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Das Bergmüller-Erbe · Romane

Gegenwart und Vergangenheit treffen aufeinander. Julia steht vor einem Wendepunkt und ihr Großvater Joseph muss sich seiner Schuld stellen.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Mit meiner Geschichte möchte ich den Lesern zeigen, dass man sich seinen Ängsten stellen und auch manchmal unangenehme und schmerzhafte Entscheidungen treffen muss. Julia ist anfangs nicht sehr selbstbewusst, wächst aber an ihren Erfahrungen. Im Gegensatz dazu kann eine getroffene Entscheidung auch Konsequenzen nach sich ziehen, die einen ein Leben lang verfolgen. Das muss Julias Großvater Joseph erfahren, der als Junge eine jüdische Familie verraten hat, die in der Hütte seiner Familie Zuflucht gefunden hatte. Diese Schuld verfolgt ihn bis zum Lebensende und wirkt sich auf die gesamte Familie aus.

Über den/die Autor:in

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Ich schreibe seit einigen Jahren unter dem Pseudonym Susanne Sommerfeld, u. a. Kurzgeschichten. Seit vielen Jahren arbeite und lebe ich in der schönen Stadt Dresden.

Kapitel 1

1999

Am liebsten hätte Julia sich auf den Boden geworfen wie ein bockiges Kind. Sie hörte weder das allgegenwärtige Scheppern der Kuhglocken noch das ferne Rauschen der durch den Kurort strömenden Autos. Eben noch hatte sie mit ihrem Teleobjektiv den wolkenlosen Himmel beobachtet, in der Hoffnung, einen Wanderfalken oder gar einen Steinadler vor die Linse zu bekommen. Stattdessen stolperte sie nun durch das unwegsame Gelände abseits des Wanderweges und rief nach Franzl. Dieser blöde Hund! Erneut war er ihr in seinem Jagdeifer entwischt. Anfangs war sie dem Gebell des Münsterländers gefolgt und hatte gehofft, dass er von der Jagd ablassen würde. Aber alles Rufen und Pfeifen nützten nichts. Der Hund blieb verschwunden. Ihre letzte Hoffnung war die Hütte ihres Großvaters. Franzl liebte den alten Joseph, der stets eine Scheibe Käse und eine Streicheleinheit für ihn übrig hatte.

So hatte sich Julia ihren freien Tag nicht vorgestellt. Ein entspannter Ausflug sollte es werden und keine Jagd durch die Wildnis. Sie packte ihre Kamera wieder in den Rucksack. Aus der Vogelbeobachtung würde wohl nichts mehr werden. Sie verfluchte ihre Gutmütigkeit. Hätte sie Franzl nur nicht von der Leine gelassen.

Julia verließ das Unterholz und kam an eine Weggabelung. Auf beiden Wegen gelangte man zu Josephs Alm. Doch der eine führte direkt über eine wackelige Hängebrücke. Sie stellte sich vor, wie diese unter ihren Schritten bebte und sie durch das Gitter in die Tiefe schaute. In der Ferne hörte sie Franzl aufgeregt bellen. Nein, sie schaffte das nicht, auch wenn der Weg der kürzere war. Aber was, wenn der Jäger Franzl vor ihr erwischte? Er hatte sie schon mehrfach ermahnt, ihn nicht frei laufen zu lassen. Beim letzten Mal hatte er ihr gar gedroht, den Hund zu erschießen. Jäger Moosbauer war nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es um die Hege seiner Rehe und Wildschweine ging.

Julia schaute nach links und rechts und wieder zurück. Mit kleinen Schritten näherte sie sich der Hängebrücke. Ihr Herz raste, der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter und es fühlte sich an, als drücke ihr jemand die Kehle zu. Sie setzte einen Fuß so vorsichtig auf das Gitter, als könne sie sich daran verbrennen. Im nächsten Moment zog sie ihn zurück. Verdammte Angst! Sie war so ein Waschlappen! Wenn ihr Vater sie jetzt sehen würde. Sie hörte schon seine überheblichen Kommentare: »Unsere Julia, ein richtiges Häschen. In den Bergen geboren und hat Höhenangst. Reiß dich einfach mal zusammen!«

Sie dachte an Peter. Ihr Bruder war alles andere als ein Feigling gewesen und was hatte es ihm genützt? Sie kniff die Augen fest zusammen und berührte den Ring, den sie stets an einer Halskette mit sich trug. Jetzt bloß nicht heulen. Das zarte Schmuckstück war ein Andenken an Peter, ohne das sie nie das Haus verließ. Sie drehte sich um und eilte zur Weggabelung zurück. Dann würde sie jetzt eben rennen müssen.

Ihre Lungen schmerzten und die Beinmuskeln brannten, als hätte sie einen Marathon bewältigt. Nur einen Moment ausruhen, dachte sie und ließ sich auf einen Baumstumpf am Wegesrand sinken. Sie atmete tief ein und aus, um ihren Puls zu beruhigen. Ihre Gedanken begannen zu den Ereignissen am Vorabend zu wandern wie die Ameisen zu ihren Füßen. Sebastian und sie waren ausgegangen, um ihre gemeinsamen Freunde in der Kneipe zu treffen. Später stieß seine Ex-Freundin Saskia dazu. Am Anfang der Beziehung hatte Julia sich bemüht, mit ihr auszukommen, aber diese Person schaffte es immer wieder, dass sie sich wie eine graue Maus fühlte. Saskia war das komplette Gegenteil von ihr: groß, sportlich und risikofreudig. Julia sah ihr unverschämt freches Grinsen vor sich, als Saskia sie gefragt hatte, wann sie denn endlich einen Kletterkurs absolvieren wolle.

Bevor sie etwas erwidern konnte, kam ihr Sebastian zuvor: »Julia und klettern? Das werde ich wohl nicht mehr erleben.«

Sie war rot angelaufen und schwieg. Nie fiel ihr eine schlagfertige Antwort ein. Sebastian wusste doch, was sie seit der Geschichte mit Peter durchmachte. Warum war er so gefühlskalt? Selbst nachts im Schlafzimmer hatte sie noch immer nicht den Mut, ihm die Meinung zu sagen. Stattdessen drehte sie ihm wortlos den Rücken zu und stellte sich schlafend.

Seufzend erhob sie sich. Die Aussprache mit Sebastian würde bis heute Abend warten können. Jetzt musste sie Franzl einfangen. So bald würde sie ihn nicht mehr von der Leine lassen. Es war zu seinem eigenen Schutz. Nicht nur der Jäger war eine Gefahr für ihn, auch die überall am Berg frei weidenden Kühe konnten ihm gefährlich werden. Besonders, wenn sie Kälber hatten, fürchteten sie nichts und niemanden.

Sie erreichte den Hof ihres Großvaters und atmete den Geruch nach Heu und Tieren ein, der Kindheitserinnerungen weckte. Der Hof war schon immer ihre zweite Heimat gewesen. Wenn sie Streit mit den Eltern hatte oder traurig war, fand sie hier Zuflucht. Sie schaute sich um, doch weder Joseph noch Franzl waren zu sehen.

»Opa, bist du da?«, rief sie.

Toni bog um die Ecke des Kuhstalls. Er war ein Jahr älter als sie und half seit einigen Sommern ihrem Großvater auf der Hütte. Unsanft zerrte er ihren Hund am Halsband hinter sich her. Franzl winselte und hatte die Rute zwischen seine Beine geklemmt.

»Kannst du vielleicht mal auf deinen blöden Köter aufpassen? Der macht hier sämtliche Kühe scheu«, fauchte Toni sie an. »Außerdem war der Moosbauer vorhin hier und hat mir die Hölle heiß gemacht. Am liebsten hätte er den Hund gleich abgeknallt.«

Dann ließ er Franzl los, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand wieder im Stall. Verdutzt starrte Julia hinter ihm her. Sie war so perplex, dass sie vergaß, mit dem Hund zu schimpfen.

»Hallo Julia, schön, dich zu sehen.«

Joseph trat aus der Tür des Gastraums und wischte sich die Hände an der Küchenschürze ab. Von Frühjahr bis Herbst öffnete er fast täglich bei Wind und Wetter seine Tür für hungrige Wanderer. Seine wohlschmeckenden Semmelknödel waren in der ganzen Umgebung berühmt. Dieses Einkommen half ihm, den Hof zu halten. Julia umarmte ihn.

»Was ist denn mit Toni los? Der hat mich gerade zusammengestaucht.«

***

Joseph seufzte. Früher hatten sich die beiden bestens verstanden, aber seit einigen Monaten herrschte eine gewisse Spannung zwischen ihnen. Dabei ähnelten sie sich in manchen Dingen. Vielleicht war gerade dies das Problem. Ich sollte froh sein, dass sie sich nicht zu sehr mögen, dachte er. Die Vergangenheit soll ruhen. So ist es besser für alle.

»Du weißt doch, wie er ist. Aber mit Franzl, da hat er schon recht. Du musst den Hund langsam mal in den Griff bekommen. Mit dem Moosbauer ist nicht gut Kirschen essen.«

Julia senkte den Kopf.

»Das ist aber noch lange kein Grund, so grob zu sein«, murmelte sie. »Ich frage mich sowieso, warum du gerade ihn eingestellt hast. Der vergrault noch deine Gäste.«

»Du erinnerst mich gerade sehr an deine Mutter«, sagte er und strich ihr über die Wange. »Du willst auch immer mit dem Kopf durch die Wand.«

»Ich vermisse sie so, Großvater.«

»Ich auch, mein Kind, ich auch.«

Joseph erinnerte sich an die Zeit, als er seine Gerda kennengelernt hatte. Zum Glück hielten ihn ihre Eltern für eine gute Partie. Sonst hätte er nie die Zustimmung zur Hochzeit bekommen. So war das damals. Hatte man nichts zu bieten, musste man befürchten, die große Liebe nicht heiraten zu dürfen. Gerda war die gute Seele des Hofes gewesen. Joseph begriff noch immer nicht, warum der Herr sie vor ihm zu sich gerufen hatte. Die Krankheit war über ihr friedliches Leben hereingebrochen. Binnen weniger Monate war aus der lebenslustigen und fleißigen Gerda ein Häuflein Elend geworden, das nicht mehr in der Lage war, sich aus dem Bett zu erheben. Warum passierte ihm das und dann gleich zwei Mal? Erst seine Tochter, später seine Frau. Beide waren demselben Feind zum Opfer gefallen, diesem Biest namens Krebs. Aber wenigstens hatte er noch Julia und Toni.

***

»Großvater, ist alles in Ordnung?«

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Joseph zuckte zusammen.

»Oh, entschuldige bitte, Julia.«

»Ist schon in Ordnung. Ich mache mir Sorgen um dich. Du siehst so blass aus. Isst du auch ordentlich? Die ganze Arbeit hier, das muss dir doch langsam zu viel werden.«

»Ach wo, ich habe doch Toni. Der hilft mir fleißig und ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen.«

Joseph nahm die Sense vom Haken an der Hauswand.

»Jetzt werde ich dir mal beweisen, was ich noch leisten kann.«

Julia lachte. So kannte sie ihren Großvater. Wenn er nicht stets hart gearbeitet hätte, gäbe es den Hof schon lange nicht mehr. Sie wusste, wie heftig ihn der Tod seiner Frau und seiner Tochter getroffen hatte, aber die Arbeit hielt ihn davon ab, in Depressionen zu versinken.

Während ihr Großvater dem Gras zu Leibe rückte, lief Julia zum Kuhstall. Wo steckte Toni? Seit ihrer Ankunft hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Vorsichtshalber band sie Franzl vorm Stall an. Noch einmal würde er ihr heute nicht davonlaufen.

Durch die winzigen Fenster drang nur wenig Licht in das Gebäude. Es roch nach frischem Heu und den Ausdünstungen der Kühe, die noch bis zum Anbruch der Dunkelheit auf der Weide stehen durften. Am Ende des Ganges befand sich jeweils links und rechts eine abgetrennte Box für Kälber, die noch nicht robust genug für den Weidegang waren. Momentan gab es nur ein Kälbchen, das mit der Flasche großgezogen wurde, weil seine Mutter es nicht akzeptiert hatte. Julia würde sich den Neuankömmling einmal anschauen.

Plötzlich stieg ihr ein penetranter süßlicher Geruch in die Nase und sie nahm Rauchschwaden in der hinteren Ecke des Stalls wahr.

O Gott, es brennt, dachte sie und sprintete den Gang entlang. Mit einem Ruck riss sie die Tür der Kälberbox auf und wäre beinahe über Tonis ausgestreckte Beine gestolpert. Dieser saß mit geschlossenen Augen an die Boxwand gelehnt auf dem mit einer dicken Strohschicht ausgelegten Boden und streichelte selbstvergessen das neben ihm liegende Kälbchen. In seiner rechten Hand hielt er eine Zigarette.

Nein, halt, das ist keine Zigarette. Das ist doch ein Joint!

»Sag mal, spinnst du jetzt komplett? Mich hier so zu erschrecken! Die Kleine hat gerade so friedlich geschlafen«, wetterte Toni.

»Ich spinne? Ich? Du sitzt doch hier im Stroh und rauchst. Hast du vor, den ganzen Stall abzufackeln?«

»Beruhige dich mal, Jule. Ich passe schon auf. Hier, ich habe sogar einen Aschenbecher.«

Julia wusste nicht, ob sie lachen, weinen oder Toni den Hals umdrehen sollte. Da saß dieser Kerl seelenruhig mit einem Joint im Stroh und grinste sie breit an.

»Nenn mich nicht so! Du weißt, dass das nur Elisabeth darf. Weiß mein Großvater, was du hier so treibst?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute Toni herausfordernd an.

»Nein, und das muss er auch nicht. Das ist meine Pause und da kann ich machen, was ich will. Ich schade doch keinem.«

»Außer dir selbst. Aber das kann mir ja egal sein. Lass dich hier lieber nicht von ihm erwischen. Ich glaube nicht, dass er begeistert von deiner Pausenbeschäftigung wäre.«

»Warst du in der Schule auch so ein Verräter? Dann hattest du sicher nicht viele Freunde.«

Julia schnaubte und rollte die Augen. Sie drehte sich um und knallte die Boxentür hinter sich zu. Mit ausgreifenden Schritten stapfte sie aus dem Stall und band Franzl los.

***

Das Kälbchen sprang erschrocken auf und schaute Toni mit fragendem Blick an. Dieser erhob sich von seinem behaglichen Strohlager und drückte den Joint im Aschenbecher aus. Ihm war die Lust darauf vergangen. Warum war Julia so eine Spielverderberin? Das nächste Mal würde er ihr anbieten, auch mal einen Zug zu nehmen. Vielleicht wäre sie dann entspannter. Er hoffte inständig, dass sie nicht zu Joseph laufen und ihm von dem Vorfall erzählen würde. Momentan konnte er es sich nicht leisten, seinen Job zu verlieren. Was sollte er denn sonst machen? Ungelernt war er, wie es auf dem Arbeitsamt so charmant hieß. Zwar hatte er einiges drauf, aber wenn man kein Zeugnis vorweisen konnte, war man ein Nichts. Er ärgerte sich, dass er heute die Geige nicht dabei hatte. Wie gern hätte er jetzt ein wenig gespielt. Das half ihm, auf andere Gedanken zu kommen. Wenn er es sich recht überlegte, war das sogar besser als ein Joint.

Das Kälbchen stupste ihn an.

»Na, noch eine Runde kraulen? In Ordnung. Vielleicht ist Julia dann auch verschwunden. Weißt du, warum sie so eine Kratzbürste ist?«

Statt einer Antwort legte sich die Kleine wieder an seine Seite und schloss die Augen.

***

Joseph stützte sich auf seine Sense und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Julia hätte ihm gleich sagen sollen, dass es heute viel zu heiß für solche Arbeiten war. Aber er war ein Sturkopf und ließ sich nicht davon abhalten. Das schien in der Familie zu liegen.

»Na, hast du Toni gefunden?«, fragte er und zwinkerte ihr zu.

»Ja, der sitzt beim Kälbchen und macht Pause.«

Von dem Joint würde sie ihm nichts erzählen. Solange Toni seine Arbeit erledigte, sollte er sein Geheimnis haben. Sie hoffte nur, dass sie diese Entscheidung nie bereuen musste.

»Pause klingt perfekt. Hast du Lust auf eine Brotzeit?«

»Großvater, es tut mir leid, aber ich bin noch mit Elisabeth verabredet. Beim nächsten Mal wieder, in Ordnung?«

Sie wollte heute nicht mit Toni an einem Tisch sitzen. Als sie ihn aus dem Stall kommen sah, verabschiedete sie sich eilig von ihrem Großvater.

Julia öffnete die Tür zu Elisabeths Laden. Ein Glöckchen kündigte ihren Besuch an, doch der Verkaufsraum war leer. Ihre Freundin hatte offenbar Kundschaft im hinteren Zimmer. Sie schaute sich um und war wie immer erstaunt, wie ordentlich es hier war. Jede Nadel, jeder Faden und jeder Knopf hatten ihren Platz und die Stoffballen waren akkurat nach Farben und Mustern in Regalen sortiert.

Julia trat ins Hinterzimmer. Elisabeth kniete vor einer jungen Frau, die ein champagnerfarbenes Brautkleid aus einem seidig schimmernden Stoff trug, und hatte mehrere Stecknadeln zwischen die Lippen geklemmt, mit denen sie sorgfältig den Saum absteckte. Die Stirn konzentriert in Falten gelegt, war ihre Freundin ganz in ihrem Element. Wenn sie doch privat manchmal auch so aufgeräumt wäre, dachte Julia. Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie beide gern, die in ihre Arbeit versunkene und ordentliche Elisabeth hier im Laden und die quirlige und verrückte in ihrem Privatleben.

Julia setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür und beobachtete ihre Freundin. Sie kannten sich seit dem ersten Schultag. Julia war verschüchtert in den Klassenraum mit den vielen neuen Mitschülern getreten und die über das ganze Gesicht strahlende Elisabeth stürzte sofort auf sie zu und nahm sie unter ihre Fittiche. Das hatte sich nie geändert. Selbst als Elisabeth nach den bestandenen Abiturprüfungen für einige Zeit nach Australien reiste und später in München Modedesign studierte, hatten sich die Freundinnen nie aus den Augen verloren. Dann kam der Moment, als Julias Mutter an Krebs erkrankte und Julia sich rund um die Uhr um sie kümmerte. Elisabeth war so oft in die Heimat gekommen, wie es ihr Studium erlaubte und hatte ihr den Rücken gestärkt. Nach dem Tod der Mutter fiel Julia in ein tiefes Loch, aus dem nur ihre Freundin sie herauszuholen vermochte.

»Na, du Träumerin? Hast du wieder mal an einen deiner Vögel gedacht? Dich wird noch mal der Bär im Wald erwischen. Du hast doch gehört, dass hier in der Gegend wieder einer herumstromert.«

Elisabeth stand vor ihr, in einer Hand Nadel und Faden, mit der anderen wedelte sie mit der neuesten Ausgabe einer Frauenzeitschrift. Julia zuckte die Schultern.

»Ach was. Der ist doch sicher so scheu, dass er gleich Reißaus nimmt. Allein deshalb, weil Franzl ihn verbellen würde.«

»Na, wenn du meinst. Du solltest mal dein Horoskop lesen, Jule. Sieht gar nicht so übel für dich aus. Ich bin hier auch gleich fertig.«

Elisabeth drückte ihr die Zeitschrift in die Hand und schob sie zum Sofa in der Ecke des Raumes. Julia machte es sich bequem und blätterte sich durch die Klatschmeldungen der letzten Wochen, bis sie die Seite mit den Monatshoroskopen gefunden hatte. Seit Elisabeth als Teenager in einer Jugendzeitschrift ihr erstes Horoskop gelesen hatte, war sie fasziniert davon. Sie hatte es nicht dabei belassen, nur ihre Sterne zu betrachten. Nein, sie gab allen Freunden und Bekannten, aber auch ihren Kunden, ungefragt Ratschläge in Sachen Liebesglück, Gesundheit und Finanzen. Meistens fand Julia das witzig, es gab aber auch Situationen, in denen sie Elisabeth mitsamt ihrem Orakel zum Mond hätte schießen wollen.

Ihre Freundin hatte die zukünftige Braut verabschiedet und hängte das abgesteckte Kleid vorsichtig an einem Bügel auf.

»Das Brautkleid sieht fantastisch aus. Die Kundin kann sich glücklich schätzen«, sagte Julia.

»Und der Bräutigam erst. Das war übrigens mein erster Auftrag für ein Brautkleid. So, nun lies mal vor.«

Damit es keinen Streit gab, tat Julia ihrer Freundin den Gefallen.

»In Sachen Liebe läuft es für dich in diesem Monat nicht so besonders. Du solltest dir überlegen, ob du den richtigen Partner an deiner Seite hast. Deine Karriere könnte einen Anschub gebrauchen. Nimm die Sache gleich in die Hand. Dann steht auch einem Geldsegen nichts mehr im Wege.«

»Die kennen dich ganz gut, was?«

»Na ja, das klingt ja immer so allgemein. Das passt auf jeden.«

»Was du nicht sagst. Mit Sebastian haben sie auf alle Fälle recht. Ich sage dir, der ist nicht der Richtige für dich. Und dein Job, das kann es doch nicht für den Rest deines Lebens sein. Verkäuferin im Souvenirladen, wie lange willst du das noch machen? Was ist aus deinem großen Traum geworden, Fotografin zu werden?«

Julia schluckte. Warum musste Elisabeth immer alles laut aussprechen, was sie dachte?

Elisabeth zupfte an Julias Blusenärmel.

»Redest du jetzt nicht mehr mit mir?«

»Was willst du denn von mir hören? Dass du recht hast? Was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen? Mit fast 30 bekomme ich doch keinen Ausbildungsplatz mehr. Mit Sebastian habe ich auch noch nicht darüber geredet.«

»Wenn er ein verständnisvoller Partner wäre, hätte er doch nichts dagegen, dass du deine Träume verwirklichst, oder?«, antwortete Elisabeth mit dem für sie typischen sarkastischen Unterton.

»Ich weiß, dass du ihn nicht ausstehen kannst, aber ich liebe ihn. In einer Beziehung muss man vorher erst mal über seine Pläne reden. Du hast ja keinen Freund, du weißt nicht, wie das ist.«

Elisabeth riss die Augen auf.

»Weil ich derzeit keinen Mann habe, weiß ich also nicht, wie eine Beziehung läuft?«

»Ach, Elisabeth, so habe ich das nicht gemeint. Entschuldige bitte. Können wir jetzt einfach in die Kneipe gehen und nicht über Zukunftspläne reden? Ich bin kaputt. Franzl ist mir heute schon wieder entwischt und ich habe ihn auf Großvaters Alm eingesammelt. Frage nicht, wie Toni drauf war.«

»Für heute werde ich dich damit in Ruhe lassen. Aber so einfach kommst du mir nicht davon. Ich lasse nicht zu, dass meine beste Freundin ihre Sterne so ignoriert. Was genau hat Toni denn nun wieder von sich gegeben? Er ist doch an sich ein ganz attraktiver Kerl.«

Julia war erleichtert, dass Elisabeth das Thema Sebastian an diesem Abend nicht mehr anrührte. Ihr Sternenfimmel nervte, gerade weil Julia insgeheim zugeben musste, dass einige Details zutrafen.

»Was ziehst du denn für ein Gesicht?«, fragte Elisabeth und stellte einen giftgrünen Cocktail vor sie auf den Tisch. »Hier für dich. Der heitert dich hoffentlich auf.«

Mit einem schiefen Grinsen zog Julia am Strohhalm.

»Na, wirkt wohl schon, oder?«

Julia nickte.

»Der Barkeeper hat es aber gut mit dem Wodka gemeint.«

»Klar, ich habe ihm ja auch gesagt, dass er meine Freundin ordentlich aufheitern soll.«

Elisabeth schien Recht zu behalten. Die unangenehmen Gedanken hatten sich verzogen. Julias Kopf fühlte sich an wie Zuckerwatte und sie kicherte völlig grundlos.

»Ich glaube, den dritten solltest du nicht austrinken.« Elisabeth nahm ihr das Glas aus der Hand. »Genug Spaß für heute. Du gehörst ins Bett. Dort kannst du deinen Rausch ausschlafen.«

»Ja, Mama«, sagte Julia und bekam einen erneuten Lachanfall.

»Hey, Julia, was machst du denn hier? Hast du deinen Mann etwa allein zu Hause gelassen?«

Julia blieb das Lachen im Halse stecken. Einen Moment hatte sie nicht daran gedacht, nun kam ausgerechnet Sebastians Exfreundin zur Tür herein. Sie war nicht allein unterwegs. Ihre männliche Begleitung steckte in hautengen Lederhosen und einem ebenso engen weißen Shirt. Julia atmete auf. Saskia hatte scheinbar einen neuen Freund. Dann würde sie hoffentlich die Finger von Sebastian lassen.

Noch bevor sie eine passende Antwort parat hatte, antwortete Elisabeth schon: »Klar, den kann man gut und gern allein lassen.«

Julia zerrte ihre Freundin hinter sich aus der Tür.

»Musst du Saskia so einen Blödsinn erzählen? Die denkt doch, bei uns würde was nicht stimmen.«

Elisabeth zuckte mit den Schultern.

»Jule, mach dir keinen Kopf. Du hast doch gesehen, was für einen Typen die im Schlepptau hatte. Die will sicher nichts mehr von Sebastian.«

Hoffen wir es, dachte Julia.

***

Toni holte wie jeden Abend die Kühe von der Weide. Die Arbeit auf dem Hof war damit für heute erledigt, aber er verspürte nicht die geringste Lust, in seine winzige und karg eingerichtete Wohnung zurückzukehren. Niemand wartete dort auf ihn. Hier oben auf der Alm fühlte er sich zu Hause. Er packte die Geige aus dem Kasten, für ihn das Wertvollste, was er besaß. Es war ein schlichtes Modell von einem der unzähligen Geigenbauer aus der Gegend um Mittenwald, doch er liebte ihren Klang, weich wie die sanften Hänge der Alm und bodenständig wie seine Arbeit. Joseph hatte sie ihm geschenkt, nachdem er Tonis Geige begutachtet hatte. Keine Ahnung, wie der alte Mann an so ein Instrument kam, aber er war sämtlichen Fragen ausgewichen. »Du kannst sie sicher wieder zum Leben erwecken«, hatte er gesagt.

Wie gerne hätte er eine Ausbildung zum Instrumentenbauer gemacht. Hätte, hätte, dachte er. Er hatte sich lieber mit seinen sogenannten Freunden getroffen und mit ihnen gemeinsam die Schule geschwänzt und Alkohol getrunken. Hatten ihn seine Eltern nicht oft genug vor denen gewarnt? Aber welcher Fünfzehnjährige hörte schon auf die Alten? Mittlerweile gestand er sich ein, dass sie Recht gehabt hatten. Doch eher würde er sich die Zunge abbeißen, als das zuzugeben. Das enttäuschte Gesicht seiner Mutter, wenn er sonntags zum Familienessen erschien, reichte ihm. Sein Vater erwähnte das Thema längst nicht mehr. Anfangs war Toni noch optimistisch, aber nach zwei erfolglosen Bewerbungen in der Musikinstrumentenbauschule gab er auf und arbeitete seither auf Josephs Alm. Man konnte nicht alles haben im Leben. Je eher er sich das aus dem Kopf schlug, umso besser.

Mit geübten Handgriffen stimmte er die Geige. Er war seiner Lehrerin bis heute dankbar, die ihm mit engelsgleicher Geduld dieses Instrument näher gebracht hatte. Viel Fleiß und Schweiß hatte er seither in das Üben gesteckt und mittlerweile konnte er die Töne, die er der Geige entlockte, als Musik bezeichnen.

Seine Gedanken schweiften zu Julia. Er kannte sie seit der Kindheit. Sie besuchten dieselbe Schule und wenn er mit seinen Eltern in Josephs Almwirtschaft eingekehrt war, hatten sie oft miteinander Fangen und Verstecken gespielt. Seit er auf der Alm arbeitete, sah er sie wieder regelmäßig und er konnte nicht leugnen, dass er sie mochte. Ihm gefiel es, wie sie ihre langen blonden Haare zu einem Zopf flocht, und ihre Augen waren von einem tiefen Blau, so blau wie der Walchensee an einem strahlenden Sommertag. Als Kind hatte sie sich über den winzigen Höcker auf ihrer Nase geärgert, den ihr ein Nasenbeinbruch eingebracht hatte. Wie gern hätte Toni ihr gesagt, dass er sie hübsch fand und sie sich nicht wegen solcher Kleinigkeiten zu grämen brauchte. Von seinen Gedanken ahnte sie sicher nichts, denn er vermied den Kontakt zu ihr, wo er nur konnte. Er hatte sich jede offensichtliche Schwärmerei für sie verboten, schon weil ihr Großvater sein Arbeitgeber war. Außerdem bedeuteten Frauen am Ende nur Ärger. Da blieb er lieber bei seiner Geige. Er setzte sie an und spielte einige Takte einer Bach-Partita. Doch so recht wollte ihm das Spielen heute nicht gelingen. Kaum denkt man an eine Frau, gehorchen die Finger nicht mehr. Nach ein paar Tonleiter-Übungen gab er auf. Es hatte keinen Sinn. Heute war kein guter Tag für die Musik.

Kapitel 2

1942

Nach einem harten Arbeitstag auf der Alm saß Joseph mit der Familie am Tisch und aß sein zweites Käsebrot. Obwohl es genügend zu essen gab, hatte er ständig Hunger. Er war gerade siebzehn geworden und hatte vor einem Jahr die Schule verlassen. Tagsüber bewachte er zusammen mit seiner fünfzehnjährigen Schwester Annemarie die Kuhherde. Der Krieg hatte die Bergmüllers bis jetzt verschont. Auf der Alm gab es genügend Tiere, um das Überleben zu sichern. Die Familie musste sie jedoch gut schützen. Die Zeiten waren hart und viele Menschen hungerten. Auch nachts standen die Geschwister abwechselnd auf, um draußen und im Stall nach dem Rechten zu sehen. Wenn sie sich darüber beklagten, bekamen sie von Mutter Therese zu hören: »Seid froh, dass ihr ausreichend zu essen habt. Dafür muss man auch arbeiten.«

Vater Werner war seit über zwei Jahren im Krieg. Regelmäßig trafen seine Briefe von der Front ein, doch nun war bereits die vierte Woche ohne Nachricht von ihm vergangen. Die Mutter ließ sich ihre Sorgen nicht anmerken. Nur nachts hörte Joseph sie weinen. Gleich, nachdem der Vater eingezogen wurde, hatte sie sein Gewehr ergriffen und hinter dem Stall das Schießen geübt. Als Joseph es ebenfalls probieren wollte, hatte sie gesagt: »Du nimmst keine Waffe in die Hand, du nicht.« Er hatte protestiert und geschimpft, aber seine Mutter blieb hart. Dabei war er doch jetzt der einzige Mann im Haus und Gewehre gehörten nicht in Frauenhände.

Therese ging jeden Samstag zum Markt hinunter, um Lebensmittel einzukaufen. Die Milch ihrer Kühe tauschte sie gegen Gemüse und Fleisch ein. Meistens durfte ihre Tochter Annemarie sie begleiten. Joseph blieb bei den Tieren. Ihm gefiel das Gedränge auf dem Marktplatz nicht sonderlich. Für seine Schwester war es die Gelegenheit, ihre Freundinnen auch außerhalb der Schule zu treffen. Da ihre Alm abseits des Ortes lag, war es ihnen nicht erlaubt, die Bergmüllers zu besuchen.

Die Mutter war den ganzen Tag schon recht schweigsam gewesen. Selbst Annemarie, die stets etwas zu erzählen hatte, stocherte in ihrem Haferbrei.

»Ihr habt sicher schon gehört, dass es den Juden in Deutschland sehr schlecht ergeht. Dieser Hitler hasst sie und er will sie alle aus unserem Land vertreiben«, unterbrach Therese die Stille.

Joseph und Annemarie hatten beide bereits Geschichten darüber aufgeschnappt, dass angesehene Familien aus ihren Häusern gejagt und abtransportiert wurden.

»Ihr kennt ja auch die Familie Goldstein.«

Annemarie horchte auf, als sie den Namen hörte.

»Die die Bäckerei betreiben?«, fragte sie.

Therese nickte. »Diese Menschen haben mir sehr geholfen, seit euer Vater fort ist. Sie schenken uns auch manchmal Brot, wenn das Geld knapp ist. Jetzt haben sie große Angst, besonders um ihre Kinder.«

»Was hast du vor, Mutter?«, fragte Joseph.

»Hört gut zu. Was ich euch jetzt sage, dürft ihr niemandem verraten, auch nicht euren Freunden. Habt ihr verstanden?«

»Natürlich, Mutter«, sagte Annemarie.

»Ich möchte der Familie helfen. Wenn sie noch länger im Ort bleiben, dann kommt irgendwann die Gestapo und nimmt sie mit. Ich habe von schrecklichen Lagern gehört, wo sie hart arbeiten müssen, ohne Geld dafür zu bekommen. Man erzählt sich auch, dass dort viele Menschen sterben.«

»Aber was sollen wir tun? Wir haben doch selbst kaum etwas.«

»Joseph, wir haben genug. Es wird für alle reichen. Wir werden die Familie Goldstein bei uns unterbringen, bis dieser elende Krieg überstanden ist. So lange kann es nicht mehr dauern.«

»Wo willst du sie denn unterbringen? Und was ist, wenn die Polizei bei uns nachschaut?«

»Warum sollte sie? Wir sind Deutsche und haben keine Verbindung zu den Goldsteins.«

»Mutter, ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Annemarie schwieg. Sie dachte an Aaron, den Sohn der Goldsteins, mit dem sie seit einigen Monaten befreundet war. Vor zwei Wochen hatte er sie geküsst. Es war ihr erster Kuss gewesen und sie fand es nicht schlimm, dass es im hinteren Teil der Backstube passiert war. Nach dem Kuss wischte er ihr liebevoll das Mehl von der Wange. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob Aaron Jude war oder nicht. Es spielte keine Rolle in ihrer Freundschaft.

»Joseph, uns geht es gut und wir können helfen. Die Goldsteins sind so wundervolle Menschen. Wir dürfen sie doch nicht im Stich lassen.«

»Aber das ist gefährlich! Wir könnten alle ins Gefängnis kommen dafür oder …«

Therese unterbrach ihren Sohn: »Wir werden nicht ins Gefängnis kommen, weil wir vorsichtig sein werden. Hier oben sind wir sicher.«

»Bitte, Joseph, lass uns den Goldsteins helfen«, bat Annemarie mit sanfter Stimme.

»Jetzt fängst du auch noch damit an«, entgegnete Joseph patzig und warf ihr einen drohenden Blick zu.

»Joseph, lass deine Schwester in Ruhe.«

Sollte Annemarie ihrer Familie sagen, dass sie mit Aaron befreundet war? Bis jetzt hatte sie das niemandem erzählt, nicht einmal ihrer besten Freundin.

»Ich meine ja nur, dass wir helfen sollten. Wir sind doch Christen und wir müssen anderen Menschen in der Not beistehen. So sagt es doch der Priester jeden Sonntag in der Kirche.«

Die Mutter stand auf und umarmte Annemarie.

»Danke, meine Liebe.«

Dann schaute sie ihren Sohn an, der mit grimmigem Blick auf seinen Teller starrte.

»Joseph, wenn wir das machen, müssen wir alle zusammenhalten.«

Kapitel 3

1999

Julia lag auf dem Rücken und lauschte Sebastians gleichmäßigen Atemzügen. Dieser schlief seit Stunden seelenruhig, während sie vor lauter Grübeleien nicht zum Schlafen kam. Immer wieder ging ihr Elisabeths Horoskop durch den Kopf. War sie glücklich mit ihrem Leben? Bewies nicht schon das Nachdenken darüber, dass sie an ihrer Zufriedenheit zweifelte? Am nächsten Morgen war sie wie erschlagen vor Müdigkeit und ihr Kopf rächte sich für die Cocktails vom Vorabend. Es fühlte sich an, als klemmte er in einer Schraubzwinge.

Sie drehte ihre Lieblingskaffeetasse in den Händen. Die Mischung aus Koffein und der Aspirintablette davor würde hoffentlich bald wirken.

»Findest du, ich sollte mich verändern?«, fragte sie Sebastian, während der gerade in sein mit einer dicken Scheibe Leberkäse belegtes Frühstücksbrötchen biss. Schon beim Gedanken an feste Nahrung schmerzte ihr Magen.

»Was meinst du damit? Willst du zum Friseur?«, entgegnete er schmatzend.

Julia unterdrückte den aufsteigenden Ärger über sein Benehmen und schaute aus dem Fenster.

»Nein, nicht äußerlich, sondern beruflich.«

»Aber du hast doch Arbeit. Frau Permoser ist so froh, dich zu haben. Vielleicht kannst du ja auch eines Tages ihren Laden übernehmen.«

»Du glaubst allen Ernstes, dass ich für den Rest meines Lebens Verkäuferin sein möchte?«

Sebastian starrte sie an und schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Meine Mutter arbeitet doch auch in dem Beruf und sie ist nicht unglücklich.«

Genau, glücklich ist sie. So glücklich, dass sie jeden Tag zur Schnapsflasche greift, dachte Julia, aber sie behielt den Gedanken für sich. Sebastian würde das ohnehin abstreiten.

»Sie hatte ja auch kaum eine andere Wahl, als ihre Kinder aus dem Haus waren. Für eine Ausbildung war sie damals schon zu alt«, konterte Julia und nippte an ihrem Kaffee.

»Manche Menschen sind halt Ärzte und andere Verkäufer. Was ist daran so verwerflich? Woher kommen denn auf einmal diese neuen Ambitionen?«

Julia bekam einen Hustenanfall und knallte die Tasse auf den Tisch. Sebastian zuckte zusammen.

»Was ist denn …«

»Ambitionen?«, unterbrach sie ihn. »Die habe ich schon immer gehabt. Du kanntest mich damals noch nicht, als meine Mutter gesund war. Fotografin wollte ich werden. Doch bevor ich mich nach einem Ausbildungsplatz umschauen konnte, wurde sie krank. Den Rest der Geschichte kennst du ja. Meinen Vater hat es nicht im Geringsten interessiert, ob ich meine Träume verwirkliche oder nicht. Ihm war nur wichtig, dass er nicht alleine mit meiner Mutter war.«

Julia redete sich in Rage. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten und ballte die Fäuste. Sebastian stand auf und zog sie vom Stuhl hoch. Dann umarmte er sie fest.

»Es tut mir leid, Schatz. Ich weiß ja, wie schwer diese Zeit für dich war.«

Seine Berührung wurde ihr fast zu viel, aber sie war froh, dass er endlich einmal Einsicht zeigte und widerstand dem Gefühl, die Umarmung zu lockern. Wieder kam ihr Elisabeths Horoskop in den Sinn.

Sie würde das Thema jetzt nicht weiter vertiefen. Sie nahm sich jedoch vor, sich im Internet über Ausbildungsmöglichkeiten zu informieren. Ob sie dann den Mut hatte, eine Bewerbung abzuschicken, stand auf einem anderen Blatt.

Julia schaute aus dem Fenster von Frau Permosers Laden auf die belebte Einkaufsstraße. Kaum ein Kunde ließ sich heute in dem kleinen und von außen eher unscheinbaren Geschäft blicken. Franzl hatte sich hinter dem Verkaufstresen zusammengerollt und schlief.

»Fräulein Julia, Sie sind heute so blass. Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Frau Permoser.

Julia mochte ihre Arbeitgeberin, die schon im Rentenalter war. Sie hatte vier Kinder, jedoch lebten diese in der ganzen Welt verstreut und hatten kein Interesse an einem Laden, der mehr Mühe forderte, als er Geld einbrachte. Frau Permoser wollte ihren Lebensinhalt noch nicht aufgeben. Daher stand sie weiterhin jeden Tag mit im Geschäft.

»Was soll ich denn zu Hause? Da gehen mein Herbert und ich uns nur auf die Nerven«, pflegte sie zu sagen.

»Nein, nein, Frau Permoser, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur schlecht geschlafen heute Nacht.«

In der Mittagspause setzte sich Julia in ihr Lieblingscafé. Sie hatte Glück und ergatterte einen freien Tisch auf der Terrasse.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen, junge Dame?«

Julia blickte von ihrer Kartoffelsuppe auf und hätte vor Schreck beinahe auf den Löffel gebissen. Du meine Güte, das gibt es doch nicht. Ist das etwa …?

»Ich war den ganzen Tag in der Sonne unterwegs und brauche ein schattiges Plätzchen und eine Erfrischung. Ich störe Sie doch hoffentlich nicht?«

Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Alles in Ordnung? Soll ich mich doch woanders hinsetzen?«

Julia schüttelte erneut den Kopf. Der Mann musste sie mittlerweile für eine komplette Idiotin halten, aber falls das der Fall war, ließ er sich nichts davon anmerken. Mit einem tiefen Seufzer stellte er seine stattliche Kameratasche auf den Boden und setzte sich ihr gegenüber. Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dabei lächelte er sie an.

»Interessieren Sie sich für Fotografie?«

Julia nickte und räusperte sich umständlich.

»Ja, sehr. Ich … ich wollte auch mal Fotografin werden. Früher, als ich noch jünger war.«

»Das kann ja nicht allzu lange her sein«, antwortete er und zwinkerte ihr zu.

»Ich kenne Sie. Ihre Tierfotografien bewundere ich seit Jahren.«

»Oh, ich bin berühmt? Das wusste ich gar nicht. Darf ich mich trotzdem vorstellen? Mein Name ist Bernhard Trenkner.«

Herr Trenkner reichte Julia die Hand. Dabei verneigte er sich vor ihr.

»Ich habe etliche Bildbände von Ihnen daheim und Ihre Postkarten sammle ich auch.«

»Wir können uns auch gern duzen, wenn Sie mögen. Schließlich sind Sie ein Fan. Ich bin Bernhard. Und wie heißt du?«

»Julia.«

Plötzlich war ihre Scheu wie weggeblasen. Die Gelegenheit, mit einem professionellen Fotografen zu sprechen, würde sie so bald nicht mehr bekommen. Bernhard war so nett, sich nicht anmerken zu lassen, falls ihn ihre Fragerei nervte.

»Warum bist du denn nicht Fotografin geworden?«, fragte er. »Du scheinst dich sehr dafür zu interessieren und arbeitest stattdessen als Verkäuferin.«

Julia schaute betreten in die Suppenschüssel.

»Tut mir leid, das geht mich nichts an. Ich wollte nicht so persönlich werden.«

»Nein, schon gut. Du hast ja recht. Aber ich möchte darüber nicht reden.«

Bernhard lenkte das Thema wieder auf die Fotografie und zeigte ihr ein paar der neuesten Bilder auf seiner Kamera. Sie erkannte die grasenden Haflinger auf dem Wankplateau, Murnau-Werdenfelser Kühe auf einer saftigen Weide, eine Schar Hühner, die eifrig Körner vom Boden pickten. Die reinste bayrische Idylle hatte Bernhard mit seinen Fotografien eingefangen.

»Findest du es zu kitschig? Ich arbeite nämlich gerade an einem Bildband über die Zugspitzregion, ihre Bewohner und vor allem ihre Haustiere.«

»Nein, es ist gar nicht kitschig, es ist wundervoll. Du hast das Landleben wirklich gut festgehalten, Bernhard. Du solltest mal auf der Alm meines Großvaters vorbeikommen. Er hat sicher nichts dagegen, wenn du dort fotografierst.«

Er lächelte und legte seine Hand auf ihre. Julia zog langsam ihre Hand zurück.

»Entschuldige, das ging zu weit. Es ist nur, dass du mir so vertraut vorkommst. So, als ob wir uns schon mal irgendwo begegnet wären. Kennst du sowas?«

Julia griff nach ihrer Handtasche und Franzls Leine und stand auf.

»Ich glaube, ich muss jetzt los. Meine Chefin wartet sicher schon auf mich.«

»Schade. Können wir uns nicht mal wiedersehen? Lass uns doch eine Fototour machen und ich bringe dir ein bisschen was bei. Hier ist meine Karte.«

Sie nahm die Visitenkarte und drehte sie hin und her. Warum eigentlich nicht? Ich könnte so viel lernen. Diese Chance bekomme ich nicht gleich wieder.

»Ich melde mich bei dir«, sagte Julia und steckte die Karte in ihre Handtasche. Auf dem Rückweg ließ sie die Begegnung Revue passieren. Eine Fototour mit einem Profifotografen, das klang verlockend. Es war ja keine romantische Verabredung, eher ein Arbeitstreffen. Sie würde Sebastian trotzdem erst einmal nichts davon erzählen. Er interessierte sich nicht sonderlich für ihr Hobby. Aber Elisabeth, der musste sie ausführlich darüber berichten, gleich nach Arbeitsschluss. Sie konnte es kaum erwarten.

***

Toni wälzte sich hin und her, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Am liebsten hätte er die Geige ausgepackt und gespielt, doch dann wäre er von seinem Vermieter, einem verschlossenen und eigenbrötlerischen Junggesellen, endgültig hinausgeworfen worden. Es gab sowieso bereits Streit wegen seines Übens oder Gekratze, wie es der Vermieter nannte. Schon allein deshalb übte er meistens auf der Alm, wenn die letzten Wanderer die Hütte verlassen hatten. Nur vor Joseph hatte er keine Hemmungen. Dieser beurteilte ihn nicht, sondern saß still und mit geschlossenen Augen auf der Bank und lauschte der Musik. Toni wusste jedoch nie, ob er ihm wirklich zuhörte oder in Gedanken versunken war. Da er keinen Wert auf Applaus legte, war ihm das nicht wichtig. Im Gegenteil, er fand es unangenehm, wenn seine Mutter an Feiertagen von ihm forderte, vor der ganzen Familie aufzuspielen. Bach verstanden die meisten nicht, es war ihnen zu kompliziert. »Spiel doch mal was Schönes«, hieß es dann.

Die Schlaflosigkeit brachte zu viele Gedanken hervor, Erinnerungen, aber auch Zukunftsängste. Und dann war da noch Julia. Was war nur los mit ihm? Warum ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf? Er sah sie wieder vor sich, wie sie verschwitzt und atemlos vor ihm stand. Er hatte Franzl unsanft gepackt und sie angemotzt. Jetzt tat ihm das leid, aber in dem Moment war er einfach nur wütend gewesen. Er mochte den Hund, auch wenn er nicht gut erzogen war und jedes Mal die Kühe und vor allem die Kälber erschreckte. Das musste Julia doch verstehen. Sollte er ihr vielleicht seine Hilfe bei der Hundeerziehung anbieten?

Seufzend stand Toni auf und setzte sich an den winzigen Esstisch in der Küche. Er rieb sich die Augen. Wie würde er heute nur durch den Tag kommen? Aber er brachte es nicht übers Herz, Joseph im Stich zu lassen. Der alte Mann schaffte die Arbeit alleine nicht mehr. Toni hatte in den letzten Wochen immer wieder das Gefühl, dass der Alte ihm etwas verschwieg. Es war ein heißer Sommer, da merkte auch er, dass der Arbeitseifer nachließ. Bei Joseph aber war es noch etwas anderes. Sollte er ihn heute darauf ansprechen?

***

Frau Permoser hatte Julia eher in den Feierabend entlassen.

»Du bist heute irgendwie nicht bei der Sache, mein Kind. Schlaf dich mal richtig aus.«

Julia nickte und murmelte etwas von einer aufziehenden Erkältung. Nun eilte sie durch die Fußgängerzone, um zu Elisabeths Laden zu kommen. Sie musste ihr unbedingt von ihrer Begegnung mit dem Fotografen, mit Bernhard, erzählen. Sie hatte sich im Nachhinein geärgert, Hals über Kopf aus dem Café geflüchtet zu sein. Er hatte sich nichts bei der Berührung gedacht, es war eine nette Geste gewesen, weiter nichts. Zum Glück hatte sie seine Telefonnummer. Das war die Gelegenheit, ein paar Tipps direkt vom Profi zu bekommen.

Als Julia die Tür zu Elisabeths Laden öffnete, saß diese auf dem Boden inmitten mehrerer Haufen bunter Stoffe und strahlte über das ganze Gesicht.

»Was ist denn hier los?«, fragte Julia verdutzt. »Hat dich jemand überfallen?«

»Du wirst es nicht glauben! Ich habe gerade einen Auftrag bekommen, einen richtig großen Auftrag.«

»Hey, das ist ja super! Was ist es denn?«

»Diese Trachtengruppe aus Garmisch, die, die auch immer beim Oktoberfest auftritt, braucht neue Outfits. Dirndl und Lederhosen, sogar passende bestickte Stofftaschentücher und Halstücher. Ich werde in Arbeit ersticken. Ist das nicht wunderbar?«

Elisabeth sprang jauchzend auf und umarmte Julia stürmisch. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr.

»Was machst du denn überhaupt schon hier? Musst du denn gar nicht arbeiten?«, fragte Elisabeth.

»Frau Permoser hat mich heute eher gehen lassen. Ich muss dir etwas erzählen.«

»Sag bloß, du hast auch gute Neuigkeiten. Hast du im Lotto gewonnen, hat dir Frau Permoser ihr Geschäft vererbt, bist du deinem Traumprinzen begegnet…?«

Elisabeth schnappte nach Luft.

»Du spinnst, Elisabeth, wirklich. Ich habe doch Sebastian.«

»Pfff…«

»Nein, ich bin heute einer Berühmtheit begegnet. Bernhard …«

»Bernhard? Welcher berühmte Mensch heißt denn bitte Bernhard?«

Julia verdrehte die Augen. Der wichtige Auftrag war Elisabeth bereits zu Kopf gestiegen, aber sie würde sich von ihrem Sarkasmus nicht die Laune verderben lassen.

»Bernhard Trenkner.«

»Wer ist Bernhard Trenkner? Modedesigner kann er jedenfalls nicht sein. Das würde ich wissen.«

»Er ist Tier- und Landschaftsfotograf, ein sehr bekannter in Bayern. Verstehst du? Ein Fotograf! Und er möchte sich mit mir treffen. Also zum Fotografieren natürlich.«

»Natürlich«, sagte Elisabeth und zwinkerte ihrer Freundin verschwörerisch zu.

Julia konnte es sich gerade noch verkneifen, erneut die Augen zu verdrehen. Ihre Freundin war heute wirklich zu albern.

Nachdem sie mit Elisabeth eine Flasche Sekt geköpft hatte, schlenderte Julia nach Hause. Sie verspürte ein verräterisches Pochen im Kopf. Ich hätte bei der Hitze nicht so viel trinken sollen, dachte sie und blieb stehen. Wie immer schaute sie sich die Auslagen im einzigen Fotogeschäft der Stadt an. Die Auswahl war nicht sonderlich groß, aber ein Objektiv hatte es ihr angetan. Sie träumte schon lange davon, es zu besitzen, aber ihr bescheidenes Gehalt als Verkäuferin gab das nicht her. Mehrere Tausend Euro kostete es. Sie würde noch eine Weile träumen und sparen müssen.

In der Spiegelung der Scheibe sah sie jemanden aus dem Haus hinter ihr kommen, aus der Praxis von Dr. Hofreuther. Der Mann kam ihr bekannt vor. Sie drehte sich um. Es war ihr Großvater. Er hatte sie nicht bemerkt und wandte sich nach rechts. Julia folgte ihm. Nach fünfzig Metern bog er in den Goldenen Hirsch ein. Für sein erstes Bier ist das aber recht zeitig, dachte sie. Vor dem Wirtshaus blieb sie unschlüssig stehen. Sollte sie hineingehen oder nicht? Sie wollte nicht aufdringlich sein, aber ihre Sorge um ihn war größer. Was hatte er bei Dr. Hofreuther gewollt?

Die Gaststube war um diese Uhrzeit noch leer. Angenehm kühl war es hier drin. Julia schaute sich um. Ihr Großvater saß allein am hintersten Tisch. Der Wirt stellte ihm gerade ein Glas mit einer goldfarbenen Flüssigkeit hin. Whisky, um diese Zeit?

»Großvater, was machst du denn hier? Warst du beim Arzt?«

Erschrocken blickte Joseph sie an. Er war so blass. Das war ihr bei ihren letzten Besuchen gar nicht aufgefallen.

»Beim Arzt? Wie kommst du denn darauf?«

»Ich habe dich doch eben aus der Tür vom Hofreuther kommen sehen.«

»Ach so. Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Ich habe mir nur ein paar Pillen verschreiben lassen. Der Rücken macht mal wieder Probleme.«

»Soll ich das Rezept schnell einlösen gehen? Dann brauchst du nicht noch zur Apotheke.«

»Nein, lass mal. Ich mach das dann selbst. Musst du denn nicht arbeiten?«

Julia betrachtete ihren Großvater, während dieser langsam an seinem Whisky nippte.

»Nun schau mich nicht so vorwurfsvoll an. In meinem Alter darf man auch mal am frühen Nachmittag ein Gläschen trinken.«

»Ich mache mir nun mal Sorgen, Großvater. Du gehst doch sonst nie zum Arzt. Ist es denn so schlimm mit dem Rücken?«

»Komm du mal in mein Alter, Julia. Die Plackerei auf dem Hof ist halt anstrengend. Aber die Pillen werden mir schon helfen.«

Julia war sich nicht sicher, ob ihr Großvater die Wahrheit sagte. Sein Gesicht war recht fahl und wenn sie ihn genauer anschaute, wirkten auch seine Falten tiefer. Aber vielleicht bildete sie sich das alles nur ein. Oder lag es am schummrigen Licht in dem mit dunkelbraunem Holz vertäfelten Raum mit den kleinen Fenstern? Ihr Großvater hatte sie noch nie belogen. Sie nahm sich vor, demnächst mit Toni zu reden. Er würde ihren Großvater mehr unterstützen müssen. Und auch sie würde zukünftig häufiger auf der Alm vorbeischauen.

»Komm, wir gehen nach Hause, Großvater.«

***

Toni saß auf der Bank vor der Hütte und wartete auf Kundschaft. Joseph war bereits am Morgen in die Stadt aufgebrochen. Von Besorgungen hatte er gesprochen, aber Toni hatte gespürt, dass er ihm etwas vorenthielt. Er kannte den alten Mann schon so lange. Wenn er log, dann merkte man ihm das sofort an. Er wich Tonis Blick aus und redete leiser als gewöhnlich. Aber das ging ihn nichts an. Joseph war sein eigener Herr. Nur machte sich Toni langsam Sorgen, wo er blieb.

Die Sonne brannte heute wieder unerbittlich vom Himmel. Das war sicher auch der Grund, warum sich noch kein Wanderer hatte blicken lassen. Er hatte extra am Morgen eine deftige Suppe angesetzt, aber bei der Hitze würde er wohl darauf sitzen bleiben. Es kam fast nie vor, dass er Langeweile hatte, aber heute sehnte er sich beinahe Gesellschaft herbei. Er könnte natürlich auch die Zeit damit totschlagen, ein wenig zu üben.

Weit und breit war niemand zu sehen und er begann zu spielen. An der frischen Luft spielte es sich viel besser als in seinem beengten Zimmer oder dem staubigen Stall. Die Finger waren folgsam, die Töne perlten, er fühlte sich frei und glücklich. Das war auch ein Grund, warum er nie erwogen hatte, Musik zu studieren und Orchestermusiker zu werden. Da war man nicht frei. Der Dirigent gab den Takt an, andere bestimmten, welche Musik gespielt wurde. Nein, das war nichts für ihn. Geigenbauer, das war sein Berufswunsch. Wenn man die lange Lehrzeit hinter sich gebracht und das Glück hatte, eine Werkstatt zu erben oder gar selbst zu eröffnen, war man sein eigener Herr. Man konnte ein Instrument erschaffen, dass so klang, wie man es sich wünschte.

***

»Hörst du das, Großvater?«

Joseph antwortete nicht und blieb stehen.

»Was ist denn? Ist alles in Ordnung?«

Er wies mit dem Finger Richtung Alm. War das etwa Toni, der dort stand und eine wunderschöne Melodie auf der Geige spielte? Er spielte sogar richtig gut, soweit Julia das beurteilen konnte. Wie war das möglich? Sie hatte nie etwas davon mitbekommen. Wie hatte er das die ganze Zeit verheimlichen können?

»Wusstest du, dass er Geige spielt?«

Joseph nickte.

»Warum hast du mir denn nie etwas davon erzählt?«

»Ich habe ihm versprechen müssen, dass ich es dir nicht erzähle. Keine Ahnung, warum er so ein Geheimnis daraus macht.«

»Das verstehe ich nicht. Er spielt doch wunderbar.«

Julia hätte ewig dort stehen und ihm zuhören können. Schlagartig brach die Musik ab. Toni hatte sie bemerkt und packte eilig seine Geige in den Kasten. Dann verschwand er im Stall.

»Das war großartig. Seit wann spielst du denn?«, fragte sie.

Toni hatte ihr den Rücken zugedreht und stellte den Geigenkasten an die Wand.

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Warum machst du denn nichts aus deinem Talent und arbeitest stattdessen hier auf der Alm?«

»Vielleicht aus denselben Gründen wie du. Du stehst doch auch jeden Tag im Laden von der Permoser und hättest sicher mehr aus dir machen können.«

Julia drehte sich wortlos um und verließ den Stall. Toni war ein richtiger Holzklotz. Es war ihr unverständlich, wie er einem Instrument solch zarte Töne entlocken konnte. Sie verabschiedete sich rasch vom Großvater und trat den Heimweg an.

Julia tippte immer wieder Bernhards Nummer in ihr Handy ein, aber wagte dann doch nicht, ihn anzurufen. Ein Piepton kündigte eine eingehende Nachricht an, von Elisabeth, die ihr das neueste Horoskop mitteilte: Eine Chance klopft an die Tür. Du solltest sie nutzen. Es wird deine Karriere voranbringen. In deiner Partnerschaft steht Ärger an.

Wie aufbauend!

Prompt erschien die nächste Nachricht von Elisabeth: Hast du es gelesen? Ruf endlich Bernhard an. Vielleicht ist er deine Chance? Ich meine natürlich rein beruflich.

Ein zwinkerndes Smiley ergänzte die Nachricht. Julia seufzte. Ihre Freundin konnte es nicht lassen, Ratschläge zu erteilen.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und wählte Bernhards Nummer.

»Trenkner, hallo.«

»Äh, hallo, äh, ich …«

»Julia, bist du das?«

»Ja, tut mir leid, dass ich erst so …«

»Ich freue mich, dass du anrufst. Ich dachte schon, du hättest meine Visitenkarte verloren. Oder dich hätte der Mut verlassen.«

Wenn du wüsstest …

»So ähnlich. Aber jetzt rufe ich ja an.«

»Hast du diese Woche noch Zeit?«

Der hat es ja ziemlich eilig.

»Übermorgen habe ich meinen freien Tag.«

»Dann sollten wir uns treffen. Was meinst du?«

Nach dem Gespräch legte Julia das Handy mit zittrigen Fingern auf den Tisch. Sie fragte sich, ob es eine gute Idee war, sich mit einem fremden Mann zu verabreden und Sebastian nichts davon zu erzählen. Sie war keine Geheimniskrämerin, aber sie konnte sich seine Reaktion lebhaft vorstellen. Er hielt das Fotografieren für ein unnötiges und teures Hobby. Bei ihrem letzten Objektivkauf hatte er beim Anblick der Rechnung die Nase gerümpft. Außerdem wurde er ungeduldig, wenn sie bei gemeinsamen Spaziergängen stehenblieb, um Fotos zu schießen. Ihm konnte es nie schnell genug gehen, ans Ziel zu kommen. Für Julia war der Weg das Ziel. Es gab immer etwas zu entdecken.

Momentan war es nicht einfach, mit Sebastian zu reden. Er kam meist spät und abgekämpft von der Arbeit. Er war Dachdecker und die Auftragslage so gut, so dass er von einer Baustelle zur nächsten geschickt wurde. Wenn er tagelang auf Montage war, schrieben sie sich zwischendurch nur kurze Nachrichten. Selbst wenn er die Abende zu Hause verbrachte, aßen sie zusammen und dann ging er meist gleich zu Bett. Seit Wochen hatte es schon keine Zärtlichkeiten mehr zwischen ihnen gegeben. Julia hätte nie für möglich gehalten, wie einsam man sich in einer Beziehung fühlen konnte.

***

Toni saß auf seinem Lieblingsplatz, der Bank vor der Hütte. Die Kühe waren versorgt und er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Er würde die Nacht hier verbringen. Joseph hatte ihm für den Notfall eine Schlafgelegenheit in der an den Gastraum angrenzenden Kammer bereitgestellt.

»Na, Junge, bist du denn noch nicht müde?«, fragte Joseph und ließ sich seufzend neben ihm nieder.

Schweigend betrachteten die beiden die Aussicht von der Alm. Die Zugspitzgruppe strahlte im orangenen Licht der untergehenden Sonne. Alpenglühen nannte man das. Stille senkte sich über den Ort. Toni liebte diese friedliche Stimmung am Abend.

»Hör mal, Toni. Ich möchte mich ja nicht einmischen, aber du solltest etwas netter zu Julia sein. Sie mag dich. Und sie war wirklich begeistert von deinem Geigenspiel.«

Toni antwortete nicht. Er würde Joseph nicht sagen, dass er sie ebenfalls sehr gern hatte und sie gerade deswegen auf Abstand hielt.

»Ach, ihr jungen Leute, ihr macht es euch immer schwer. So, ich gehe jetzt mal schlafen. Wir sehen uns morgen Früh. Gute Nacht, Toni.«

Joseph klopfte ihm auf die Schulter und ging ins Haus.

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