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Feilkode 418

Psycho WG

Psycho WG · Romane

Eine Geschichte zwischen menschlichen Abgründen und tiefer Freundschaft, ganz ohne Kitsch und Hollywood, aber mit ganz viel Humor.

Hva vil du med boka?

Ich bin eine junge Schreibstudentin, die ihr ganzes Leben lang schon schreibt. Allerdings passen meine Geschichten nicht in den Markt, weshalb ich bisher wenig Erfolg hatte, obwohl der zweite Teil auch schon fertig ist. Ich möchte Menschen zum Nachdenken anregen, Gefühle in ihnen hervorrufen und gleichzeitig auch zum Lachen bringen. Ich habe dieses Buch zunächst mit keiner speziellen Intention geschrieben. Mich hat einfach nur das Thema „Psychische Krankheiten“ interessiert. Ich habe sehr viel recherchiert, um ein möglichst echtes Bild der jeweiligen Krankheit zu erhalten und zu vermitteln. Doch mit der Zeit haben sich klare Beweggründe herauskristallisiert. Ich habe dieses Buch geschrieben, um mit Klischees aufzuräumen und um den Lesern spannende Figuren mit Tiefe zu bieten. Was hat man also davon, mein Buch zu lesen? Man kann beobachten, wie sich Freundschaften bilden und eine Gemeinschaft wächst. Man erlebt, was es bedeutet, sich gegenseitig zu helfen und füreinander da zu sein. Keine dieser Figuren konnte sich aussuchen, mit wem sie zusammenlebt, und jede musste lernen, mit den jeweils Anderen zurecht zu kommen. Und das funktioniert überraschender Weise erstaunlich gut.

Om forfatteren

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Ich bin Celine, will-mal-werden-Autorin und studiere kreatives Texten und Schreiben. Es wird Zeit für mich, meine Texte endlich mal zu veröffentlichen!

Prolog

Ich spürte seinen Atem, heiß und feucht an meinem Hals. Fühlte seine rauen Hände. Aber wo? Ich wusste es nicht mehr. Überall. Ich sah sein angestrengtes Gesicht über mir. Ich merkte sein Gewicht, es nahm mir den Atem. Ich hörte sein angestrengtes Keuchen. Er. Überall er.

Und ich? Was tat ich? Ich tat nichts. Nichts, als überleben, versuchen zu atmen und darüber nachzudenken, wie sehr ich diesen Mann liebte. Doch das war alles Lüge. Ich hasste ihn. Hasste und fürchtete ihn. Und doch blieb ich bei ihm nach all den Malen. Wie viele waren es? Sieben, ja, genau sieben. Sieben Mal Demütigung. Sieben Mal Schmerz. Sieben Mal Enttäuschung, Furcht, Verzweiflung und Unverständnis. Und trotz allem weinte ich nicht. Was brachte es mir auch? Was brachte es mir, zu weinen, zu schreien, mich zu wehren?

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Jedes Mal aufs Neue glaubte ich, dass ich dieses Mal sterben würde. Und ein kleiner Teil von mir wünschte es sich. Jedes Mal.

Aber ich starb nicht. Nein, ich überlebte, auch dieses siebte Mal. Und als er sich zur Seite drehte und schwer atmend fallen ließ, stand ich wortlos auf. Ich ging duschen, wusch mir Blut und Schuld vom Körper, die Angst und auch die Scham. Zumindest redete ich mir das ein.

Wieder im Schlafzimmer lag er immer noch im Bett. Eine Hand hinter seinem Kopf, in der anderen eine Zigarette.

„Mum mag es nicht, wenn wir im Haus rauchen“, sagte ich bloß.

„Sie ist gerade nicht da“, brummte er. „Ich brauche meine Zigarette danach.“

War das Hohn in seiner Stimme? Er schien meinen Blick gesehen zu haben, denn sofort versuchte er, mich zu beschwichtigen.

„Es tut mir leid Alex. Ich weiß, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich kann dich nur um Vergebung bitten.“

„Vergebung… ja…“, murmelte ich.

Seufzend zog ich mir Klamotten aus dem Schrank.

„Zieh das schwarze Top mit der Lederjacke an. Das macht einen schönen Busen… Ich habe nachher noch ein Treffen mit Malik und ich will das du mitkommst.“

Ich lachte auf: „Da träumst du wohl von. Ich bin nicht dein weibliches Kaufargument.“

„Früher hast du das gerne gemacht“, murmelte er.

Ich antwortete ihm nicht darauf, nahm mir einfach einen Pulli und die schwarze Jeans und zog mich an.

„Kommst du wenigstens mit? Malik würde dich gerne kennenlernen“, bat er mich.

„Nein, danke. Es ist spät, Diego. Ich gehe gleich zu Ronja. Sie hat sich von ihrer Freundin getrennt. Ich habe versprochen, bei ihr vorbei zu sehen und ihr Alkohol mitzubringen.“

Mit diesen Worten ging ich aus dem Zimmer, den dunklen Flur entlang und dann auf den Balkon. Ich setzte mich auf den weißen Plastikstuhl und holte die Schachtel Zigaretten aus meiner Tasche. Langsam zog ich eine der Zigaretten hervor, steckte sie mir zwischen die Lippen und zündete sie an. Gedankenverloren beobachtete ich den Rauch.

Was war nur mit mir geschehen? Wann habe ich mich selbst so aufgegeben? Wieso ließ ich mich so beeinflussen?

Der Zigarettenstummel war fast ausgebrannt. Doch in der Schwärze der Nacht wirkte er so hell, als würde er noch brennen. Mit einem Seufzen drückte ich die Zigarette aus und schnipste sie vom Balkon. Der Mond war nicht zu sehen und auch die Sterne wirkten nur schwach. Ich seufzte erneut tief. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, dann das Quietschen der Balkontür. Der blonde Mann setzte sich auf den weißen Plastikstuhl neben mir und wühlte in seinen Taschen.

Schließlich holte er zwei Plastiktüten, Filter und Papier heraus, stöhnte genervt und fragte: „Hast du Feuer?“

Wortlos schob ich das Feuerzeug über den Tisch zu ihm. Ich beobachtete, wie er den Filter auf dem Papier platzierte.

„Ich verstehe noch immer nicht, warum du nicht drehst. Du würdest so viel Geld sparen.“

Mit diesen Worten verteilte er ein wenig Tabak auf dem weißen Papier.

„Ich weiß nicht… Ich schätze, ich habe einfach nicht die Geduld“, erwiderte ich nur.

Plötzlich schaute er hoch.

„Warum siehst du mich noch immer so an?“

„Du hast gesagt, es war ein einmaliger Ausrutscher.“

„Ja, das habe ich. Und ich habe mich auch schon bei dir entschuldigt. Was willst du noch?“

Ja, da hatte er recht. Er hatte sich entschuldigt. Mehrmals. Doch davon ging der Schmerz auch nicht weg. Schließlich zündete er die Zigarette an. Derweil streute er das grüne Hasch auf ein weiteres Papier.

„Außerdem, du hast vor weniger als drei Tagen diesen Kerl auf dem Weihnachtsmarkt zusammengeschlagen. Für nichts.“

„Er hat mich so komisch angeschaut. Der wollte was“, fauchte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Diego lachte auf. Wütend schnappte ich mir den Joint in seiner Hand und nahm einen Zug.

„Das schuldest du mir“, knurrte ich.

„Wofür, Alex?“, erneut schaute er mich an. So unschuldig, unwissend.

Wie vielen Menschen hatte er schon wehgetan? War es mir nicht immer egal gewesen? Doch jetzt änderte sich alles. Und plötzlich konnte ich es sehen: Den Schmerz in seinen Augen, die Schuld, die ihn zerfraß und das Leid, das ihm den Schlaf raubte.

„Sieben Mal, Diego. Verdammte sieben Male!“

Sein Blick galt wieder dem Boden. Dann drehte er sich einen neuen Joint.

„Warum zählst du das?“

„Warum tust du mir das an, Diego?“

Und dann sagte ich etwas, was ich nie von mir gedacht hätte und was mich zutiefst schockierte:

„Jede andere Frau, aber ausgerechnet…“

„Hör auf, Alex“, er erhob nur leicht seine Stimme, doch es reichte. Reichte, dass ich abbrach.

„Es ist, wie es ist und ich kann es nicht ändern.“

„Vielleicht kannst du es nicht. Aber ich kann.“

Mit diesen Worten stand ich auf, legte den Joint in den Aschenbecher und murmelte:

„Ich gehe jetzt los.“

Diego nickte. Doch anstatt zur Haustür, lief ich zurück nach links in mein Zimmer. Hastig suchte ich die Visitenkarte in meinem Schreibtisch. Ich hatte sie in meinem Notizbuch versteckt. In schlichten Lettern stand dort „Frau Kirsten Dedin, Sozialarbeiterin“. Darunter die Telefonnummer. Noch auf dem Weg zur Tür tippte ich die Nummer in mein Handy, ehe ich mit klopfendem Herzen auf „Anrufen“ drückte.

 

Als Carl angekündigt wird, ist keiner begeistert. Und auch der erste Eindruck von ihm, ist alles andere als positiv.

 

An diesem Morgen entdeckte ich Dean in der Küche, den Kopf auf der Tischplatte, scheinbar am schlafen. Etwas irritiert flüsterte ich „Dean?“ Zurück bekam ich ein unverständliches Brummen. „Alles okay bei dir?“ fragte ich verwirrt und besorgt. „Kopfschmerzen…“ nuschelte Dean. „Leg dich doch nochmal hin.“ schlug ich vor und versuchte so leise wie möglich den Tisch zu decken, was verdammt schwierig war, da Teller die Angewohnheit hatten, bei der leisesten Berührung mit dem Tisch, so laut zu knallen, als hätte man sie geworfen. Oder es lag an meiner eigenen Unfähigkeit. Ben würde das bestimmt leise hinbekommen. „Dann wird die Dedin doch nur misstrauisch, wenn ich schon wieder krank bin.“ schwerfällig raffte er sich auf und saß nun aufrecht am Tisch. Stumm starrte er ins Leere. „Hast du nicht geschlafen?“ fragte ich. „Doch… ich weiß auch nicht was los ist…“ „Vielleicht eine einfache Migräne… leg dich nachher einfach nochmal hin…“ doch plötzlich schaute Dean mich mit großen Augen an „Was, wenn es etwas ernsteres ist? Vielleicht sollte ich damit zum Arzt…“ Ich schnaubte „Nun übertreib mal nicht, wird schon nichts Schlimmes sein.“ Doch Dean schien nicht überzeugt. So eine Dramaqueen.

Dean aß mal wieder fast nichts. Dedin schien nichts zu bemerken. Ruth und Flo warfen sich die ganze Zeit komische Blicke zu, als sie Dean sahen. Ich verstand nicht, warum sie so besorgt schauten, er hatte doch nur Kopfschmerzen? Nach dem Frühstück standen Ruth und Jeany als erstes auf. Flo versuchte ihnen still zu folgen, doch ich rief ihm nach „Du hast was vergessen.“ Flo wusste genau was ich meinte, setzte sich wieder an den Tisch und grummelte ein paar unverständliche Worte. „Deine Medikamente.“ sagte ich monoton. Ein wenig widerwillig nahm Flo seine Medikamente und zeigte mir danach seinen Mund. „Da, zufrieden?“ „Nun übertreib nicht.“ brummte ich. Flo grinste frech und stand auf. „Geh doch noch mal pennen, vielleicht gehen die Kopfschmerzen dann weg.“ schlug ich vor. Dean nickte und stand auf. Schließlich ging er nochmal schlafen, wobei er immer noch schwankte. „Ist Dean krank?“ fragte Viktor mich. „Ich hoffe nicht…“ erwiderte ich.

Eine Weile saßen Flo, Viktor und ich im Wohnzimmer und redeten. Ich saß am Fenster und rauchte. Es war mir auf dem Balkon zu kalt geworden und es beschwerte sich auch keiner… mehr. Plötzlich seufzte Flo „Dean hat wieder Einbildungen.“ „Wie meinst du das?“ fragte ich verwirrt. „Er ist Hypochonder, er hat einmal Kopfschmerzen und geht direkt davon aus, zu sterben.“

Plötzlich klingelte ein Telefon. „Seit wann werden wir denn auf Festnetz angerufen?“ fragte Ruth. „Wir haben ein Festnetztelefon?“ fragte Flo. „Ja natürlich.“ erwiderte Ruth und stand auf. Schließlich griff sie hinter die Couch und holte ein Telefon hervor. Das Telefonat ging nur wenige Minuten. „Dedin kommt gleich vorbei, Notfallsitzung.“ erzählte Ruth. Wir fragten uns alle warum.

Flo und ich warteten in der Küche. Plötzlich unterbrach er die Stille „Ich habe mich entschieden.“ Fragend schaute ich ihn an. „Morgen treffe ich mich mit meinen Eltern.“ erklärte er. „O-okay.“ erwiderte ich. „Das ist doch gut, oder nicht?“ „Das kommt wohl darauf an, was sie von mir wollen…“ murmelte Flo. In diesem Moment klingelte es. Dedin kam rein und wir versammelten uns alle, einschließlich Dean, welchem es wieder besser ging, um den Küchentisch. Gespannt schauten wir Dedin an, welche eine dicke, schwarze Akte hervorholte. Ich wusste ungefähr, was die Farben bedeuteten, schwarz war meine Akte ebenfalls und bedeutete, dass ein hohes Aggressionspotenzial vorlag. War das vielleicht sogar meine Akte? Doch dann sah ich, was auf der Akte stand „Carl Merlender“ Ein neuer Mitbewohner? So kurz nachdem Viktor eingezogen ist?

„Wir haben ein… Problem…“ begann Dedin. Keiner reagierte, wir waren einfach neugierig. „Einer unserer Schützlinge… ist vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden… und nun suchen wir nach einem Platz für ihn.“ „Und was hat das jetzt mit uns zu tun?“ fragte Ruth. „Naja, bei euch sind zwei Zimmer frei. Wir würden ihn gerne zu euch ziehen lassen. Also übergangsweise. Es sei denn, das Ganze funktioniert gut, dann könnte er natürlich bleiben.“ Wir waren alle geschockt. „Und… warum genau war er im Gefängnis?“ fragte Jeany. „Ich hatte gehofft, dass ihr die Frage später stellen würdet…“ seufzte Dedin. Doch dann schlug sie die Akte auf und las vor „Er wurde mehrfach angeklagt wegen Drogenmissbrauchs, Sachbeschädigung und Körperverletzung in zwei Fällen.“ Das war doch nicht ihr Ernst oder? Sie konnten doch nicht einen derart gewalttätigen Typen zu uns schicken?! „Er ist Choleriker, aber er wird angemessen behandelt und stellt keine Gefahr dar.“ versicherte uns Dedin. „Ja klar, schicken sie uns so’n rumbrüllenden Knastie hier her, da freut sich Ben.“ schnaubte Dean. „Es ist ja nur eine Übergangslösung, vielleicht harmoniert das ja alles miteinander…“ versuchte Dedin uns zu überzeugen. „Und was, wenn es in einer Katastrophe endet, was verdammt wahrscheinlich sein wird?“ fragte Flo. „Er wird erstmal nur drei Wochen bei euch sein keine Sorge.“ „Das Ganze ist längst entschieden, oder? Wir werden nicht mehr gefragt, sie sind nur hier um uns mitzuteilen, dass dieser Carl kommt.“ „Nun, ja, aber wir können das ganze jederzeit abbrechen.“ „Wann zieht er ein?“ fragte Viktor vorsichtig. Stimmt ja, momentan war die untere Wohnung nicht wirklich sicher. „Morgen früh.“ antwortete Dedin. Flo murmelte „Die Tür unten ist immer noch kaputt…“ doch Ruth entgegnete trocken „Na, klingt doch danach, als ob dieser Carl sich ganz gut verteidigen könnte…“ „Die Tür ist immer noch kaputt?“ hakte Dedin nach. Wir nickten. „Ich kümmere mich darum, dass das so schnell wie möglich geregelt wird…“ Damit war es wohl besprochene Sache. Carl würde morgen bei uns einziehen. Wir waren nicht sonderlich begeistert davon, aber eine Wahl hatten wir wohl nicht.

Wie immer aß ich bei Ben. „Es zieht schon wieder ein neuer ein.“ erzählte ich. Aufmerksam schaute Ben mich an. „Aber wohl nur zum Übergang, drei Wochen wohl…“ Im Wohnzimmer saßen Dean, Viktor und Ruth und redeten über den Neuen „Du tust mir echt leid, immerhin lebst du bald mit dem in einer Wohnung.“ seufzte Dean. „Mhm.“ murmelte Viktor.

Auf dem Weg zum Doc dachte ich über den Neuen nach. Die Akte ähnelte ziemlich der meiner Stiefbrüder, was ich extrem gruselig fand. Der Doc redete lange mit mir über den Neuen. „Glaubst du, dass das gutgehen kann?“ fragte er mich. „Nein.“ erwiderte ich ehrlich. „Warum nicht?“ „Weil bald ein aggressiver Choleriker mit einem apathischen Trauma Patienten unter einem Dach lebt.“ erklärte ich. „Nun, er ist in Therapie, wir würden das ganze natürlich nicht machen, wenn wir zu viele Bedenken hätten.“ „Ben ist seit einem Jahr in Therapie und offenbar haben sie Bedenken.“ „Nun, ein gewisses Risiko ist bei jedem neuen Einzug gegeben…“ „Es ist aber wohl etwas anderes, ob der schüchterne Viktor, oder ein Cholerischer Carl einzieht.“ „Ja und hat die Situation ihn nicht so sehr überfordert und gestresst, dass er eine Essattacke hatte? Ich war dagegen, dass man ihm diesen Stress antut. Wir haben WGs mit viel weniger Personen. Wir haben WGs spezifisch für Magersuchterkrankte… aber seine Psychologin meinte, es wäre gut für ihn. Das Viktor sich gut integrieren würde…“ „Wo er ja auch nicht ganz unrecht hatte.“ „Natürlich nicht, daran hatten wir niemals gezweifelt. Trotzdem hätte man ihm wahrscheinlich viel Stress ersparen können, wenn man eine andere WG gewählt hätte.“

Wieder in der Wohnung sah ich Dean alleine in der Küche. „Warum sitzt du hier alleine?" fragte ich und setzte mich zu ihm. „Ach... die anderen sind weg und ich habe einfach ein wenig nachgedacht." „Über den neuen?" „Auch." erwiderte Dean. „Wird schwierig mit ihm… vor allem für Flo…“ murmelte er nachdenklich. „Warum?“ „Kannst du dir das nicht vorstellen? Flo und irgendein aggressiver Drogenjunkie? Da können wir Carl ja auch Ben vorsetzen.“ „Jetzt übertreibst du aber ein bisschen, Ben und Flo zu vergleichen… außerdem kommt er mit mir doch auch zurecht?“ „Er war auch nicht begeistert, als du vorgestellt wurdest.“ „Wie wurde ich denn vorgestellt?“ fragte ich erschrocken. Konnte Flo mich am Anfang wirklich nicht leiden? Wollte mich eigentlich keiner hier haben? „Naja, genauso wie Carl… du hast die Reaktionen doch gesehen.“ „Warum hat mir keiner gesagt, dass ihr mich gar nicht hier haben wollt?“ erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das habe ich nicht gesagt. Wir waren nicht erfreut als du angekündigt wurdest, aber da du niemanden geschlagen hast, ist alles gut.“ „Na toll.“ brummte ich. „Ach komm, du bist doch auch nicht begeistert von Carl.“ grinste Dean. „Das ist ja auch was anderes.“ „Ist es das?“ fragte Dean. Er hatte recht. Eigentlich war es das gleiche. „Trotzdem…“ schnaubte ich.

 

Albtraum ohne Wecker

Am nächsten Morgen frühstückten wir schweigend. Gespannt warteten wir auf die Ankunft von Carl, welche sich jedoch weit hinauszögerte, so weit, dass wir schon lange abgeräumt hatten und im Wohnzimmer saßen, als es endlich klingelte. Allerdings kamen zunächst nur die Handwerker. Wir warteten eine weitere Stunde, als plötzlich ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. „Das werden sie sein…“ flüsterte Jeany, als würden wir auf unsere Schlachter warten. Und dann kam er, Carl und es war schwer, das künstliche Lächeln aufrecht zu erhalten, als uns klar wurde, dass das da, unser neuer Mitbewohner werden würde. Er kam rein, mit einem schwingenden Gang und einem überdrehten grinsen und begrüßte uns mit einem „Das sind also meine neuen Mitbewohner!“ Entsetzen. Ich denke das beschrieb unsere Gefühlslage am besten. Blankes Entsetzen. Dedin kam hinter ihm her gewackelt. Ruth hatte den Blick zum Boden gerichtet, nicht mehr in der Lage, einen freundlichen Ausdruck zu behalten und auch Flo waren die Gesichtszüge zwischendurch entgleist. Da niemand in der Lage war zu antworten, redete Carl weiter „Ich bin Carl, Freunde nennen mich auch Bruce Willis, warum brauche ich ja nicht zu erklären, nh?“ dann lachte über seinen eigenen Witz. Er lachte als einziger. Carl, hatte kurzgeschorene, blonde Haare, war Leichenblass und eher hager. Sein viel zu enges Hemd war drei Knöpfe zu weit unten offen und außerdem trug er Tattoos an beiden Armen. Schwarze Schnörkel bahnten sich ihren Weg an seinen Armen hinunter und auch sonst sah er absolut nicht nach Bruce Willis aus. Die ganze Situation war völlig absurd und wir saßen da wir eingefroren.

„Nun Carl, du wohnst ja in der unteren Wohnung, zusammen mit Viktor, er kann dir ja die untere Wohnung zeigen. Ich werde in einer Stunde wieder vorbei kommen um noch ein paar organisatorische Sachen zu klären, okay?“ damit verabschiedete sie sich und ließ uns alleine. Ich war höchst beunruhigt, dass Dedin noch einmal wiederkommen wollte, da das wohl ein Zeichen dafür war, dass sie Angst hatte, Carl würde uns in den ersten Minuten verprügeln. Oder wir ihn. 

Wir zeigten Carl gemeinsam die untere Wohnung. Die ganze Zeit schleuderte er seine Beine beim Gehen und wiederholte in dauerschleife „Voll geil hier, ey…“ Unsicher saßen wir alle im unteren Wohnzimmer und wussten nicht wirklich mit dem Neuen etwas anzufangen. Brauchten wir aber auch nicht, da er offenbar sehr gerne redete und dabei eine Mimik auflegte, als seien wir alle schwerbehinderte Autisten. Er redete viel von seinen „Chicas“, von Champagnerpartys und wie toll er doch war. Und von seiner Freundin Christina. Irgendwann kam Dedin, doch sie verbrachte nur ein paar Minuten bei uns, ehe sie wieder verschwand und uns mit Carl alleine ließ. Ich hatte das dringende Bedürfnis zu rauchen. Oder zuzuschlagen, ich konnte es nicht ganz einordnen. Ich verschwand bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu Ben. „Der Neue ist doch echt die Krönung!“ war das erste was ich zu Ben sagte. Dieser schaute mich ein wenig erschrocken an, da ich völlig ohne Vorwarnung in sein Zimmer gestürmt kam. „Der hält sich echt für den Größten!“ schimpfte ich. „Stellt sich hier als Bruce Willis vor, der hat sie doch nicht mehr alle! Wohl eher der Wendler für arme.“ Wütend setzte ich mich zu Ben, welcher ein wenig vor mir zurückschreckte. „Labert irgendwas von seinen Chicas, was glaubt er, wer er ist? Hat der sich mal im Spiegel betrachtet?!“ Ben schaute mich immer noch aus großen Augen an und drückte sich von mir weg.

„Sorry, das ist natürlich nicht gegen dich gerichtet…“ murmelte ich. Plötzlich hörten wir weitere Menschen in die Wohnung kommen. Ruth und Flo unterhielten sich angeregt über Carl. „Der ist so widerlich!“ schnaubte Ruth. „Aber er ist doch Bruce Willis…“ lachte Flo. „Ja, the one and only…“ brummte Ruth. Anschließend verschwanden beide in ihren Zimmern, weshalb wir sie nicht mehr hören konnten. Ben war immer noch angespannt und schaute mich an, wie ein Hase, der aus seinem Bau heraus einen Falken beobachtet. „Ben…? Alles okay?“ Ben wich jedoch einen weiteren Zentimeter vor mir zurück. War ich so schrecklich zu ihm gewesen? „Hey, habe ich was gemacht?“ fragte ich vorsichtig. Doch dann wurde mir klar, was ich gemacht habe.

„Ich bin viel zu laut, oder?“ fragte ich schuldbewusst. Ben nickte. „Verzeih mir, aber der Neue regt mich einfach auf. Was bildet der sich eigentlich ein?“ Doch bevor ich wieder ausflippen konnte, ermahnte ich mich, diesmal ruhig zu bleiben. „Wie auch immer… wie geht es dir?“ versuchte ich das Thema zu wechseln. „Abgesehen davon, dass du hier polternd reingefegt bist, eigentlich ganz gut.“ erwiderte Ben, wieder völlig entspannt. „Hey, seit wann so schlagfertig?“ fragte ich grinsend. Ben lächelte nur.

 

Gegen Ende des Buches erlebt Ben eine sehr schlimme Phase in seinem Leben. Er hat wieder Flashbacks und Intrusionen, vermutlich ausgelöst durch den neuen Mitbewohner und Choleriker Carl. Alex versucht ihm beizustehen, auch wenn sie selbst kaum Ahnung hat. Da Ben jedoch auch nicht mehr in der Lage ist, zu seinem Therapeuten zu gehen, überlegen die Betreuer, Ben in einer Klinik unterzubringen, was Alex ganz und gar nicht gefällt.

 

Mit zwei Tellern ging ich zu Ben rüber. Diesem ging es wieder schlechter. Zusammengekauert hockte er auf seinem Bett. Ich stellte die Teller auf den Tisch und setzte mich neben ihn. Vorsichtig berührte ich seine Schulter. Doch Ben schreckte vor mir zurück und wimmerte „Lass mich in Ruhe… Bitte.“ Sofort zog ich meine Hand weg. „Ben… ich bin es… Alex… ich tue dir doch nichts…“ Doch Ben schien mich nicht zu verstehen. Wahrscheinlich litt er wieder unter Flashbacks. Eine Weile versuchte ich mit ihm zu reden, doch es funktionierte nicht. Schließlich holte ich Bella. Ich setzte Bella neben ihn und wartete angespannt. Bella streckte sich, legte den Kopf schief und stand auf. Zielstrebig stützte sie ihre Vorderpfoten auf Bens Schulter ab und beschnupperte sein Ohr. Doch Ben reagierte erneut abwehrend. Er wich ruckartig zur Seite aus, wodurch Bella abrutschte. Empört schüttelte sie sich. „Nimm ihm das nicht übel…“ seufzte ich. Bella blieb hartnäckig. Schnurrend versuchte sie es an Bens anderer Schulter. Aber Ben reagierte wieder abweisend. Er wich zur Seite aus und berührte mich dadurch. Doch Ben zuckte nicht vor mir zurück. Ich nutzte meine Chance und legte ihm sanft meine Hand auf seine Schulter. „Alles ist gut Ben, ich bin hier…“ flüsterte ich sanft. Ben hauchte ein paar unverständliche Worte. Schließlich begann ich einfach mit ihm zu reden. „Schau Ben, dort, das Fenster…“ Ich deutete auf die kleine Glasfläche. Bens Blick folgte mir, doch er murmelte „Da ist kein Fenster…“ „Äh… okay… ähm, dann schau, dein Tisch.“ Ben nickte. „Siehst du die Bücher die sich darauf stapeln?“ Ben nickte erneut. „Und schau, die drei Bleistifte, die unten links liegen…“ „Welche Bleistifte?“ Ich kaute auf meinen Lippen, verunsichert, wie ich reagieren sollte.

„Ben, auf deinem Tisch liegen drei Bleistifte, zwei graue und ein roter. Daneben liegen Blätter, sie sind noch weiß.“ Ich schaute genauer hin. „Über den Blättern liegt ein weißer Radiergummi… also er war mal weiß, aber wie das mit Radiergummis so ist, nehmen die blöden Dinger irgendwann die Farbe der Bleistifte an. Auf den Blättern liegen noch diese Fusseln, die entstehen, wenn man etwas wegradiert. Und da ist ein halbvoller Anspitzer, oben rechts. Da stehen zwei Teller mit Essen und das silberne Besteck… Dein Tisch ist weiß… schneeweiß.“ Ich überlegte, was ich noch beschreiben könnte. Aber das war nun einmal nur ein weißer Tisch. „Neben deinem Tisch stehen zwei graue Stühle. Auf dem linken da, da sitzt du immer und auf dem rechten sitze ich.“ Tatsächlich nickte Ben. „Und da in der Ecke ist dein Schrank. Der ist auch grau. Er hat zwei Türen.“ Ich kam mir ein wenig blöd dabei vor, Ben seine Inneneinrichtung zu erklären. Doch es half ihm, also machte ich stur weiter. „Hier neben dir steht dein Nachttisch. Der ist auch weiß. Er hat drei Fächer. Auf deinem Nachttisch ist eine Lampe, mit einem…“ Ich überlegte welche Farbe das darstellen sollte. „…farbigem Schirm.“ Mir fiel erst jetzt auf, wie trostlos und karg sein Zimmer eigentlich war. Bis auf ein paar Blätter und Stifte, schien Ben überhaupt nichts Persönliches zu besitzen. Das machte es mir umso schwerer, etwas zu finden, was er vielleicht mit etwas gutem Verband, was ihm klar machte, wo er sich befand. „Und… äh… da hinten steht ein Mülleimer. Der ist auch grau…“ Mir gingen langsam die Ideen aus. Ben schien sich zwar immer klarer zu werden, doch endgültig hatte ich ihn wahrscheinlich noch nicht davon überzeugt, dass er hier war. „Deine Wände sind weiß…“ ich hielt Ausschau nach irgendwelchen Fotos oder sonstigen Dekorationen, aber entdeckte nichts. Mir blieb nichts anderes mehr übrig „Auch wenn du es nicht siehst, da hinten ist ein Fenster. Wenn du aus dem Fenster schaust, siehst du den Sonnenuntergang. Und ganz oben blitzt bereits der Nachthimmel hervor. Äste wehen im Wind vor deinem Fenster. Braune Äste mit sattgrünen Blättern.“ Und tatsächlich nickte Ben. Plötzlich murmelte er „Alex?“ als seine Augen zufielen und er wahrscheinlich einfach vor Erschöpfung einschlief. Eine Weile saß ich stumm neben ihm. Schließlich stand ich auf, legte ihn richtig auf das Bett, nahm die Teller und Bella und verließ den Raum.

Eigentlich wollte ich einfach schlafen gehen, doch ich bemerkte, dass Flos Zimmertür einen Spalt offen war. Das war sehr ungewöhnlich, denn für gewöhnlich schloss jeder seine Tür, zu jedem Zeitpunkt. Einfach aufgrund von Privatsphäre. Eigentlich hatte ich keine besonders große Lust, erneut Seelsorger zu spielen, sollte das einen Grund haben. Aber die reine Neugier siegte. Somit klopfte ich an der Tür und trat ein. Flo saß vor seinem Bett am Boden, hatte die Augen geschlossen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er sah so fertig und erschöpft aus. Was war nur momentan los? Warum schien es denn allen plötzlich schlechter zu gehen? „Hat das einen Grund, dass deine Tür offen ist?“ „Ich weiß nicht, damit ich nicht auf komische Ideen komme, keine Ahnung.“ erwiderte Flo. Leise setzte ich mich neben ihn. Ich wusste, dass er wieder an diesem Punkt war, wo Fragen nichts bringen, also schwieg ich einfach. „Ich werde komplett irre.“ murmelte Flo erschöpft. „Wieso?“ fragte ich. „Weiß ich nicht.“ Ich seufzte bloß.

 

bodenlose Tiefpunkte

So wie auch schon die letzten Tage, war Viktor sehr schlecht gelaunt an diesem Morgen. „Carl?“ fragte Ruth vorsichtig. „Die Wohnung sieht schrecklich aus, es ist das pure Chaos. Und wenn ich mit ihm rede, hat er nur Spott für mich übrig.“ beschwerte er sich. Plötzlich wandte er sich an Dean „Kannst du nicht mit ihm reden?“ Von dem ‘Gespräch‘ zwischen ihm und Carl wussten die anderen durch Ruth. Dean seufzte bloß „Warum sollte er bei mir anders reagieren?“ Noch ehe Ruth ihm empört antworten konnte, kam Carl. Nur wenige Minuten später saß Dedin bei uns in der Küche. „Was ist mit Ben? Er hatte gestern keinen Termin…“ fragte sie. „Er wäre wahrscheinlich nicht hingegangen.“ seufzte ich. „Ich weiß, du willst es nicht hören, aber vielleicht wäre ein vorrübergehender Klinikaufenthalt hilfreich.“ schlug Dedin vorsichtig vor. „Ist das ihr Ernst? Einen Umzug nach unten würde er nicht überstehen, aber in die Klinik?“ entgegnete ich. „Das ist etwas anderes, das kannst du nicht vergleichen. Bei einem Klinikaufenthalt hätte er rund um die Uhr psychologische Betreuung…“ „Die hat er hier momentan auch…“ bemerkte Ruth. Dedin sagte energisch „Es ist aber nicht eure Aufgabe! Beziehungsweise nicht Alex‘ Aufgabe.“ „Ben bleibt hier.“ sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war mir egal, ob ich mich gerade wie ein bockiges Kind benahm. „Diese Entscheidung liegt nicht bei dir, Alex.“ „Ben hat seine Fünf Stunden noch nicht verbraucht, solange das nicht der Fall ist, sehe ich keinen Grund ihn in die Klinik zu bringen.“ mischte Dean sich ein. „Wenn sich bald keine Besserung zeigt, bleibt uns nichts anderes übrig.“ erwiderte Dedin kopfschüttelnd. Dann stand sie auf. Thema beendet. Schlusssatz gesprochen. Ich war verzweifelt.

Wortlos stand ich auf und verließ die Küche. Wozu machte ich das hier eigentlich? Wenn sie ihn am Ende sowieso wieder wegsperrten, weil sie keine Geduld hatten? Wozu große Töne spucken, jemanden damit beauftragen, sich um Ben zu kümmern, wenn man ihn letztendlich doch wieder in die Klinik abschiebt? Verzweifelt ließ ich mich auf mein Bett fallen. Das war nicht fair. Das war alles einfach nicht fair.

Wie auch die letzten Tage verbrachte ich die meiste Zeit des Tages bei Ben. Doch so früh wie heute war ich selten da. Ben war schon wach. Er war buchstäblich am Ende. Nur noch ein Wrack. Da war nichts mehr, von dem anmutigen und scheuen Jungen, den ich kennenlernte. Ben war nur noch ein Schatten seiner selbst. Das Elend persönlich. Er war noch dünner als ohnehin schon geworden, wenn er so weiter machte, könnte er bald zur ernsthaften Konkurrenz für Viktor werden. Er kauerte auf dem Boden und weinte ununterbrochen. Er schien kaum geschlafen zu haben, und die blauen Flecke waren wieder schlimmer geworden. Schweigend setzte ich mich zu ihm. Ich wusste nicht, ob ich ihm näherkommen sollte, oder ob ich damit wieder alles nur schlimmer machen würde. Schließlich sprach ich ihn leise an. „Ben?“ doch Ben reagierte nicht. Irgendwann stand ich auf und holte Bella. Als ich jedoch wieder Bens Zimmer betrat, schien alles noch schlimmer geworden zu sein. Ben kniete auf dem Boden, wippte mit dem Oberkörper auf und ab und zerrte wie ein wahnsinniger an seiner eigenen Haut. Er beugte sich vor, zerrte an sich, schrie sogar unterdrückt auf, während ununterbrochen Tränen auf den Boden tropften. Er atmete hektisch und sah aus, als würde er Höllenqualen durchleben. Ich setzte Bella auf dem Boden ab und kniete mich besorgt vor ihn. Das war vermutlich das schlimmste, was ich je gesehen hatte. Ben war plötzlich laut. Laut, verzweifelt und so voller Angst.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Dean und Ruth standen in der Tür. Beide sahen sehr besorgt aus. „Was ist hier los Alex?“ fragte Dean. „Sollen wir jemanden anrufen?“ Dann bemerkten sie Bens Wunden „Hey, sollen wir Ben ins Krankenhaus bringen? Sollen wir den Doc als Notfall herbeirufen?“ Entsetzt schaute ich sie an „Habt ihr nen‘ Knall?! Natürlich nicht! Ich schaffe das schon!“ wahrscheinlich war mein Tonfall ein wenig unangebracht, doch ihr Auftreten war es ebenfalls. In so einer Situation können sie doch nicht einfach bei Ben hereinplatzen?! Schließlich bedeutete ich ihnen energisch den Raum zu verlassen, was sie auch taten.

Vorsichtig drehte ich mich wieder zu Ben. Er schien von dem Besuch nichts mitbekommen zu haben. Ich berührte sein Kinn, wollte ihm in die Augen schauen, wollte ihm zeigen, dass ich da war, dass alles okay war, doch sein Blick war das schlimmste von allem. In seinen Augen spiegelte sich so viel Schmerz und so viel Trauer. Da war kein Leben mehr, keine Freude, nicht mal mehr die Liebe zu Marek, schien geblieben zu sein. Nur Qual und Angst. Er schien durch mich hindurch zu sehen, in einer ganz anderen Welt zu sein. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte. Schließlich tat ich einfach, was mir mein Bauchgefühl sagte. Ich umarmte ihn. Und tatsächlich stieß er mich nicht weg. „Es ist alles gut Ben… ich bin hier, bei dir…“ flüsterte ich. Ben schien tatsächlich ein wenig ruhiger zu werden. Sanft strich ich über seinen Rücken. Doch plötzlich, binnen dem Bruchteil einer Sekunde, änderte sich seine Stimmung. Er drückte sich ein wenig vor mir weg, es war kaum merklich und nicht genug, dass ich ihn loslassen müsste. Doch ich respektierte seinen Wunsch nach Abstand und rutschte ein Stück zurück. Ben kauerte sich wieder zusammen und schien mit seiner gesamten Körperhaltung zu sagen „Fass mich nicht an“. Eine Weile war es vollkommen still.

Dann begann Ben wieder zu weinen. Ich wünschte mir so sehr, dass ich ihm helfen könnte. Irgendwie. Ich wollte nicht nur rumsitzen. Ich wollte endlich etwas tun. Gleichzeitig hatte ich Angst erneut abgewiesen zu werden, dass er mich aus seinem Zimmer schicken würde, wenn ich ihm zu nahekam. Und so blieb mir Nichts anderes übrig, als da zu sitzen und auf ihn einzureden. Ich wusste nicht, wie lange ich das machte, aber es war lang. Bis Ben plötzlich zaghaft den Kopf hob. Er schaute mich immer noch mit diesem verstörten Blick an, doch etwas war anders. Ich wusste nicht was, aber ich bildete mir ein, dass es etwas Positives war. Ich hörte auf zu reden. Wir schauten einander einfach an. Und dann fragte Ben leise, schüchtern und unsicher „Kannst du… dich neben mich setzen?“ „Klar.“ sagte ich sofort und setzte mich neben ihn. Ich wusste zwar nicht, warum ihm das helfen sollte, aber es war mir auch eigentlich egal. In diesem Zustand würde ich zu Ben niemals nein sagen. Ben lehnte seinen Kopf an die Wand. Ich wollte meine Hand auf seine Schulter legen, ihn beruhigen, ihm ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, doch kurz bevor ich ihn berührte, zögerte ich. Vorsichtig fragte ich ihn „Darf ich?“ Ben antwortete nicht. Ich ließ meine Hand wieder sinken. Plötzlich flüsterte Ben leise „Danke…“ In diesem Moment wurde mir etwas klar. Ben konnte nicht nein sagen. Oder er durfte es nicht. Und irgendjemand und ich hatte stark Marek im Verdacht, hatte das wahrscheinlich immer wieder ausgenutzt. War schamlos über seine Grenzen gegangen.

Vielleicht war er deshalb so scheu? Vielleicht litt er deswegen unter posttraumatischer Belastungsstörung? Vielleicht konnte er deswegen keine Berührungen ertragen? Aber auf der anderen Seite liebte er Marek doch so sehr? Und liebte man jemanden, der dir so wehgetan hatte? Ja, am Anfang, doch für immer? Selbst nachdem man von demjenigen getrennt war? Andererseits, vielleicht hatte auch einfach niemand Ben erklärt, dass Marek schlecht für ihn war? Vielleicht. 

Lange saßen wir schweigend nebeneinander. Ich hatte das Gefühl, dass Ben tatsächlich ruhiger wurde. Allerdings vermutete ich auch, dass das gerade, kein Flashback und keine Intrusion war, sondern einfach ein nervlicher Zusammenbruch, eine Überforderung, einfach tiefe Trauer, wahrscheinlich durch die Flashbacks ausgelöst. Plötzlich kam Ben mir zaghaft ein paar Zentimeter näher. Es war eigentlich nicht der Rede wert, doch für Ben wahrscheinlich ein riesiger Schritt und irgendwie auch ein Vertrauensbeweis. Ich schaute ihn sanft an. Doch Ben war schon dabei wieder Abstand zu nehmen. „Schon gut Ben, komm ruhig näher… du darfst.“ sagte ich sanft. Ich mochte das Wechselspiel aus Fragen, akzeptieren und Raum geben. So war es für uns beide leichter, dem anderen zu Vertrauen. Und ich wusste, wo ich bei Ben war. So musste er mich nicht mehr wegschicken. Es kam schlichtweg nicht mehr zu dieser Situation. Und mir viel es ebenso leichter, seine Nähe anzunehmen. Ich lernte seine Grenzen durch sanftes austesten und nicht durch permanentes Überschreiten. Und ich lernte meine eigenen Grenzen.

Vorsichtig kam er mir wieder näher und ich hätte schwören können, dass er sich für den Bruchteil einer Sekunde sogar entspannte. Vorsichtig hob ich den Arm, schaute ihn an und fragte „Darf ich?“ Ben nickte. Zärtlich legte ich meinen Arm um seine dünnen Schultern. Versuchte ihm so viel Ruhe und Liebe wie möglich zu vermitteln. Er sollte sich bei mir wohl fühlen, sicher, akzeptiert und verstanden. Denn das gleiche Gefühl vermittelte er mir. Vorsichtig stützte ich mein Kinn auf seine Schulter und flüsterte „Ich bin für dich da Ben. Ich bin bei dir, das schwöre ich dir.“ Bella hatte es sich derweil auf Bens Schoss gemütlich gemacht. Lange saßen wir schweigend nebeneinander. Ich genoss die Ruhe und dass es Ben wieder besser ging.

Ich ließ Ben ungerne wieder alleine, doch wenn ich nicht bald aus dem Zimmer kam, würden die anderen wahrscheinlich wirklich den Doc verständigen. Als ich wieder im Flur stand bemerkte ich, dass bereits gekocht wurde. Irritiert ging ich in die Küche und schaute auf die Uhr. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass es bereits fünf war. Die anderen schauten mich besorgt an. „Wie geht es ihm?“ fragte Ruth sofort. „Besser, viel besser.“ erschöpft setzte ich mich auf einen der Küchenstühle. „Ich glaube, heute Morgen ist er am absoluten Tiefpunkt angekommen.“ Flo rührte schweigend in den Nudeln. Er schaute mich kein einziges Mal an. Jeany war wie immer in den letzten Tagen mit ihrem Handy beschäftigt. „Glaubst du, er ist wieder stabiler? Immerhin hatte er in den letzten Tagen viele auf und ab’s?“ fragte Dean. „Ich weiß es nicht, wirklich. Ich hoffe einfach, dass es ab jetzt nur noch nach vorne geht.“ erwiderte ich ehrlich.

Ruth bereitete mir zwei Teller vor und sagte leise „Viel Glück.“ Dankbar nickte ich ihr zu. Glück konnte ich gebrauchen. Denn ich hatte mich geirrt. Das heute Morgen war nicht Bens Tiefpunkt. Seinen Tiefpunkt hatte er jetzt erreicht. Er schluchzte bitterlich, schlug immer wieder auf sich ein und zerrte an sich, als würde er seine Haut abreißen wollen. Er bewegte seinen Kopf hin und her, redete vor sich hin, schien überhaupt nicht mehr in dieser Welt zu sein. Er saß da, zusammengekauert und zitterte vor Angst. Als ich ihm näherkam, hörte ich, wie er leise sagte „Ich bin so alleine…“ In seinen Augen war nur noch Angst erkennbar. Endlose und grausame Angst. Ich stellte die Teller ab und wollte zu ihm gehen, doch kurz bevor ich beim war, schreckte Ben panisch vor mir weg. Er drückte sich in die Ecke seines Zimmers und wimmerte immer wieder irgendetwas, doch ich konnte es nicht verstehen. Somit fing ich von vorne an. Ich saß wieder vor ihm und versuchte mit ihm zu reden. Plötzlich kam mir ein Gedanke auf. Vielleicht hatte Dedin recht und Ben gehörte wirklich in die Klinik. Ich war nun mal keine Psychologin, ich konnte Ben nicht helfen. Jedenfalls nicht dauerhaft.

Ich wusste nicht, wie lange ich vor ihm auf dem Boden saß und redete. Es hätten Stunden sein können. Ich war kurz davor aufzugeben, wirklich den Doc zu rufen, oder Dedin. Ich hasste es, dass ich ihm nicht helfen konnte, doch die Situation war mittlerweile auch für Ben gefährlich geworden. Denn diese Selbstverletzung konnte nicht gesund sein. Sein ganzer Zustand war nicht gesund. Ich gab ihm und mir noch Zehn Minuten, dann würde ich Ruth bitten Hilfe zu holen. „Ben, bitte, ich bin doch hier. Alex. Ich will dir doch helfen.“ Plötzlich griff Ben mit zitternden Fingern nach seinem Nachttisch. Verwirrt beobachtete ich, wie er etwas runterzog. Ein Buch fiel mit einem dumpfen Aufschlag auf den Boden. Schwach schob er mir das Buch zu. Plötzlich hauchte er leise „Bitte.“ Ich nahm das Buch vorsichtig entgegen und las ihm vor.

Es dauerte lange, doch irgendwann wurde er zumindest etwas ruhiger. Nicht viel, aber offenbar genug, dass er verstand, wo er sich befand. Schließlich bot ich ihm leise an „Komm her Ben.“ Ben schien tatsächlich zu überlegen „Ich will dir nur helfen… ich werde nichts tun, was du nicht willst, okay? Ich schwöre es dir, bei meinem Leben.“ Das schien Ben davon zu überzeugen. Scheu näherte er sich mir. Er war sehr bedacht und aufmerksam, so als erwartete er jederzeit einen Angriff oder ähnliches. Doch ihm passierte nichts. Schließlich ließ er sich neben mir sinken. Eine Weile las ich ihm einfach vor und Ben entspannte sich ganz allmählich. Doch die Zeit drängte, denn ich hatte noch einen Termin beim Doc. Ich wollte ihn nicht alleine lassen. Denn jedes Mal, wenn ich gegangen war, ging es ihm danach wieder schlechter. Doch ich war nicht entschuldigt, auch ich hatte die Pflicht zu erscheinen. Ich versuchte es ihm so vorsichtig wie möglich beizubringen. „Ben, ich muss zum Doc, aber ich verspreche dir, ich bin bald wieder da ja?“ Erschrocken schaute Ben mich an „Aber… immer, wenn du weg bist, dann kommt er wieder…“ Er schaute mich an, wie ein Welpe, den man an die Leitplanke gebunden hatte. Das machte es mir nicht unbedingt einfacher. „Ich bin doch bald wieder da. Die anderen sind auch da, du bist nicht alleine.“ Ich wusste, dass das wahrscheinlich das mieseste Argument aller Zeiten war. Ich stand auf und schlug vor „Hey, ich hole dir Bella, sie kann auch auf dich aufpassen, was hältst du davon?“

Doch Ben geriet nur noch mehr in Panik. Er klammerte sich an mir fest und bat, mit vor Verzweiflung und Furcht bebender Stimme „Bitte, bitte Alex, lass mich nicht alleine.“ Ich schaute ihn an, schaute in diese angsterfüllten und bittenden Augen und nickte. „Okay, ich lass dich nicht alleine, versprochen.“ Er war wichtiger als diese eine Fehlstunde. Ben wirkte wirklich erleichtert. Er schien richtig Panik zu haben, dass ich gehe. Ich fragte mich, wer ‘er‘ war, der immer kam, wenn ich ging. Schließlich setzte ich mich auf sein Bett „Komm her Ben…“ Ben setzte sich zaghaft neben mich.

 

Mit besagtem Carl hat Alex ein paar Tage später ebenfalls Stress. Seine Aufdringlichkeit passt nämlich so gar nicht zusammen mit Alex Panikstörung.

 

Schließlich wollte ich noch den Geschirrspüler aus- und einräumen, als Carl dazu kam. Ich ahnte schon, dass er wieder seine Kommentare zum Besten geben würde. Aber ich war viel zu gut gelaunt, als das mich das stören könnte. Doch es kam ganz anders. Er kam mir näher. Ich ging von ihm weg, wenn er zu nahe war, doch er folgte mir. Und plötzlich, landete seine Hand an meiner Brust. Erschrocken gab ich dem ersten Impuls nach und scheuerte ihm eine. Doch anstatt, dass er sich zurückzog, wurde er wütend. „Was stimmt denn nicht mit dir?!“ fauchte er. „Was mit mir nicht stimmt?! Pack mich nicht an du Hurensohn!“ „Du lässt doch sogar Ben ran, ich bitte dich!“ Und damit, eskalierte die Situation. Ich kam auf ihn zu „Was hast du gesagt?!“ brüllte ich. Er wich nicht zurück, sondern schrie „Du hast mich schon verstanden!“ „Wer bist du überhaupt?!“ „Was?! Was willst du?!“ schrie er und drängte mich zurück. Wütend schubste ich ihn weg und rief „Komm mir nicht so nah!“ sodass er gegen die Arbeitsfläche stieß. Ich war wütend, richtig wütend. Carl ebenfalls. Er stieß mich mit einer enormen Wucht gegen den Tisch und brüllte „Alter, pass auf! Ich schwöre dir, pass auf Mädel!“ Wütend rief ich „Was?!“ „Pass bloß auf!“ brüllte er bloß. „Du bist schuld an allem! Du bist so ein erbärmlicher Hurensohn!“ brüllte ich. Es war mir völlig egal, dass wir bereits schockierte Zuschauer hatten. Zwischen uns baute sich etwas auf. Unsere Aggression war im gesamten Raum zu spüren, die ganze Atmosphäre war laut und unbeherrscht, was die anderen wahrscheinlich daran hinderte, sich zwischen uns zu stellen. Das war wahrscheinlich gut so, denn ich konnte nicht mehr zu hundert Prozent sagen, ob ich dann noch den richtigen erwischt hätte.

Schließlich war mir alles egal. Ich holte aus und schlug Carl mit voller Wucht ins Gesicht. Es tat so gut. Carl kam auf mich zu und schlug zurück. Es war mir egal. Bei vier Stiefbrüdern ist man irgendwann nicht mehr schmerzempfindlich. In diesem Moment waren alle Hemmungen vergessen. Es gab kein Gewissen mehr, kein richtig und falsch. Alles was ich fühlte, war purer Hass, unterstützt durch gleißende Wut. Ich schlug auf ihn ein, stieß ihn auf den Boden und warf ihm jede Beleidigung an den Kopf die ich je in meinem Leben gehört hatte. Ich prügelte auf alles ein was ich finden konnte. Doch Carl blieb nicht wehrlos am Boden liegen. Er brüllte, trat nach mir und erwischte mich. Schlussendlich hockten wir beide am Boden und prügelten wie Tiere aufeinander ein. Wir hassten einander, endgültig. Schmerz war unwichtig, alles was für mich zählte war, Carl zu töten. Jedes bisschen Blut war eine Genugtuung. Zumindest solange, bis wir auseinandergetrieben wurden. Ruth und Jeany packten mich und zogen mich aus der Küche und Viktor und Dean drückten Carl zu Boden. Trotz allem schrien wir uns beide weiterhin an. Zumindest solange, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. „Alter, was machst du?!“ kreischte Jeany spitz. Ruth schaute mich entsetzt an „Bist du verrückt geworden?“ „Wahrscheinlich.“ zischte ich und stand auf. Ich ging ins Bad und wusch mir das Blut vom Gesicht. Er hatte zum Glück nur meine Lippe getroffen.

Zwischen Carl und mir war gerade eine endgültige Feindschaft entstanden. Eine Feindschaft, die so tief war, dass, als Carl am Badezimmer vorbei ging, wir erneut aufeinander losgingen. Er sah noch nicht schlimm genug aus. Das blaue Auge und die blutende Nase reichten mir nicht. Allerdings gingen die anderen rechtzeitig dazwischen. Diesmal hielt Viktor mich auf und Carl wurde von Jeany und Dean ins Wohnzimmer gezerrt. Ich wurde von den anderen in die Küche beordert. „Wenn wir Dedin nicht Bescheid geben gibt’s Strafe.“ bemerkte Viktor vorsichtig. Ruth schaute mich an. „Ruf sie an, keine Strafe kann dieser Genugtuung gerecht werden.“ schnaubte ich. Schließlich rief Ruth Dedin an. Diese war zwanzig Minuten später da und Wut, war noch ein sehr sanfter Ausdruck für ihre Gefühlslage. „Wieso prügelt ihr euch? Kann mir das einer von euch verraten?“ „Er hat mich angefasst!“ rief ich. Alle schauten Carl böse an. „Das stimmt doch gar nicht!“ verteidigte Carl sich. „Ist das dein Ernst?“ schrie ich ihn wütend an. Doch bevor die Lage erneut eskalieren konnte, ging Dedin dazwischen „Ruhe jetzt, ihr redet jetzt mit mir, verstanden?!“ Es lag ein unglaublich hohes Aggressionspotenzial im Raum. Jeder der anwesenden spürte, dass Carl und ich nur noch ein Wort brauchten um hier alles kurz und klein zu schlagen. Oder gegebenenfalls den anderen zu erschlagen. „Er hat mich angefasst und mich als Schlampe dargestellt und Ben beleidigt!“ zählte ich auf. „Du hast mich…“ doch Dedin ging dazwischen „Mit mir reden.“ „Sie hat mich angegriffen. Die ist doch komplett irre!“ erboste Carl sich. „Der Kerl ist gefährlich! Er hatte schon zwei Anfälle! Und er hat Bella getreten!“ erzählte ich. „Ich habe sie nicht getreten! Und schon gar nicht, habe ich dich… sie angefasst. Sowas mache ich nicht!“ verteidigte Carl sich wütend. Plötzlich sagte Ruth „Mich hat er auch bedrängt. Und wenn Dean nicht gewesen wäre, weiß ich nicht, was passiert wäre.“ Dann erzählte Jeany „Bei mir hat er das auch gemacht. Ich wollte ihn zum Frühstück holen, da hat er mich in der Wohnung extrem bedrängt und angefasst.“ geschockt schauten wir Jeany an. Das hatte sie gar nicht erzählt. Nun war Carl an der Reihe. „Die hat mich mit Wasser übergossen!“ beschwerte er sich. „Kannst froh sein, dass es kein Benzin war.“ zischte Ruth. „Ruth!“ sagte Dedin empört.

 

Als es Ben wieder besser geht, unternimmt Alex mit ihm einen Spaziergang zum Feld. Dabei unterhalten sie sich über sexuellen Missbrauch und wie Bens Stockholm entstand.

 

Ich merkte, wie Ben draußen wieder angespannter und unruhiger wurde. „Entspann dich Ben, alles ist gut. Niemand kann dir gefährlich werden.“ versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich entschied mich die ruhigen und leeren Felder aufzusuchen. Ben wich mir nicht mehr als dreißig Zentimeter von der Seite und sein Blick galt allem was sich bewegte oder ein Geräusch von sich gab. Was an einem Dienstag um halb Vier an einer Straße nicht unbedingt wenig war. Dementsprechend lotste ich ihn so schnell wie möglich zu den Feldern, welche abgesehen von ein paar Reitern und Spaziergängern ausgesprochen ruhig waren. Tatsächlich half Ben das sich zu entspannen. Ich führte ihn ein wenig abseits des Feldes, wo wir uns schließlich setzten. Ich rauchte eine Zigarette und schaute mich um. Ben war immer noch angespannt. Ich fragte mich, warum er sich so sehr fürchtete? Schließlich nahm ich behutsam seine Hand. „Entspann dich Ben. Es gibt keinen Grund zur Sorge, wirklich nicht.“ Eine ganze Weile waren wir ganz alleine. Es war kaum ein Geräusch zu hören und nichts schien sich zu bewegen. Ganz allmählich bröckelte Bens Anspannung. Fast, als würde eine Last von seinen Schultern fallen. „Siehst du wie schön es hier ist?“ fragte ich. „So ruhig.“ murmelte er. Ich nickte „Ja, ruhig. Nicht wie in der Stadt. Das tut uns gut. Rauskommen, weit weg vom alten Pflaster.“ „Warum bist du hier?“ fragte Ben mich plötzlich. Das hatte er noch nie gemacht. Er hatte noch nie nach mir gefragt. Und irgendwie brachte seine Frage mich durcheinander. „Wie… wie meinst du das?“ „Naja, man kommt nicht ohne Grund in diese Wohnungen… meist, weil man nicht mehr nach Hause darf… warum darfst du nicht mehr nach Hause?“ „Wegen Diego.“ erwiderte ich knapp. Eigentlich wollte ich nie wieder über dieses Thema reden. Nie wieder diesen Namen hören. Und doch nannte ich ihn bereits zwei Mal an diesem Tag. Ben schaute mich fragend an. Doch ehe er nachhaken konnte, begann ich zu fragen. „Marek hat dich gekauft, nicht?“ „Ja, als ich fünfzehn war.“

„Wieso liebst du ihn, Ben? Ich verstehe es nicht. Er hat dir so weh getan und doch liebst du ihn.“ Ben wandte den Blick ab. „Warum könnt ihr alle es nicht verstehen? Er hat mich gerettet.“ „Erkläre es mir. Erkläre mir, wovor er dich gerettet hat.“ bat ich. „Vor den anderen.“ erwiderte Ben bloß. „Welchen anderen?“ „Den anderen Männern.“ „Du hast schon vielen gehört, oder?“ flüsterte ich. Doch Ben schüttelte den Kopf. „Nein. Nur zweien.“ Verwirrt schaute ich ihn an. „Was meinst du dann mit den anderen?“ „Ich habe zweien gehört. Marek und Iwan…“ doch er redete nicht weiter. „Was hat Iwan gemacht?“ fragte ich vorsichtig. Leise murmelte Ben „Er war Zuhälter.“ Schockiert schaute ich Ben an. Doch in seinem Gesicht war keine einzige Emotion zu lesen. Fast, als würde er über jemand anderen reden, eine flüchtige Bekannte, nicht über sich selbst. Ich nahm ihn einfach in den Arm. „Marek war kein Zuhälter, oder?“ fragte ich. So langsam wurde mir klarer, wie diese Liebe entstanden war. Endlich erzählte Ben „Nein, er war zunächst Kunde. Iwan hatte mich gekauft, als ich acht war. Ich habe sieben Jahre in seinem Keller gelebt. Ich war nicht der einzige. Das war sein Geschäft. Er hat viele Kinder an andere verliehen, immer nur für eine Nacht oder wenige Stunden. Irgendwann hat Marek mich gebucht. Es war nur eine Stunde. Aber ich gefiel ihm, sehr sogar. Er buchte mich immer öfter und immer länger. Er war anders als die anderen. Er schien sich wirklich um mich zu sorgen. Niemand hatte sich je um mich gesorgt. Weder die Kunden, noch Iwan, nur Marek. Einmal buchte er mich für eine ganze Nacht. Aber er hat mich nicht angerührt. Er hat mir Essen gemacht und mich in seinem Bett schlafen lassen. Einfach so. Und irgendwann hat er mich gekauft. Er hat mich gerettet. Er hat mich immer vor den anderen beschützt, vor seinen Freunden oder vor Fremden. Er hat sich um mich gekümmert. Er ist anders als die anderen.“ 

Tatsächlich konnte ich nun irgendwie verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Ben sich in diesen Mann verliebte. Dennoch war diese gesamte Geschichte einfach nur grausam. „Du hast Marek wirklich geliebt, nicht?“ „Er war alles für mich. Er war mein einziger Halt im Leben.“ ich nickte nachdenklich. In gewisser Weise war das absolut logisch und dennoch nur schwer nachvollziehbar. „Er hat dich trotzdem angefasst Ben. Er hat es getan obwohl du es nicht wolltest.“ „Ich schuldete es ihm.“ erwiderte Ben. Doch ich redete weiter „Du hast ihn geliebt, obwohl er dich in einer weise berührte, die du nie wolltest.“ „Du verstehst das nicht.“ seufzte Ben. „Doch, ich denke ich verstehe es.“ Ben wandte seinen Blick wieder zu mir. Ich strich meine Haare zurück und zeigte ihm ein Tattoo hinter meinem linken Ohr. Eine Strichliste, welche die Zahl sieben zeichnete. „Wofür steht das?“ fragte Ben verwirrt. „Für die sieben Male, die mein Stiefbruder mich vergewaltigt hat.“ erklärte ich. Dann schaute ich ihn wieder an „Ich weiß ganz genau wie sich das anfühlt, von jemanden angefasst zu werden, den du liebst. Ich habe Diego geliebt. Er hat mir die Welt zu Füßen gelegt. Er hat mich beschützt, die Menschen haben mich respektiert, weil sie wussten, dass ich unter Diegos Schutz stehe. Mein Leben war dank ihm perfekt. Und dann eines Nachts, hat er mich vergewaltigt. Und danach… danach habe ich ihn getröstet. Weil er sich mir vor reue heulend quasi vor die Füße geworfen hat. Er nannte es einen Ausrutscher. Ein Versehen. Etwas, dass sich nie wieder wiederholt. Er hat es sieben Mal gemacht. Und ich habe ihn trotzdem irgendwie geliebt. Es dauerte lange, bis ich verstand, dass er Unrecht getan hatte.“

Plötzlich fragte Ben mich „Wie hast du diese Nächte überstanden?“ „Ich habe mir immer wieder eingeredet, dass ich auf Diego stehe und dass das gerade das beste ist, was mir je passiert ist. Was hast du gemacht?“ „Ich habe versucht mir einzureden, dass es schlimmer sein könnte. Dass ich ihm das schulde und dass er das aus Liebe tut. Außerdem hat er viel Geld für mich gezahlt, ich schuldete ihm diese Gefallen. Ich meine, er hat mich geliebt. Wirklich. Das hat er mir immer wieder gesagt. Dass er mich liebt, dass ich wunderschön sei und dass er mich für immer beschützt. Aber in diesen Nächten sagte er nichts mehr davon. Eher im Gegenteil. Er hat mich runter gemacht und sich über mich lustig gemacht, wenn ich vor Schmerz geweint habe. Trotzdem habe ich ihn mit mir alles machen lassen, was er wollte. Ich hatte einfach Angst, dass er mich wieder verkauft, wenn ich ihm nicht mehr genug bin. Dass er mich tötet, wenn ich mich wehre.“ Auf einmal liefen ein paar Tränen seine Wangen hinab. Liebevoll nahm ich ihn wieder in den Arm. „Ich weiß. Ich habe mir auch gesagt, dass er mich liebt, dass er das nur nicht anders ausdrücken kann. Ich war Abhängig von ihm, ich war nicht beliebt, er war es und ich war sein Anhängsel. Ich hatte Angst, mein Leben wie es war zu verlieren, wenn ich mich gegen ihn wehre. Ich habe Diego gleichzeitig gehasst, gefürchtet und geliebt.“ Ben murmelte mit bebender Stimme „Er war so unglaublich liebevoll und fürsorglich am Anfang. Doch irgendwann wurde er immer kälter und brutaler. Ich… ich wollte doch nur seine Nähe. Ich hatte doch nichts anderes. Doch er… er verbot mir, ihm näher zu kommen, wenn er mich nicht rief. Ich durfte ihm nicht einmal in die Augen schauen… und wenn er mich dann rief…“ auch wenn er nicht zu ende sprach, wusste ich, was er sagen wollte. „Das ist schrecklich und unfair.“ murmelte ich. Doch Ben entgegnete „Es war okay. Denn er hat sich trotzdem um mich gekümmert. Und er hat mich nur selten verliehen.“ „Nur selten?“ schnaubte ich. „Jedes einzelne mal war zu viel.“ „Nur an Freunde… und wenn ich gut war belohnte er mich auch.“ „Ben, egal was er für dich getan haben mag, nichts gleicht die Verbrechen aus, welche er dir angetan hat. Wirklich gar nichts. Ich weiß, dass ist schwer zu verstehen und ich weiß, das zu verstehen erfordert auch die Einsicht, was passiert ist, aber du musst mir glauben. Ich verstehe dich, ich verstehe wie du denkst und was du fühlst, zumindest teilweise. Aber ich weiß auch, was danach kommt.“

„Er hat mich geliebt Alex. Er hat mich bei sich behalten, als einziger. Er hat mich sogar manchmal mit nach draußen genommen.“ „Ja, das hat er. Und dennoch… Schau mal, alleine der Fakt, dass er dich gekauft hat, widerspricht so vielen Menschenrechten. Alles was dir passiert ist, war Unrecht. Nichts von dem hätte passieren dürfen. Und ja, in Relation zu dem, was dir widerfahren ist, war Marek bestimmt sehr nett, aber all das hätte nie passieren dürfen. Du bist ein Mensch Ben, keine Ware. Niemand hat das Recht, dich zu kaufen, zu verleihen, nicht mal dich gegen deinen Willen anzufassen.“ „Und warum haben sie das dann getan?“ fragte Ben. „Dafür gibt es keinen Grund, außer vielleicht, dass es widerliche, böse Menschen sind.“ Ben sagte nichts dazu. Vielleicht, weil er es nicht verstand, vielleicht, weil er darüber nachdachte. Irgendwann fragte ich „Hast du dich jemals gefragt, warum ausgerechnet dir das passiert?“ Doch er schüttelte den Kopf „Nie. Es war einfach so. Dinge sind passiert und ich konnte sie nicht ändern. Alles was mir blieb war, brav zu sein um mir keine Strafen einzuhandeln. Mich erziehen zu lassen. Für mich gab es nur den Moment, keine Zukunft. Nie habe ich mich gefragt, warum oder wieso. Ich wollte einfach nur weitestgehend unbeschadet und mit so wenig Schmerzen wie möglich überleben. Das einzige, was ich mich manchmal im Stillen fragte war, warum meine Mutter mich auswählte.“

Ich wusste, dass wir noch einen langen Weg vor uns hatten. Dass es lange dauern würde, bis Ben verstehen würde, dass Marek ihn nie geliebt hat. Dass all das, was passiert ist, Gewalt war und dass niemand, wirklich absolut niemand, das Recht hatte, so mit Ben umzugehen. Doch fürs erste wollte ich keine weiteren Wunden aufreißen. Ich war mir sicher, dass man Ben noch viel mehr angetan hatte und dass Marek noch viel mehr grausame Dinge getan hatte, doch ich beließ es erstmal dabei. Vielleicht würde er es eines Tages erzählen. Doch für diesen Moment genügte es.

 

Ben hat Probleme mit Albträumen. Verzweifelt sucht er bei Alex Schutz. Er spricht sich ein paar Sorgen von der Seele und Alex muntert ihn etwas auf.

 

„Alex?“ Verwirrt blinzelte ich. Irgendjemand flüsterte meinen Namen. „Alex?“ „Was?“ brummte ich, ohne die Augen zu öffnen. Derjenige stammelte ein paar Worte und brach dann ab. Müde setzte ich mich auf und machte das Licht an. Es war 01.00 Uhr nachts und Ben stand an meinem Bett, verwirrt und aufgelöst. „Ben? Was ist los?“ fragte ich müde. Dadurch, dass er mir diesmal keinen Schrecken eingejagt hatte, war ich nicht halb so wach. „Ich… ich habe wieder… von ihm geträumt…“ Ich machte ihm Platz und bedeutete ihm näher zu kommen. Ben legte sich zu mir und ich deckte ihn zu. „Was hast du geträumt?“ fragte ich. „Von… dem einen Morgen… als… als wir uns gestritten haben…“ „Du hast dich mal mit Marek gestritten?“ fragte ich. Ich stützte meine Ellbogen auf die Matratze und schaute ihn aufmerksam an. Ben lag auf dem Rücken und erwiderte meinen Blick. „J-ja… d-da war ich sechzehn… es war schrecklich…“ „Worüber habt ihr euch gestritten?“ fragte ich vorsichtig. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Ben ihm wirklich jemals widersprochen hat. „Er… er wollte unbedingt zu diesem blöden Essen… naja, mir ging es an diesem Tag nicht so gut und ich wusste, was mich dort erwarten würde… deshalb habe ich ihn gefragt, ob ich zuhause bleiben darf… er hat natürlich nein gesagt… aber ich wollte wirklich nicht und… und habe angefangen mit ihm zu diskutieren…“ während er sprach, schien er immer trauriger zu werden. Ich legte liebevoll einen Arm um ihn. Ben ließ diese Nähe wirklich zu. „Was für ein Essen überhaupt?“ murmelte ich. „Naja… das waren so Treffen von Besitzern, die haben dann ihr Eigentum den anderen vorgestellt und… meistens wurden ein, zwei untergeordnete auserwählt, die den ganzen Abend jedem Herrn im Raum dienen mussten. Es waren seltener Herinnen, aber meistens weibliche Untergeordnete. Meistens haben sie sich einen Jungen und ein Mädchen ausgesucht… es gab dann keine Regeln mehr, die Herren durften alles mit ihnen machen. Ich habe diese Essen gehasst. Wir mussten alle in einem Nebenraum warten, während unsere Herren gegessen haben. Manchmal haben sie auch gepokert und einmal sogar waren die Untergeordneten der Einsatz. Bei diesem Spiel hat Marek aber nicht mitgemacht. Jedenfalls wurden wir irgendwann dazu gerufen und dann sollten wir erstmal still neben unserem Herrn warten. Dann wurde ausgesucht… Marek hat mir jedes Mal geschworen, dass er mich nicht vorschlägt, dass mich keiner anfassen darf und dass er in meiner Nähe bleibt, aber er hat fast jedes Mal gelogen. Oft hat er mich vorgeschlagen und oft haben sie mich ausgewählt, ich weiß nicht mal, warum eigentlich? Ich meine, ich hatte doch nichts getan, ich war immer gehorsam. Für gewöhnlich schlägt man seinen Untergeordneten vor, weil er ungezogen war, um ihn zu bestrafen, aber ich verstehe nicht, warum Marek das getan hat…“

In diesem Moment empfand ich so viel Mitleid für ihn. Das verstieß wahrscheinlich gegen jede existierende moralische Regel, gegen jedes Menschenrecht, einfach gegen jeden moralischen Leitkompass. Wie konnte man so etwas tun? Wie konnten diese “Herren“ das ihrem “Eigentum“ nur antun? Wie konnte man so mit einem Menschen umgehen? Wie können diese Menschen noch in ihr Spiegelbild schauen? Wieso missbrauchte Marek so extrem und immer wieder Bens Vertrauen? Wie konnte es überhaupt sein, dass solche Veranstaltungen auf dieser Welt existierten? „Das ist so grausam…“ hauchte ich und drückte Ben sanft an mich. „Aber es ist vorbei Ben… du musst nie wieder zu so einem Essen… nie wieder…“ Ben schniefte leise. Schließlich fragte ich „Wie hat Marek reagiert, als du ihm widersprochen hast?“ „Naja, zunächst hat er nur gesagt, dass ich nicht wiedersprechen soll und dass er bestimmt wo wir hingehen…“ „Und dann?“ fragte ich weiter und strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich… ich habe versucht ihn mit ein paar Argumenten zu überzeugen. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und hatte genug Zeit, mir was zu überlegen… aber er hat mir nicht mal zugehört… und als ich ihn dann unterbrochen hatte, ihn darum gebeten habe, mir zuzuhören, da ist er ausgerastet…“ Ben stockte. Sanft strich ich über seine Seite. Plötzlich lehnte er vorsichtig seinen Kopf an meine Schulter. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sehr Ben in seinem Leben schon gelitten haben muss. Schließlich erzählte Ben weiter „Er… er hat mich bestraft… aber, er hat total die Kontrolle verloren. Ich habe ihn angefleht, dass es mir leidtut, aber ich schätze, dass er mich gar nicht mehr gehört hat. Er hat mich einfach verprügelt. Und irgendwann hat er mich angebrüllt, dass ich still sein soll und dann hat er mich gewürgt, solange, bis ich schließlich ohnmächtig geworden bin…“ „Oh mein Gott…“ hauchte ich. „Das war ihm noch nie passiert. Er hatte zuvor noch nie so die Kontrolle verloren. Er musste einen Freund rufen, welcher Arzt war. Als ich wieder aufgewacht bin, habe ich sie reden gehört. Er meinte, dass Marek mich ein Krankenhaus bringen sollte, aber Marek sagte, dass das nicht ginge. Der Freund hat Marek gewarnt, dass er mich um ein Haar getötet hätte, egal ob erschlagen oder erwürgt.“

Schockiert schaute ich ihn an „Marek hat dich fast umgebracht?!“ Doch Ben nahm ihn wieder in Schutz „Ausversehen. Er wollte mich nicht umbringen.“ „Das macht es nicht besser.“ knurrte ich. „Er hat sich bei mir entschuldigt, so richtig. Und danach hat er mir Ruhe gegönnt und war total nett zu mir. Wirklich!“ verteidigte Ben Marek weiter. „Ben. Ja, er hat sich bei dir entschuldigt, ja, er war nett zu dir. Aber davor… er hat dich fast erschlagen, oder erwürgt. Er hat dein Vertrauen missbraucht, er hat dich angelogen, dich gedemütigt und dich zum Menschen zweiter Klasse degradiert. Das macht man nicht. Das ist nicht… normal…“ ich versuchte ihm irgendwie zu erklären, dass Marek kein guter Mensch ist. Dass er nicht der perfekte Partner ist, oder war, den Ben in ihm sieht.

„Weißt du… naja…“ doch er brach ab. „Was weiß ich?“ hakte ich nach. Ben schien mit sich zu hadern, ehe er verlangte „Das darfst du aber niemanden erzählen!“ „Ich sage es niemanden, versprochen.“ Ich fragte mich, was Ben mir jetzt anvertrauen wollte. „Manchmal… wenn Marek wieder… so gemein zu mir war… da… da habe ich mich gefragt, ob das alles richtig so ist… weil… naja… am Anfang… da war er viel netter zu mir… viel liebevoller… ich… ich dachte immer, es würde an mir liegen und dass ich einfach besser sein muss, damit Marek auch wieder liebevoller zu mir ist… aber jetzt hier in der WG, wo Marek nicht mehr da ist... Ich frage mich, ob Marek… naja… nicht manchmal im Unrecht war… weil… manchmal hat er mich grundlos bestraft, nur weil er von seiner Arbeit genervt war. Er hat zwar immer gesagt, dass ich ihm gehöre und dass mein Körper ihm zur Verfügung steht und damit hat er auch recht… aber das kam mir immer so… so unfair vor. Ich… ich habe mir ja nicht ausgesucht… dass er mich so behandelt… aber… mein “nein“ zählte ja eh nicht… Halt in dieser Zeit, wenn ich bei euch bin… ihr seid so… nett zueinander und so nett zu mir und ich musste dafür nicht mal irgendetwas tun. Ich durfte einfach so bei euch am Tisch sitzen. Mit euch essen… du hast mir jedes Mal geholfen, Ruth hat mich sogar eingeladen… Ich frage mich, womit ich das verdient habe und… und dann… tief im inneren weiß ich, das dass normal ist. Dass ich eigentlich komisch bin. Ich bin einfach verwirrt. Ich weiß einfach nicht mehr, was jetzt normal ist… was richtig ist… ich meine, ich liebe Marek, wirklich… aber… manchmal bin ich mir nicht mehr zu hundert Prozent sicher… ob er mich überhaupt jemals geliebt hat.“ Für ein paar Sekunden, war es vollkommen still zwischen uns. Dann murmelte ich „An diesen Gedanken ist nichts Falsches. Du hast vollkommen recht, es ist unfair. Marek hat kein Recht, so mit dir umzugehen. Du hast es verdient, dass wir nett zu dir sind und dass wir dir gegenüber respektvoll sind, weil du ein Mensch bist. Wir sind beides Menschen, jeder in dieser WG ist ein Mensch, scheiß egal, welche Religion, Hautfarbe, Krankheit oder Herkunft. Jeder Mensch hat Hilfe verdient, wenn er sie braucht und jeder Mensch darf frei sein, lieben und leben. Und jeder Mensch, auch du, darf “nein“ sagen. Und jeder hat dein “Nein“ zu respektieren.“

Eine Weile schwiegen wir. Ben schien über meine Worte nachzudenken. Plötzlich fragte er mich „Bin ich dumm, weil ich das alles zugelassen habe?“ „Nein, das bist du nicht. Du hast nur versucht zu überleben, daran ist nichts dumm.“ „Bin ich naiv, wenn ich glaube, dass er mich liebt und dass ich Glück hatte, ihm begegnet zu sein?“ fragte er weiter. Ich überlegte, was ich darauf antworten sollte. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich… ich weiß nicht, ob er dich liebt, oder geliebt hat. Ich weiß auch nicht, ob es Glück war, dass du ihm begegnet bist. Er hat dir weh getan… aber er hat dich nicht getötet. Vielleicht hätte ein anderer dich getötet, vielleicht hätte ein anderer dich gerettet. Das kann niemand sicher sagen. Aber egal was gewesen wäre, es war nicht. Marek hat dich gekauft, kein anderer. Marek war nett zu dir und Marek war ein mieser Bastard. Ich weiß, wie schwer das ist, zu akzeptieren, dass das, was geschehen ist, unrecht war. Aber das war es. Klar, Menschen verdienen eine zweite Chance, aber nicht immer. Es gibt Grenzen. Und diese Grenze ist überschritten, wenn ein Mensch dich mit voller Absicht verletzt hat.“ „Aber du hast es doch auch mehr als zweimal zugelassen.“ Ich nickte „Ja, weil ich genauso dachte wie du. Weil ich Monate gebraucht habe, mitzukriegen, was Diego eigentlich mit mir macht.“ „Ich bin froh, dass du hier eingezogen bist… also… nicht, dass ich dir wünsche, dass dir so etwas passiert ist… ich bin einfach froh, dass du da bist…“ nuschelte Ben plötzlich. Ich musste lächeln „Ich bin auch froh, dass du da bist. Und jetzt lass uns langsam schlafen, ja?“ „Mhm…“ Ich schaltete das Licht aus und schlief relativ schnell ein.

 

Die letzten Seiten des Buches sollen einfach nur positiv sein und Hoffnung spenden Die WG ist gerade im Urlaub und genießt die Zeit an der Ostsee.

 

Ich wurde an diesem Morgen geweckt, als sich plötzlich jemand neben mir aufsetzte. Es war Ben, welcher sich verzweifelt durch die Haare fuhr und flach atmete. Besorgt setzte ich mich auf. „Hey, was ist los Ben?“ „Ich… ich habe so wirres Zeug geträumt.“ murmelte er. Vorsichtig nahm ich ihn in den Arm „Das sind nur noch Träume, nichts weiter.“ Er nickte, doch er schien noch immer aufgewühlt. Sanft strich ich ihm über den Rücken „Es ist alles gut Ben… shh…“ Nur langsam beruhigte er sich wieder. „Was hast du denn überhaupt geträumt?“ fragte ich. Doch Ben murmelte „Ich… ich habe keine Ahnung… von Marek und der WG und von irgendwelchen Freunden und dem Krankenhaus… aber das war alles total durcheinander. Nicht wie sonst, wo ich von irgendwelchen Erinnerungen träume… dieser ganze Traum hat nicht mal Sinn gemacht. Das warst du und Marek und ihr habt euch gestritten… und dann wieder die WG… mein Zimmer, wo ich einfach nur alleine saß… plötzlich waren ein paar von Mareks Freunden da und dann war ich im Krankenhaus… und dann wart ihr da… ich verstehe das alles nicht…“ „Wer weiß, was dein Unterbewusstsein damit verarbeitet hat. Aber es war nur ein Traum. Alles ist gut, du bist hier, bei uns, dir kann nichts passieren.“ Ich fand das komisch. Normalerweise sind Bens Träume ganz klar aber dieser…

Irgendwann schien Ben sich wieder beruhigt zu haben. „Hey, alles wieder okay?“ fragte ich besorgt. Er lächelte und murmelte „Ja, es ist alles wieder okay.“ „Was ist mit dir?“ stellte er plötzlich die Gegenfrage. „Was soll mit mir sein?“ erwiderte ich verwirrt. „Naja, du fragt immer alle anderen wie es ihnen geht… aber du erzählst so selten, wie es dir geht.“ Ich lächelte „Mir geht es gut.“ Plötzlich hörten wir ein Klopfen an unserer Tür. „Ja?“ fragte ich. Flo kam rein. „Guten Morgen.“ begrüßte ich ihn. „Morgen…“ sagte er. Als sein Blick zu mir wanderte, war er etwas irritiert. Ich grinste „Ja ja, ich weiß, ich sehe aus wie ein Panda. Habe mich gestern nicht gründlich abgeschminkt.“ „Naja, Panda ist es jetzt noch nicht…“ grinste er. „Komm her.“ bot ich an und machte ihm etwas Platz. Als er näher kam fragte er, plötzlich etwas verunsichert „Darf ich?“ dabei schaute er mich besorgt an. „Ich bin kein anderer Mensch Flo. Du durftest früher und du darfst auch jetzt. Und spätestens, wenn ich dir den Kiefer gebrochen habe, weißt du, dass du nicht durftest.“ Er lachte leicht und legte sich todesmutig zu uns. „Warum seid ihr schon wach?“ „Ich bin aus irgendeinem Grund so früh aufgewacht und habe versehentlich Ben geweckt.“ log ich. „Und du?“ „Keine Ahnung, konnte nicht mehr schlafen.“ „Ist es eigentlich komisch für dich, mit Dean in einem Bett zu schlafen?“ fragte ich vorsichtig. Doch Flo grinste „Warum sollte es? Das ist im Grunde wie mit dir und Ben.“ dann lachte er auf „Und ganz ehrlich, selbst in dem völlig abwegigen Fall, dass Dean auf Ideen kommt, könnte ich mich ganz gut gegen ihn wehren, schätze ich.“ Nun musste ich auch leicht lachen.

„Ich schätze, dass hier ist das größte Abenteuer, was ich je erlebt habe.“ murmelte Flo plötzlich. „Da bist du nicht der einzige.“ lächelte ich. „Stimmt. Was sagst du eigentlich zu der Reise Ben?“ „Es ist das beste, was mir je passiert ist.“ murmelte er. Flo grinste. Eine Weile redeten wir leise miteinander. Schließlich bekamen wir irgendwann Hunger. Wir entschieden uns dagegen, die anderen zu wecken, sondern schlichen uns so leise wie möglich ins Bad und anschließend raus. Draußen grinste Flo „Ich komme mir vor, wie auf Klassenfahrt.“ „Ja, hat Ähnlichkeiten.“ lachte ich. Flo hatte zum Glück einen guten Orientierungssinn und fand den Bäcker problemlos wieder. Ben beobachtete immer noch alles um sich herum neugierig. Es war faszinierend, wie lange er sich für etwas begeistern konnte, obwohl wir hier schon öfter entlang gegangen waren. Wir hatten Glück, der Bäcker hatte auch an einem Sonntag auf. Somit besorgten wir unser Frühstück und machten uns dann auf den Weg zurück.

Wieder in der Unterkunft merkten wir, dass bereits ein paar Leute wach waren. Während die anderen sich fertig machten, bereiteten Ben, Flo und ich den Frühstückstisch zu. Zwanzig Minuten später saßen wir alle am Frühstückstisch, plauderten fröhlich miteinander und aßen. Allerdings war es auch Zeit auszuchecken. Dementsprechend packten wir nach dem Frühstück unsere Taschen und gaben dann bei der Rezeption unsere Schlüssel ab. Da wir jedoch noch ein paar Stunden Zeit hatten, ehe wir nach Hause fuhren, gingen wir nochmal an den Strand. Dieser war zum Glück relativ leer und auch der Wind war erträglich. Wir setzten uns irgendwo in den Sand.

Ich sah Dean, welcher etwas abseits am Strand saß und nachdenklich die Wellen beobachtete. Schweigend setzte ich mich neben ihm. Schließlich lehnte ich mich an ihn an und betrachtete ebenfalls die Wellen. „Hätte ich mich mal früher geoutet, so nah warst du mir ja noch nie.“ witzelte er plötzlich. Auch ich musste grinsen. Ich sah zu den anderen, sah Ben mit den anderen lachen, sah Flo wieder bei uns. „Vor ein paar Monaten hätte keiner im Traum daran geglaubt, dass Ben überhaupt mal aus seinem Zimmer kommt. Und nun schau, was du geschafft hast. Wie glücklich er bei uns ist.“ murmelte Dean plötzlich. „Trotzdem liegt vor uns noch ein langer Weg… bis er Marek vergisst…“ „Glaubst du, Ben ist schwul?“ „Wieso, hast du Interesse?“ fragte ich neckisch. Dean lachte leise „Nein, nicht mein Typ. Ich meine, er hat Stockholm und so… und… er hat wahrscheinlich nie etwas anderes kennengelernt. Deshalb frage ich mich, ob Ben… naja… überhaupt eine Sexualität hat.“ Ich dachte darüber nach. „Ich habe keine Ahnung. Vielleicht, wenn sich alles irgendwie beruhigt, vielleicht wird er es dann irgendwann feststellen. Vielleicht ist er wirklich schwul, oder hetero, oder er ist einfach Bi. Ich habe wirklich keine Ahnung.“ „Vielleicht, sollte man das auch einfach nicht immer so festlegen. Er liebt, wen er liebt…“ sagte Dean plötzlich nachdenklich. „Ja, man liebt, wen man liebt.“

„Ich denke, ich habe meinen Frieden gefunden.“ „Mit Niko?“ „Ja. Denn wenn er jetzt hier wäre, dann denke ich, würde er mir sagen, dass ich das richtige gemacht habe.“ Ich nickte „Das hast du.“ „Tja, wer hätte erwartet, dass sich alles so entwickeln würde.“ murmelte er plötzlich. „Wie meinst du das?“ fragte ich verwirrt. „Naja… das alles gestern. Wer hätte gedacht… das wir jemals so offen sein würden…“ „Es ist gut so.“ sagte ich bloß und Dean nickte „Ja, das ist es.“

Schließlich gesellten wir uns wieder zu den anderen. Auch heute alberten wir herum. Es war wunderbar. Ich habe Ben wohl noch nie so Lachen gehört. So fröhlich und gelöst. Ich hatte das Gefühl, dass jetzt alles gut werden würde. Auch wenn noch ein langer Weg vor uns lag. Irgendwann bemerkte ich, dass Ben sich wieder etwas von den anderen distanzierte, doch nicht negativ. Er saß still vor sich hin lächelnd da, schien einfach in Gedanken versunken. Irgendwann sprach ich ihn an. „So langsam gefällts dir hier draußen, hm?“ Ben seufzte glücklich „Nach all den Jahren habe ich vergessen, wie gut sich das anfühlt.“ „Was?“ fragte ich. Er schaute mich an und zum aller ersten Mal sah ich ihn grinsen. „Frei sein.“ Sein Blick galt wieder dem Wasser. Auch ich wandte mich den Wellen zu. Ja, nach all den Jahren in Gefangenschaft, nach all den Jahren des Leids, war er endlich wieder frei. 

 

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