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Das Lied des Mondes

Das Lied des Mondes · Romane

Ein wildes Mädchen taucht in einem abgelegenen Dorf auf. Ein Junge lehrt sie das Sprechen, doch ihre Vergangenheit birgt Geheimnisse.

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Meine Geschichte zeigt, wie blind wir alle für Individuen und deren Potentiale sind, wenn wir sie nach Geschlecht oder anderen Rollenklischees beurteilen. Manchmal mag in unserer vielfach noch patriarchal geprägten Welt die Vorstellung eines Gegenentwurfs tröstlich scheinen: Ein kraftvolles Matriarchat! Doch in meiner Gesichte zeigt sich, dass beide Extreme Auslaufmodelle sind und nur ein Miteinander im Bewusstsein aller Unterschiede uns weiterbringt. Dass es zwischen Männern und Frauen wie auch zwischen Eingesessenen und Fremden Vertrauen braucht, damit diese Kategorien keine Rolle mehr spielen, ist eine Grundaussage meines Romans. Auch wenn im Verlauf der Geschichte viele Verletzungen entstanden sind und Überlegene sich auf Kosten Unterlegener hervorgetan haben, reicht es nicht, den Spieß umzudrehen. Wahre Größe liegt darin, eine Machtposition nicht auszunutzen und die Mutigsten sind jene, die sich durch Nähe und Mitgefühl verletzlich machen. Mein Roman fragt auch danach, was einen in den Augen der Mitmenschen menschlich macht: Eine gemeinsame Sprache, die Kenntnis kultureller Traditionen, ein ähnlicher Umgang mit Emotionen oder doch die Fähigkeit zur Empathie? Welche Rolle spielen Eltern bei der Weitergabe solcher Werte? Die beiden verwaisten Helden stoßen auf ihrer abenteuerlichen Reise durch die Welt der Menschen und die der Hexen des Nordens auf Vorbilder und Gegenbilder und finden ihren eigenen Weg, erwachsen zu werden.

Über den/die Autor:in

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Luka Leben studierte Kunst und kommunikative Praxis an der Angewandten in Wien und Bildnerische Erziehung und Germanistik in Salzburg. In Salzburg promovierte sie auch im Bereich Visual Literacy. Sie ...

Prolog

Zwischen den Stämmen der Buchen huschte ein grauer Schatten hindurch. Das Lichtspiel der Morgendämmerung fiel in vielgliedrigen Flecken durch das junge Laub auf den moosigen Waldboden. Die Wölfin lief durch frischgrünen Farn parallel zu dem Pfad, den das Wild entlang des Bächleins ausgetreten hatte. Heute Nacht hatten die Tiere sich besonders in Acht genommen. Es war sehr still gewesen in ihrem Revier, nur die Nachtvögel hoch oben in den Kiefern hatten mit gelegentlichem Gurren und dumpfen Rufen ihren Hunger genährt.
Am Fuße eines felsigen Hangs verharrte die Wölfin und lauschte den sirrenden Flügelschlägen der Insekten und dem Wind in den hohen Zweigen, die den Tagesanbruch ankündigten und vernahm nichts Ungewöhnliches. Also schlüpfte sie zwischen zwei jungen Eichenstämmen hindurch, die wie Zwillinge einem Wurzelstock entsprossen, und duckte sich durch den Eingang ihrer Höhle in die warme, vertraute Dunkelheit.
Sie wurde erwartet: Fiepen und Rascheln, feuchte Schnauzen, kleine, schwarze, in der Dunkelheit geweitete Augen und dieser unverwechselbare Geruch - süßlich im Vergleich zu ihrem eigenen, milchig - der ihr nun seit beinahe zwei Monden vertraut geworden war. Ihre raue Zunge glitt über die kleinen Körper hinweg, die aus ihrem bangen Halbschlaf erwacht nach den weichen Stellen an ihrem Bauch suchten und bald leise saugende Geräusche von sich gaben. Müdigkeit legte sich über die Glieder der Wölfin.
Über einen der gekrümmten Rücken glitt ihre tastende Zunge besonders aufmerksam hinweg: Er schmeckte ein wenig anders, war so glatt wie ein vom Wasser geschliffener Stein im Flussbett und so milchweiß, dass er im Restlicht der Morgensonne schimmerte, die durch den Höhleneingang drang.
Es war nicht ihr erster Wurf, doch so ein Junges war noch nie dabei gewesen.
Sie erinnerte sich dunkel, dass es ihr aufgefallen war, als sie in der Abenddämmerung zur Höhle zurückkehrte, und es ganz alleine draußen im Moos gelegen hatte. Vielleicht hatte es früher als alle anderen angefangen zu kriechen - immerhin war es im Vergleich zu den anderen sehr groß und schwer - und hatte sich auf der Suche nach ihr nach Draußen verirrt. Oder ein Tier war in die Höhle eingedrungen und hatte es hinaus gezerrt, bevor es feststellte, dass die Beute doch zu groß war und das Muttertier jeden Moment zurückkehren konnte. - Ein Iltis oder Marder vielleicht. Doch das Junge war nicht verletzt gewesen. Ganz still und kalt war es im Moos gelegen und zuerst hatte sie gedacht, es wäre gestorben, wie schon viele andere Junge zuvor, die zu klein und schwach gewesen waren, um im Gedränge um die Zitzen genug Milch zu bekommen. Doch dann hatte sie es mit der Schnauze angestubst und gemerkt, dass es atmete. Auch das schnell flatternde Herz hatte sie unter der dünnen Haut gespürt. Also hatte sie es vorsichtig im Genick gepackt und wieder in die Höhle getragen, auch wenn sie tief drinnen in ihrem Wolgsgedächtnis, das sich von Generation zu Generation, von Rudel zu Rudel fortsetzte, zu wissen glaubte, dass es nicht lange leben würde. Spätestens im Winter würde es mit seiner dünnen Haut erfrieren.

Im nächsten Frühjahr aber war das Junge noch da. Als allerdings die anderen Welpen schon mit auf die Jagd gingen und sich frei im Rudel bewegten, hielt das kleine Weiße sich immer noch meistens in der Höhle auf. Es kroch und lief langsam und ungeschickt und suchte ganz besonders ihre Nähe und die der Geschwister - vor allem nachts, wenn seinen Rücken eine Gänsehaut überzog. Das Rudel hatte es nach anfänglichem Knurren, Winseln und Haaresträuben aufgenommen - anders als manches andere Junge, das krank gewesen war. Doch immerhin war sie schon länger Teil des Rudels als beinahe alle anderen. Das Rudel vertraute ihrem Instinkt, wenn es darum ging, eine sichere Höhle zu finden, im Winter Beutetiere aufzuspüren oder die Nähe der Wesen zu meiden, die manchmal, selten, in ihre Reviere eindrangen und den Tod mitbrachten. Es war ihr Junges. Sie hatte es aufgezogen, sie brachte ihm weiterhin Futter und wärmte es in der Nacht und auch, wenn sie dadurch ein wenig langsamer wurde und nicht jeden Beutezug anführte, durfte es bleiben.

Im Jahr darauf verließen die meisten Welpen des Wurfes, die nun gar keine Welpen mehr waren, das Rudel, um anderswo Anschluss zu finden. Das kleine Weiße blieb bei ihr und als sie erneut trächtig wurde und seine jüngeren Geschwister zur Welt kamen, trank es wieder von ihrer Milch und hütete die anderen Jungen, während sie zur Jagd ging. Aus diesem Wurf verlor sie Keines. Und als auch diese Welpen ausgewachsen waren, lief das kleine Weiße schnell neben ihnen durch den Wald und fing selbst kletternde, flatternde und schwimmende Tiere, klein und pelzig oder glattgeschuppt. Es hatte eine seltsame Art zu laufen und überragte dabei die anderen, auch wenn es im Schlaf zusammengerollt ganz kümmerlich aussah und immer noch sehr wenig Pelz hatte. Es hatte aber gelernt, trockenes Gras und Laub zu sammeln und sich damit ein Nest zu flechten, das es warmhielt, wie die Mäuse. Irgendwann war ihr der seltsame Geruch aufgefallen, obwohl es durch die ständige Nähe auch nach seinen Geschwistern roch. Er verriet ihr nicht das Übliche. Doch nun war sie sicher, dass es ein Weibchen war. Man erkannte es an der Art wie die jungen Rüden mit ihr spielten und auch daran, wie sie sich in die Büsche hockte, um Wasser zu lassen.

Einen weiteren Wurf später hatte das kleine Weibchen doch ein Fell angelegt, nicht überall, und auch kein richtiges Wolfsfell - das Fell roch streng nach dem Blut der Beutetiere. Doch immerhin es erlaubte dem Weibchen, häufiger die Höhle zu verlassen. Das Junge spielte nun auch wilder mit den anderen im Rudel und war nun nicht mehr das Schwächste und letzte im Rang, auch wenn es immer noch zart und nicht so schnell war, wie die anderen. Es konnte allerdings, wenn es wieder einmal still im Wald war und nur die Nachtvögel riefen, hinauf in die Bäume klettern, wie die lästig schimpfenden rotpelzigen Nager und die Eier aus ihren Nestern holen. Es konnte auch seltsame Laute von sich geben und die Beutetiere anlocken. Es hatte lange keine Klauen und Fangzähne gehabt, sodass die Wölfin ihm kleine Stückchen vom Fang hatte abreißen müssen, als wäre es erst wenige Monde alt, doch nun konnte es mit Hilfe von Steinen und Stöcken das Fleisch zerteilen und manchmal setzte es diese auch gegen die anderen Jungen und einmal sogar gegen einen Vielfraß ein, der eines der Geschwister aus der Höhle rauben wollte.
Es war ein seltsames Junges, doch es war der Wölfin vertraut geworden, vertrauter als je eines ihr gewesen war, denn alle hatten sie verlassen, sobald sie erwachsen waren und selbst Junge bekamen. Sie nahmen den Geruch eines anderen Rudels an und wurden ihr fremd.
Das kleine Weibchen blieb hingegen lange, so lange, bis ihr eines Tages eine spätsommerliche Brise verriet, dass es nun doch, nach all der Zeit, bald selbst in der Lage sein würde, Junge zu bekommen. Die Rüden aus ihrem eigenen Rudel interessierten sich nicht für sie. Zu seltsam war ihr Gang, zu fremdartig die Gestalt. Die Wölfin ahnte, dass es in einem anderen Rudel nicht anders sein würde. Doch eines Tages knurrte der Leitwolf das junge Weibchen an und ließ es nicht mehr von der Beute fressen und weil die Wölfin selbst inzwischen alt geworden war, das Fell um ihre Schnauze weiß, ihre Augen stumpf und ihr Geruchssinn schwach und sie ahnte, dass es der letzte Wurf gewesen war, der nun bald in die Fremde ziehen würde, da zog ihr Mutterherz sich zusammen und wurde schwer und verzagt.
Als es Zeit war, die andren Jungen aus der Höhle zu weisen, da schnappte sie auch nach den Beinen des jungen Weibchens, obwohl es immer wieder versuchte, zu ihr zurück zu kehren. Am Ende wusste sie sich nicht mehr zu helfen und biss es fest in den Knöchel, sodass rotes Blut die helle Haut hinunterlief.
Da verschwand das Weibchen zögerlich, hinkend und laut winselnd zwischen den Bäumen und die Wölfin lief in die andere Richtung davon, tief in die Dunkelheit des Waldes hinein. Sie ließ sich nieder, als ihre Beine sie nicht mehr trugen. Die Schnauze im feuchten Moos schlief sie schließlich ein.

Der Dieb

Ganz am Rande des Tals, wo der Wald wie ein dunkelgrün wogendes Meer zwischen den felsigen Erhebungen und den Ausläufern des Dorfes hindurchfloss, öffnete sich die Tür einer Hütte und warf durch das früh heraufgezogene Nachtblau einen goldenen Schimmer auf den reifig glitzernden Boden. Der Schattenriss einer zierlichen Gestalt tauchte im Türrahmen auf und verschmolz, die Tür hinter sich schließend, mit der Dunkelheit.
Der Junge zog die Schultern an und hauchte in seine Hände. Er hatte nicht daran gedacht, Handschuhe anzuziehen. Der Oktober hatte den Sommer endgültig vertrieben und dem herannahenden Winter eilig Tür und Tor geöffnet.
Der Junge trottete missmutig um das Haus herum und schlug den Weg zu den Ställen ein. Die Mutter hatte ihn gescholten, weil er angeblich schon an zwei Abenden diese Woche vergessen hatte, die Tür des Hühnerstalls zu verriegeln. Am Morgen hatte jeweils ein Huhn gefehlt. Zuerst die dicke Emma und dann die lange Hilde. Um die lange Hilde hatte seine kleine Schwester Lina am Morgen bittere Tränen geweint. Sie hatte Hilde mit dem schwarz-weiß gesprenkelten Federkleid als Küken in ihrer Schürze umhergetragen, weil sie sich kurz nach dem Schlüpfen im Drahtzaun verheddert und ein Bein verloren hatte. Lina hatte Hilde in ihrem Puppenhaus schlafen lassen und ihr sogar an ihrem Geburtstag ein Stück von ihrem Kuchen abgegeben. Und nun war Hilde mit Sicherheit tot und es war seine Schuld. Den ganzen Tag hatte Lina kein Wort mit ihm geredet und ihm nur schrecklich traurige und enttäuschte Blicke zugeworfen. Wäre sie zornig geworden und hätte ihn angeschrien, er hätte es leichter ertragen.

Die Mutter allerdings war böse geworden. Beim ersten Mal noch nicht, denn ein Fehler, sagte sie, könne jedem einmal passieren, doch nicht derselbe Fehler zweimal hintereinander. So etwas, sagte sie immer, geschehe nur dummen Leuten, oder solchen, denen nicht wichtig sei, was sie taten. Da sie alle ihre Kinder ausnahmslos für gescheit hielt, konnte das nur bedeuten, dass er zu letzteren Leuten zählte, von denen die Mutter jeden einzelnen mehr verachtete, als alle Dummen zusammen. "Tu etwas mit ganzem Herzen oder lass es sein.", sagte sie immer. "Auch das Schuheputzen, das Mehl sieben, das Unkraut jäten ist es Wert, getan zu werden, wenn man nur bei der Sache ist. Es ist immer eine Kunst, ganz bei der Sache zu sein."

Und weil die Mutter tatsächlich allermeistens ganz bei der Sache war und anders als die anderen Frauen im Dorf niemals einen Anlass fand, sich über die viele Arbeit zu beklagen, war es schwer, ihr zu widersprechen.
Ihm selbst fiel es zugegebenermaßen oft schwer, nicht während des Holz Hackens an die Dinge zu denken, die er gerade lieber täte: zum Beispiel mit dem Boot, das er im Frühjahr gebaut hatte, den Bach hinunter zu fahren bis zum großen See und vielleicht sogar darüber hinaus. Zu erkunden, wohin die vielen Flussläufe führten, die sich zwischen den Schilfwiesen verbargen, oder aber in der Tenne zu sitzen und eines der Bücher zu lesen, die der Pastor ihm alle paar Wochen aus der Stadt mitbrachte. Er war noch nie in der Stadt gewesen, genauso wenig wie Lina. Nur seine große Schwester Lova war einmal wegen einer Blinddarmentzündung eilig mit der Kutsche ins Krankenhaus gefahren worden und erst nach zwei Wochen mit einer seltsamen Ausdrucksweise, neuen Lieblingsspeisen und der unerträglichen Gewissheit zurückgekehrt, dass sie ihm nun nicht nur ein Lebensjahr, sondern ein ganzes neues Leben als Städterin voraushatte. Sie wolle einmal einen aus der Stadt heiraten, sagte sie. Oder Lehrerin werden, damit sie in der Stadt arbeiten könne. Hier am Land stinke es und zwar nicht wegen der Schweine und der dicken Ochsen, sondern wegen der Engstirnigkeit der Leute und der unerträglichen Langeweile - wie in einem alten Kasten, in dem seit Jahrzehnten kein frischer Wind den Mottenkugelgeruch vertriebe habe.

Die Mutter lachte darüber vergnügt und meinte, da sehe man einmal wieder, dass selbst so ein eitriger Blinddarm noch sein Gutes habe.
Er jedenfalls, dachte der Junge, während er die Hand nach der Tür zum Hühnerstall ausstreckte, er würde auch nicht hierbleiben und seinen Kopf verstauben und sein durstiges Entdecker-Herz verdorren lassen. So viel stand fest.

Als die Tür unter seinen Fingern nachgab, stolperte er überrascht nach hinten. Er hätte bei seinem neuen Boot geschworen, dass er sie verriegelt hatte, nachdem er die Hühner bei Sonnenuntergang in den Stall getrieben hatte. Er hatte es eigens zweimal überprüft und war sich dabei dumm und kindisch vorgekommen.

Als er sich gefangen hatte, durchzuckte ihn ein Verdacht und tatsächlich hörte er im nächsten Augenblick von Drinnen ein Gurren und Rascheln, das ihm verriet, dass die Hühner nicht alleine waren. Von einem Fuchs, der Türen öffnen konnte, hatte er noch nie etwas gehört und von einem Fuchs, der die Hühner nicht in helle Aufregung versetzte, sondern sie Gurren ließ, als würden sie damit rechnen, einen Nachschlag zu ihrem Abendmahl zu bekommen, noch weniger. Er bückte sich nach einem Stein, denn er wollte dem Dieb nicht mit bloßen Händen entgegentreten. Bestimmt war es jemand aus dem Dorf, auch wenn er sich niemanden vorstellen konnte, der sich die Blöße geben würde, bei einem Hühnerdiebstal ertappt zu werden. Immerhin kannte jeder jeden und alle Sünden wurden, kaum nennenswert durch die betreffenden Bibelstellen verschleiert, in der sonntäglichen Predigt des Pastors vor versammelter Gemeinde erörtert.

Doch bevor er sich aufrichten konnte, flog die Tür ihm ins Gesicht, ein knochiger Körper warf sich ihm entgegen und er stürzte und schlug sich den Kopf, sodass glühende Funken vor seinen Augen tanzten.
Bis er wieder klar sehen konnte und sich mit schmerzhaft pochendem Kopf aufgerappelt hatte, war der Dieb in der Nacht verschwunden und mit ihm: Ludmilla. Das entdeckte er erst, als er im Stall nach dem Rechten gesehen hatte. Verzagt schloss er die Tür. Kurz überlegte er, ob der Dieb zurückkehren würde und ob es lohnte, die Tür zuzunageln, doch so dreist und dumm, einen zweiten Versuch zu wagen, würde wohl niemand sein. Und so viele Hühner in so kurzer Zeit? Man könnte meinen, der Dieb wolle eine eigene Hühnerzucht beginnen!

Während er zum Haus zurücklief, spukten die Gesichter der Dorfbewohner durch seinen Kopf. Wer von ihnen konnte es gewesen sein? Groß war der Dieb nicht gewesen. - Zerknirscht musste er sich eingestehen, dass der Kerl, der ihn übermannt hatte, wohl kaum größer gewesen war, als er selbst. Das Überraschungsmoment war es gewesen, das ihm den Dieb hatte über den Kopf wachsen lassen. Es musste also wohl ein anderer Junge gewesen sein. Dann musste er den Dieb eigentlich gut kennen. Immerhin waren sie alle zusammen in die Volksschule gegangen. Selbst die Kinder der Ärmsten waren ein paar Jahre lang dort gewesen, weil der Pastor den Familien Mehl und ein paar schwere Säcke voller Nüsse und Obst dafür gab.

Er musste herausfinden, wer es gewesen war! Und wenn er den Dieb ausfindig machte, würde er drei ausgewachsene Hühner zurückfordern. Oder ein Zicklein oder Ferkel als Ausgleich. Darüber würde Lina sich freuen. Für heute musste er sich aber damit zufriedengeben, dass Lina ihn nicht mehr so fürchterlich enttäuscht anschauen würde. Gleich, wenn er in die Stube trat, und von dem Verhängnis berichtete, würde er ihr hoch und heilig versprechen, dass kein einziges weiteres Huhn dem Dieb zum Opfer fallen würde - und wenn er von nun an im Hühnerstall übernachten musste!

Komplizen

Das Heu unter seinem linken Ohr knisterte und raschelte laut, wenn er den Kopf ein wenig bewegte. Der betörende Duft der getrockneten Blumen und Kräuter hatte ihm am Anfang zugesetzt und er hatte die ersten

beiden Nächte nicht gut geschlafen, weil ihm davon schwindelig wurde und seltsame Träume ihn heimsuchten. Außerdem hatte Lina darauf bestanden, ihm bei seiner Nachtwache beizustehen. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie anfangs gedacht hatte, er hätte ihre Hilde durch seine Nachlässigkeit dem Fuchs in die Fänge geworfen. Er hatte protestiert: Die Nachtwache war wirklich nichts für siebenjährige Mädchen. Doch die Mutter gab nichts auf seine Einwände, dass es gefährlich werden könnte. Sie hatte nur gezwinkert und gemeint, vier Augen sähen mehr als zwei, wenn die Nacht lang sei, und kein Dieb aus dem Dorf würde es wagen, zusätzlich zum Hühnerdiebstahl auch noch einen Kinderraub zu begehen. Dann hatte sie einen Augenblick an die Decke gestarrt, wo ein Nachtfalter um die Petroleumlampe kreiste. Es müsse jemand sein, der sehr verzweifelt sei, hatte sie dann nachdenklich gesagt. In diesem Moment hatte der Nachtfalter sich zischend die Flügel am Licht verbrannt und war taumelnd herabgestürzt auf den Küchentisch.
Nun lag der Junge schon eine Woche auf der Lauer und Lina war es, trotz ihrer anfänglichen Begeisterung für die Spukgeschichten, die er für sie erfand, Leid geworden, draußen in der Kälte zu schlafen. Er hatte sich ganz ins Heu eingegraben und nur Augen und Nase lugten in der Dunkelheit aus seinem Versteck. Wenn er so im Heu lag, konnte er minutenlang vergessen, wo die raschelnden Halme aufhörte und sein Körper begann. Er versuchte sich sein Fleisch und seine Knochen vorzustellen, die Achsen seiner Arme und Beine, wie sie das Heu durchpflügten und manchmal kam ihm der Gedanke, dass er irgendwann einmal ganz ähnlich unter dem Gras liegen würde, dort am Friedhof hinter der Kirche und vielleicht auf das Leuten der großen Kirchenglocke lauschen, bis Besuch kam und für Abwechslung sorgte. Dann befiel ihn das schlechte Gewissen, weil er seinen Vater manchmal eine ganze Woche lang nicht besuchte, obwohl der Kirchhof nicht weit ab von seinem Schulweg lag. Doch wenn er ehrlich war, wusste er dem Vater nicht viel zu erzählen. Er hatte keine Ahnung, was ihn interessiert hatte und womit er ihm eine Freude machen konnte. Als er gestorben war, war er selbst noch sehr klein gewesen. Lina erinnerte sich überhaupt nicht an ihn und wenn sie manchmal über ihn sprach wie über einen guten Bekannten, dann hörte er die Worte der Mutter aus ihrem Mund nachhallen. Er war nicht sicher, ob ihn seine Erinnerung täuschte, aber er erkannte den Vater in den Worten der Mutter nicht wieder. Sicherlich traf Einiges zu, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass es wie bei einem Portrait war, von einem wenig talentierten Zeichner, der nur eine einzige Ansicht der Person von einer alten Zeichnung immer und immer wieder kopierte.
Er wusste, dass er solche Überlegungen, wie er sie im Heu anstellte, mit niemandem teilen konnte. Selbst Lova, mit der er früher über alles hatte sprechen können, war im letzten Jahr in Gedanken oft anderswo und wippte ungeduldig mit dem Fuß, wenn er sich an sie wandte. Oft leitete sie nach ein paar Sätzen das Gespräch geschickt auf ihre eigenen Probleme über, sodass ihm zunächst gar nicht auffiel, dass er kaum noch zu Wort kam. Erst, wenn das Gespräch beendet war, fühlte er, dass in seinem Inneren immer noch genauso viele Fragen in wilden Verrenkungen und Knoten durcheinanderlagen, wie zuvor. - Vielleicht sogar noch mehr.
Hier im Heu ließ es sich gut überlegen. Hier war viel Platz für seine Gedanken und er breitete sie in der Dunkelheit aus, wie ein Fischernetz. Dann untersuchte er es auf Löcher und lose enden und machte sich daran, es zu flicken und von Verkrustungen zu reinigen. Manchmal in den späten Nachtstunden fing sich etwas darin, dass er dann genau betrachten konnte. Irgendwann fielen ihm dann meist die Augen zu, was er allerdings gar nicht mehr merkte, weil der Unterschied im Finstern kaum festzustellen war. Nur durch einen Spalt zwischen den Balken unter dem First drang manchmal ein wenig Mondlicht herein, wenn es nicht bewölkt war und der Mond nicht zu tief stand. Sobald er die Dämmerung fahl hereinleuchten sah, machte er sich normalerweise mit klammen Knochen auf den Weg ins Haus, um noch eine Stunde auf der Ofenbank zu schlafen, bevor alle erwachten.

Doch diesmal war es anders: Kaum hatte er sich hingelegt, vernahm er vor der Tür eine Bewegung. Zuerst dachte er, weil das Geräusch so leise war, es könne sich um ein Reh handeln, dass sich bei Dämmerung noch einmal über die Wiese gewagt hatte, in der Hoffnung, in der Nähe des Hauses auf verstreutes Heu oder Gartenabfälle zu stoßen. Doch dann hörte er, dass es Schritte waren, die leise um die Tür schlichen. Er malte sich aus, wie er, sobald der Dieb die Tür öffnete, aufspringen und sich auf ihn werfen würde! Wie er vielleicht sogar zur Heugabel greifen würde, deren Standort er sich jedes Mal einprägte, bevor er seinen Wachtposten einnahm, um den Dieb in Schach zu halten, bis er einen guten Blick auf sein Gesicht erhascht haben würde! Vielleicht, wenn der Dieb sich wehrte, oder zum Angriff überging, würde er ihm sogar eine Tracht Prügel verpassen müssen.

Er kämpfte nicht oft und nicht gerne - nicht wie manche anderen Jungen am Pausenhof. Doch er hatte dem feisten Ove einmal einen Eckzahn ausgeschlagen, weil dieser seine Schwester am Heimweg in den gefrorenen Bach geschubst hatte. Den Schnee hatte an diesem Tag ein zwei Meilen langer leuchtend roter Faden aus Blut durchzogen - von der Stelle am Bach bis zu Oves Haus. Seither legte sich niemand mehr mit ihm oder seinen Schwestern an. Zum Glück war es nicht weit von ihrem Haus gewesen und Lova hatte sich nur einen Schnupfen geholt. Was die Mutter dazu gesagt hatte, hatte er nicht verstanden. Sie war nicht zu Oves Mutter gegangen und hatte ihn auch nicht gelobt für seine Heldentat, wo Ove doch ein Jahr älter und einen halben Kopf größer war als er. "Der Ove hat eben nicht gelernt, seine Gefühle richtig zu artikulieren", sagte sie. "Das kommt davon."
Nun also machte er sich unter dem Heu bebend zum Sprung bereit und die Stille, die einen Moment lang eintrat, spannte sich wie der Gummi einer Steinschleuder zwischen ihm und dem Dieb. Doch als er ganz genau hinhörte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass die Schritte sich entfernten. Schon waren sie nicht mehr zu hören. Da fuhr er hoch, riss die Tür auf und stürzte dem Dieb hinterher. Diesmal würde er ihn nicht davonkommen lassen!
- Doch sobald er die Gestalt erblickte, die im Mondlicht langsam davonschritt, hielt er inne. Er tat noch einen Schritt vor, um sich zu versichern, dass er richtig gesehen hatte, und stieß mit dem Fuß gegen etwas, dass scharrend verrutschte. Aus dem Augenwinkel erkannte er einen Weidenkorb, der auf dem Boden stand und der ihm nur allzu vertraut war: Und darin... Er schüttelte den Kopf.
"Mutter!", brüllte er, "Mutter!" Die Gestalt auf dem Weg zum Haus blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Er starrte dorthin, wo ihre Augen sein mussten, um irgendetwas darin zu lesen, was den Nebel der Verwirrung und des aufsteigenden Unmuts lüften würde, der sich hinter seiner Stirn ausbreitete. Was ging hier vor? Träumte er?

Da rief die Mutter leise und sanft seinen Namen und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie legte einen Finger an den Mund und winkte noch einmal. Er überlegte kurz, ob er den Korb mitnehmen sollte, in dem, wie er sah, als er aus dem Mondlicht trat, einige Eier, ein getrockneter Fisch, halb eingeschlagen in Butterpapier, und ein dicker Laib Brot lagen. Alles wirkte wie versteinert im fahlen, grauen Mondlicht und er fühlte sich, als hätte er von dieser steinernen Mahlzeit gegessen, so schwer lag ihm die Entdeckung im Bauch. Wie ein Traumwandler ging er der Mutter hinterher. Als sie ins Haus traten, in dem alles Dunkel war, zog die Mutter ihn zum Fenster, ohne das Nachtlicht anzumachen.

"Der Korb steht noch...", begann er. Doch die Mutter legte erneut den Finger an die Lippen und wisperte: "Warte hier".
Als er sich unwirsch zu ihr umwandte, schaute sie ihn eindringlich an: "Ich verspreche, ich beantworte deine Fragen später, solltest du dann noch welche haben." Sie strich ihm über den Kopf, wie sie es so oft getan hatte, als er noch klein war, und schwer in den Schlaf gefunden hatte, dann wandte sie sich lächelnd ab und ging leise in ihre Kammer.

Er stand am Fenster und starrte hinaus. Missmutig biss er sich auf die Lippen. In seinem Kopf schwirrte es, wie ein Schwarm Bienen und es fiel ihm schwer, viel schwerer als sonst, auf die Mutter zu hören.
Doch lange brauchte er nicht zu warten: Zuerst nahm er nur eine Bewegung wahr, dann erkannte er die Umrisse einer Gestalt. Etwas war seltsam: Erstens war sie vom Waldrand hergekommen, nicht aus der Richtung des Dorfes, und zweitens und das war die Hauptsache, ließen ihm ihre Bewegungen in ihrer Fremdheit eine Gänsehaut über den Rücken kriechen. Zuerst rannte die schmale Gestalt so schnell wie er keinen der Jungen aus seiner Schule je hatte rennen sehen, dann duckte sie sich ins Gras, kroch flink auf allen Vieren vorwärts, duckte sich noch tiefer und pirschte sich, die Hände ins halbhohe Gras gestützt, so langsam an den Korb heran, dass er die Bewegungen kaum noch erkennen konnte. Als ihr Gesicht beinahe den Korb berührte, hielt sie inne, als würde sie daran schnuppern. Dann klaubte die Gestalt blitzschnell die Eier aus dem Korb, zerrte an dem eingewickelten Fisch und ließ ihn gleich wieder fallen. Als das Papier sich löste, schnappte sie noch einmal nach dem Fisch und huschte geduckt in die Dunkelheit davon. Das Brot ließ der freche Dieb im Korb zurück.

Noch nie im Leben hatte er etwas so Seltsames beobachtet: Der Dieb war gar kein Dieb, sondern eine Diebin! Im Mondlicht hatte er die nackten, dünnen Beine und - wie er nachträglicher errötend feststellte, die kleinen, schimmernden Brüste, die zwischen Fetzen von struppigem Fell hervorblitzen, genau erkannt.

Geduld

In dieser Nacht schlief der Junge kaum und am nächsten Morgen beim Frühstück warf er der Mutter vor den Augen seiner staunenden Schwestern seine Fragen an den Kopf. Er würde nicht zur Schule gehen, bis sie ihm erklärte, wie sie darauf gekommen war, dem seltsamen Mädchen einen Korb mit Essen vor den Stall zu stellen, in dem er Wache hielt. - Und wozu?

Die Schwestern waren ebenso überrascht wie er, doch als die Mutter ihn geduldig darauf hinwies, dass sie ihm die Antwort auf seine Fragen schon vor seiner ersten Nachtwache gegeben hatte, nickte Lova, als wäre ihr das vollkommen klar gewesen. Zornig fuhr er seine Schwester an: "Tu doch nicht so, als würdest du immer alles verstehen! Kannst du mir vielleicht sagen, wozu ich Nacht um Nacht draußen gefroren habe, während Mutter die Diebin heimlich durchfüttert?"

Lova lief rot an und schaute hilfesuchend zur Mutter.
Die Mutter schaute ihren Sohn streng an: "Niemand hier stielt ein Huhn, wenn er nicht muss. Ich dachte, es täte dir gut, ein wenig darüber nachzudenken. Und überhaupt: So wie eure Kammer vom Geplapper der Mädchen jeden Abend überquillt, hörst du doch deine eigenen Gedanken nicht. Ich dachte, es würde nicht schaden, wenn du einmal ein wenig für dich wärst." Dann wurde ihr Blick milder. "Ich wusste ja auch nicht, wer unsere Hühner gestohlen hatte! Aber sobald ich sie gesehen hatte, hoffte ich, sie würde verstehen, dass wir es gut mit ihr meinen, und dass ihr euch vielleicht begegnen würdet, wenn das Schicksal es so wollte..." Sie schüttelte den Kopf. "Ich dachte, wenn ich euch gleich davon erzähle, legt ihr euch alle auf die Lauer nach eurem Phantom und so hohe Erwartungen würden noch dem mutigsten Geist das Lampenfieber in die Glieder jagen und ihn daran hindern, die Bühne des Geschehens zu betreten." Sie wandte den Blick von ihrem Sohn ab, legte die Hände flach auf den Tisch und strich das blau-weiß karierte Tischtuch glatt, dass ihn unter ihren Fingern plötzlich an ein Schachbrett erinnerte. "Vwerzeiht, dass ich euch etwas vorenthalten habe. Ihr kennt mich ja und könnt euch vorstellen, wie schwer es mir gefallen ist! Aber mir schien die Zeit noch nicht reif."

Den ganzen Tag lang berieten die Geschwister darüber, was nun geschehen sollte. Über die gestohlenen Hühner sprach niemand mehr. Vielleicht schämten sie sich alle ein wenig, dass sie diesem Mädchen, das der Junge in seinen Erzählungen immer wilder und heruntergekommener beschrieb, die paar Bissen Fleisch nicht gegönnt hatten. Sie rätselten viel darüber, woher dieses Mädchen gekommen sein mochte, wo sie wohnte und ob sie wohl eine Familie hatte. Lova war überzeugt, sie sei eine Landstreicherin. Lina hatte die Mutter beim Wort genommen und meinte, sie sei vielleicht ein Geist oder eine listige Waldfee, da sie immer nur nachts kam und den Erzählungen ihres Bruders zufolge gar so gruselig aussah mit ihrem Pelz und ihren hageren Beinen. Er selbst hatte eine andere Theorie. In den Büchern des Pastors hatte er gelesen, dass Forscher nicht einfach ihre Meinung kundtaten, nein, sie stellten Theorien auf. Seine Theorie war allerdings so gewagt, dass er lieber die Lippen zusammenkniff und den Mädchen das spekulieren überließ. - Ihn hatte das seltsame Mädchen am ehesten an ein Tier erinnert.

Es war deutlich zu sehen, dass Lina am liebsten eine Menge großer Holzkreuze aus den vom letzten Herbststurm herabgeworfenen Ästen gebaut und um das Haus aufgestellt hätte, um den Waldgeist, der ihr Angst machte, loszuwerden. Doch da sie den anderen in Mut und Tapferkeit in nichts nachstehen wollte und ihren Geschwistern der Sinn eher nach dem Gegenteil stand, schlug sie schließlich vor dem Geist eine Falle zu stellen: "Wir graben einfach ein Loch und decken es mit Zweigen zu und darauf stellen wir dann den Korb. Wenn sie erst in dem Loch sitzt, können wir überlegen, was wir mit ihr machen."

Lova belächelte die kleine Schwester und strich ihr über die erhitzte Stirn. Ihre Lippen waren ganz blau von den Trauben, die die Mutter ihnen zu ernten aufgetragen hatte. Sie wuchsen in dicken Büscheln an der Südseite der Hütte. Sie waren die einzigen im Dorf, die Trauben hatten, denn eigentlich war es in der Gegend, in der sie wohnten, viel zu kalt dafür. Doch die Mutter, die aus dem Süden stammte, hatte bei ihrer Hochzeit zwar nicht viele schöne Kleider oder teure Möbelstücke mitgebracht, dafür aber ein paar Stöckchen dieser Traube, die nun für ein bescheidenes Einkommen für die ganze Familie sorgten. Im Herbst wurden sie geerntet und entweder zu Saft oder Wein gepresst oder getrocknet, sodass die Rosinen dem ganzen Dorf den Winter über als Süße für Kuchen und andere Mehlspeisen dienen konnten. Die Mutter pflegte die Trauben hingebungsvoll, sodass sie besser trugen als sonst irgendein Obststock im ganzen Landkreis. Außerdem waren ihre Trauben so süß und prall, dass der Pastor, der als einziges schon weit herumgekommen war, nicht müde wurde, zu bezeugen, dass selbst in Italien, wo das Leben im Allgemeinen viel süßer war, keine besseren Trauben zu bekommen wären. Darum brachte die Mutter ihm immer die ersten Flaschen des schweren süßen Rotweins, den sie mit ihren drei Kindern kelterte. - Natürlich nur für die Messe!

Während also die drei Geschwister die Trauben ernteten, feilten sie weiter an ihren Plänen. Lova meinte spöttisch: " Wenn dein Geist tatsächlich ein Geist ist, dann kann er gewiss fliegen und schwupps - steigt er aus deiner Grube auf in den Himmel. Dann schaut er auf uns herunter und spuckt dir auf den Kopf." Diese Vorstellung war Lina noch unheimlicher als alles, was sie bisher gehört hatte. Sie wollte doch diejenige sein, die auf das unheimliche Wesen hinunterschaute.

Lova sah die geweiteten Augen ihrer Schwester. "Besser, wir versuchen uns mit dem Mädchen anzufreunden. Wenn es kein Geist ist, dann hat sie vielleicht etwas Interessantes zu erzählen. Würdest du dich denn gerne mit Leuten unterhalten, die dich in die Falle gelockt und in einem Erdloch schmachten haben lassen?"

Lina schüttelte den Kopf.
"Und wenn es doch ein Geist ist, umso besser: Geister will man sich ja nicht zu Feinden machen.", fügte Lova mit einem Anflug von Zweifel in der Stimme hinzu. Ganz geheuer war ihr dieses eigenartige Mädchen auch nicht.
Lova bestand also darauf, das nächste Mal eines ihrer Kleider und ein paar dicke Wollstrümpfe in den Korb zu legen, sodass das Mädchen sich angemessen anziehen konnte. Dass es im Alter ihres Bruders halb entblößt herumlaufen sollte, wenn es nicht gerade im Begriff war, ein Bad zu nehmen, war ihr offenbar unbehaglich. Zudem war es viel zu kalt, um halbnackt durch die Gegend zu laufen. Was für eine Mutter musste das Mädchen haben, wenn sie ihm das nicht gesagt hatte?
Da sie ohnehin noch die Trauben säubern und alles für das große Stampfen am folgenden Tag vorbereiten mussten, hatten sie keine Zeit, weitere Pläne in die Tat umzusetzen und befolgten daher Lovas Rat.
Nachdem die Mutter den Korb mit Lovas Kleidern, zwei weiteren Eiern und sogar einem Stück Schinken, den der Metzger ihr für eine Flasche Wein gegeben hatte, hinausgetragen hatte, versammelten die Geschwister sich vor dem Fenster.
"Mutter hat gesagt, wir alle drei wären zu viel!", stellte Lina nervös fest. "Du hast das Mädchen doch schon einmal gesehen. Jetzt sind wir an der Reihe!"

Dagegen konnte der Junge nichts einwenden, also ging er missmutig in die Kammer und lauschte auf das Flüstern der Mädchen. Er wartete und wartete, doch die Schwestern ließen weder etwas vernehmen, noch kehrten sie in die Kammer zurück.

Als er vom ersten Morgenlicht erwachte, war das große Bett, in dem die Schwestern normalerweise schliefen, leer. Hatte der Geist sie etwa erwischt? Er sprang auf und lief im Nachthemd in die Stube. Dort lagen die beiden Mädchen am Boden vor dem Fenster. Lovas rotbraune und Linas blonde Haare, die ausnahmsweise nicht über Nacht zu Zöpfen geflochten worden waren, flossen wie hingegossenes Kupfer und Gold ineinander. Sie waren bei der Nachtwache eingeschlafen. Leise machte er Feuer und wärmte eine Kanne Milch für das Frühstück. Als Lova gähnend erwachte und sich verwundert umblickte, lächelte er sie an und hielt ihr eine Tasse dampfender Milch entgegen.

"Sie ist nicht gekommen.", murmelte Lova enttäuscht. Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür und die Mutter trat mit dem Korb in der Hand herein. Ihre Fingerknöchel und ihre Nase waren rot von der Kälte und sie beeilte sich, die Tür schnell wieder hinter sich zu schließen. "Ich fürchte, lange wird es nicht mehr dauern, bis zum ersten Schnee.", sagte sie. Der Geruch liegt schon in der Luft." Ihre Stimme klang besorgt und der Junge ahnte, dass sie dabei an das Mädchen dachte. "Aber immerhin", sagte sie, "hat sie Dank Lova jetzt warme Strümpfe." Sie lächelte ihrer älteren Tochter zu.

Das Kleid lag steif gefroren immer noch im Korb, doch die Eier und der Schinken waren mit den Strümpfen verschwunden.
Der Junge biss sich auf die Zunge und verkniff es sich, sich über seine Schwestern lustig zu machen, weil sie es nicht geschafft hatten, die Augen offen zu halten, bis das Mädchen gekommen war. Vielleicht hatte sie gespürt, dass etwas anders war und gezögert, ob sie kommen sollte. Schließlich hatte der Hunger sie aber wohl doch aus ihrem Versteck getrieben.

"Warum sie wohl das Kleid nicht haben wollte?", fragte Lova sich. "Meint ihr, es hat ihr nicht gefallen - oder nicht gepasst?"
Die Mutter wiegte den Kopf und schaute plötzlich dem Jungen direkt in die Augen, als wollte sie sagen: Was meinst du? Hast du denselben Verdacht wie ich?

Der Junge nickte fast unmerklich. Dann sagte er: "Vielleicht weiß sie nicht, was sie damit anfangen soll."
Lina und Lova schauten ihn entgeistert an. Wie konnte ein Mädchen im Alter von zwölf, dreizehn oder gar vierzehn Jahren nicht wissen, was ein Kleid war? Dass es sich um ein übernatürliches Wesen mit einem Spektralleib handeln konnte, war wohl für beide vom Tisch, da sich keines der Mädchen vorstellen konnte, dass ein Geist Wert auf ein paar Strümpfe legen würde. Wer hätte jemals von einem Geist gehört, der vor Kälte zitterte?

"Ich habe euch doch erzählt, dass sie sich ganz eigenartig bewegt hat - Wie ein Tier! Wie eine Katze vielleicht oder... " Er zögerte noch, auszusprechen, was er wirklich dachte, auch wenn er schon Geschichten gelesen hatte, in denen so etwas vorgekommen war.

"Na, jedenfalls schlage ich vor, es so zu machen wie mit Findur damals."

Findur war ein junger Fuchs gewesen, den sie - arg geschwächt und mit gebrochener Pfote - vor zwei Sommern in einer Falle des grausamen Gustavson gefunden hatten. Die Mutter hatte gemeint, da er kein richtiger Welpe mehr sei, würde der Fuchs sich niemals an sie gewöhnen und immer mit scheuem Blick und fahrigen Bewegungen an den Wänden der Scheune entlanglaufen, in die sie ihn gesperrt hatten. Tatsächlich war es so, dass er die Flucht ergreifen wollte, sobald das Fieber, das die Verletzung und das rostige Eisen mit sich gebracht hatten, gesunken war: Wenn einer von ihnen die Scheune betrat, keifte Findur oder er winselte erbärmlich und drückte sich in den dunklen Ecken herum. Doch als Lina und Lova schon längst aufgegeben hatten und ihren Bruder anflehten, den Fuchs einfach laufen zu lassen, auch wenn seine Pfote noch immer nicht ganz verheilt war, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Tag viele Male zu ihm zu gehen und ihm kleine Brocken Fleisch zu bringen. Er legte sich dazu auf den Boden, obwohl seine Mutter ihm davon abriet, da der Fuchs es sich auch einfallen lassen konnte, doch einmal zornig zu werden und ihn anzugreifen, und legte eine Spur von Fleischstückchen aus, die zu ihm hinführte. Der Fuchs biss ihn zwar nie, aber die letzten drei Fleischstücke holte er sich auch nicht. Er wollte einfach nicht näher als zehn Schritte weit an ihn herankommen. Doch an einem kalten Morgen, als der Junge vor der Schule in die Scheune kam, weil er von einem Alptraum geplagt früh erwacht war, schlief er noch einmal ein, während er so dalag. Als er vom Läuten der Mittagsglocken wach wurde, hatte er beinahe den ganzen Schultag verschlafen. Niemand hatte ihn geweckt, weil sie gedacht hatten, er wäre schon früher zur Schule aufgebrochen, wie er es manchmal tat, wenn er an der Reihe war, das Feuer im Klassenzimmer zu entfachen. Doch statt der Flammen loderte nun der rotgoldene Pelz des schlafenden Fuchses um sein Gesicht. Er wagte es nicht, sich zu rühren, sog nur selig den strengen Geruch des weichen Pelzes ein, während er still dalag und eine Träne über seine Wange herunterrollte. - Bestimmt, weil seine Augen noch schläfrig waren und die Kälte so beißend...

Die Schwestern schauten sich an. "Denkst du wirklich, dass das nötig ist?", fragte Lova. "Vielleicht hast du dich getäuscht und sie ist gar nicht so anders als wir." Beide Mädchen hatten wohl gehofft, vielleicht schon am morgigen Tag mit der Fremden sprechen zu können und wurden mutlos bei dem Gedanken, es könne ähnlich lange dauern wie bei dem Fuchs. Und ob es sich überhaupt lohnte, die Geduld aufzubringen, um ihrem Bruder bei der Zähmung zu helfen?
"Versuchen wir ihr doch zuerst einmal einen Brief zu schreiben. Vielleicht ist sie nur ein wenig scheu und hat schlechte Erfahrungen mit den Leuten gemacht. Laden wir sie fürs Erste einfach ein, anzuklopfen, wenn sie das nächste Mal kommt! Sie kann mit uns in der Stube essen, wenn sie essen will."

Der Junge schüttelte verzagt den Kopf. Doch bei sich dachte er, dass es zumindest nicht schaden könne, Lovas Idee in die Tat umzusetzen. Immerhin hätten sie, wenn sie auf die Einladung nicht reagierte, ein weiteres Indiz dafür, dass es sich nicht einfach um ein dahergelaufenes Mädchen aus dem Nachbardorf handelte.

In der nächsten Nacht legten sie also in den Korb statt der Eier und anderen Leckereien einen Brief. Der Junge fürchtete, das Mädchen würde vielleicht weiterziehen, wenn sie einmal nichts Essbares in dem Korb fände, doch die Mädchen wollten es zumindest einmal versuchen. Da Lina noch nicht richtig Schreiben konnte und Lova keine schöne Handschrift hatte, baten sie ihn, den Brief zu verfassen. Lina diktierte:

Liebe Unbekannte!
Wenn dir unser Essen schmeckt, bist du herzlich eingeladen, bei uns im Haus mit uns zu speisen. Bitte klopf einfach an die Tür, auch wenn es schon dunkel ist. Es macht nichts, wenn du uns weckst. Wir freuen uns über deinen Besuch.

Liebe Grüße!

PS: Heute gibt es Fleischklöße und Traubensaft und Rosinenbrötchen.

Am nächsten Morgen lag der Brief zu Linas großer Enttäuschung ungeöffnet und mit glitzerndem Raureif bedeckt im Korb. Dabei hatte sie sich so sehr ins Zeug gelegt, um dem Mädchen den Besuch schmackhaft zu machen. Sie warf einen traurigen Blick auf die Rosinenbrötchen, die sie auf einem großen Teller ausgelegt hatte, und auf die vier Gläser und Schälchen, die auf dem Küchentisch bereitstanden.

"Vielleicht ist sie gar nicht gekommen und hat den Brief nicht gesehen.", meinte Lova. Sie schlug vor, ihn noch eine weitere Nacht in den Korb zu legen.
Doch davon wollte der Junge nichts wissen: "Kommt nicht in Frage!", rief er. "Wenn sie wieder nichts findet, denkt sie, bei uns ist nichts mehr zu holen und kommt bestimmt nicht mehr zurück!"

Er wunderte sich selbst, wie verzweifelt ihn diese Vorstellung machte. Er kannte das Mädchen doch gar nicht. Wer war sie schon? Eine Diebin, mehr nicht. Und doch konnte er sich des heftigen Gefühls nicht erwehren, dass es ein schlimmer Fehler, ja ein triftiger Grund wäre, auf dem verworrenen Geflecht der Wege, die sich ihm im Leben darbieten würden, in die Irre zu gehen. Bisher hatte er noch nichts von den Dingen erlebt, die in seinen Büchern standen. Sein Leben war - einmal abgesehen von dem frühen Tod des Vaters - so ereignislos verlaufen, wie es nur sein konnte. Das Auftauchen der seltsamen Fremden war das erste und einzige in seinem Leben, das nach Abenteuer roch. Vielleicht war mit ihr endlich die lang ersehnte Möglichkeit in sein Leben getreten, aus dem schnöden Alltag auszubrechen. Völlig klar waren ihm diese Gefühle nicht, es waren eher schemenhafte Bilder und Vorahnungen einer Zukunft, die sich schillernd von dem öden, grauen Herbstnebel abhob.

"Wenn ihr ihr weiter Briefe schreiben wollt, bitteschön. Ich mache da nicht mehr mit." Mit finsterer Miene ging er hinaus, um Holz zu hacken.

Von nun an legten sie immer beides - Essen und den Brief, der zunehmen unansehnlicher wurde - in den Korb. Und sie machten es so, wie der Junge es vorgeschlagen hatte. Jeden Tag wanderte der gefüllte Korb etwas weiter den Pfad hinauf in Richtung der Hütte. Und in den meisten Nächten wartete der Junge so lange, bis er die huschende Gestalt sah, die mit über das Knie hinaufgezogenen Wollstrümpfen durch die Nacht schlich. Erst dann konnte er ruhig einschlafen. Und bevor ein Traum ihn entführte, sah er jedes Mal genauer ihre Züge vor sich: den wilden Blick der dunklen Augen, die scharfen Wangenknochen, das wilde Kinn und

das honigblond schimmernde Haar, das ihr in verfilzten Flechten bis zu den Waden herunterhing - und auch die Nacktheit, die er sich vergebens zu übersehen bemühte und die silbernen Atemwölkchen, die sie ausstieß. Er hoffte inständig, dass der Winter ihm nicht zuvorkommen würde.

Hunger

Als sie erwachte, war es draußen vor dem hohlen Baum ungewöhnlich hell. Gänsehaut breitete sich über ihren gesamten Körper aus. Vielleicht war sie früher als sonst erwacht? Sie streckte den Kopf ins Freie und sah, dass der Mond hoch stand und dass in der Ferne, zwischen den Bäumen hindurch das Feld hell schimmerte und im Mondlicht glänzte. Sie schnupperte nach etwas Essbarem, das sie vielleicht an einem der vergangenen Tage übriggelassen hatte, fand aber nichts als ein paar Eierschalen. Sie kaute auf den knirschenden Splittern herum und spuckte die Hälfte wieder aus, als sie ein Würgen überkam. Sie schlüpfte aus der Baumhöhle und rannte zu der Stelle, an der sonst immer leise gluckernd silbriges Wasser von einer Felswand troff. Das Wasser war klar, starr und hart und sie leckte daran, doch ließ es bald wieder sein. Also rannte sie weiter, auf das schimmernde Weiß zu, das sie jenseits des Waldrands erwartete. Sie hielt inne, schaute über das Feld, das weit und weiß vor ihr lag und keine Möglichkeit mehr bot, sich zu verstecken. Sie rannte los, Schnee stob von ihren Füßen auf und behinderte ihr Vorwärtskommen. Mitten im Feld ließ sie sich zu Boden fallen. Ihre Brust hob und senkte sich heftig. Es war eine klirrend kalte Nacht und Wolken stiegen von ihrem geöffneten Mund auf. Ihr Atem schmolz eine kleine Höhle in den Schnee, während sie zu den Behausungen hinüber starrte, die sie während des letzten Mondlaufs so oft aufgesucht hatte. Seltsame Tiere lebten darin: In dem einen lebten ein paar Gehörnte, die allerdings schon alt und wohl auch stumpfsinnig waren, weil sie tagsüber auf der Wiese grasten, ohne jemals ihre Witterung aufzunehmen. In der anderen Behausung lebten Gefiederte, die sie zuerst für krank gehalten hatte, weil sie nicht davonflogen, ja nicht einmal flatterten, als sie in ihr Nest eindrang und ein besonders fettes Exemplar am Hals packte, um ihm im nächsten Moment das Genick zu brechen. Ihre Nase hatte ihr verraten, dass sie nicht krank waren, sondern nur träge und dumm.
In der anderen Behausung lebten seltsame Tiere, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Wohl aber kannte sie ihren Geruch. Wenn jemand aus dem Rudel ihn aufgespürt hatte, hatten sie ihre Höhlen verlassen und waren weitergezogen, selbst, wenn sie dazu die Jungen in einen neuen Bau tragen mussten. Darum hatte sie lange gezögert, bis sie sich den Behausungen genähert hatte. Viele Nächte hatte sie mit knurrendem Magen am Waldrand gelegen und sie beobachtet. Sie hatte früh morgens gesehen, wie ein Junges die Gehörnten vor sich hertrieb. Vielleicht war es noch nicht erfahren genug oder zu verspielt, aber es trieb sie nur vorwärts, ohne jemals eines von ihnen zu erlegen. Auch die Gefiederten hatte sie gesehen, wie sie Körner aufpickten und Gurrten, als könne niemand ihnen etwas Zuleide tun. Dabei waren die seltsamen Tiere, die in der dritten Behausung wohnten, doch die gefährlichsten Tiere im ganzen Wald! Selbst vor den dicken, zottigen Einzelgängern, die trotz ihres Gewichts auf Bäume klettern konnten, was sie einmal fast das Leben gekostet hätte, hatte das Rudel sich nicht so sehr gefürchtet. Zudem konnte sie an ihren Augen erkennen, dass sie Raubtiere waren, wie sie selbst. Sie hatten keine Angstaugen, die seitlich am Kopf saßen und stets um sich spähten, um jene wie sie zu entdecken. Sie hatten Jäger-Augen und sie mussten starke Jäger sein, denn selbst die Jungtiere blickten so sorglos um sich, als wären sie nicht auf den Schutz der Älteren angewiesen.

Schließlich hatte sie es gewagt, ihr Versteck zu verlassen. Kein einziges Mal hatte sie Blut gewittert. Trotzdem wirkten die seltsamen Tiere nicht hungrig. Sie mussten viel Nahrung in ihren Behausungen gesammelt haben, so wie es die Nager taten. Vielleicht könnte sie ihnen, so wie sie schon viele Male die Nusslager der pelzigen Baumspringer geplündert hatte, auch ihre geheimen Vorräte finden. Nachdem sie ein paar Nächte lang ihren Hunger mit den einfältigen Gefiederten gestillt hatte, war sie beinahe über ein Futterlager gestolpert, dass die seltsamen Tiere für den Winter angelegt hatten. Sie hatte alles mitgenommen, was ihr essbar schien. Die Eier schmeckten seltsam und waren hart und weiß, nicht flüssig und klar, aber sie konnte sich daran gewöhnen. Am nächsten Tag hatten die seltsamen Tiere das Futter-Lager wieder gefüllt, ohne den Ort zu verändern. Wieder hatte sie genommen, was sie wollte. Auch die seltsamen Tiere schienen dumm zu sein, da sie die Nahrung wieder an dieselbe Stelle gebracht hatten. Das machte sie misstrauisch und sie nahm noch genauer Witterung auf. Einmal hatte einer ihrer Brüder eine große Portion Fett und frisches Fleisch gefunden, die mitten im Wald lag, als hätte einer der dicken Einzelgänger sie verloren. Als er sie packen wollte, waren scharfe Zähne aus dem Waldboden geschnappt und hatten seine Schnauze durchbohrt. Der junge Rüde war gestorben, bevor der Morgen anbrach, doch sein klägliches Geheul, das schließlich zu einem Wimmern erstarb, hatte sie noch viele Nächte lang im Schlaf gehört. Sie war vorsichtig. Und so kam es, dass sie bemerkte, dass im Nest der dicken Gefiederten eines der Jungen schlief. Zuerst dachte sie, es läge vielleicht auf der Lauer, doch es atmete so flach und regelmäßig, dass sie wusste, dass es sie auf keinen Fall bemerken würde. So ruhig und fest schlief es, dass sie sicher war, dass es nicht gekommen war, um ihr aufzulauern. Vielleicht war es zu alt geworden, um bei den anderen in der Behausung zu schlafen? Zudem war es das einzige Männchen. Beinahe war sie ein wenig neugierig geworden. Vielleicht würde sie einmal einen Blick auf das schlafende Junge wagen? Vielleicht konnte sie es sogar töten? Dann wäre sie die erste ihres Rudels, die das je gewagt hätte. Doch da es kein Beutetier war und es sie auch nicht angegriffen hatte, gab es dazu keinen Grund. So lauteten die Gesetze des Waldes. Die Jäger jagten jeder für sich und mieden es, einander zu begegnen. Nur, wenn einer einem in die Quere kam, musste entschieden werden, wer der stärkere war und das Revier behalten durfte. Das Revier der seltsamen Tiere konnte sie nicht erobern, auch wenn es schön gewesen wäre, all ihre Vorräte zu stehlen und eine Frostzeit lang nicht hungern zu müssen. Doch es waren zu viele. Sie war nur eine und es würde ihr nicht gelingen, das ganze Rudel zu vertreiben. Gerade als sie ernsthaft zu überlegen begann, ob sie trotzdem einmal einen Blick auf das männliche Junge wagen sollte, hörte es auf, im Nest der dummen Gefiederten zu schlafen. Vielleicht war es doch zu kalt geworden und das Rudel hatte das Junge wieder in ihrer Behausung aufgenommen. Kurz darauf fehlte die Nahrung im Lager und sie dachte schon, sie müsse wieder eines der dicken Gefiederten erlegen, doch dann entdeckte sie das Lager an anderer Stelle wieder. Nun schienen die seltsamen Tiere vorsichtiger geworden zu sein, denn sie errichteten die Lager immer näher an ihrer Behausung. Als sie gerade dabei war, die Eier der diesigen Nacht zu verzehren, überkam sie plötzlich ein Gedanke: Wozu legten sie überhaupt Lager außerhalb der Behausungen an? Die Behausungen waren groß genug und es war nicht wahrscheinlich, dass ein anderes Tier in sie eindringen würde. Höchstens stärkere Artgenossen konnten sie überfallen. Doch diese würden die Lager genauso finden wie sie!
Sie blieb den seltsamen Tieren eine Nacht lang fern, um zu überlegen. Sie handelten anders als alle Tiere, die sie kannte. Es fiel ihr schwer, sie zu verstehen. Doch wenn sie überlegte, was diesem Verhalten am nächsten kam, so fiel ihr nur ein, wie die Wolfsmütter aus ihrem Rudel mit kleinen Leckerbissen versuchten, die Welpen aus der Höhle zu locken, wenn es erstmals Zeit dafür war. Doch selbst diese würden niemals anderen Tieren etwas von ihrer Nahrung überlassen. War es möglich, dass diese seltsamen Wesen...?
Als sie in jener Nacht nahe genug an die Behausungen herangeschlichen war, um den Pfad zu erkennen, auf dem sie die Nahrungslager bisher gefunden hatte, blickte sie noch einmal über die Schulter zurück zum Wald, aus dem sie gekommen war. Ihre Spuren waren deutlich auf dem Feld zu erkennen. Falls die seltsamen Tiere bisher nicht gewusst hatten, woher derjenige kam, der Nacht für Nacht von ihrer Nahrung zehrte, dann würden sie es jetzt wissen. Sie könnten anhand der Spuren auch erraten, wie groß sie war und wie schwer und an der Art, wie sie angeordnet waren, ließ sich erkennen, ob sie krank war oder kräftig. Sie musste sich entscheiden. Denn wie sie bereits geahnt hatte, lagen die Eier und was sonst noch Gutes auf sie wartete, diesmal sehr nahe bei der Behausung. Ihr Magen knurrte laut und sie konnte nicht länger still stehen auf dem gefrorenen Boden. Sie huschte, in der Deckung einer der Behausungen vorwärts, schlich sich geduckt an die größte Behausung an und witterte angestrengt. Sie roch nichts, was sie nicht auch schon in den vergangenen Nächten gerochen hätte. Der Duft nach Süße und Fett, der von dem Lager herströmte, ließ ihr den Speichel im Mund zusammenlaufen. Sie tat vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Und dann entdeckte sie es: Dicht an dem Lager, im Schnee, waren Spuren.
Sie starrte sie an, ungläubig und verwirrt. Sie schaute zurück auf ihre eigenen Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hatte. Dann hob sie die Pfote, deren Sohle rau und kalt war. Der Pelz, den sie vor einem Mond gestohlen hatte, war bereits durchgewetzt. Sie setzte die Pfote in den älteren Abdruck im Schnee. Er passte! Plötzlich wusste sie, dass es das Junge gewesen war, das die Nahrung draußen ausgelegt hatte. Sie wusste, dass die Nahrung für sie bestimmt gewesen war und sie ahnte nun endlich auch, warum diese seltsamen Wesen ihr etwas von ihrer Nahrung überlassen hatten.
Erst in diesem Moment entdeckte sie, dass der Eingang zur Höhle der Tiere einen Spalt offen war. Sie blinzelte, doch konnte in der Dunkelheit, die in scharfem Kontrast zur Mondhelle draußen stand, nichts erkennen. Sie schnupperte unentschlossen an der fetten Süße, die ihren Kopf schwindlig machte und sie roch genau, dass es in der Höhle mehr davon gab, viel mehr. Zum ersten Mal berührte sie das Behältnis, in dem die Nahrung lag. Sie hob es auf und prüfte instinktiv, wie schnell sie damit würde rennen können. Dann schaute sie ein letztes Mal zum Wald zurück, ließ ihren Blick über die Sterne bis hin zum Mond wandern. Für sie war er noch viel wichtiger gewesen als für ihre Brüder und Schwestern, da sie sich in den langen Nächten nicht nur auf Augen und Nase verlassen konnte. So oft schon hatte der Mond ihr zwischen den dunkeln Stämmen die Richtung gewiesen hatte.
Dann ging sie in das silberne Mondlicht getaucht, auf den Eingang der Höhle zu.

Ein nächtlicher Gast

Er saß am Boden vor dem Holzofen, als sie in die Tür trat. Er hatte seinen Schwestern nichts von der Hoffnung erzählt, dass es heute Abend endlich so weit sein würde. Schon seit einer Weile waren leise Schlafgeräusche aus ihrer Kammer zu hören. Als er die Schritte draußen im Schnee hörte, versuchte er, seinen Herzschlag zu beruhigen. Nun kam es ganz auf ihn an. Wenn er nervös wurde, würde sie es spüren. Sie würde annehmen, er wolle ihr übel mitspielen und würde Reißaus nehmen und nie mehr zurückkommen. Er musste so erscheinen, als wäre er vollkommen überzeugt, dass sie beide sicher, er sicher bei ihr und sie sicher bei ihm war. Er versuchte sich vorzustellen, es wäre eine gute Freundin, auf die er wartete. Eine Freundin, mit der er seit Langem vertraut war. Doch als er ihre scharfe Kontur in der Tür erblickte, vom Mondlicht im Rücken umrissen, ging sein Atem doch ein wenig schneller. Er überlegte, welches Geräusch er von sich geben könnte, um ihr zu verraten, wo er sich befand. Nur lauernde Tiere sind vollkommen still. Während sie noch immer zögerte und wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entschied er sich für ein Gähnen, das ihm, in Anbetracht der späten Stunde nicht schwerfiel. Augenblicklich wandte sie ihm ihr Gesicht zu und ihre Glieder spannten sich. Er wartete noch einen Moment, wandte dann leicht den Kopf ab und griff nach einem der Rosinenbrötchen, die er auf der Ofenbank bereitgelegt hatte. Er brach es entzwei, während er sich ihrer aus dem Augenwinkel immer wieder vergewisserte. Dann biss er von der einen Hälfte des Rosinenbrötchens ab und streckte die Hand mit der anderen Hälfte in ihre Richtung. Noch immer stand sie gespannt da wie eine lauernde Katze und starrte ihn an. Er kaute und schmatzte absichtlich ein wenig. Sie kam nicht. Langsam wurde er doch nervös. Einen Augenblick lang war er sogar versucht, nach dem Buttermesser zu greifen, das neben den Rosinenbrötchen am Tisch lag. Nur für alle Fälle. Doch dann legte er stattdessen das Brötchen, das er in der Hand hielt, zu den anderen auf den Teller und zog sich zurück. Er ließ den Oberkörper hinab sinken und lag nun flach auf dem Rücken, Brust und Bauch ihr zugewandt. Sie musste wissen, dass er so keine Chance hatte, ihr etwas anzutun. Mehr noch: Er war ihr in diesem Moment hilflos ausgeliefert. Sie musste sich beispielsweise nur das Messer greifen und schon... Endlich: Sie tat einen ersten, gemessenen Schritt in den Raum. Sie tropfte auf den Stubenboden. Ihre Füße waren dunkel und sahen aus, wie die einer uralten Frau. Die Zehennägel waren eingerissen und schwarz, die Haut dick und verhornt. Trotzdem sah er, dass ihre Fesseln schlank waren, Füße mit hohem Gewölbe und langen Zehen. Der kleine Zeh am linken Fuß schien schon vor langer Zeit gebrochen, denn er stand in seltsamem Winkel ab. Knie und Arme waren von weißen Linien überzogen: Narben unterschiedlicher Form und unterschiedlichen Alters, die die Geschichte eines wilden Lebens erzählten. Um den Knöchel aber zeigte sich die schrecklichste Spur einer Wunde, die er je gesehen hatte. Die Haut war noch rotblau verfärbt - diese Narbe musste also frisch sein.

Auch der ausgemergelte, drahtige Körper dieses Mädchens erzählte ihm einiges. Sicher waren auch manche Mädchen in der Schule schmal, doch so eines hatte er noch nie gesehen. Sie hatte sehnig-muskulöse Arme wie die älteren Jungen und ihre Bauchmuskeln zeichneten sich unter der Haut deutlich ab. In diesem Moment war er sicher, dass sie noch nie im Leben in einem Federbett geschlafen, einen Geburtstagskuchen gegessen oder die Kerzen an einem Weihnachtsbaum angezündet hatte. Er war sicher, sie hatte noch nie ein Buch in Händen gehalten. Es waren keine Mädchenhände, wie er sie kannte, es waren die Hände einer Mörderin. Sie war es nicht, die sich in dieser eisigen Novembernacht fürchten musste. Sie alle konnten froh sein, dass sie anscheinend fürs Erste beschlossen hatte, sie nicht für eine Bedrohung zu halten.

Endlich hatte sie sich eines der Brötchen genommen und schlang es hinunter, indem sie große Stücke mit den Zähnen herausriss und sie schluckte ohne zu kauen. Währenddessen huschte der Blick ihrer dunklen Augen abwechselnd zu ihm und glitt über die Ofenbank, den Tisch, das Fenster und immer wieder die offene Tür hinweg. Sie hatte die Schultern hochgezogen und immer noch war ihr ganzer Körper gespannt, um beim kleinsten Anzeichen von Gefahr reagieren zu können. Nach dem dritten Rosinenbrötchen, dass sie hastig hinuntergeschlungen hatte, entwich ein tiefer Seufzer aus ihrer Kehle und er merkte, dass die Anspannung in ihrem Körper nachließ. Zu gerne würde er sie genauer betrachten können. Bis jetzt war doch alles gut gelaufen, sollte er den nächsten Schritt wagen? Er räusperte sich und sagte leise: "Ich werde jetzt das Licht einschalten, wenn du nichts dagegen hast."

Sie fuhr herum und starrte in seine Richtung. Er hörte, dass auch ihr Atem jetzt wieder schneller ging, konnte ihren Gesichtsausdruck in der Dunkelheit aber nicht erkennen. Ohne Licht würde er nicht weiterkommen. Also entzündete er das Streichholz. Ungewohnt laut zischte die Flamme als sie hochzüngelte und einige Meter Dunkelheit vertrieb. Er hörte einen Schreckenslaut, der kaum menschlich klang und im nächsten Moment traf ihn ein heftiger Schlag gegen die Schulter, der ihm das Streichholz aus der Hand schleuderte. Es fiel auf den Tisch, wo eine der Servietten sofort Feuer fing. Einen kurzen Moment lang blickte er verwirrt in das fremdartige Gesicht. So etwas hatte er noch nie gesehen: Es waren weniger ihre Züge als der Ausdruck, der ihn erschütterte. Dann war sie auch schon verschwunden.

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