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Feilkode 418

Weißt du, wer ich bin?

Weißt du, wer ich bin? · Romane

Ein Brief droht ein sorgsam gehütetes Geheimnis der Fotografin Julia zu enthüllen: Julia ist nicht die, die sie zu sein vorgibt.

Hva vil du med boka?

Was ich mit dem Buch erreichen will, ist eigentlich ganz einfach: Ich will eine spannende Geschichte erzählen und die Leserinnen und Leser unterhalten. Lange Zeit habe ich davon geträumt, einen Roman zu schreiben, am liebsten im Krimi-/Thrillerbereich. Nur fehlte mir dazu die zündende Idee. Bis ich eines Tages auf den Briefkästen unseres Mehrfamilienhauses einen Briefumschlag fand, auf dem ein Name einer Person stand, die nicht im Haus wohnte. Plötzlich hatte ich eine spontane Eingebung: Was wäre, wenn es diese Person tatsächlich gäbe – und zwar in unserem Haus, aber unter anderem Namen. Wie würde sie wohl reagieren, wenn auf diese Weise ihre wahre Identität aufzufliegen drohte? Die Idee ließ mich nicht mehr los. So entspann sich nach und nach die Geschichte der Fotografin Julia, die als junge Frau in kriminelle Machenschaften hineingezogen wurde, denen sie sich in letzter Minute entziehen und unerkannt ein neues Leben beginnen konnte. Doch gerade, als sie sich endgültig in Sicherheit wähnt und glaubt, dass niemand mehr nach der Frau, die sie einmal war, sucht, taucht ein scheinbar falsch zugestellter Brief auf …

Om forfatteren

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Das Schreiben gehört zu meinem Leben, seit ich denken kann. Schon während meiner Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin habe ich nebenher für die kleine Tageszeitung in meiner Heimatstadt gearbei...

Leseprobe (max. 60 000 Zeichen)

1

 

So schwer konnte das doch nicht sein. Ein Briefumschlag, ein Name, eine Adresse – alles paletti. Vorausgesetzt, der Name stimmte mit der Adresse überein. Und genau das schien heutzutage immer mehr Briefschreiber zu überfordern. Naja, immerhin schrieben diese Leute noch Briefe. Sei doch dankbar, erinnerte ihn Sanna immer wieder. Jeder Brief sichert deinen Job und etwas Besseres kriegst du im Moment nicht.

Natürlich hatte sie recht. Die Arbeit war ideal für ihn. Morgens Briefe austragen, was ihm quasi nebenbei auch noch viel Bewegung an der frischen Luft verschaffte. Da konnte er dann den Rest des Tages guten Gewissens in seinem Atelier verbringen und auf seinen Durchbruch hinarbeiten. Eines Tages, war er sich sicher, würde das Wunder geschehen: Wahlweise würde sich DER Galerist, DER Agent oder DER Kunstkritiker auf eine seiner Vernissagen verirren – und in diesem Moment hätten sich all die Mühen und Entbehrungen gelohnt. Bis es soweit war, musste er eben weiterhin die Post austragen – war doch alles kein Problem. Es waren doch nur ein paar Briefe.

Doch beim Blick auf den gepolsterten Umschlag in seiner Hand verfinsterte sich seine Miene wieder. Das war heute schon das fünfte Schreiben, das er nicht zustellen konnte. Typisches Schicksal eines Springers – kaum hatte man sich in einem Bezirk eingewöhnt, wurde man auch schon wieder versetzt. In den Vorstadt-Reihenhaussiedlungen war das ja einfach. In jedem Reihenhäuschen eine Familie, die Briefkästen ordentlich beschriftet. Hier in diesem hippen Viertel am Rande der Innenstadt aber: Lauter Mehrparteien-Mietshäuser, die eine Hälfte der Wohnungen belegt von Wohngemeinschaften mit wechselnder Besetzung, die andere Hälfte von gutverdienenden Singles mit gelegentlichen wechselnden Lebensabschnittspartnern. Die Klingel- und Briefkastenschilder den jeweils aktuellen Gegebenheiten anzupassen, hielten die Herrschaften offenbar für überflüssig. Sollte sich der Briefträger doch durchfragen – dafür wurde er ja schließlich bezahlt.

Gerade, als er mit zum dritten Mal die Namensschilder absuchte, in der vergeblichen Hoffnung, doch noch einen Hinweis zu entdecken, hörte er aus dem Treppenhaus herabeilende Schritte. Zwei wohlgeformte Beine erschienen in seinem Blickfeld, die sich zu einem hübschen Rockabilly-Girl mit Tattoos und dunkelroten Haaren vervollständigten. „Hallooo,“ trällerte sie, als sie seiner ansichtig wurde, „gibt‘s Probleme?“ „Wie man‘s nimmt“ versetzte er schulterzuckend. „Kennen Sie zufällig eine Katja Köhler?“ „Nie gehört!“ Die junge Frau griff mit ihren dunkelrot lackierten Nägeln nach dem Umschlag und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Ist das überhaupt eine 72 oder eine 73?“ fragte sie. „War ich mir auch nicht sicher, aber drüben war ich schon. Da wohnt ganz bestimmt keine Katja Köhler.“ antwortete er. „Also mir sagt der Name auch nichts.“ bekräftigte die Rothaarige. „Muss aber nichts heißen. In den WGs wechseln ja häufig mal die Mitbewohner. Schönen Tag noch!“ rief sie ihm beim Verlassen des Hauses noch zu. Für einen kurzen Moment wog er den Brief noch einmal in der Hand, dann legte er ihn auf den Briefkästen ab. Vielleicht wohnte Katja Köhler ja tatsächlich hier im Haus, vielleicht auch nicht. Letzteres war dann aber nicht sein Problem. Außerdem wollte er zur Abwechslung einmal pünktlich Feierabend machen.

 

*

 

Das war ja klar, denke ich, als ich endlich in meine Straße einbiege. Endlich ist doch noch der Frühling angebrochen, und ich sitze bis abends im Studio fest. Zu allem Überfluss ging heute schief, was schiefgehen konnte, so dass ein halbwegs pünktlicher Feierabend schnell in weite Ferne rückte. Aber ich will mich nicht beschweren. Immerhin habe ich ja Aufträge – nicht das Schlechteste für eine Freiberuflerin. Ein anschließender Absacker im Straßencafé wäre dennoch schön gewesen. Als wir aber endlich fertig waren und alles zusammengepackt hatten, machte sich auch schon die abendliche Kühle bemerkbar.

Dementsprechend hält sich meine Laune in Grenzen, als ich das Haus betrete. Anders als die etwas schrabbelige Fassade vermuten lässt, könnte man im Flur vom Boden essen. Unser Vermieter hat schließlich Stil. Dass er dem Haus bisher noch keinen stylischen Außenanstrich verpasst hat, liegt nur daran, dass unser Viertel die Graffiti-“Künstler“ offenbar magisch anzieht. Wie so viele Altbauten, die im Krieg nicht dem Bombenhagel anheimgefallen sind, war auch dieser hier mal ein hochherrschaftliches Haus und beherbergte in seinen weitläufigen Wohnfluchten Familien des gehobenen Bürgertums. Zumindest vom Hochparterre bis in den zweiten Stock. Oben, wo sich jetzt Kalle, das nette Ruhrpott-Original eingerichtet hat, waren die Dienstbotenräume und im Souterrain Küche und Wirtschaftsräume. Da wohne ich jetzt. Klingt schlimmer als es ist, denn zu meiner kleinen Terrasse hin – die wiederum in den Garten mündet – ist meine Wohnung ebenerdig. Auch über die Größe kann ich nicht klagen. Zweiundsechzig Quadratmeter, soviel Platz brauchte es früher anscheinend um für eine gutbetuchte Familie zu kochen und die Wäsche zu machen. Weil es aber nun mal eine Souterrain-Wohnung ist und dabei irgendwie immer die Assoziation eines Kellers mitschwingt, sind die Räume auch heute, nach Umwandlung in eine komfortable Zwei-Zimmer-Wohnung, noch gerade so für einen durchschnittlich verdienenden Single erschwinglich. Das gilt, abgesehen von Kalles Räumen mit ihren Dachschrägen, für den Rest des Hauses nicht. Das Hochparterre ist in zwei kleinere Wohnungen unterteilt, die jeweils von einem Pärchen bewohnt werden – wobei es sich in einem Fall eher um einen charmanten Schwerenöter mit wechselnden Lebensabschnittsgefährtinnen handelt. In den beiden großen Wohnungen in den Stockwerken darüber lebt jeweils eine Wohngemeinschaft – auch diese mit wechselnden Besetzung.

 

Da ist Chaos vorprogrammiert – auch was die Postzustellung betrifft. Es vergehen kaum ein paar Tage, an denen ich nicht irgendeinen Brief im Kasten habe, der nicht für mich bestimmt ist. Gerade jetzt, in der Ferienzeit, wenn die Stammzusteller von irgendwelchen Aushilfen vertreten werden. Im Gegenzug kann ich nur hoffen, dass auch meine Nachbarn genau hinschauen, sollten Teile meiner Post bei ihnen landen. Heute aber scheint alles seine Ordnung zu haben, stelle ich beim Durchschauen fest: Zwei Werbeschreiben und eine Zahnarztrechnung, alles mit meinem Namen. Sicherheitshalber schaue ich aber nochmal auf den Briefkasten nach, dort legt der Postbote auch gerne mal Sachen ab. Scheint aber heute nichts von Bedeutung dabei zu sein. Nur ein paar Exemplare einer Wurfsendung „An alle Bewohner der Körberstraße 72“. Außerdem ein handgeschriebener Umschlag, aber auch nicht für mich. Ich blicke flüchtig auf die Adresse.

 

Ich stutze. Ich gucke nochmal. Mir wird schwindelig. Ich schließe die Augen, öffne sie vorsichtig wieder. Da steht es. Immer noch. Frau Katja Köhler. Ein Allerweltsname! schießt es mir durch den Kopf. Das muss, muss, MUSS ein Zufall sein. Habe ich mich wirklich nicht verguckt? Nein, Blödsinn, da gibt es kein Vertun. Katharina Köhler. Für ihre Freunde Katja.

 

Ich bin Katja Köhler.

 

Du machst dich verrückt! sagt die Stimme der Vernunft. Für nichts und wieder nichts. Nein! funkt das Bauchgefühl dazwischen. Das ist kein Zufall. Es ist vorbei. Irgendwann musste es ja so kommen. Ich stehe in meiner Wohnung, direkt hinter der Tür, umklammere meine Briefe und klammere mich gleichzeitig an die Realität. Die Realität, die jetzt meine ist. Da steht es, schwarz auf weiß, auf dem Werbeschreiben der Großbuchhandlung, der Rechnung, dem Schreiben des Fitnessstudios. Frau Julia Faber. Das bin ich. Das ist mein Name. Das ist die Person, als die man mich hier kennt. Das ist der Name, der auf meinem Briefkasten steht.

Ich atme tief durch. Mach dich nicht verrückt! beschwöre ich mich verzweifelt. Katja Köhler – so heißen doch bestimmt Hunderte – ach was, Tausende Frauen. Katja, das kommt von Katharina, und Katharina ist ein total zeitloser Name. Katjas beziehungsweise Katharinas gibt es vom Baby bis hin zur Greisin. Und Köhler ist doch wahrscheinlich unter den Top Ten der häufigsten Nachnamen im deutschsprachigen Raum. Um mich zu beruhigen – und um überhaupt irgendetwas zu tun – krame ich mit zitternden Händen mein Smartphone aus der Handtasche, die immer noch über meiner Schulter hängt. Ich bin so angespannt, dass meine Finger ein Eigenleben führen. Erst im dritten Anlauf gelingt es mir, die sechs Buchstaben in der richtigen Reihenfolge in der Google-Suchleiste einzugeben. Okay, nicht ganz Top Ten – aber immerhin Platz 34. Für einen kleinen Moment fühle ich mich fast ein bisschen beruhigt. Und dennoch – ausgerechnet dieser Vor- und Zuname. Ausgerechnet an diese Adresse. Es hilft alles nichts. Ich muss diesen Brief haben. Nur wenn ich ihn öffne, wird sich alles klären – hoffentlich.

 

Kurz darauf stehe ich wieder vor den Briefkästen. Der Brief ist noch da. Du kannst ihn nicht nehmen, der ist nicht für dich, der ist für Katja Köhler – NICHT FÜR DICH! Die Stimme in meinem Kopf wird immer lauter und beschwörender. Du bist nicht Katja Köhler. Du bist Julia Faber. Die Stimme füllt meinen Kopf aus, hallt in meinem Inneren wieder. Dennoch lässt es sich nicht verleugnen: Sie, die Stimme der Vernunft, wie ich sie nennen will, kann gar nicht laut genug sein, um die zweite Stimme zu übertönen. Und wenn doch? wispert sie, dicht an meinem Ohr. Und wenn doch? Meine Hand zittert wieder, als ich sie nach dem verhängnisvollen Umschlag ausstrecke. Oder zittert sie immer noch? Hat meine Hand, habe ich eigentlich für einen Moment aufgehört zu zittern, seitdem ich meinen Namen – VERDAMMT NOCHMAL, NEIN! NICHT MEINEN NAMEN! Seit ich – diesen – Namen auf dem Umschlag entdeckt habe?

„Kennst du die?“ Ich schrecke zusammen und lasse den Brief fallen. Ohne dass ich sie gehört habe, ist Pia hinter mir aufgetaucht. Pia bewohnt mit ihrem Freund Johannes eine der beiden Wohnungen im Hochparterre. Sie ist bildhübsch und ein Gesamtkunstwerk. Ihrem Rockabilly-Pin-up-Burlesque-Style bleibt sie normalerweise auch in ihren vier Wänden treu – von der Retro-Frisur bis zu den Pumps. Wie gesagt – normalerweise. Ausgerechnet heute hat sie sich – offenbar als Hommage an den endlich angebrochenen Frühling – in Espadrilles herangepirscht. Jetzt mustert sie mich mit irritiertem Blick. „Alles in Ordnung?“ „Äh, ja, warum?“ stottere ich und versuche dabei halbwegs souverän auszusehen – offenbar mit mäßigem Erfolg. „Sorry, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“ antwortet Pia mit hochgezogenen Augenbrauen. Habe ich ja auch irgendwie, denke ich, den Geist meiner Vergangenheit. Nein! funkt die andere Stimme in meinem Kopf dazwischen. Reiner Zufall - alles in Ordnung. Warum nur kann ich die Zweifel nicht abschalten?

Ich schüttele den Kopf und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt. Das ist in diesem Fall Pia, die mich mit wachsender Besorgnis mustert. „Klar, alles in Ordnung!“ versichere ich ihr und versuche ein Lächeln – das, wie Pias Miene widerspiegelt, offenbar nur mäßig überzeugend ausfällt. Sie will noch etwas sagen, besinnt sich dann aber anders und zieht nur kurz nochmal die Augenbrauen hoch. „Weißt du da mehr?“ fragt sie dann und zeigt auf den Brief am Boden. „Als ich heute Morgen zur Arbeit gehen wollte, bin ich dem Briefträger begegnet. Der hat mich gefragt, ob ich diese Katja Köhler kenne.“

Unter Aufbringung all meiner Selbstbeherrschung hebe ich den Brief auf und tue so, als nähme ich den Namen jetzt erst wahr. „Sagt mir auch nichts.“ sage ich und zucke betont lässig mit den Schultern. „Ich wollte nur mal gucken, ob da nichts für mich liegt. Scheint den Briefträger ja offenbar zu überfordern, die Post in die richtigen Briefkästen zu verteilen.“ „Stimmt, hab‘ ich mich auch schon drüber geärgert.“ pflichtet Pia mir bei. „Aber unser Stammzusteller scheint im Urlaub zu sein, sind ja auch Osterferien. Der von heute Morgen war offenbar ein Springer, den kannte ich noch nicht. Und bei all den wechselnden WG-Bewohnern kommt doch eh kein Mensch mehr mit.“

„Stimmt, wird jemand aus einer der WGs sein.“ pflichte ich ihr bei, lege das Schreiben wieder auf den Briefkästen ab, verabschiede mich mit einem kurzen Winken und gehe zurück in meine Wohnung.

Natürlich lässt mir die Sache keine Ruhe – wie auch? Zehn Minuten sind vergangen, seit ich, verfolgt von Pias immer noch fragenden Blicken, den Rückzug in meine vier Wände angetreten habe. Seitdem stehe ich atemlos hinter meiner Wohnungstür. Na ja, fast seitdem. Ausgerechnet jetzt musste Kerstin anrufen. Kerstin, die Treulose, die Unzuverlässige. Die nie zurückruft, wenn man darauf wartet. Aber ausgerechnet jetzt fällt ihr ein, dass sie ein paar Freunde in Köln hat, bei denen sie sich schon länger rargemacht hat. Ausgerechnet jetzt startet sie einen Rundruf und will uns am Sonntag zum Brunch in ihrem neuen Stammcafé versammeln. Was ja auch eine nette Idee ist – eigentlich. Aber jetzt gerade habe ich so gar keinen Kopf dafür. Außerdem war ich durch Kerstins Anruf für kurze Zeit abgelenkt und habe nicht mitbekommen, ob jemand in dieser Zeit das Treppenhaus betreten oder verlassen hat – und wenn ja wer. Leider habe ich von meinem Türspion aus auch nur einen kleinen Teil des Eingangsbereiches im Blick und muss mich zusätzlich auf mein Gehör verlassen. Nach mehrminütigem angestrengtem Gucken und Lauschen bin ich mir ziemlich sicher, dass sich gerade niemand im Treppenhaus aufhält. Schnell und lautlos schlüpfe ich aus der Tür und zu den Briefkästen. Hektisch taste ich auf der Ablage herum. Nichts. Das kann nicht sein denke ich und suche mit beiden Händen weiter. Es hilft nichts. Der Brief ist weg.

Ich drehe mich um und will zurück in den schützenden Kokon meiner Wohnung. Halte auf halbem Weg inne, drehe mich um und wische erneut beidhändig über die Briefablage. Schaue auf dem Boden nach. Vielleicht ist der Brief ja von einem Luftzug herunter geweht worden. Nichts. Obwohl, vielleicht hat ja jemand den heruntergefallenen Brief aufgehoben und entsorgt. Ich schaue in den Papierkorb neben den Briefkästen. Nichts. Ich kapituliere. Gehe zurück in meine Wohnung. Zittere.

 

Mittlerweile ist es spät am Abend. Ich sitze zusammengekauert im Wohnzimmer auf dem Sofa und kaue an den Nägeln – was ich seit damals nicht mehr getan habe. Damals. Zwischendurch spiele ich mit der Fernbedienung, die mir allerdings schon zweimal aus den schweißnassen, zittrigen Händen gerutscht ist. Um mich herum liegen ein paar Zeitschriften. Eine weitere Maßnahme, mit der ich in den vergangenen Stunden versucht habe, mich abzulenken. Natürlich ebenfalls vergebens. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, den Abend auf meinem Balkon zu verbringen. Doch seit ich den Brief entdeckt habe, ist alles anders. Wer weiß, ob nicht jemand in einem der umliegenden Häuser lauert und meine Wohnung und meinen Balkon beobachtet? „Du bist verrückt!“ meldet sich zaghaft die Stimme der Vernunft in meinem Kopf. „Es war nur ein Briefumschlag mit einem Allerweltsnamen darauf.“ Ja, natürlich, die Vernunft hat ja recht. Nur dass eben genau dieser Allerweltsname einmal meiner war …

 

Wo ist der Brief jetzt abgeblieben? Zweimal noch bin ich im Laufe des Abends mit bis zum Hals klopfenden Herzen zu den Briefkästen geschlichen und habe alles abgesucht. Es hilft alles nichts – der Umschlag ist weg. Ob er überhaupt da war? Hat mir vielleicht meine Fantasie einen Streich gespielt? Unsinn! Natürlich war er da. Und jetzt ist er nicht mehr da. Irgendjemand muss ihn an sich genommen haben. Jemand, der zu viel über meine Vergangenheit weiß? Meine Gedanken schweifen zurück zu einer Zeit, die ich am liebsten für immer vergessen würde.

2

Fotografin, das sei doch kein Beruf, von dem man leben könne, hatte mein Vater mir schon als Kind eingebläut. Es war nämlich schon früh klar, dass ich ein Talent für Fotografie hatte – und eine Leidenschaft. Das wurde in einer Familie, deren Oberhäupter schon seit Generationen auf die Sicherheit des Beamtenlebens schworen, natürlich gar nicht gerne gesehen. Aber die Aussicht, zwischen Abitur und Rente in den unendlichen Weiten einer Behörde zu verschwinden, konnte ich mir trotz Aussicht auf dreißig Tage Jahresurlaub, regelmäßige vertraglich garantierte Beförderungen und einen finanziell abgesicherten Lebensabend nicht schönreden. Da war guter Rat teuer. Was konnte Katja denn? Also, außer fotografieren? Oma war es, die schließlich die rettende Idee hatte: Katja konnte doch gut mit Kindern. Also Lehramt? Nicht mit mir! Da kam ich doch vom Regen in die Traufe. Der einzige Grund, sich in diesen Tagen noch für den Lehrerberuf zu entscheiden, war doch die Aussicht auf Verbeamtung! Ansonsten – vierzig Jahre lang immer neuen mäßig motivierten Schulklassen immer wieder denselben Stoff einbläuen – oder es zumindest versuchen. Wenn schon, dann allenfalls Erzieherin, stellte ich ein für alle Mal klar. Die Familie reagierte erwartungsgemäß verhalten. Erzieherin! Anstrengend, schlecht bezahlt, geringes gesellschaftliches Ansehen. Dafür hat das Mädchen doch nicht Abitur gemacht! Irgendwann aber beruhigte man sich dann doch noch mit der Erkenntnis, dass es ja auch für Erzieherinnen die Möglichkeit gibt, in einer staatlichen Einrichtung zu arbeiten. Naja, zumindest theoretisch. Ich strebte das mit Sicherheit nicht an, aber wenigstens gab die Familie Ruhe.

 

Die Ausbildung verlief dann auch echt gut und machte sogar richtig Spaß. Aber statt der Familientradition doch noch Genüge zu tun und in einer staatlichen Einrichtung anzufangen, arbeitete ich zunächst einmal zwei Jahre in einem reichlich alternativ angehauchten Privatkindergarten in einem sogenannten In-Viertel. Eigentlich hatte ich es gut angetroffen. Wäre es nur nicht die Zeit gewesen, als die Medien Lebensmittelallergien als das Thema schlechthin für sich entdeckten. Klar, dass sich auch oder gerade die aufgeklärten Akademikereltern, die unsere Klientel bildeten, diesem Trend nicht verschließen mochten. Es kam, wie es kommen musste: Irgendwann ging es nur noch darum, beim gemeinsamen Essen Sophia-Maries und Eva-Lottas Glutenintoleranz und Jonathans Lactoseunverträglichkeit gleichermaßen zu berücksichtigen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass Laura, Marie-Kristin und Julius-Konstantin, die glücklicherweise alles essen dürften, ebenfalls satt wurden – und das natürlich auf abwechslungsreiche Weise. Ich habe lange mit mir gerungen, aber irgendwann konnte und wollte ich das nicht mehr.

Es erschien mir somit wie ein Wink des Himmels, als Johanna, die ich während meiner Ausbildung kennengelernt hatte, mir von einem tollen Jobangebot erzählte. Johanna hatte direkt nach ihrem Abschluss eine Stelle als private Erzieherin angenommen. Ihre Arbeitgeber waren ein sogenanntes „Powercouple“: Ein Selfmade-Unternehmerpaar, das sich an der Uni kennengelernt und noch während des Studiums das erste Start-up gegründet hatte. Mittlerweile waren ihre innovativen Produkte europaweit gefragt. Das hieß aber auch arbeiten ohne Pause – selbst als sich Zwillinge ankündigten. Die Lösung: Eine im Haushalt lebende Erzieherin, die sich Tag und Nacht um die Zwerge kümmerte und die Familie auch auf Auslandsreisen begleitete. Das alles bei freier Kost und Logis und einem Gehalt, von dem die gemeine Kita-Mitarbeiterin nur träumen konnte. Eines Tages rief dann eine alte Studienfreundin des Paares an und erzählte, sie habe sich nun auch für eine private Erzieherin entschieden. Ob die nette Johanna nicht zufällig jemanden kenne? Sie kannte.

 

Nur wenige Wochen später trat ich also meine neue Stelle an. Meine Arbeitgeber, Luisa und Christian, boten mir sofort das Du an – flache Hierarchien lautete das Gebot der Stunde. Die von mir zu betreuenden Kinder, Sophie, zweieinhalb Jahre und Maxim, zehn Monate, schloss ich sofort ins Herz – und umgekehrt. Mein neuer Arbeitsplatz war – ach herrje, wie soll ich’s sagen? Das weitläufige, freistehende Haus, eigentlich eher eine Villa, zeigte einerseits auf drastische Weise, wie ungerecht das Leben sein kann. Sie war Luisa nämlich einfach so in den Schoß gefallen - als Teil der Erbmasse. Zu der auch noch zwei Mehrparteien-Mietshäuser, ein Ferienhaus in der Toskana und natürlich das alteingesessene Familienunternehmen gehörten. Luisa war als Einzelkind in jenem Milieu aufgewachsen, das von weniger Betuchten und Neidern gerne süffisant aus „Die oberen Zehntausend“ betitelt wurde. Der Gerechtigkeit halber muss ich natürlich hinzufügen, dass an all die schönen irdischen Güter und den materiellen Wohlstand auch eine große Verantwortung geknüpft war. Dass es außer Luisa keine weiteren Erben gab, bedeutete im Umkehrschluss auch, dass sie von Kindesbeinen an darauf vorbereitet worden war, eines Tages das Familienunternehmen zu leiten. Dass sie an einer Elite-Uni BWL studieren würde, galt bereits als alternativlos, als sie noch nicht einmal eingeschult worden war. Dass sie ihr Studium mit Bestnoten abschließen würde, galt ebenfalls als gesetzt – Ehrensache! Man stelle sich vor, die pubertierende Luisa hätte ihren Eltern eines Tages eröffnet, sie sehe ihre Zukunft weniger in der Führung eines mittelständischen Unternehmens als etwa in der Bewirtschaftung eines alternativen Bauernhofes – nicht auszudenken! Doch derlei Sorgen waren unbegründet – Luisa hatte das ihrer privilegierten Stellung entsprechende Pflichtbewusstsein quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Als ihre Eltern dann kurz nacheinander früh und überraschend starben – die Mutter, die ihr Leben lang keine Zigarette angerührt hatte, an zu spät diagnostiziertem Lungenkrebs, der Vater bei einem Verkehrsunfall – stand sie schon in den Startlöchern, bereit, das familiäre Vermächtnis fortzuführen.

 

Mein neuer Job ließ sich gut an. Vormittags war ich zumeist mit Maxim allein. Meine Anwesenheit änderte nämlich nichts an der Tatsache, dass die Kinder so normal wie möglich aufwachsen sollten – und dazu gehörte eben auch der Besuch einer Kita. Dort lieferte ich Sophie morgens ab. Wann immer das Wetter es zuließ, war auch Maxim im Kinderwagen dabei, mit dem ich bei der Gelegenheit einen Morgenspaziergang unternahm. Er war ein pflegeleichtes Kind und die Stunden, bis wir seine Schwester wieder abholten, verliefen in der Regel äußerst entspannt. Sophie forderte da schon deutlich mehr Aufmerksamkeit ein – zumal sie, als ich die Stelle antrat, gerade mitten in der „Warum?“-Phase steckte und wirklich alles hinterfragen musste. Davon abgesehen war es aber undenkbar, sie nicht zu mögen.

Ein bisschen anders war es, wenn eine mehrtägige Geschäftsreise anstand. Dann wurde Sophie solange in der Kita entschuldigt und die Kinder nebst meiner Wenigkeit mitgenommen. Wichtige Geschäftstermine, das muss dazu gesagt werden, wurden grundsätzlich von Luisa und Christian gemeinsam wahrgenommen. Die beiden führten das Unternehmen zusammen, nachdem sie sich während des BWL-Studiums kennen- und lieben gelernt hatten. Schnell wurde klar, dass sie nicht nur auf privater Ebene ein Traumpaar waren. Luisa hatte ein angeborenes Händchen fürs Marketing, was sich natürlich bestens mit ihrer Stellung als Erbin und Gesicht der Firma vertrug. Christian war ein Zahlengenie. Die beiden ergänzten sich perfekt. Nach dem Diplom – das natürlich beide mit hervorragenden Ergebnissen abschlossen – folgte alsbald die Traumhochzeit. Als Luisa kurz darauf schwanger wurde, schien das Glück vollkommen. Ein Dreamteam. Zwei, die sich gesucht und gefunden hatten. Dass Christian aus kleinen Verhältnissen stammte und nur mit Hilfe eines Stipendiums überhaupt hatte studieren können – wen bitteschön, sollte das noch interessieren?

 

Soweit zumindest die Theorie. Die Praxis aber war für eine solche Konstellationen noch nicht reif. Die Wahrheit war, dass immer noch ein großer Unterschied zwischen einem Mann, der sich für eine Partnerin mit geringerem gesellschaftlichem Status entschied und einer Frau, die sich diese Freiheit umgekehrt herausnahm, gemacht wurde. Formal gab ja an der Situation nichts auszusetzen. Christian war ein Glücksfall – nicht nur für Luisa, sondern auch und gerade für das Unternehmen. Und dennoch – wer wollte es den Freunden, Verwandten und Geschäftspartnern verdenken, dass sie Christian bei aller Anerkennung seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten immer auch als den Mann sahen, der das Glück gehabt hatte, sich eine reiche Frau zu angeln? Natürlich hätte das nie jemand laut ausgesprochen. Dafür mochten ihn ja alle viel zu sehr. Gedacht haben sie es dennoch – und Christian wusste, dass alle es dachten. Eine Gewissheit, die irgendwann an der Psyche eines Jeden genagt hätte …

 

Es kam, wie es kommen musste. Was ist der schnellste und einfachste Weg für einen einigermaßen attraktiven und finanziell gut gestellten Mann, etwas für sein angekratztes Ego zu tun? Richtig – er flirtet fremd. Was an sich ja noch gar keine Katastrophe sein muss. Es kommt halt darauf an, wie man flirten definiert – und mit wem man den Flirt wagt. Heute würde ich sagen: Die Frau sollte nicht aus dem unmittelbaren Umfeld des Mannes kommen und zu allem Übel noch in einem wie auch immer gearteten Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stehen. Heute bin ich schlauer. Damals wusste ich vieles noch nicht.

Natürlich schmeichelte es mir zunächst ungemein, als Christian begann, unzweideutige Signale auszusenden, wann immer er sich unbeobachtet fühlte. Ich war halt jung und naiv. So naiv, dass ich die wahren Beweggründe nicht erkannte und das ostentative Interesse meines Bosses mit wahrer Zuneigung verwechselte. Man stelle sich vor: Dieser Mann hatte den Jackpot gezogen und lebte das perfekte Leben. Und dann zog so jemand die allenfalls durchschnittlich hübsche Nanny mit dem nichtssagenden Leben der schönen, selbstbewussten, weltgewandten und reichen Luisa vor. Ja, ich ließ mich von ihm blenden - aber wer, bitte schön, wollte mir das verübeln?

 

3

 

Der nächste Morgen. Irgendwie habe ich es gestern doch noch ins Bett geschafft und – oh Wunder! – bin sogar einigermaßen schnell eingeschlafen. Doch schon beim Aufwachen ist da dieses diffuse Gefühl, dass gestern irgendetwas war. Richtig, der mysteriöse Brief! Aber merkwürdig – im Licht des anbrechenden Tages erscheint mir das Ganze plötzlich weitaus weniger bedrohlich als noch am gestrigen Abend. Wie gesagt, Katja Köhler ist ein Allerweltsname – und wie oft wurde in unserem Haus schon Post falsch zugestellt? Überhaupt, wer verschickt heute noch handgeschriebene Briefe? Falls mich aber tatsächlich jemand von damals wiedererkannt hätte, würde der- oder diejenige für die Kontaktaufnahme doch kaum eine solch überholte Methode wählen. Das kann aber auch eine Falle sein, flüstert mir eine leise Stimme ein. Warum hast du den Brief nicht sofort an dich genommen? Dann hättest du jetzt zumindest Gewissheit! Verdammt, da sind sie doch wieder, die Zweifel! Zum Glück steht heute wenigstens ein arbeitsreicher Tag an. Zu meinen Auftraggebern als freie Fotografin gehört auch eine Tageszeitung, für die ich heute im Einsatz bin. Das bedeutet vom Vormittag bis zum frühen Abend von einem Auftrag zum anderen hetzen – immer unter Zeitdruck, immer in Sorge, dass ein Pressetermin sich verschiebt und die ganze Tagesplanung gefährdet. Eine Aussicht, die mir gestern noch schlechte Laune beschert hat. Jetzt bin ich froh, dass ich zumindest für die nächsten Stunden nicht zum Nachdenken kommen werde.

 

Kurz vor sieben Uhr biege ich todmüde in meine Straße ein. Meine Hoffnung hat sich erfüllt. Der Tag war so stressig, dass ich an nichts anderes denken konnte als daran, pünktlich zum nächsten Auftrag zu kommen. Aber immerhin habe ich alles noch gerade so geschafft – wenn auch mit hängender Zunge. Auf dem Weg zu meiner Wohnung habe ich noch einen schnellen Zwischenstopp in meiner Stammpizzeria eingelegt und mir eine Pizza Spinaci mit extra Knoblauch zum Mitnehmen geholt. Riecht ja keiner – einer der Vorteile des Alleinlebens. Zum selber kochen habe ich heute erstens keine Lust und zweitens keine Zeit. Feierabend ist nämlich noch längst nicht – typisches Schicksal einer Freiberuflerin. Heute Abend muss ich noch jede Menge Bildmaterial von einer Hochzeit sichten, für die ich am vergangenen Wochenende als Fotografin engagiert war.

Als ich vor der Haustür nach dem Schlüssel krame, stelle ich fest, dass meine Hand leicht zittert. Könnte da eventuell wieder ein Brief … Unsinn! stoppe ich den Gedanken sofort. Mach dich doch nicht selbst verrückt! Dennoch kann ich nicht umhin, den Atem anzuhalten, als ich meinen Briefkasten öffne. Ein Infoschreiben meiner Bank und Werbung für einen neuen Asia-Lieferservice in meinem Viertel. Sonst nichts. Ich gestatte mir einen ersten kleinen Erleichterungsseufzer und hole anschließend tief Luft, um auf der Briefkastenablage herumzutasten. Rechts – nichts. In der Mitte – nichts. Meine Hand wandert nach links und stockt. Da liegt etwas. Ich spüre, wie mein Körper sich verkrampft. Meine Hand tastet zögernd weiter. Fühlt der Brief sich so an, wie der gestrige ausgesehen hat? „Du spinnst!“ fauche ich mich selber an und erschrecke im nächsten Moment zu Tode, als sich hinter mir jemand vernehmlich räuspert. Etwa schon wieder Pia? Nein, nur die hochnäsige Medizinstudentin aus der unteren Wohngemeinschaft. Sie zieht die Augenbrauen hoch, schüttelt milde herablassend den Kopf und stolziert aus der Tür. Mist! Wenn das so weitergeht, haben spätestens in ein paar Tagen alle Hausbewohner gemerkt, dass bei mir irgendetwas nicht stimmt. Mit abgewandtem Blick greife ich nach dem Brief. Lasse meine Augen dann ganz langsam herüber wandern. Blicke genauer hin. Fange laut an zu lachen. Vor Erleichterung. Im Adressfeld steht der Name der vorletzten Kurzzeit-Gefährtin von Frank, unserem Haus-Casanova aus dem ersten Stock. Dessen wechselnde Partnerinnen zeichnen sich eher durch optische als durch geistige Vorzüge aus. Da mutiert selbst die Erstellung eines Nachsendeantrages schon mal zur unlösbaren Aufgabe. Ich flüchte in meine Wohnung, bevor der nächste Nachbar mich hier sieht und anfängt, sich Gedanken zu machen.

 

Wenig später sitze ich auf dem Sofa, neben mir auf dem Tisch die in mundgerechte Stücke geschnittene Pizza und ein Glas Weißwein, auf dem Schoß den Laptop. Wie immer in solchen Momenten muss ich an meine Beamtenfamilie denken. Arbeiten, wenn andere Menschen längst Feierabend haben, dabei auf dem Sofa lümmeln, essen und Alkohol trinken. Noch weiter hätte ich mich nicht von ihren kleinbürgerlichen Vorstellungen entfernen können. Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Meine Eltern gibt es nicht mehr, Geschwister hatte ich nie und Katja Köhler existiert auch nicht mehr. Meine Gedanken schweifen ab, während ich durch die Fotodateien klicke. Tragen mich zurück. Zu der Person, die ich einmal war. Katja Köhler hatte eine hohe Stirn, die sie stets als Makel empfand und mit einem Pony tarnte. Auf ihre wilden Locken war sie als Kind regelrecht stolz gewesen. In ihrer Familie bevorzugte man es allerdings nett, adrett und unauffällig. Als Katja in die Pubertät kam, hatte sie längst gelernt, ihre störrischen Haare als Makel zu sehen und nach jeder Wäsche mit Fön, mehreren Rundbürsten und Unmengen von Stylingmitteln glattzuziehen.

Julia Faber hingegen lässt der Natur ihren Lauf. Ihre Haare kringeln sich wie Schlangen auf dem Kopf einer Medusa. Außerdem hat sie sich mit ihrer hohen Stirn abgefunden und mittlerweile sogar angefreundet, da diese ihrem Gesicht irgendwie Klasse verleiht. Auch die Haarfarbe ist jetzt eine andere, bessere. Anstelle des müden Brauntons sind leuchtende honigfarbene Reflexe getreten. Vervollständigt wird die Typveränderung durch eine auffällige, schwarzrandige Nerdbrille mit Fensterglas.

Keine schlechte Taktik, um sich zu tarnen. Wer käme schon auf die Idee, dass ausgerechnet die Frau, die garantiert nicht übersehen wird, Grund hat, sich zu verstecken. Das hätte man doch eher der grauen Maus von einst zugetraut. Julia Faber ist eine Frau, die die Blicke auf sich zieht. Katja Köhler, wenn auch auf gewisse Weise nicht unattraktiv, war insgesamt unscheinbar. Es mag angesichts der Umstände, die mich überhaupt zu einer anderen werden ließen, komisch klingen, aber ich kann es nicht leugnen: Julia Faber gefällt mir besser als Katja Köhler.

 

 Genug geträumt! Ich schüttele mich und blinzle. Zurück in die Gegenwart, wo hunderte von Fotos darauf warten, selektiert und bearbeitet zu werden, auf dass das sympathische Brautpaar, Vanessa und Alexander, eine lebenslange Erinnerung an den vielgepriesenen „schönsten Tag im Leben“ behält. Ich stutze. Irgendetwas, irgendein Detail muss unbewusst meine Aufmerksamkeit erregt haben. Ich schaue das Foto auf dem Laptop genauer an. Kann nichts Ungewöhnliches entdecken. Gehe zurück zum vorherigen Bild. Wieder nichts. Klicke ein weiteres Mal zurück. Erstarre. Da ist es.

Ich war erst nach der kirchlichen Trauung mit Vanessa und Alexander verabredet. Wir haben uns im Schlosspark getroffen und die offiziellen Paarfotos gemacht. Dann ging es gemeinsam weiter zur Feierlocation, wo ich bis zum Schluss weiter fotografiert habe. Die drei einstigen Kommilitoninnen von Alexander habe ich allenfalls am Rande wahrgenommen. Als wir ankamen, gluckten sie zusammen an einem Tisch im Gastraum, während die übrige Hochzeitsgesellschaft den anbrechenden Frühling lieber draußen genoss. Die drei hatten sich viel zu erzählen. Wie das halt so ist mit einst unzertrennlichen Busenfreundinnen, die mittlerweile über ganz Deutschland verteilt leben. Zwei von ihnen mussten die Party auch ziemlich früh wieder verlassen. Sie hatten jeweils noch eine längere Autofahrt vor sich und kleine Kinder zuhause, so dass sie nicht über Nacht wegbleiben wollten. Die dritte blieb und feierte im Laufe des Abends noch ziemlich ausgelassen, was zahlreiche Bilder belegen. Die beiden anderen sind aber nur auf wenigen Fotos zu sehen. Daher habe ich auch nichts gemerkt. Jetzt aber frage ich mich, wie ich so blind sein konnte.

Sie steht im Bildhintergrund, blickt aber direkt in die Kamera. Auch sie hat sich verändert. Ihre Haare sind kürzer und heller als früher. Außerdem muss sie seit damals mindestens fünfzehn Kilo abgenommen haben. Aber sie ist es, unverkennbar. Das weiß ich schon, bevor ich den Bildausschnitt vergrößert habe. Dieser ganz spezielle Blick. Ich kenne sie von früher. Und sie kannte Katja Köhler.


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