie würde während dieser Feier von irgendeinem Gebäude
springen, deshalb hielt sie diese Hausaufgabe für nicht besonders relevant.
,,Amalie, könntest du aufhören zu malen und gefälligst aufschreiben was ich hier
sage?“
Doch Amalie war zu sehr in Gedanken versunken. Sie bekam gar nicht mit, dass der
Lehrer mit ihr sprach.
,,Nachsitzen!“ rief er auf einmal wütend und Amalie schreckte auf.
,,Aber ich...“

,,Kein Aber! Du bleibst heute länger!“
Amalie seufzte und und packte ihre Zeichnung weg.

,,In Ordnung, Mr. Hester“ sagte sie leise und lauschte wieder dem Unterricht.
Amalie kam erst gegen 16 Uhr nach Hause.
Ihre Mutter stand schon mit verschränkten Armen vor der Türe und blickte sie wütend
an.
,,Wo zur Hölle warst du so lange? Denkst du etwa ich koche, nur weil du nicht
pünktlich nach Hause kommst?“ schrie sie mit ihrer schrillen Stimme und zog Amalie
an ihrem ausgefransten Pullover nach drinnen.
,,Ich musste nachsitzen“ murmelte sie leise und stolperte beinahe über den Teppich.
,,Schon wieder?! Pass auf wenn dein Vater das erfährt!“
,,Wenn ich was erfahre?“ sagte Erwin Nuvoir ernst.
Amalies Vater kam vom Wohnzimmer in den Flur und starrte seiner Tochter feindselig
entgegen.
Wie sehr sie diesen großen, selbstgerechten Tyrann hasste. Ihr ganzes Leben lang
wurde Amalie von ihrem Vater unterdrückt und gedemütigt.
Momentan wütete in ihr allerdings nur noch die Angst.
So schmächtig Erwin Nuvoir trotz seiner Größe auch aussehen mochte, nachdem er vor
mehreren Jahren angefangen hatte Amalie gegenüber handgreiflich zu werden, da
steigerte sich ihr Unwohlsein zu richtiger Furcht.
,,Sie musste schon wieder nachsitzen, Erwin!“

Amalie schluckte. Sie erkannte den bösen Ausdruck in den Augen ihres Vaters.
Dieser packte sie am Nacken und zog sie die Treppe nach oben in ihr Zimmer, bevor er
Amalie wütend hinein warf.
,,Du sollst doch keinen Unfug mehr machen! Wie oft muss ich dir das noch einprägen?“
rief er ungehalten, während Amalie sich langsam wieder aufrichtete.
,,Es tut mir Leid, Vater. Bitte, ich...“
Doch da schlug er ihr mit der flachen Hand hart ins Gesicht und verpasste ihr eine
heftige Ohrfeige.
Amalie drehte sich zur Seite und versuchte Tränen zu unterdrücken.
,,Wenn du dich nicht langsam am Riemen reißt, dann muss ich schlimmere
Maßnahmen ergreifen!“ sagte er und funkelte sie erneut böse an.
Mit einem letzten, hasserfüllten Blick musterte er Amalie abwertend, bevor er wieder
nach draußen verschwand.
Amalie setzte sich auf ihr Bett und weinte, weinte bitterlich.
Es tat so weh. Alles in ihr brannte in einem so unglaublichem Feuer aus Schmerz und
Verzweiflung. Sie konnte einfach nicht mehr, sie wollte nur noch sterben.
,,Ich werde es tun, übermorgen. Und nichts wird mich davon abhalten!“
Sie ging hinunter um zu kochen, versuchte dabei den spöttischen und beleidigenden
Kommentaren ihrer Schwestern aus dem Weg zu gehen und gab sich Mühe nichts
falsch zu machen.
Nach dem Essen setzte sie sich an ihre Hausaufgaben und an die ihrer Schwestern, bevor sie hundemüde ins Bett fiel.
Der nächste Tag würde wieder so ablaufen wie alle anderen Tage der vorherigen
Wochen.
Deswegen war sie im Moment einfach nur zufrieden damit, für eine kurze Weile in das
Land der Träume zu entfliehen.
Doch als sie so im Bett lag, schweiften ihre Gedanken ab. Sie dachte erneut über ihr
Leben nach.
Über einen ganz bestimmten Punkt.
Sie war nun fast 20 Jahre alt und hatte noch nie einen festen Freund gehabt. Sie wusste
nicht einmal wie es sich anfühlte jemanden zu küssen. Deswegen fehlte ihr auch
irgendetwas in ihrem Dasein.
Amalie war ihr ganzes Leben zurückhaltend gewesen.
Traute sich nicht auch nur ein falsches Wort zu sagen.
Sprach nur wenn man sie dazu aufforderte und ließ so ziemlich alles mit sich machen,
egal wie ungerecht es auch war.

Wie es wohl sein musste einen Menschen an seiner Seite zu haben, von welchem man
unterstützt und geliebt wird...
Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Wie erwartet lief der nächste Tag wie der vorherige ab.
Sie kam ein weiteres Mal zu spät, bekam wieder Ärger mit ihrem Lehrer und musste
erneut Nachsitzen.
Umso später es wurde, während sie wartete nach Hause gehen zu dürfen, umso mehr
Angst bekam sie vor dem was passierte, wenn sie dort ankommen würde.
Doch da sie eh schon zu spät war, nahm sie den langen Weg nach Hause.
Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
Nun stand sie vor der Haustüre und zögerte. Den Schlüssel in der Hand, doch bekam es
nicht hin, ihn in das Schloss zu stecken.
Heute war ein selten kalter Tag.
Der Wind ließ die wenigen Blätter der kahlen Bäume zittern, während Amalie eine
Gänsehaut überkam. Sie hatte zwar einen Pullover an, doch ihre Jeanshosen waren alle
zerrissen. Daher trug sie heute nur einen schmalen Rock mit einer sehr dünnen
Strumpfhose darunter.
Ein feiner Geruch von frischen Regentropfen lag in der Luft. Es war, als könnte man die
nassen Straßen riechen.
Amalie seufzte.
Alles in ihr sprach dagegen dieses Haus zu betreten. Doch nun stand sie seit mehr als
zehn Minuten hier und bekam das Gefühl beobachtet zu werden.
Langsam drehte sie sich zur Straße und sah sich um.
Allerdings war niemand zu sehen. Der nahende Sturm brachte die Menschen dazu ihre
Außenwelt zu meiden.
Das Gefühl nicht alleine zu sein wurde allerdings immer stärker, weshalb sie ihren
Schlüssel fester umklammerte und ihn in das hochwertige Schloss der Haustüre
steckte.
Nach mehreren Sekunden des Zögerns brachte sie es schlussendlich doch über sich und
ging hinein.
Das gesamte Haus war mucksmäuschenstill.
Langsam lief sie nach drinnen. Unter ihren schweren Schritten ächzte eine der
Parkettdielen und machte ein lautes, knarzendes Geräusch.
Sie blieb kurz stehen und hielt die Luft an.
Immer noch kein Mensch zu sehen.

Amalie lief weiter. Erst über den karmesinroten Teppich, dann an den hässlichen
Familienportraits vorbei, auf welchen sie selbst natürlich nicht abgebildet war.
Oben angekommen blickte Amalie angespannt durch den leicht erhellten Flur, während
ihr der widerliche Geruch von alten Mottenkugel und billigem Lufterfrischer in die Nase
stieg.
Immer noch nichts zu hören. Das war äußerst merkwürdig.
Sie schlich leise in ihr Zimmer und schloss die Türe hinter sich, glücklich darüber allein
zu sein.
Amalie drehte sich um woraufhin ihr Herz stockte, ebenso wie ihr Atem.
Ihr Vater saß mit ausdrucksloser Miene auf dem Bett, einen Gürtel in der Hand.
Seine kleinen, hellbraunen Augen starrten ihr mit schrecklichem Hass mitten in die
Seele.
Amalies Knie begannen zu zittern. Sie ging einen Schritt zurück bis sich ihr Rücken
gegen die cremefarbene Zimmertüre drückte. Ihr Magen verkrampfte sich während
Panik in ihr aufstieg.
,,Du musstest wieder nachsitzen“ sagte Erwin mit ruhiger Stimme und fuhr mit seinen
knochigen Fingern sanft über das schwarze Leder seines Gürtels.
Den Blick ununterbrochen auf seine Tochter gerichtet.
,,N-Nein, musste ich nicht. Wir haben heute länger Sport gemacht und...“
Da sprang Erwin auf, griff sie am Nacken und schleuderte sie auf ihr Bett.
,,Und jetzt lügst du auch noch?!“ rief er lauthals, fassungslos über die Dreistigkeit
seiner Tochter ihm tatsächlich solch eine erbärmliche Ausrede entgegenzubringen.
Erwin packte sie wütend an den Haaren und zog ihr hochrotes Gesicht nah an das
seine.
Der Schmerz welcher sein Griff in Amalie auslöste trieb ihr Tränen in die Augen.
,,Dein Lehrer hat angerufen und mich darüber informiert, dass du schon wieder
nachsitzen musstest! Jetzt kannst du was erleben, falsche Schlange!“
Er ließ ihre Haare los, holte mit dem Gürtel aus und schlug voll blinder Wut auf Amalie
ein.
Diese hielt sich ihre Arme schützend vor ihr Gesicht, was leider nicht besonders viel
brachte. Der Schlag ihres Vaters war so so fest, dass es den Ärmel ihres Pullovers
auseinander riss.
Amalie schrie auf vor Schmerz und hielt sich den geröteten Arm.
,,Bitte hör auf! Ich lüge nie wieder!“ schrie Amalie verängstigt und begann fürchterlich
zu weinen.
Erwin schenkte ihren verzweifelten Worte allerdings keine Beachtung und erhob den

schwarzen Ledergürtel ein weiteres Mal, um ohne Gnade auf sie einzuschlagen.
Plötzlich sprang Amalie auf und schubste ihn mit ungewöhnlicher Wucht zurück.
Er verlor das Gleichgewicht, fiel hintenüber und rutschte auf dem schmalen,
schmutzigen Teppich unter ihm aus.
Erwin knallte direkt gegen den kleinen Kleiderschrank, welcher sich am anderen Ende
des Zimmers befand.
Das dunkle Holz krachte und begann zu splittern als er hart gegen die brüchigen
Schranktüre stieß.
,,Lass mich gefälligst in Ruhe, du verdammter Mistkerl! Nur weil dein Leben Scheiße ist
musst du den Frust über deine schwindende Potenz nicht an mir auslassen!“ schrie
Amalie wütend und ballte die Hände zu Fäusten.
Erwin richtete sich ein Stück auf und sah seiner Tochter schockiert entgegen.
Diese bemerkte erst jetzt was sie gerade gesagt, geschweige denn getan hatte.
Entsetzt schlug sie sich die Hände auf den Mund.
Amalie hatte keine Ahnung wie solch ein übertriebener Emotionsausbruch Zustande
kommen konnte.
Mehrere Sekunden eisige Stille, während sich die beiden angespannt entgegen sahen.
,,Jetzt kannst du was erleben“ sagte Erwin mit bebender Stimme.
Eilig richtete er sich wieder auf, als in Amalies Kopf eine leise Stimme zu sprechen
begann.
,,Renn!“
So schnell sie konnte rannte sie zu ihrer Zimmertüre und drehte den Schlüssel. Sie riss
die Türe auf, was ihr leider nichts mehr brachte.
Erwin packte sie erneut am Nacken, wobei seine langen Fingernägel sich tief in ihre
weichen Haut drückten.
Wütend warf er sie wieder in das Zimmer, wobei er Amalie einen Teil ihres Pullovers
zerriss.
Ihr Schulterblatt sowie ihr rechter Arm lagen nun frei, als Amalie hart auf den Knien
direkt vor ihrem Bett zu Boden fiel.
,,Wie kannst du es wagen so mit mir zu sprechen?!“ brüllte Erwin aufgebracht.
Eine violette Ader bildete sich an seinem langen, schmalen Hals. Es wirkte, als würde
sie unter seiner bleichen Haut pulsieren. Wie wenn sich ein lavendelfarbener Wurm
durch seine Kehle fressen würde.
Diese Ader trat nur hervor wenn er sich schrecklich aufregte.
Erwin packte erneut seinen Gürtel, dieses Mal allerdings fester.
Mehrmals, ohne jegliche Rücksichtnahme, schlug er ununterbrochen auf Amalie ein.

Blutige Striemen bildeten sich an ihren Armen und auf ihrem Rücken.
Amalie schrie auf vor Schmerz und flehte ihn ängstlich an aufzuhören.
,,Du lebst unter meinem Dach!“
Er schlug erneut zu.
,,Du isst mein Essen!“
Ein weiterer Schlag.
,,Dein ganzes, verdammtes Leben verdankst du nur meiner Güte!“
Keuchend hielt er inne und sah Amalie voller Zorn entgegen. Diese lag nur wimmernd
am Boden, zitternd und voller Angst.
,,Und dann besitzt du tatsächlich die Frechheit mich zu belügen und zu beschimpfen?“
sagte er nun etwas leiser als zuvor, dennoch mit weiterhin scharfem Unterton.
Ein Moment der Stille.
Amalie brachte vor Schmerz keinen Laut hervor.
,,Dafür musst du bestraft werden, Amalie. Es gibt keinen anderen Weg“
Nun war Erwin unerbittlich. Bei jedem Schlag holte er etwas weiter aus.
Erst nach mehreren Minuten hielt er inne und ließ, nach Luft ringend, den Gürtel fallen.
,,Musst du noch einmal nachsitzen oder wagst es mir gegenüber auch nur ansatzweise
frech zu werden, dann schlage ich nicht nur mit einem Gürtel zu. Hast du das
verstanden?“
Er kniete sich neben Amalie und sah ihr in das verweinte Gesicht.
Diese brachte immer noch kein Wort zustande.
,,ANTWORTE!“
,,Verstanden, Vater“
Erwin stand wieder auf und sah noch ein letztes Mal auf Amalie herab.
,,Du solltest den Raum heute nicht verlassen. Ich will dich nicht mehr sehen!“
Und mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Amalie blieb weinend, wenn auch stumm, auf dem Boden liegen und sah ausdruckslos
dabei zu wie ihr Blut langsam über das ausgeblichene Parkett lief.
Wie sehr Amalie sich wünschte, dass ihr Vater sie totgeschlagen hätte.
Kapitel 02
Sie hatte sich ihre Wunden selbst verbunden, doch erst nachdem sie ihren unruhigen
Schlaf beendet hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Amalie unter Schmerzen
einschlief.
Und es war sicherlich auch nicht das letzte Mal.

Nun war Freitag. Heute war das Fest zu Ehren des neuen Bürgermeisters, weswegen
die Schule ausfiel.
Noch keiner hatte ihn bisher gesehen. Die Existenz dieses Mannes wurde regelrecht
geheimgehalten.
Zuerst sollte allerdings der bisherige Bürgermeister eine Rede halten.
Danach würden die ganzen Stände öffnen, bei welchen Süßigkeiten, Essen und Zeug
verkauft wurde, welches niemand haben wollte man aber dennoch Geld dafür ausgab.
Dies war Amalie ziemlich egal.
Nach der Rede würde sie heimlich verschwinden und an das andere Ende der Stadt
laufen.
Dort waren die Klippen von Whitning, der perfekte Ort um ihr Leben zu beenden.
Ein beinahe endloser Wald, bestehend aus alten alten Eichen, knorrigen Fichten und
spitzen Tannen. Meistens umhüllt von dichtem Nebel, egal zu welcher Tageszeit.
Der unebene Boden bewachsen von dichtem, dunkelgrünem Moos in welchem sich
seltenes Ungeziefer vor Feinden verbarg.
Ein Geruch von nassem Gras und verbranntem Holz stieg einem in die Nase, doch erst
wenn man tief zwischen den bejahrten Bäumen umherstreifte. Zu Beginn roch es erdig
und frisch, als würde der Wald einen einladen hier spazieren zu gehen.
Doch Amalie hatte den Wald von einer ganz anderen Seite kennengelernt.
Ihr Vater nahm sie früher oft mit dorthin. Ließ sie über Stock und Stein stampfen, bis
sie sich die Seele aus dem Leib kotzte.
Erwin war der Meinung so Amalies Fettleibigkeit bekämpfen zu können.
Währenddessen saßen seine anderen beiden Töchter Zuhause auf der Couch, starrten
gleichgültig in den riesigen Fernseher und stopften eine beträchtliche Menge Pizza in
sich hinein.
Irgendwann gab Erwin dieses Unterfangen schließlich auf.
Es war ihm die Mühe nicht länger wert.
Nun war Amalie mit ihrer gesamten Familie auf dem Fest eingetroffen.
Ihre beiden Schwestern in wunderschönen, bunten Kleidern und Amalie, wie immer, in
einer alten Jeanshose, sowie einem viel zu großem, roten Strickpullover.
Doch an sich sah Amalie lieber etwas heruntergekommen aus, als das sie solch ein
überschminktes Gesicht wie das ihrer Schwestern hatte.
Die Nuvoirs suchten sich freie Plätze und setzten sich hin.
Die hölzernen Klappstühle waren äußerst unbequem. Dies brachte Amalies ältere
Schwestern direkt dazu, eine Hymne an Beschwerden anzustimmen. Natürlich hörten
diese verwöhnten Gören erst damit auf ihrer Aversion kundzutun, als Erwin ihnen Süßigkeiten zum Mittagessen versprach.

Amalie schob sich gelangweilt ihre Brille hoch und blickte desinteressiert in Richtung
Tribüne.
Die Menschen um sie herum warteten gespannt darauf den neuen Bürgermeister
kennenzulernen.
Amalie war dies einerlei. Sie wollte einfach nur die Versammlung hinter sich bringen
und dann klammheimlich verschwinden.
Da begannen auf einmal alle zu klatschen und sie sah auf.
Der frühere Bürgermeister, Mr. Pombey, kam auf die Bühne und sah mit einem
verschmitzten Grinsen in die Menge, während er sich langsam dem Mikrofon näherte.
Ein äußerst korpulenter Mann, mit schwindendem Haar und stark gebräunter
Lederhaut. Sein Anzug sah aus, als wäre er von blinden Kindern genäht worden.
Mehrere undefinierbare Farbmuster, welche in kleinen Vierecken aneinanderreihten.
Schwer atmend stellte er sich an das Rednerpult und verteilte hustend seine Bakterien
in Form von Spucke um das Mikrofon herum, bevor er zu Sprechen begann.
,,Herzlich Willkommen meine geliebten Mitbürger. Wir haben uns heute hier
versammelt, um gemeinsam meinen Abschied und zugleich den Amtsbeginn meines
Nachfolgers zu feiern“
Die Menge klatschte erneut, während Amalie weiterhin gleichgültig auf die Bühne
starrte.
,,Amalie, verdammt nochmal! Jetzt pass gefälligst auf!“ zischte ihre Mutter empört.
Diese nickte nur und setzte sich aufrecht hin, als Mr. Pombey erneut das Wort
aufnahm.
,,Ich weiß, es ist eine gewisse Umstellung für uns alle. Ohne jegliche Wahl, einfach
einen neuen, unbekannten Menschen als Bürgermeister für unsere kleine Stadt
Whitning zu akzeptieren. Dennoch haben wir sehr gute Gründe dafür. Meine lieben
Freunde, ich darf vorstellen, Mr. S. P. Wulf!“
Da kam ein Mann auf die Bühne. Groß, schlank und in einem violett, schwarz
gestreiften Nadelanzug.
Er hatte eine kleine, rechteckige Sonnenbrille auf seiner langen, spitzen Nase.
Kaum stand er vor dem Mikrofon, nahm er sie ab und zeigte mit einem Lächeln seine
strahlend weißen Zähne. Er hatte ein dünnes, markantes Gesicht und schmale Lippen.
Kinnlanges, dunkelbraunes Haar, dessen Scheitel links lag. Seine Frisur war leicht
gestuft und lag locker auf den geraden Schultern.
Amalie starrte ihn fasziniert an.
Dieser Mann hatte etwas an sich. Sie wusste nicht warum oder was genau es war, doch er kam ihr irgendwie bekannt vor.
Mr. Wulf holte ein Taschentuch hervor und wischte ausdruckslos um das Mikrofon
herum, bevor er das Wort an die stumpfsinnige Menschenmenge vor sich wandte.
,,Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen allen. Wie Mr. Pombey schon
sagte ist mir recht bewusst wie ungewöhnlich es für Sie alle sein muss, nun einen
Fremden als Bürgermeister zu akzeptieren. Dennoch, meine Lieben, werde ich die
Regierung dieser Stadt in ein neues Licht rücken. Hier wird sich ab sofort eine Menge
ändern und glauben Sie mir, schon bald werden Sie verstehen warum dies gut so sein
wird“
Zögerlich, dennoch recht laut, applaudierten die Menschen wieder.
Nur Amalie konnte nicht aufhören diesen geheimnisvollen Mann, mit seinem viel zu
freundlichem Lächeln anzustarren.
Da blieb sein Blick an dem ihren hängen. Erst jetzt erkannte sie welch blutrote Iris er
hatte.
Beide Augen funkelten in seinem solch schaurigem Blutrot, dass ihr eine Gänsehaut
über den Rücken lief.
Amalie wurde schon beinahe unwohl dabei ihn anzusehen.
Die beiden starrten sich mehrere Sekunden eindringlich an, während Amalie ein
seltsames Gefühl durchblitzte.
Es folgte eine lange Rede, von welcher Amalie allerdings nichts mitbekam.
Sie sah Mr. Wulf einfach nur an, im Geiste grabend woher sie ihn nur kannte.
Doch mit einem Mal standen alle auf. Sie bemerkte, dass die Rede zu Ende war.
Amalie schüttelte den Kopf und versuchte diesen seltsamen Mann zu vergessen.
Nun war es für sie an der Zeit zu verschwinden.
Ihre Eltern bemerkten gar nicht, dass Amalie länger sitzen blieb.
Sie folgten einfach ihren anderen beiden Töchtern Luisa und Edna, ins Getümmel vor
den Ständen.
Amalie strich sich die zerzausten Haare hinter die Ohren und stand nun auch langsam
auf.
Sie lief in die entgegengesetzte Richtung der Menschenmenge, direkt an der Tribüne
vorbei und weiter ins Innere der Stadt.
Doch auf einmal sprach sie jemand von der Seite an.
,,Das Fest findet in der anderen Richtung statt“ sagte Mr. Wulf lächelnd, die Arme
hinter dem Rücken verschränkt.
Erschrocken wirbelte Amalie herum.
Sie erwiderte darauf nichts, sondern sah ihn nur entgeistert an.

Es war, als würde die Luft zwischen den beiden knistern.
Amalie hatte keinen Schimmer aus welchem Grund.
,,Etwa die Zunge verschluckt?“
Er zeigte wieder seine strahlend weißen Zähne.
Amalie klang seine helle, dennoch unheimliche Stimme in den Ohren.
,,Ähm, nein. Ich mag es nicht besonders so viele Leute um mich zu haben“ antwortete
Amalie nun zurückhaltend.
,,Verstehe. Allerdings, alleine durch die Stadt zu laufen ist auch nicht unbedingt
interessant, oder?“
Sie sah ihn immer noch fasziniert an. Das Funkeln in seinen Augen schien sie beinahe
zu bannen.
Er hingegen konnte nicht fassen, dass sie tatsächlich vor ihm stand.
Noch dazu war sie wieder so blutjung.
,,Wenn ich ehrlich bin, doch. Ich hab nicht oft meine Ruhe“ meinte sie angespannt und
schob sich die Brille wieder richtig auf ihr Nasenbein.
,,Blödsinn. Na komm. Ich wollt mich jetzt auch etwas auf dem Fest umsehen. Gehen wir
einfach zusammen, Emily“ sagte er immer noch lächelnd und legte eine Hand auf ihre
Schulter.
Doch als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen zog er seine Hand augenblicklich
wieder zurück. Sein Lächeln verschwand für eine Sekunde, dann kehrte es zurück.
Nun schob Mr. Wulf sie langsam in Richtung Fest, als Amalie stehen blieb und zögernd
etwas erwiderte.
,,Eigentlich heiße ich Amalie, nicht Emily. Und woher wissen Sie eigentlich meinen
Namen?“
Da setzte Mr. Wulf wieder seine Sonnenbrille auf und sein Lächeln wurde breiter.
,,Weil ich dich kenne. Oder sagen wir, ich hab geraten. Na los, komm mit“
Er zog sie mit sich und mal wieder ohne Widerworte, dennoch verwundert, lief sie mit
ihm ins Getümmel der Menschenmenge.
Also musste ihr Plan noch etwas warten.
Sie fand es nur sehr merkwürdig wie er der Meinung sein konnte sie zu kennen.
Beziehungsweise, weshalb sollte der neue Bürgermeister Interesse daran haben mit ihr
über das Festgelände zu schlendern?
Vielleicht war es aber auch nur eine Aktion um den Menschen zu zeigen, dass er ein
Herz für Jugendliche hatte. Egal was es war, irgendetwas kam ihr hier falsch vor.
Und sie musste dringend herausfinden was dahinter steckte.

Kapitel 03
Viele Leute kamen auf Mr. Wulf zu, schüttelten ihm die Hand und fingen unfassbar
sinnlose sowie heuchlerische Gespräche an.
Mr. Wulf lächelte allerdings nur und beantwortete die ein oder andere Frage.
Er versuchte ununterbrochen seinen Unmut über diese idiotischen Einschleimversuche
zu verbergen, worin er inzwischen ziemlich gut war.
Amalie stand währenddessen nur daneben und sah sich nervös um.
Sie hoffte ihrer Familie nicht zu begegnen.
,,Dir gefällt es anscheinend wirklich nicht“ meinte Mr. Wulf, nachdem er nun wieder
allein mit ihr war.
,,Ich möchte nicht unbedingt meiner Familie begegnen. Es reicht, sie den Rest des Tages
sehen zu müssen“ murmelte Amalie in Gedanken.
Ihr fiel erst kurz danach auf, was sie da gerade gesagt hatte.
Mr. Wulf blieb stehen und sah sie ernst an.
,,Du scheinst deine Familie nicht unbedingt zu mögen, oder?“ sagte er und blickte ihr in
die hellgrünen Augen.
Gerade als Amalie antworten wollte, sah sie jedoch genau das wovor sie schon die
ganze Zeit Angst gehabt hatte.
Lorinda Nuvoir kam angerannt und ihr Blick war alles andere als amüsiert.
,,Amalie, was tust du denn da? Hör gefälligst auf den Bürgermeister zu belästigen!“ rief
sie wütend und packte Amalie mit ihren kleinen Wurstfingern am Arm.
,,Es tut mir schrecklich Leid, Mr. Wulf. Ich werde diesen Schandfleck von einer Tochter
sofort aus ihrem Blickfeld entfernen“ meinte Lorinda mit einem verschmitzten Grinsen.
Sie wollte Amalie gerade mit sich ziehen, als Mr. Wulf sich einmischte.
,,Sie müssen Mrs. Nuvoir sein. Sehr erfreut Sie kennenzulernen“
Er streckte ihr die Hand hin, wodurch Lorinda den Arm ihrer Tochter losließ und Mr.
Wulf Amalie schnell hinter sich schieben konnte.
,,Oh, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mr. Wulf. Ich bin mir sicher, dass Sie
diese Stadt mit den richtigen Taten in eine neues Licht rücken werden“ sagte Lorinda
mit einem hässlichen Grinsen.
Amalie sah die beiden nachdenklich an. Woher wusste Mr. Wulf eigentlich auch noch
ihren Nachnamen?
,,Der Meinung bin ich auch. Ach und wissen Sie, Sie haben eine ganz wundervolle
Tochter“
,,Oh, natürlich. Amalie ist ein ganz tolles Mädchen“ meinte ihre Mutter überfreundlich, doch wusste nicht ganz wie sie weiterhin auf solche Worte reagieren sollte.

Mr. Wulf musterte sie einen Moment lang etwas genauer.
Eine recht dicke, unförmige Frau, die sich in Designerklamotten quetschte, welche ihr
absolut nicht passten. In viel zu grellen, schrillen Farben. Dementsprechend auch das
übertriebene Make-up im gesamten Gesicht.
Ihre hellbraunen Locken waren vermischt mit widerlichen, orangefarbenen Strähnchen,
wobei der Mittelscheitel den sie trug ihr Gesicht noch viel fetter wirken ließ.
Jetzt sah er zu Amalie und wieder zu ihrer Mutter zurück. Ihm fiel auf wie verschieden
die jeweiligen Kleidungstypen waren. Man konnte sagen, es waren zwei verschiedene
Welten.
,,Nun gut, Mrs. Nuvoir. Ich denke, Sie haben nichts dagegen wenn ich mit Ihrer Tochter
noch ein wenig über das Festgelände laufe“ meinte Mr. Wulf und lächelte breit.
Lorindas Lächeln verschwand bei diesen Worten und Amalie sah ihn überrascht an.
,,A-Aber natürlich nicht, Mr. Wulf. Ich frage mich nur, warum ausgerechnet meine
kleine Amalie?“ stotterte Lorinda ein wenig schockiert und überfordert zugleich.
,,Ach, ich weiß auch nicht. Ich hab sie einfach gern“
Und mit diesen Worten legte er Amalie wieder die Hand auf die Schulter und
verschwand mit ihr in der Menge, während Lorinda verärgert stehen blieb.
,,Warte ab bis du nach Hause kommst! Warte nur ab“
Es roch nach Zuckerwatte, Lebkuchen und gebratenen Würstchen. Überall hörte man
Gelächter und verschiedene Arten von Musik.
Amalie sah sich geistesabwesend um.
Sie kannte eine Menge Menschen hier. Viele aus ihrer Schule rannten über den
Festplatz, doch niemanden davon konnte sie leiden.
Ihr fiel noch etwas anderes auf. In der Menge liefen mehrere Männer in dem gleichen
Outfit durch die Gegend. Schwarzweißes Oberteil ohne Ärmel, lange schwarze Jeans
und glänzende Turnschuhe an den Füßen. Sie waren alle ziemlich muskulös, hatten
jedoch einen besonders ernsten Blick aufgesetzt.
Solche Menschen hatte sie in Whitning noch nie gesehen. Die mussten zu Mr. Wulf
gehören.
Sie schüttelte seufzend den Kopf.
Für einen Moment überlegte Amalie einfach wegzurennen.
Schließlich hatte sie ja eigentlich vorgehabt zu sterben.
Mr. Wulf war wieder mit mehreren Leuten im Gespräch, das war ihre Chance.
Langsam drehte sie sich zur Seite.
Jetzt oder nie.

Amalie lief los und ging eilig durch die Menge. Bisher kein Rufen welches sie stoppen
wollte. Sie war fast am Ende des Festplatzes angekommen, als sich ihr jemand in den
Weg stellte.
Mit großen Augen blickte sie einem dieser seltsamen, muskulösen Männer in die Augen.
Er war ziemlich groß, weshalb sie den Kopf anheben musste um ihm in die Augen zu
schauen.
,,Du solltest lieber umkehren“ meinte er mit sanfter, jedoch tiefer Stimme.
Diese hatte schon beinahe etwas paralysierendes.
Amalie ging nervös einen Schritt zurück und legte die Stirn in Falten.
,,Wieso?“ antwortete sie kleinlaut.
Der Mann holte eine Zigarette aus seiner Hosentasche und zündete diese an, dabei sah
er sich lächelnd in der Gegend um.
,,Weil deine Zeit noch nicht gekommen ist“ meinte er nun ausdruckslos.
Amalie war nun noch verwirrter als zuvor.
,,Wer bist du eigentlich und was willst du von mir?“
Er zog leicht an seiner Zigarette wobei die heiße Glut in einem hellen Rot zu glühen
begann. Die Wolke welche an Amalie dadurch vorbeizog hatte einen äußerst
unangenehmen Geruch.
,,Gib mir deine Hand, Kleines“
Und bevor Amalie reagieren konnte griff er mit den Fingern nach den ihren.
Wie in einem massiven Rausch versank Amalie mehrere Sekunden lang in einem Meer
aus Bildern.
Erst sah sie das Innere von einem U-Boot, die Blicke von mehreren Männern auf sie
gerichtet. Dann stand sie vor einer Menge Frauen, welche recht verwahrlost aussahen,
ihr dennoch aus voller Seele zujubelten.
Ein weiteres Bild in welchem sie in einer Wüste stand, umgeben von sehr vielen
Männerleichen.
Viele weitere Szenen zeichneten sich vor ihrem geistigen Auge ab. Zu schnell um alle
genauer wahrnehmen zu können. Als letztes überkam sie eine Art Glücksgefühl, etwas
das sie noch nie solche Intensität hatte spüren lassen.
Mit einem Mal war jedoch alles vorbei.
Erschrocken stolperte sie zurück und blickte schwer atmend auf den asphaltierten
Boden.
,,Ich will nur, dass du zurück zu Mr. Wulf gehst. Du hast noch eine Menge zu erledigen.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen“
Der Mann machte seine Zigarette aus und lief davon. Etwas das Amalie gerade gar nicht passte.

,,Hey, jetzt warte doch! Was waren das für Bilder?“ rief sie aufgebracht und rannte
dem Mann hinterher.
,,Sagen wir, es war das Gegenteil von Erinnerungen“ meinte er ausdruckslos und lief
unbeirrt weiter.
,,Also Dinge die ich vergessen habe?“
Der Mann stockte kurz und lächelte erneut.
,,Keinesfalls. Um etwas vergessen zu haben müsste es doch bisher geschehen sein,
oder?“
Amalie verstand überhaupt nichts mehr. Was sollte das eigentlich?
,,Ich kann dir keine weiteren Fragen beantworten. Du musst jetzt gehen, Amalie“
,,Wieso..“
Doch da legte ihr jemand die Hand auf die Schulter und sie wirbelte erschrocken
herum.
Es war Mr. Wulf welcher sie nachdenklich ansah.
,,Was machst du denn hier?“ sagte er ernst.
,,Ich habe gerade mit dem Mann...“
Amalie wollte auf ihn zeigen, doch er war verschwunden.
Das konnte doch echt nicht wahr sein.
,,Welcher Mann?“
,,Nicht so wichtig“ murmelte Amalie weiterhin verwirrt.
Mr. Wulf spürte dies und wurde ein wenig unruhig.
Doch sie weiter zu befragen würde nichts bringen. Er wusste nur, dass hier etwas nicht
stimmte. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Dennoch versuchte er die Situation zu entschärfen und das Problem für den Moment zu
ignorieren.
,,Möchtest du etwas trinken?“
Amalie blickte ihn fragend an.
,,Oh, nein danke“ sagte sie leise.
Ihr war es unangenehm, von anderen etwas anzunehmen.
Außerdem war sie weiterhin ein wenig verwundert über diesen seltsamen Mann.
Was waren das nur für Bilder in ihrem Kopf?
,,Du musst dir keine Sorgen machen, ich kaufe dir gern etwas zu trinken. Komm, wie
wäre es mit einer Cola? Oder doch lieber ein Bier?“
Amalie musste schmunzeln.
,,Ich trinke keinen Alkohol...“

,,Du bist doch alt genug dafür, oder?“
,,Ja, ich bin fast 20 Jahre alt. Dennoch trinke ich kein Alkohol“ antwortete Amalie und
sah ein wenig hektisch zu Mr. Wulf auf.
,,In Ordnung, also eine Cola“ sagte er lächelnd und bevor sie etwas einwenden konnte
hatte er schon an einem der Stände bestellt.
Ein starker Geruch von gebrannten Mandeln und frischen Crêpes wehten Amalie um die
leicht spitze Nase.
Während Mr. Wulf die Getränke entgegen nahm, streifte ihr in sich gekehrter Blick
wieder durch die Menge.
Lachende Kinder mit Plastikpistolen und Popcorn, umgeben von nörgelnden Müttern
und ignoranten Vätern. Amalie war äußerst selten auf solchen Veranstaltungen
unterwegs, weshalb sie es fast schon lächerlich fand was hier passierte.
Wie viele Menschen hier waren nur um sich einzureden, dass nutzloser Konsum von
unnötigen Dingen und fettiges, überteuertes Essen ihr Familienleben stabilisieren
könnte.
Amalie seufzte.
,,Was sollte ich bitte in solch einer Welt noch zu tun haben?“
Da kam Mr. Wulf zurück und drückte Amalie eine Flasche Cola in die Hand.
,,Na komm. Lass uns noch ein Stück spazieren gehen“
Sie liefen bis an das andere Ende des Festes, doch Mr. Wulf machte nicht Halt.
Er ging weiter die farbenfrohe Straße entlang, welche geschmückt von bunten
Hibisken, über violette Tulpen bis hin zu dunkelroten Rosen in unwahrscheinlich
prächtigen Farben leuchtete.
Mr. Pombey wollte die Stadt erstrahlen lassen bevor Mr. Wulf seinen Platz übernahm.
Diese gemischte Blumendekoration war eine seiner letzten Amtshandlungen als
Bürgermeister gewesen.
Amalies Meinung nach zu viel des Guten.
Doch Mr. Wulf schenkte der übertriebene Ausschmückung keinerlei Beachtung. Er lief
einfach weiter und signalisierte ihr ihm zu folgen.
Amalie fand es seltsam, dass er sich so sehr für sie und ihr Leben interessierte.
Mr. Wulf stellte ihr viele Fragen. Über sich selbst verlor er so gut wie kein Wort.
Amalie wurde schon beinahe ein wenig nervös. Er wollte eine ganze Menge über sie
wissen.
Irgendwie sehr merkwürdig.
,,Du findest es seltsam das wir uns so viel unterhalten, nicht wahr?“
Amalie sah ihn verblüfft an. Woher wusste er das?

,,Ich...ja“
Da blieb Mr. Wulf stehen und baute sich vor ihr auf.
Er nahm erneut seine Sonnenbrille von der Nase und sah sie nun streng an.
,,Amalie, hör mir jetzt gut zu. Ich werde nicht zulassen, dass du dich umbringst“
Jetzt verstand sie die Welt nicht mehr. Was war hier eigentlich los?
Konnte er etwa Gedanken lesen?
,,Teilweise“ antwortete Mr. Wulf ausdruckslos.
Ein unheimlicher Blick schimmerte in seinen Augen, woraufhin Amalie zwei Schritte
zurück ging.
,,Was wollen Sie von mir? Und was bedeutet teilweise?“ flüsterte sie kaum hörbar.
Da holte Mr. Wulf eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie sich an.
Er blickte ihr tief in die Augen, während der Rauch seiner Zigarette im Sonnenschein
schimmerte.
Es kam Amalie wie ein Deja-vu vor, bei dem Gedanken an den Mann von vorher.
,,Willst auch eine?“ sagte er erneut lächelnd.
,,Beantworten Sie mir bitte meine Fragen“
,,Bei gewissen Menschen kann ich die Gedanken lesen. Zum Beispiel bei Gedanken,
durch welche die Person in Gefahr geraten kann. Du gehörst zu diesen Menschen. Und
nein, genauer kann ich es nicht formulieren. Und was ich von dir möchte, das ist ganz
einfach. Man sieht dir an, wie schlecht es dir geht. Wie verletzt du bist. Und auch wenn
ich nur ein einfacher Bürgermeister bin, ich werde nicht zulassen, dass du dich
umbringst“
Seine Lackschuhe glänzten in der Sonne, während Amalie der Geruch seiner Zigarette in
die Nase stieg. In ihrem Kopf schwirrten eine Menge Gedanken, doch diese versuchte sie
zu unterdrücken.
Wenn er wirklich lesen konnte was sie dachte, wäre das ziemlich unangenehm.
,,Na gut. Was denke ich gerade?“
,,Du überlegst ob du einfach wegrennen und dich von den Whitning Klippen stürzen
sollst“ antwortete Mr. Wulf kühl und zog erneut an seiner Zigarette, ohne Amalie dabei
anzusehen.
Diese war erneut überwältigt.
,,Und jetzt?“ sagte sie und zog unruhig ihren Pulli zurecht.
Ihr wurde auf einmal richtig heiß.
,,Jetzt...“ sagte er und holte sein Port Monet aus der Tasche.
Dann nahm er ein paar Geldscheine heraus und drückte sie Amalie in die Hand.
,,Jetzt gehst du das Fest genießen, danach mit deiner Familie nach Hause und wartest dort, bis ich dich abhole“

,,Bitte was?“ rief sie überrascht und starrte ihn mit großen Augen an.
,,Ich werde über den Nachmittag etwas organisieren wo du unterkommen kannst. Du
bist alt genug um alleine zu wohnen. Und wenn ich das alles richtig entziffert habe,
liegt es hauptsächlich an deiner Familie, dass du lieber sterben willst“
,,Mr. Wulf, ich weiß nicht was ich dazu sagen soll. Ich danke Ihnen, jedoch kann ich das
nicht annehmen. Weder das Geld, noch Ihr Angebot mit einer eigenen Wohnung“ sagte
Amalie und hob ihm die Geldscheine wieder hin.
,,Ich verstehe nicht warum Sie das für mich tun. Außerdem kenne ich Sie gar nicht, also
weshalb...“
,,Amalie...“ sagte Mr. Wulf und drückte ihre Hände zur Seite.
,,Vertrau mir einfach“
Und mit einem weiteren Lächeln zog er seine Sonnenbrille wieder auf und lief zurück in
Richtung des Festplatzes.
Amalie starrte ihm einfach nur fassungslos hinterher, während Mr. Wulf zufrieden in
der Menge verschwand.
Auch wenn es Amalie schwer fiel, nahm sie sein Geld schlussendlich an.
Sie kaufte sich davon etwas zu essen und auch ein paar Süßigkeiten zum Nachtisch.
Allerdings nichts das sie behalten konnte.
Sonst würde ihre Familie noch etwas merken.
Als sie so da saß und ihren ersten Cheeseburger aß, dachte sie wieder über Mr. Wulf
nach.
Es war wirklich merkwürdig. Vorher noch wollte sie von einer Klippe springen, jetzt
ließ sie sich einen Burger schmecken und bekam vielleicht eine eigene Wohnung. Es war
einfach unfassbar.
Sie glaubte noch nicht so ganz daran, dass sich bald alles ändern würde.
Sie wünschte es sich, doch ob es wirklich mehr sein könnte als ein Wunsch?
Vielleicht hatte der seltsame Mann doch Recht und ihre Zeit war noch nicht gekommen.
Mr. Wulf war nun wieder im Rathaus angekommen. Ab heute wohnte er hier.
Seiner Meinung nach ein Rückschritt im Vergleich zu seiner generellen Residenz, doch
um seinem Plan gerecht zu werden musste er da nun durch.
In seinem Büro wartete schon jemand auf ihn. Ein mehr als bekanntes Gesicht, welches
Mr. Wulf ein Lächeln entlockte.
,,Pünktlich wie eh und je. Schön dich wiederzusehen“ sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch.

,,Die Mission war erfolgreich. Somit sind wir pünktlich zum Start ihrer Amtszeit
angekommen. Ich bin schon sehr gespannt darauf, dieses kleine Städtchen
kennenzulernen“ antwortete Derek ebenfalls mit einem Lächeln.
,,Also, berichte. Wie lief es? Hast du sie gefunden?“ meinte Mr. Wulf ein wenig
exzentrisch.
,,Ich muss sagen, es war nicht gerade einfach die anderen Sixxer ausfindig zu machen.
Doch da ich ganz gut in meinem Job bin habe ich eine gute Nachricht für Sie, Sir“
Derek stand auf und lief in Richtung der Türe, welche in einen Raum nebenan führte.
,,Sag schon, wen von meinen Sixxern hast du mir mitgebracht?“ sagte Mr. Wulf
ungeduldig.
Derek klopfte gegen die Türe welche sich sogleich öffnete.
,,Alle“ antwortete er lautstark.
Sprachlos stand Mr. Wulf ebenfalls auf und blickte zu den fünf Männern, welche nun
das geräumige Büro betraten. Sie stellten sich vor ihm auf und grinsten von einem Ohr
zum anderen.
,,Sehr erfreut Sie wiederzusehen, Sir“
,,Oh, du meine Güte. Ich fasse es nicht!“ rief Mr. Wulf erfreut.
,,Derek, sehr gut gemacht. Ihr seid alle wieder da, ich weiß nicht was ich sagen soll“
,,Ich sagte ja das die Mission erfolgreich war“ antwortete Derek und setzte sich wieder
in einen der Sessel.
,,Mr. Wulf, bevor wir zu dem üblichen Tratsch übergehen, sagen Sie uns, ist es wahr?“
meinte nun Rupert mit strahlenden Augen und tiefer Stimme.
Mr. Wulfs Lächeln wurde breiter.
,,Es ist wahr, sie ist hier. Ich habe vorher erst mit ihr gesprochen“
Die Männer bekamen große Augen. Sie sahen sich gegenseitig unruhig entgegen, wobei
es ihnen recht schwer zu fallen schien Ruhe zu bewahren.
,,Und?“ meinte jetzt ein weiterer Mann hinter Rupert, welcher ihm recht ähnlich sah.
,,Sie hat absolut kein Gedächtnis mehr!“
Mr. Wulf erzählte ihnen von der Begegnung mit Amalie, wobei alle angespannt jedes
einzelne Wort in sich aufnahmen.
,,Soweit so gut. Ich werde sie heute Abend abholen lassen“ meinte er abschließend und
die Sixxer sahen sich nachdenklich an.
,,Und Sie sind sich wirklich sicher dass es Emily ist?“
,,Bin ich. Den Rest werden wir allerdings später besprechen. Eure Reise war lang, geht
euch erst einmal ausruhen“ meinte Mr. Wulf lächelnd.
Die Männer nickten und verließen tuschelnd den Raum, alle bis auf Rupert.

,,Sir, ich kenne Sie nun schon eine ganze Weile und meiner Meinung nach haben Sie uns
nicht alles erzählt“ sagte er ein wenig zurückhaltend, wenn auch ernst.
Mr. Wulf sah Rupert in die Augen.
Er hatte ganz vergessen wie scharfsinnig sein Anführer sein konnte.
,,Schließe die Türe, Rupert“
Dieser tat wie ihm geheißen und setzte sich dann gegenüber von Mr. Wulf an einem
Sessel.
,,Ich habe etwas gespürt, als ich ihr das erste Mal die Hand auf die Schulter legte. Eine
äußerst seltsame Energie welche ich zuvor nicht kannte“
Rupert runzelte die Stirn.
,,Wie meinen Sie das?“
,,Ich kenne Emilys Muster genau, habe die Kraft ihrer Aura jahrelang studiert. Dies
fühlte sich anders an. Stärker“
Die beiden blickten sich beunruhigt an.
,,Und da war noch etwas. Als ich einen Moment unaufmerksam war, da fand ich sie
aufgewühlt ein ganzes Stück weiter weg von mir. Sie erzählte mir mit einem Mann
gesprochen zu haben. Dieser war allerdings verschwunden als ich mich ihr näherte“
,,Was ist denn daran schlimm wenn sie sich mit einem Fremden unterhalten hat?“
Mr. Wulf seufzte und lief um seinen Schreibtisch herum.
,,Es lag ein Knistern in der Luft. Etwas das mir eine Gänsehaut bereitet hat“
,,Inwiefern?“
Mr. Wulf drehte sich zu Rupert um.
,,Ich glaube er war es“
Rupert sah ihn zuerst fragend an, dann weiteten sich seine Augen.
,,Er?“
Mr. Wulf nickte.
,,Ich kann es nicht beschwören, bin mir auch absolut unsicher. Ich kann es mir nur
nicht anders erklären“
,,Aber was sollte er denn wollen? Wir haben seit Jahrzehnten nichts mehr von ihm
gehört“ antwortete Rupert und lief nun ebenfalls aufgebracht durch den hellen Raum.
,,Worüber ich mehr als dankbar bin. Ich weiß nicht was er wollen könnte und genau
das beunruhigt mich“
Einen Moment Stille.
,,Ich möchte nicht, dass du den anderen Sixxern etwas davon erzählst. Sei einfach nur
äußerst wachsam. Wir werden diese Sache erst einmal auf sich beruhen lassen. Unser

primäres Ziel ist und bleibt Emily“

Rupert nickte und versuchte sich ein wenig zu beruhigen.
,,Gibt es eine Aufgabe welche ich jetzt schon für Sie erledigen kann? Ich bin viel zu
aufgewühlt um mich jetzt auszuruhen“ meinte er weiterhin angespannt.
Mr. Wulf überlegte.
,,Zunächst müsst ihr euch von Emily fernhalten. Ich habe allerdings ein paar wichtige
Unterlagen welche nach Nashville müssen. Ich wollte sie selbst abgeben, aber wenn du
mir nun zur Verfügung stehst kann ich es auch dir überlassen“
Mr. Wulf holte einen dicken Umschlag aus seiner Schreibtischschublade und übergab
sie Rupert.
,,Ich denke die Dokumente gehen an den dortigen Bürgermeister, oder?“
Mr. Wulf nickte.
,,Sag ihm das dies kein Vorschlag sei sondern umgesetzt werden muss. Sollte er sich
weigern beweise ihm, dass er gar keine andere Wahl hat“
Mit einem süffisanten Lächeln nahm Rupert die Unterlagen entgegen und sah seinem
Chef in die Augen.
,,Mit dem allergrößten Vergnügen, Sir“


Lorinda ließ ihre unglaubliche Wut an ihr aus, sobald sie die Türschwelle ihres Zuhauses übertreten hatten.
Doch Amalie versuchte nicht hinzuhören. Ihre Gedanken waren bei dem neuen Bürgermeister.
,,Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?!“ schrie Lorinda empört.
Man hörte ihr an, dass sie vom Schreien inzwischen heiser war.
Amalie blickte ihr nachdenklich in die braunen Augen. Wie sehr sie diese widerliche,
kreischende, alte Hexe hasste.
Noch bevor sie antworten konnte hatte Lorinda ihr eine gewischt.
Amalies Brille rutschte ihr durch die Wucht den Schlages von der Nase und zu Boden,
wodurch ein Glas aus der Fassung fiel.
Mit schmerzender Wange und kaum etwas sehend ging Amalie auf die Knie und tastete
nach ihrer Brille.
,,Nicht in diesem Ton, Madame! Jetzt zieh dich gefälligst um und setz dich an die Aufsätze deiner Schwestern. Die schreiben sich ja schließlich nicht von alleine!“
Und mit diesen Worten verschwand Lorinda nach draußen und knallte Amalies Zimmertüre zu.
Diese fand, nach mehreren Minuten der verzweifelten Suche, ihre Brille sowie das
herausgefallene Glas. Es waren ein paar vorsichtige Handgriffe nötig um dieses wieder in die zerkratzte Kunststofffassung einzudrücken.

Schlussendlich klappte es, allerdings hatte das rechte Glas nun eine kleine Schramme, was Amalies sowieso schon beeinträchtigtes Sichtfeld noch mehr einschränkte.
Nun sah sie zu ihre Zimmertüre und hielt sich mit Tränen in den Augen die Wange, bevor sie sich auf ihr Bett legte und still an die Wand starrte.
Wie sehr sie ihr Leben hasste. Diese Menschen, dieses Haus und selbst den Geruch in ihrem Zimmer. Eine Mischung aus Mottenkugeln, Desinfektionsmittel und kaltem Rauch.
Manchmal kam eine ihrer Schwestern in der Nacht herein, setzte sich ans Fenster und
machte eine Zigarette an.
Am Anfang versuchte Amalie noch etwas dagegen zu tun, was natürlich ein absolut
sinnloses Unterfangen war.
Die Frage war natürlich, weshalb ihre Schwester nicht in ihrem eigenen Zimmer oder
unten auf der Terrasse rauchte. Doch die Antwort war recht simpel.

Ihre Schwester Lotta war gerade erst 16 geworden weshalb das Rauchen ihr verboten war. Ihr Vater wusste es allerdings und ihm war es egal. Doch Lorinda war strickt gegen das Rauchen. Sie hasste den Geruch und war ein natürlicher Feind des Drogenkonsums. Nikotin sei die schlimmste Droge, betonte sie jedes Mal wenn ein Raucher in ihrer Nähe war. Eine Einstellung die Amalie ziemlich schwachsinnig fand, da Lorinda selbst jeden Abend mindestens eine Flasche Wein leerte. Eine Zeit in der Amalie ihrer Mutter nicht begegnen wollte. Das letzte Mal als Lorinda betrunken war, hatte sie Amalie einen Toaster gegen den Kopf geworfen.
Wieso? Nun ja. Mit der Begründung er würde nicht funktionieren da Amalie ihn nicht
richtig gereinigt hatte.
Dabei hatte Lorinda, so besoffen wie sie war, nicht bemerkt, dass der Toaster nur nicht eingesteckt war.
Seitdem verzichtete Amalie darauf sich nachts ein Glas Wasser aus der Küche zu holen.
Um zurück zum eigentlichen Problem zu kommen, Lorinda hasste Raucher und
niemand in diesem Haus konnte Amalie leiden.
Also erlaubte Erwin seiner Tochter Lotta in Amalies Zimmer zu rauchen damit seine Frau es nicht mitbekam. Lorinda betrat Amalies Zimmer so gut wie nie und selbst wenn, dann wäre der
Zigarettenrauch auf Amalie zurückzuführen. In Erwins Augen war das eine akzeptable Lösung für alle.
Amalie seufzte. Es gab so viele schlimme Geschichten, sie hätte ein Buch damit füllen können. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht mitbekam wie es unten an der Türe läutete.
,,Mr. Wulf? Welch unerwartete Überraschung. Was kann ich für Sie tun?“ sagte Lorinda heuchlerisch und zupfte sich ihre Haare zurecht.
,,Wir müssen uns unterhalten, Mrs. Nuvoir!“

Und ohne auf eine Antwort zu warten trat er ein.
Hinter ihm zwei seiner Handlanger, Derek und Marius.
Mr. Wulf lief ins Wohnzimmer und setzte sich, zu beginn etwas zögernd, in einen der unförmigen Designersessel. Mr. Nuvoir, welcher gegenüber auf der Ledercouch saß, blickte ihn ein wenig
verwundert an.
Derek und Marius stellten sich hinter das Sofa und blickten ausdruckslos drein, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Die beiden sahen sich ebenfalls ein wenig angespannt um, die Einrichtung war zum fürchten.
Als hätte ein blinder Priester sich an einem geschmacklosen Industrial Style versucht.
Regale aus Metall, die Fächer mit Platzdeckchen ausgelegt. Auf diesen Motive von Engeln und Glaubenskreuzen. Pastellfarbene Vorhänge, purpurrote Sitzgelegenheiten, welche in Form von verschiedenen Hockern überall im Zimmer herumstanden.
Die Wand in Richtung Flur war komplett leer und ahmte mit einer unpassenden Tapete den Stil einer unverputzten Backsteinwand nach. Der Raum wurde durch viele verschiedene Scherenlampen erhellt, welche die glänzenden Porzellantauben und äußerst unheimlichen Rupfenpuppen definitiv zu sehr in den Mittelpunkt stellten. Noch dazu waren die Sessel sowie die Couch mit einer Plastikschicht, einem
sogenannten Staubschutz versehen, was das Zimmer an Merkwürdigkeit abrundete.
Derek sah ziemlich angespannt in eine der Ecken, während er sich vorsichtig zu Marius
lehnte.
,,Diese Puppen dahinten starren mich richtig an, das ist verdammt unheimlich“ flüsterte er kaum hörbar.
Marius sah in die gleiche Richtung und runzelte die Stirn.

,,Was stimmt nicht mit dir? Das sind Rupfenpuppen, die haben kein Gesicht“
antwortete er ebenfalls flüsternd, allerdings mit ernstem Unterton.
,,Genau deswegen ist es doch so verdammt unheimlich!“ zischte Derek leicht hysterisch.
Als er allerdings Mr. Wulfs todernsten Blick erkannte, verstummte er augenblicklich.

Da kam Lorinda hereingeeilt und setzte sich neben ihren Mann auf die Couch, bevor Mr. Wulf zu sprechen begann.
,,Wir alle wissen, dass Amalie nicht wirklich ihre Tochter ist. Genau aus diesem Grund werde ich sie mitnehmen“
,,Amalie ist...Sie werden...Was?“
Das Nuvoir Paar schien äußerst verwirrt.
,,Spielen Sie mir nichts vor. Sie wissen genau wovon ich rede!“
Erwin und Lorinda sahen sich einen Moment an und schüttelten dann den Kopf.
Mr. Wulfs Blick wurde nun mehr als ernst.
,,Nein, wir haben keine Ahnung“ entgegnete Lorinda konfus und spitzte ihre Lippen. Da funkelten Mr. Wulfs Augen und ihm ging ein Licht auf.
,,Einen Moment mal...“ flüsterte er leise und hob die spitzen Finger. Er krümmte leicht seine Hand und hielt sie in Richtung von Mr. und Mrs. Nuvoir.
Diese blieben stumm sitzen, als hätte man die Zeit angehalten.
Er stand auf und lief auf die beiden zu. Nachdenklich stellte er sich vor Erwin und legte
ihm den Zeigefinger an die Stirn, das Gleiche machte er auch bei Lorinda.
Für einige Sekunden schloss er die Augen, bevor er wieder von den beiden abließ. Auf einmal fing Mr. Wulf zu lachen an. Mehrere Minuten lachte er aus vollem Hals, bis er die Luft keuchend einzog und sich die Tränen wegwischte.
Derek und Marius sahen ihn entgeistert an. ,,Dieses kleine, gerissene, miese, Flittchen“ sagte er amüsiert.
,,Was? Warum?“ meinte Derek und verschränkte die Arme vor der Brust.
,,Emily hat ab der Grenze mit ihren Gedächtniszauber gespielt. Diese kleine Hure“
sagte Mr. Wulf und rückte seine Brille gerade.
,,Nicht Euer Ernst, Sir“ sagte nun Marius fassungslos.
,,Dumm war sie noch nie. Nun gut. Dann müssen wir es eben anders machen“ meinte
Wulf, setzte sich wieder an seinen unbequemen Platz und schnippte mit den dünnen Fingern.
Sogleich erwachten die Nuvoirs aus ihrer Trance.
,,Also, Mr. Wulf. Was können wir für Sie tun?“
,,Es geht um Amalie. Als ich mich heute mit ihr unterhalten habe ist mir aufgefallen was für eine bemerkenswerte, junge Frau sie ist“
Da blickten beide Nuvoirs ihn amüsiert an und begannen von Herzen zu lachen.
Mr. Wulf blickte sie derweil nur mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
,,Oh, das war Ihr Ernst? Verzeihung. Es ist nur so, Amalie ist recht, nun ja...“

Doch als Lorinda Mr. Wulfs Blick bemerkte, stoppte sie.
,,Ich möchte sie gerne mit zu mir nehmen. Ich brauche eine Sekretärin und sie scheint mir dafür geeignet“
Die beiden nickten zaghaft. Als würden sie nicht genau verstehen was er da gerade gesagt hatte.
,,Eine Sekretärin?“ meinte Erwin fragend.
Mr. Wulf musste sich zusammenreißen um freundlich zu bleiben.
Wie kann man nur so begriffsstutzig sein?
,,Ja, eine Sekretärin. Ich möchte das Amalie mit mir im Rathaus wohnt und für mich arbeitet“
Die Nuvoirs schienen immer perplexer.
,,Nun, wenn Sie das möchten, dann stimmen wir natürlich zu“ meinte Lorinda ein wenig überfordert.
Mr. Wulf setzte ein zufriedenes Lächeln auf.
,,Gut. Marius, Derek, holt sie!“
,,Oh, Sie meinen jetzt sofort?!“
Erwin schien konfus.
,,Aber natürlich. Ich bin ja schließlich seit heute Bürgermeister. Daher brauche ich auch ab heute eine Sekretärin“ sagte Mr. Wulf lächelnd.
,,In Ordnung. Es ist das zweite Zimmer oben rechts“ meinte Lorinda kleinlaut.
Derek und Marius setzten sich sogleich in Bewegung. Sie gingen in Richtung Flur, als
Derek einen seltsamen Schlenker machte und “aus Versehen“ die Rupfenpuppen in der
Ecke zu Boden warf.
Dann lief er daran vorbei als wäre nichts gewesen. Mr. Wulf und Marius verdrehten daher zeitgleich die Augen.
Lorinda und Erwin dagegen hatten im Moment stark an der generellen Situation zu arbeiten.
Nun standen Marius und Derek vor Amalies Bett und musterten sie ernst. Diese lag dort nämlich schlafend und bewegte sich nicht.
,,Das soll sie sein? Nicht wirklich, oder?“ sagte Derek und strich sich durch die kurzen, blonden Haare.
,,Hatte sie schon immer eine Brille?“
,,Eigentlich nicht, nein. Generell ist sie inzwischen dicker und...na ja, hässlicher“
Da drehte sich Amalie zur Seite und machte langsam die Augen auf.
Erst nach mehreren Sekunden wurde ihr bewusst, dass da jemand vor ihr stand. Als sie erkannte, dass es zwei fremde Männer waren, schrie sie auf und setzte sich blitzschnell hin.

,,Wer seid ihr?“ sagte sie mit erstickter Stimme.
Erst jetzt konnten die beiden Männer sie richtig sehen, ihr Gesicht und ihre Kleidung. Wodurch sie direkt zu lachen begannen.
,,Nein, komm schon. Das ist doch jetzt nicht wirklich...“
Doch da stieß Marius Derek mit seinem Ellenbogen in die Rippen und dieser verkniff es
sich, seinen Satz zu Ende zu bringen.

,,Keine Panik, Amalie. Mr. Wulf sitzt unten bei deinen Eltern. Wir sollen dich holen“
Amalie musterte die beiden mit gerunzelter Stirn.
Sie sahen eigentlich ziemlich gut aus. Ungefähr 30 Jahre alt und recht attraktiv. Der eine mit dem Namen Derek hatte kurze, dunkelblonde Haare, welche oben etwas länger und nach hinten gestylt waren. Er hatte ein markantes Gesicht, schmale Lippen und hervorgehobene Wangenknochen. Seine Augen schimmerten in einem dunklen Turmalingrün, ein Hauch hellbraun mitunter. Derek war groß, mindestens 1,87 m und hatte eine muskulöse, gut gebaute Statur. Ebenso wie der andere mit Namen Marius. Groß und ebenso muskulös. Sein Gesicht
war nur ein wenig ovaler, seine Nase breiter und er hatte kinnlange, hellbraune Haare.
Beide trugen dass gleiche Outfit. Eine lange, graue Jeanshose und ein schwarzes Shirt als Oberteil.
,,Und weshalb schickt er dann euch und kommt nicht selbst hoch?“ sagte Amalie und umklammerte mit klopfendem Herzen ihr Kissen.
,,Er ist der Bürgermeister, Schätzchen. Dafür hat er uns“ meinte Marius lächelnd.
,,Also, pack zusammen was du brauchst. Dann geht’s los“ meinte nun Derek und
machte das große Licht des Zimmers an.
Amalie blinzelte und stand langsam auf.
,,Ich würde mich gern umziehen“ sagte sie leise und lief zu ihrem Kleiderschrank.
Die beiden nickten nur und verschränkten die Arme vor der Brust.
Amalie blieb stehen und sah beide fragend an.
,,Entschuldigung, aber könntet ihr, eventuell, wenn es keine Umstände macht, rausgehen?“ sagte sie recht kleinlaut.
Marius und Derek sahen sich schmunzelnd an.
,,Klar doch“
Und sie gingen nach draußen.
,,Wäre das noch Emily, hätte sie uns ein wenig anders aus dem Zimmer geschickt“
,,Ja. Sie hätte uns aus dem Fenster geworfen“ meinte Derek und beide warteten nun darauf, dass Amalie aus dem Zimmer kam.
Schweigend standen sie vor der Zimmertüre und sahen nachdenklich durch den Flur.
Das war eine äußerst seltsame Situation. Dieses Mädchen glich in keinster Weise der
Emily welche die beiden kannten.
Dereks Blick fiel auf einen kleinen doch hohen Beistelltisch etwas den Flur hinunter.
Eine große Kerze brannte dort und strömte den unangenehmen Geruch von Sandelholz
aus. Eine Duftnote welche Derek so gar nicht gefiel. An der Wand darüber hing ein
weiteres Glaubenskreuz aus Holz und, was am schlimmsten war, eine weitere
Rupfenpuppe in gelbem Gewand.
Sie starrte erneut in Dereks Richtung und machte ihn mehr als wahnsinnig. Am
liebsten hätte er dieses Vieh abgefackelt.
Da kam Amalie aus dem Zimmer, nichts weiter als einen Rucksack in der Hand.
,,Bereit?“ meinte Marius ernst.
Amalie nickte und drehte sich seufzend noch ein letztes Mal um. Sie würde dieses
Zimmer nie wieder sehen.
Plötzlich wurde ihr schwindelig und ihr fiel ein, woher sie Mr. Wulf kannte.
Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, begann ihr ganzer Körper zu zittern.
Hätte sie in diesem Moment auf ihre innere Stimme gehört, hätte sie sich an die Hölle
erinnert, in welche sie sich nun erneut begab.
Doch die Erinnerung an die Zukunft war ihr bisher verwehrt.
Dafür hatte er gesorgt.

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