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Totenkopf und Edelweiß - Annäherung an einen Unbekannten

Totenkopf und Edelweiß - Annäherung an einen Unbekannten · Sachbücher

SS – Nazi-Medizin – KZ Buchenwald – Tätowierungen – Drittes Reich – NS-Täter, nicht sensationsheischend, sondern eindringlich berührend

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Bei der Darstellung der Biografie von NS-Tätern aus der Sicht eines Nachkommen kommt gewöhnlich die Darstellung der verschiedenen Facetten der Täterpersönlichkeit zu kurz. Welchen Entwicklungsweg nimmt ein Mensch, der ihn zum (Mit-)Täter an Massenmorden werden lässt. Ausgehend von einer Skizze über die Vita meines Vaters aus dem Nachlass des Medienwissenschaftlers Prof. Friedrich Kittler wird versucht, basierend auf dem eingehenden Studium von Personalquellen, seine häufig dämonisierte Person plastisch werden zu lassen und einen Beitrag zur näheren Betrachtung der Täterseite zu leisten, nicht nur mittels Dokumenten, sondern auch mit inneren, fiktiven Monologen und fiktiven Gesprächen. Durch seinen Suizid ist die endgültige juristische Klärung der gegen ihn vorgebrachten Anklagen nicht möglich geworden. Mein Ziel ist es nicht, die Arbeit der Justiz fortzusetzen, um das Ausmaß seiner justiziellen Schuld festzustellen. Das Ziel ist es vielmehr, ins Innerste der Person einzudringen. Dabei geht es nicht um eine gnadenlose Abrechnung, Idealisierung, Verleugnung oder die Opferrolle eines Nachkommens, sondern um Empathie und die Nachvollziehbarkeit der Psychodynamik eines Lebensweges, der in eine mitgetragene Katastrophe hineinführt.

Über den/die Autor:in

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Eigentlich wollte ich Tatortreiniger oder Weltraummüllsammler werden. Stattdessen Bildungsgänge in Deutschland, Prag und Sao Paulo. Beruflich tätig als Lehrer und im Bildungsmanagement. Auslandseinsat...

Editorische Vorbemerkung und Danksagung

Eine erste Vorlage zu dem Buch verdanke ich Deinem Ex-Mann, dem Medienwissenschaftler Friedrich Kittler, der in Deinem Auftrag den Lebensweg unseres Vaters in einer fragmentarischen Skizze nachzeichnete. Die Absicht war herauszufinden, ob er nach seinem Einsatz als Lagerarzt im Konzentrationslager Buchenwald etwa in Aktionen von Einsatzgruppen verwickelt war. Meine Ausführungen orientieren sich an Verhörprotokollen aus der Untersuchungshaft und ich möchte von einem Protokoll meiner Gedanken zu ihrem Umfeld und Hintergrund sprechen, die Wege zum Weiterdenken eröffnen können. Der fiktive Dialog mit Dir erlaubt Redundanzen und assoziative Sprünge. Zitate wurden gelegentlich sprachlich überarbeitet, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Mir wichtig erscheinende Bezüge werden im Quellenverzeichnis angegeben. Alle Dokumente aus dem Nachlass unseres Vaters werden Deinem Vorhaben folgend der Gedenkstätte Buchenwald übergeben und stehen damit der Öffentlichkeit zur Verfügung.

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die bei der Abfassung des Buches mit Rat und Tat zur Seite standen, insbesondere Dr. Harry Stein von der „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora“, der mir mit seinen Anmerkungen erst den Zugang zu der für einen Außenstehenden befremdlichen Welt des Konzentrationslagers Buchenwald ermöglichte.

(Vorwort) Gitterschwingungen

Wir befinden uns auf verschiedenen Raum- und Zeitebenen; er kann mich nicht verstehen und ich ihn nicht. Die Wirklichkeit seiner Existenz besteht trotzdem. Die innere Wunde ist der Beweis dafür. „Wirklichkeitswund“ (Paul Celan) greife ich nach den Gitterstäben zwischen uns. Dieses zaghafte Ertasten, entferntes Verstehen, ist schon Gewinn, Trost, gibt Hoffnung. Verbunden im Schweigen mag allein das Bewusstmachen des Trennenden Gemeinsames im Verlust des Gegenübers eröffnen. Ich bin nicht er, obwohl ich es lange hätte sein mögen. Ich sollte ihn studieren und sei es durch das Gitter hindurch, damit er be=greifbar wird.

Bilder, Dokumente, Tagebücher, Briefe, von Dir aufbewahrt in der Hoffnung, dass irgendwann einmal jemand Licht in das Dunkel seines Todes bringen würde? Die Bilder – anrührend, die Dokumente – bestechend, seine Sprache – eher registrierend und beschreibend, Ausdruck von Gefühllosigkeit oder etwa, um sich der Falschheit jener beschönigenden Diskurse zu entziehen, welche die Vernichtung begleiteten, die ihn zunehmend umgab? Es ist nötig, durch diese Sprache hindurchzuschauen, um mehr als das bloße Wort wahrzunehmen. Nach der „Nicht-Sprache“ (Giorgio Agamben), der Natur des Nichtgesagten,  ist zu fragen. Die Leerstellen laden als Überbrückung vom Ungesagten ins Nach-Denken zu einem Text ein, den ich als Leser dieser Zeugnisse eines Lebens selber generieren muss. Die Notizen von Friedrich Kittler über seine Vita und die Gerichtsakten geleiten mich ebenso wie hinterlassene Bücher, Bemerkungen und Beobachtungen von Zeitzeugen, am schlüssigsten, unabsichtlich dahergesagte, spontan aus dem unbewussten Erleben genährt. Eigene unterdrückte Erinnerungen, Gefühle drängen sich ein. Oder handelt es sich um Wunschbilder, Traumfantasien, überblendet vom familiären Gerede? Zwischen den Papieren eingestreut flüchtig dahingeworfene, vielleicht nur durch ordnenden Zwang erhaltene Notizen. Unwillkürlich taucht eine Scheu auf, in diese verschüttete Welt einzudringen. Also Halt zu machen vor der Schranke innerfamiliärer Zensur? Ein tröstendes ‚Du hast keine Schuld!‘ gibt eine Atempause. Macht der Vorwurf: ‚Willst du deinen Vater reinwaschen?‘ das Studium des Vorgefundenen etwa zu einem Kampf gegen eine Umwelt, die sich nicht in ihre eigene Vergangenheit hineingedrängt sehen möchte? Stellt sich Nähe her, ist sie unerträglich, da sie wenig gelebt wurde. Unzusammenfügbar erscheinen die Puzzleteilchen und lassen resignieren, ob bei der Vermischung von Eigenem und Fremden ein solches Unterfangen überhaupt möglich ist.

„Diese alten Sachen!“, meinte die Leserin einer ersten Niederschrift, als ob es um ein versteinertes Fossil ginge, mineralisierte sterbliche Überreste eingebettet im Sediment tiefster Schichten meiner Existenz. Gerade dieses Bild könnte den Weg zeigen. Das Innere eines Kristalls ist durch eine Gittergeometrie bestimmt. Ausgehend von einer einzigen Elementarzelle, in der bereits alle Konstruktionselemente des Gitters angelegt sind, entwickelt sie sich in Raum und Zeit. Konkretistisch zerlegt würde das Darstellbare auf eine Ebene unterhalb der Schriftzeichen verdrängt: eine erneute Beerdigung des Anderen, diesmal in Worten. Nicht Sprache an sich findet sich im Gelesenen, sondern ein sich unter dem nur ihm eigenen Neigungswinkel des Gefälles seines Daseins äußerndes Ich, dem es um Orientierung ging und das Kontur gewinnen wollte. Bei seiner Beichte im Gefängnis war er durch ein Sprechgitter von dem Pfarrer getrennt. Scheinbar Bedeutungsloses muss dabei nicht nur in der Ebene, sondern ebenso in der Zeit und im Raum mitgehört werden. Erst dann kann es zu einem Sprachgitter werden.

„Worte sind Tonzeichen für Begriffe“, definiert Friedrich Nietzsche. Machen die Atome eines Gitters überhaupt ein Geräusch, wenn sie stimuliert werden, sodass selbst der scheinbar Verstummte gehört werden kann? Sie tun das durchaus, obgleich es sich dabei um das leisestmögliche Geräusch handelt, das physikalisch möglich ist. Nur in der Nähe des Ursprungs, da wo sich die optische und die akustische Welle trennen, entstehen die „Phonone“. Durch eine Verschärfung der Sinne wird eine Öffnung der Wahrnehmung hervorgebracht. Hingehauchtes kann vernommen werden kann und die Sprache führt zur Begegnung. Schallwellen werden gedämpft, wenn sie sich durch die Luft ausbreiten. Das heißt, sie verlieren Energie, die in Wärme umgewandelt wird. Ob sie intensiv genug sein wird, sie zu spüren?

Soll das Projekt dieses Buches gelingen, müssen es das Ich und das Du, die sich in dem Prozess des Zuhörens herausbilden, ertragen, durch die eigene Vergangenheit hindurchzugehen, um zum Wir zu werden und sich zugleich fern eines symbiotischen Verschmelzens als schließlich Fremde, als Andere zu erkennen. So wird durch die vielfach oszillierenden Gitterschwingungen die Gegenwart des Anderen in der Möglichkeit seiner Existenz und seines Verschwindens wahrgenommen. Das bedeutet auch: In der Begegnung ist die Trennung. Ist jene endgültig, wenn die Arbeit beendet ist? Es geht darum, etwas festzuhalten, das immer wieder droht, verloren zu gehen. Ein Gemeinsames ist der Weg, der begangen werden muss, um sich gegenseitig zur Sprache zu bringen. Da diese lediglich in der Lage ist, die Dinge in einer Scheinkorrektheit, also vorgeblich wahr, zu beschreiben, muss die Forderung nach absoluter Wahrheit entfallen. „Was ist also Wahrheit?“, fragt Nietzsche und gibt die Antwort: „Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.“ Die Wirklichkeit der Existenz des Anderen ist vielleicht nicht fixierbar, nicht auf vorbestimmte Denkweisen reduzierbar und nur in ihrem Öffnungsprozess fassbar. Wo werde ich mich am Ende dieses Buches finden? Noch habe ich keine Zuversicht, irgendwo anzukommen, und mehr Fragen scheinen zu bleiben als beantwortbar sind. Welche Spuren wird dieser Prozess bei Dir hinterlassen, die den Vater anders und zeitweise näher erlebt hat als ich?

(Einleitung) Wunderwaffen

Marschierende Kolonnen in einem Film: Bei dem Gedanken, ihn plötzlich in der Masse untergehend im Braunhemd mit Schaftstiefeln und der schwarzen Schirmmütze mit dem Totenkopf, Sturmriemen unter dem Kinn zu erblicken, wird mir übel. Es graust mich, ihn in einen Apparat eingespannt zu sehen, der die Welt von allem säubern wollte, was nicht dem Ideal vom arischen Übermenschen entsprach. Um seinem „Führer“ bei der Erringung dieses Ziels zur Seite zu stehen, hatte der saarländische Großindustrielle Hermann Röchling 1943 ein Projekt vorgestellt, vom besetzten Frankreich aus London mit einer Batterie von Schießautomaten unter Dauerfeuer zu nehmen. Alle sechs Sekunden sollte eine Granate im Zentrum der britischen Metropole explodieren, tagaus, tagein. Hitler kannte vom Ersten Weltkrieg her die Schrecknisse einer solchen Kanonade allzu gut und das Projekt bekam unter dem Tarnnamen „Hochdruckpumpe“ grünes Licht. Die „Vergeltungswaffen“ V1 und V2 sollte es um eine dritte Variante ergänzen. Revolutionär war, dass in dem 150 m langen Geschützrohr beidseitig zahlreiche Kammern mit Treibladungen angebracht waren. Passierte die Granate diese nach Zündung der Grundladung, erhielt sie kontinuierlich zusätzlichen Schub, um bislang unerreichte Entfernungen zu überwinden. Zum Einsatz kam die Tötungsmaschine erst in der letzten Kriegsphase. Vom pfälzischen Lampaden aus wurde Luxemburg während der Ardennenoffensive beschossen. Es gab nur 44 Treffer im Stadtgebiet.

Ebenso wie Wernher von Brauns Marschflugkörper und Raketen erfüllte die neue „Wunderwaffe“ die Erwartungen nicht. Nicht anders ging es mit dem Schwarzen Korps. War unser Vater, der in der „Elite für Volk und Führer“ eine unrühmliche Karriere machte, in den Händen der Politingenieure ein ebensolcher Automat oder konnte er von Schritt zu Schritt über seinen Weg entscheiden? Das Geschütz wurde schließlich ebenso wie die SS demontiert. Die Menschen, mit denen dieses Experiment angestellt wurde, lebten weiter mit ihrem verbogenen und zerrissenen Ich, wenn sie nicht gleich zugrunde gingen. Das war die eine Katastrophe. Die andere war, dass sie Millionen von Verbrechen gegen die Menschheit begangen hatten und ihre Kinder und Kindeskinder mit einem Erbe belasteten, an dem diese schwer zu tragen haben.

1 „Schweigen ist das eigentliche Verbrechen“

Kriegshinterbliebene

Auf alten Karten gibt es von unerforschten Teilen der Erde nur den Umriss einer Küstenlinie, an der die Schiffe entlanggefahren waren. An einigen Stellen waren die Seefahrer an Land gegangen, hatten Berge oder Seen eingezeichnet, manchmal waren sie tiefer in eine Bucht eingedrungen und einem Flusslauf gefolgt. Hinter diesem oberflächlich erforschten Streifen erstreckte sich eine weiße Fläche. Unser Vater war für mich so eine Terra incognita. Ganz im Gegensatz zu vielen meiner Generation, die von ihrem im Krieg gebliebenen Erzeuger nur mehr ein Foto hatten, war ich ihm begegnet. Ich kann mich an seine Stimme erinnern, die Wärme seines bayrischen Dialekts, ein Streicheln über den Kopf, die Worte „Na, Bub!“ Nie war er ins volle Licht getreten und seine Erscheinung blieb im Halbdunkel. Es war, als hätte sich im Boden eine Klappe geöffnet und er wäre aus der Versenkung plötzlich aufgetaucht.

Wir wohnten in einer Randgemeinde Bremens, die sich auf einem Geestrücken in den Ausläufern der "Bremer Schweiz" an den Ufern der Hamme erstreckt. Unser Haus lag an der Bahn. Oft stand ich an der Schranke des Bahnübergangs, Menschen winkten mir zu. Er war nie darunter. Eine Zeit lang kam er regelmäßig zu meinem Geburtstag, vielleicht weniger mir zuliebe, sondern nur, weil es im Januar lange dunkel war. Jedenfalls gab es nach dem nie sichtbaren Weihnachtsmann für mich ein paar Wochen nach dem Fest mit dem großen Tannenbaum und den vielen Kerzen einen „Geburtstagsmann“, der persönlich erschien, aber auch Forderungen stellte. Trotz aller Mängel in der „schlechten Zeit“ reichte es für eine Buttercremetorte mit einem runden Mittelstück, das für ihn reserviert war. Regelmäßig legte er mir ein Frühstücksbrett auf den Kopf und machte einen Strich am Türrahmen, um festzustellen, wie viel ich gewachsen war. Später beschlich mich bei der Erinnerung an diese Vermessungen ein ungutes Gefühl. Russische Kriegsgefangene waren in Buchenwald unter dem Vorwand, ihre Größe aufzunehmen, durch einen Schlitz in der Wand mit einem Schuss getötet worden. Plötzlich blieb er aus. Ich war darum nicht traurig, endlich konnte ich alleine über die Torte verfügen. Meine Mutter klagte in ihren Briefen über meine schlechten Schulleistungen. Ich tat alles, von ihm beachtet zu werden. Neben Metallbaukästen und Büchern aus seiner Hand blieb mir ein Foto mit einer Widmung für mich vom Tag meiner Geburt. Es zeigte einen hageren Krieger in einem Jeep mit einem Gewehr an seiner Seite. „Wo war er im Krieg?“ Die stolze Antwort an jedermann war: „In Finnland, unter Dietl!” Als ich sie fragte: „Was ist mit Vati?“, antwortete sie: „Dazu bist du noch zu jung.“ Das war bei meinem achten Geburtstag. Ich wartete vergeblich auf ihre Antwort: Jahr um Jahr „ein Mund voll Schweigen“. Regelmäßig brachte der Briefträger Geld von einem gewissen Jungmann aus Duisburg. „Wo ist dein Vater?“, fragten Nachbarn. Ich sagte: „In München“. Irgendwann entdeckte ich es: Das „sehr seltene Nazibuch des berüchtigten Buchenwalder KZ-Arztes Erich Wagner von 1940 über seine Untersuchungen von Tätowierungen“. Ich blätterte darin: eine wenig mitreißende Abhandlung über tätowierte Häftlinge „in einem großen Lager“ mit einigen Abbildungen.

Als ich ins Gymnasium kam, standen Theaterbesuche an. Die Aufführungen waren in Schweigen gehüllt wie seine Auftritte. Nur gab ihnen die Dramaturgie Struktur und Leben. Die Darsteller waren hinter ihrer Maske verborgen, am Schluss offenbarten sie sich. Der Sinn ihrer Aktionen erschloss sich mir oft nicht, ebenso wie unklar blieb, warum unser Vater kam und wieder ging. Die Übertragung wachgerufener Gefühle auf mein Leben gelang nicht. Was geschah, hatte keinen Boden, keinen Angelpunkt. Die Intervalle zwischen den Phasen seiner Anwesenheit verschmolzen zu einem Punkt. Es gab keine Trennung, keine Begrüßung, keine Schwelle, die überschritten wurde, keinen Kummer über den Abschied oder Freude über die Ankunft. Mozarts „Cosi fan tutte“ war mir nahe: vorgetäuschte Gefühle, Abschiede, die keine sind. Keiner ist er selbst, alles hebt sich in einer Musik mit ihren Brechungen der Worte auf, die wegträgt von einem Geschehen, das nicht wirklich ist.

Meinen Klassenkameraden erzählte ich von einem Volltreffer auf sein Lazarett. Das war glaubhaft, denn als Sohn eines Vaters, der angeblich „im Felde geblieben“ war, erhielt ich ein tägliches Deputat von einem halben Liter Milch oder Kakao. Einmal ließ ich im Geschichtsunterricht einen Satz fallen, den ich zu Hause oft hörte: „Über Hitler wird man später anders denken als jetzt.“ Die Klasse erstarrte. Die Lehrerin, frühere Mitschülerin meiner Mutter, machte sich eine Notiz, sagte ansonsten nichts. Dabei lag hinter dem Gymnasium die Synagoge, die in der Reichspogromnacht abgebrannt war. Auf Schulhöfen waren die jüdischen Männer aus den „Judenhäusern“ gesammelt und ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Wohl nicht nur als Klassenletztem wurde mir der Schulbesuch im Land Bremen zukünftig verweigert. Ein Mitschüler kam daran vorbei. Er hatte im Zeichenunterricht rote Sterne aufs Papier gebracht und geriet in den Verdacht kommunistischer Gesinnung. Man wollte sich unpolitisch geben. Peter Zadek machte die Schule zehn Jahre später in einem Film zum Schauplatz aufbegehrender Schüler. Der Arbeitsberaterin unterbreitete ich, dass unser Vater einer von den letzten in Holland inhaftierten Kriegsverbrechern sei, und gewann ihr Herz. Ein Test verwies mich in den Gartenbau. Meine Mutter wollte einen Arzt aus mir machen. Sie sagte mir zwar immer wieder, ich könne auch Straßenkehrer werden. Hatte ihr „Führer“ nicht verkündet: Es müsse eine größere Ehre sein, als Straßenfeger Bürger dieses Reiches zu sein als König in einem fremden Staate? Man wollte ihr entgegenkommen: Orthopädieschuhmacher würden gesucht, die Arbeit hätte viel mit Medizin zu tun. Schuster! Das war zu viel und ich kam auf eine Privatschule, in der ich den Spaß am Lernen entdeckte. Meine wachsenden Englischkenntnisse nutzte ich in der Bibliothek des Amerikahauses. In der Kriegsdokumentation der US-Army machte ich mich vergeblich auf Spurensuche. Auch in einer Darstellung des Feldzugs in Finnland von einem, der dabei gewesen war, wurde er zu meiner Enttäuschung nicht erwähnt.

1958 wurde die Einrichtung einer zentralen Behörde zur Verfolgung von NS-Verbrechen angekündigt. Meine Mutter kommentierte: „Da geht dem Alten der Arsch auf Grundeis.“ Im August wurde er inhaftiert. Für seine Doktorarbeit sollte er nach dem Zeugnis des ehemaligen Buchenwalders Eugen Kogon Tausende von Häftlingen umgebracht haben, eine Zeitungsente, wie sie meinte. …

2 Sprünge

Vernehmung des Beschuldigten Erich Wagner durch den Untersuchungsrichter 17.-20.3.1959 nach dem Wortlaut der Übertragung der Kurzschriftanlage / Zur Person: „Ich wurde am 15.9.1912 in Oberdorf bei Komotau/Sudetengau geboren und katholisch getauft. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Meine Mutter heiratete 1916 den Pensionsinhaber Georg Wagner aus Salzburg, wo wir alsdann gewohnt haben und ich die Volksschule besuchte. 1923 zogen meine Eltern nach Bad Reichenhall. Ich kam 1924 in die höhere Schule in Traunstein, wohnte in dem katholischen städtischen Schülerheim, verbrachte dort die Sexta und Quinta. Bis zum Einjährigen war ich in der höheren Schule in Bad Reichenhall. Die Oberstufe verbrachte ich im Albertinum in München, wo ich das Abitur mit der Note 1–2 ablegte. Ich hatte eine besondere Neigung zu den Naturwissenschaften, während der Oberstufe wurde mein Interesse für Medizin geweckt. Ab Sommersemester 1933 studierte ich in Graz. Dort konnte ich bei Verwandten wohnen. Durch Semesterabschlussprüfungen hatte ich eine 50%ige Hörgeldermäßigung. Mit dem 2. Rigorosum schloss ich im Herbst 1935 nach dem 5. Semester meinen Studienaufenthalt in Graz ab. Dort war ich im Herbst 1933 dem Akademischen Turnverein beigetreten. Wegen meiner ATV-Zugehörigkeit wurde ich automatisch Mitglied des NS-Reichsbundes für Leibesübungen. Durch meinen Leibburschen kam ich zur Allgemeinen SS. Sie war noch erlaubt, jedoch trugen wir keine Uniform. Ich hatte den Dienstgrad eines einfachen SS-Mannes. Meine Tätigkeit in der SS bestand in der Ausbildung in erster ärztlicher Hilfe. Bei einem Urlaub nahm ich Propagandamaterial von Reichenhall nach Graz mit, was ich nicht wiederholte, nachdem ich als „Auslandsösterreicher“ zweimal eine erfolglose Hausdurchsuchung durchmachen musste. Im ATV machte ich mich missliebig, als ich über missliche Stimmungsäußerungen berichtete, die ich von Gästen meiner Eltern gehört hatte. Meine Begeisterung für den Nationalsozialismus ließ dementsprechend nach. Im WS 1935/36 fand ich in Innsbruck keine politische Tätigkeit der inzwischen verbotenen nationalsozialistischen Partei vor. Nach eingehender politischer Überprüfung, zu der eine peinlich genaue Einvernahme meiner Quartiergeber gehörte, erhielt ich das für den Erwerb des Führerscheins notwendige politische Leumundszeugnis. In Innsbruck war ich bis zum Sommersemester 1936 und gehörte dem dortigen ATV an. Wegen der 1000-Mark-Sperre musste ich das Studium in Österreich aufgeben. Das letzte Semester konnte ich noch durch Blutspenden finanzieren. Meinen Studienaufenthalt in Deutschland finanzierten meine Eltern völlig selbst. Im 8. Semester (WS 1936/37) schrieb ich mich in München ein und famulierte in Reichenhall, im 9. studierte ich in Kiel, im 10. und 11. in Freiburg. Ich wollte praktischer Arzt werden und daher auf dem Gebiet der inneren Krankheiten promovieren. In Freiburg bemühte ich mich vergeblich um ein Dissertationsthema. Dort wurde ich 1938 Mitglied des NS-Studentenbundes, als ich als Gast in der aus dem ATV gebildeten Kameradschaft des SS-Studentenbundes aufgenommen wurde. In dieser habe ich mich im Wesentlichen sportlich betätigt. Als ich Ende 1936 meinen Einbürgerungsantrag einreichte, hieß es, dass eine positive Erledigung kaum zu erwarten sei, wenn ich nicht der Partei oder einer ihrer Organisationen beiträte. In Kiel traf ich Studienkollegen aus Graz wieder, die verwickelt in den Juliputsch 1935 über Jugoslawien geflohen waren. Ihnen erzählte ich von dem geforderten Beitritt zu einer NS-Organisation. Sie empfahlen die Allgemeine SS, Anfang 1937 trat ich in München ein. Um die NSDAP kam ich damals und auch später herum. Als neugebackenem SS-Anwärter gelang es mir, mich mit vielen anderen Studienkameraden vorm Dienst zu drücken. Ich war lediglich zum Absperrdienst während des Mussolinibesuchs in Essen 1937 eingesetzt. Mit der Eingliederung Österreichs erledigte sich mein Einbürgerungsantrag dann von selbst. Das Staatsexamen legte ich im Herbst 1938 mit dem Prädikat ‚gut‘ ab und wurde Medizinalpraktikant in Bad Reichenhall, wo keine SS-Einheit bestand. Als Medizinalpraktikant musste ich dem NS-Ärztebund beitreten. Gemustert wurde ich für die Infanterie. Ich hatte mich zwar bereits in Kiel erkundigt, welche Aussichten für die aktive Sanitätsoffizierslaufbahn bestanden, mich aber auf Anraten von Bekannten nicht darum bemüht.

Von Kakanien ins Reich

Ein unruhiges Leben in unruhiger Zeit. Es begann im böhmischen Teil Österreich-Ungarns am Fuß des Erzgebirges. Unsere Großmutter machte dort im väterlichen Salon eine Lehre zur Damenfriseuse. Mitten in ihrer Ausbildung erlag sie folgenreich dem Charme eines feschen Husaren. Eine Heiratserlaubnis erhielt nur, wer seine Familie ernähren konnte. Dort, wo es ohnehin viel uneheliche Kinder gab und die kirchlichen Moralvorstellungen weniger vorherrschten, war ein Fehltritt eher ein ökonomisches Problem. Häufig wurde der Nachwuchs von den Großeltern oder dem Dienstherrn aufgezogen. So blieb auch unser Vater in der großelterlichen Familie, als sich der Traum seiner Mutter von einer Anstellung in dem traditionsreichen Grandhotel Pupp im nahen Karlsbad erfüllte.

Der Schatten des Ersten Weltkriegs legte sich über den weltberühmten Kurort. Im Hotel gingen mehr Uniformierte als sonst ein und aus, nicht zu Siegesfeiern. Der Krieg war gefräßig, es fehlte an Gästen. Die Menschen waren nicht zu ersetzen, alles andere ja: Schwarzer Tee durch einen Aufguss aus Besenheide, Kaffeebohnen durch geröstete Eicheln, Kleiderstoff durch Papier und Lederschuhe durch Holzpantinen. Unsere Großmutter wird ihre Zukunft nicht nur im Beruf gesehen haben. Da war der Chefportier in seiner imposanten Uniform. Beide mochten sich nach einer ersten Begegnung nicht aus den Augen verloren haben. Das Hochzeitsfoto zeigt sie neben ihrem eher besonnen dreinblickenden Ehemann strahlend als eine Frau, der erreicht hat, was sie wollte. Für ihren Sohn hatte sie einen Ersatzvater gefunden und für sich eine Heimat. Um das Heimatrecht musste in der Monarchie ersucht werden. Ein Handwerksmeister bekam es schneller als weniger „honorige“ Leute. Die wurden oft in ihre „zuständige“ Heimatkommune abgeschoben, um der Gemeinde nicht zur Last zu fallen. Angesichts der Verwerfungen durch den Krieg dürfte ihr der um einiges ältere Mann Sicherheit gegeben haben. Er plante, sich selbstständig zu machen. Das verhieß den Aufstieg von der Hotelbediensteten zur Hoteliersgattin.

Aus der Zeit in Oberdorf gibt es eine Fotografie, die unseren Vater an der Hand seines Großvaters zeigt. Ein kleiner Junge blickt freundlich und erwartungsvoll in die Welt. Das betrübt mich angesichts seines Lebensweges, der zunehmend freudloser wurde. Einmal schenkte er mir ein Buch, in dem ein Junge Siebenmeilenstiefel bekommt und mit Riesenschritten in die Welt hinauszieht. Vielleicht fand er sich selbst darin wieder. Nach dem großen Sprung in das städtische Salzburg dürfte ihm die Nestwärme der Großeltern gefehlt haben. Der Krieg dauerte fort. Der Stiefvater musste nicht an die Front, er tat seinen Dienst in der Salzburger Garnison. Erst 1920 wurde er entlassen. Nach einem Fehlstart in Gmunden am Traunsee erwarb er in dem mondänen Bad Reichenhall eine Pension. Um das Familienbudget aufzufüllen, verdingte er sich bis 1925 erneut in seiner alten Arbeitsstelle. So lag die Hauptlast bei der Chefin, aus der eine alleinerziehende Mutter geworden war. Sicher gefiel den Gästen, dass sie manch noblen Namen nennen konnte, dem sie früher gedient hatten. Ein Foto zeigt sie selbstbewusst als eine Dame von Welt. Für den Jungen mit den Siebenmeilenstiefeln war der Umzug scheinbar nur ein Hupfer. Sein Geburtsort lag nun in der Tschechoslowakei. Seine Staatsangehörigkeit war die des vom Krieg zerschlagenen Österreichs. Damit trug er das Erbe eines Volkes in sich, dessen Staatsgefühl „eigentlich vaterlandslos“ war. Mit Deutschland hinter sich hatten die Deutschen in der Donaumonarchie bis 1866 obenan gestanden. Nachdem Musils „Kakanien“ aus dem Deutschen Bund ausgetreten war, wurden sie in dem Vielvölkerstaat zu einer Minderheit. Ein Österreich, einen Österreicher, eine gemeinsame Nationalität waren nicht identifizierbar, außer vielleicht einer „Spanne Land um Wien herum“, die den Anschein von etwas typisch Österreichischem an sich haben mochte. Bundeskanzler Schuschnigg, in seinem Selbstverständnis „katholischer Kulturdeutscher“, hatte die Vision, dass „der bessere deutsche Staat“ Kultur und Glauben in Mittel-, Ost- und Südeuropa verbreiten sollte. Die nach Deutschland orientierten Österreicher suchten Glanz und Größe in der Wiedervereinigung mit dem alten Partner.

Der Knirps hatte andere Probleme. In dem Alter, in dem ein Kind beginnt, seine Umwelt zu erobern, hatte er seine Heimat verlassen müssen. Das Erlebnis des bunten slawischen Osterfestes scheint bei ihm Spuren hinterlassen zu haben. Sprach ihn der kirchliche Brauch des Osterlachens an? Das Heilsereignis der Auferstehung ließ ihn nicht nur einmal hoffen, aus drohender Vernichtung wiederzuerstehen. Hatte in der Dorfgemeinschaft seine Sprachlosigkeit ihren Ursprung, die Unfähigkeit, Gefühle, Probleme, Zweifel in Worten herauszulassen, wie wir es in seinen Tagebüchern zunehmend antreffen? Begründet in einer Zeit, in der in den kleinen Ortschaften der Pfarrer mit seiner Sprachmacht die tägliche Rede bestimmte und der Aussiger Anzeiger oder die Reichenberger Zeitung als Machtinstrument im Sudetenland Denkdirektiven frei Haus lieferten? Im Ergebnis Kommunikation in stillschweigender Konfliktbewältigung, statt reden Gerede, Tratsch. Aus der Enge führte der Schritt über die Grenze hinaus. Nach der bisherigen Unruhe gab die Pension mit Gästen, die oft über mehrere Generationen wiederkehrten, auf Dauer einen Ort von Geborgenheit. „Zuständig“ blieb er nach Salzburg, denn in Deutschland war er Ausländer. Wie übersteht ein Kind die Entwurzelung aus seiner Klassengruppe, wenn es so oft die Schule wechselt? Es war, als hätte seine Mutter mit jedem Schulwechsel gehofft, dass die Siebenmeilenstiefel den nächsten großen Schritt ermöglichen würden. Schneller, weiter, höher bemühte er sich, ihre Erwartungen zu erfüllen.

Seinen Stiefvater, der mir nicht als mein Großvater vorgestellt wurde, lernte ich nach dem Krieg bei meinen Kuraufenthalten kennen, einen kleinen, weißhaarigen Mann, der hinter einer dominanten Matrone verschwand. Dann war da noch ein „Herr Wagner“. Irgendetwas war mit seinem Arm. Eines Tages stellte er mir ein kleines Mädchen vor: „Das ist die Erika! Nun spielt mal schön miteinander!“ Er verschwieg, dass wir Halbgeschwister waren. Die Erinnerung an diese erste Begegnung mit Dir ging nicht ganz verloren. Bei späteren Besuchen der Salzburger Festspiele hielt ich in Bad Reichenhall vergeblich nach der „Pension Erika“ Ausschau.

Schrittweise gelang es den Wagners, ihr Projekt von einem eigenen Betrieb in der Hotellerie eines Kurortes von Weltruf zu verwirklichen. Politisch kehrte Ruhe ein. Die Beendigung des Ruhrkampfes dürften sie positiv aufgenommen haben. Die nationalistischen Rechten in Bayern sahen das anders und opponierten gegen Stresemanns Entscheidung, den französischen Besatzern nachzugeben. Ein gewisser Herr Hitler wollte wie sein Vorbild Mussolini 1923 in die Hauptstadt marschieren und verschwand erst einmal im Gefängnis. Bald gab es wieder eine Währungsreform, mit dem Geld entwertete sie die Schulden.

Es ist nicht zu übersehen: Von Kindesbeinen an geriet unser Vater von einem braunen Zentrum in ein anderes. 1903 war nicht weit entfernt von seinem Geburtsort in Aussig die „Deutsche Arbeiterpartei“ gegründet worden. Eine alte böhmische Redensart lautet: „Überall Menschen – in Komotau Deutsche“. Die Animositäten hatten wirtschaftliche Gründe. Es ging um die Konkurrenz der tschechischen Arbeiter. Ab 1918 trat die Interessenvertretung der Deutschen mit Hakenkreuz geschmückter Fahne als „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei“ (DNSAP) auf. Sie drängte die gerade gegründete „Deutsche Arbeiterpartei“ in München, sich ebenfalls „nationalsozialistisch“ zu nennen, war weniger erfolgreich als diese, lediglich Salzburg entwickelte sich zu einer bescheidenen Hochburg. Der Satz in Hitlers Buch: „Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich“ war anfangs Verfassungsgebot. 1920 forderte die großdeutsche Fraktion ein Plebiszit über den „Anschluss“. Die Siegermächte schritten ein, forciert wurde sie wieder vom Hitler-Deutschland. „Heim ins Reich“ sollten die Österreicher und vor allem das Vermögen der Alpenrepublik mitbringen. Dann war da die Sehnsucht nach einem „starken Mann“ wie Kaiser Franz Joseph, der den Vielvölkerstaat Jahrzehnte zusammengehalten hatte. Besonders kleine und mittlere Gewerbetreibende sahen in Hitler den Retter aus den ständigen Krisen und Beschützer vor dem Großkapital – sowie den Juden. Sie, die Sozis und die Kommunisten waren in ihren Augen eins. …

3 Adel

Fortsetzung der Vernehmung des Beschuldigten Erich Wagner durch den Untersuchungsrichter 17.-20.3.1959 nach dem Wortlaut der Übertragung der Kurzschriftanlage / Zur Person: „In den ersten Septembertagen 1939 wurde ich zur Waffen-SS einberufen und im Truppenlager Dachau 8 Wochen infanteristisch ausgebildet. Gegen Ende dieser Zeit wurde das Häftlingslager Dachau geräumt und 20000 Mann dort zur Aufstellung der SS-Totenkopfdivision unter Eicke zusammengezogen. Mit 26 herausgelösten Ärzten wurde ich als SS-Reservist ohne Dienstgrad zur Fortsetzung der infanteristischen Ausbildung zum Sanitätsersatzbataillon Berlin-Lichterfelde abgestellt, ohne Einfluss darauf zu haben, in den ersten Novembertagen nach Buchenwald versetzt zu werden. Meine Arztapprobation hatte ich bereits kurz nach meiner Einberufung erhalten. Die Versetzungen (einige zur Feldtruppe, ein anderer z. B. zu einem Umsiedlungskommando, ein Dritter zu einer Polizeitruppe im Gouvernement)  wurden jeweils nach Bedarf und nach der Reihenfolge der Liste ausgesprochen.“

Tatorte

„Ich kann diesen klaren Herbstabend des 1.9.39 niemals vergessen“, schreibt er 1946 im Internierungslager Moosburg. „Ich neige von Natur aus zum Pazifisten und denke heute daran, dass ich während meiner Münchener Schuljahre 1930-33 die Nazis deswegen ablehnte, weil die Zeitungen täglich von den Opfern der Straße im Parteienkampf berichteten. Auch mein Eintritt in den ATV Graz vollzog sich bei nicht zu unterdrückendem Widerstreben gegen die Mensur. Dass ich dies nicht aus Feigheit tue, weiß ich heute nach meinen Kriegs- und Fronterfahrungen.“ Bezogen auf den Kriegsbeginn fährt er fort: „Schon rissen einen die ersten Frontberichte mit. Vergessen war der sternenhelle Abend des 1.9. Mein ganzes Sinnen und Trachten ging danach, auch dabei sein zu können. Ich hatte mich 1938 in Freiburg freiwillig zur Musterung gestellt. 1939 musste ich wegen meiner MP [Medizinalpraktikanten]-Pflicht nicht üben. Ich hätte sonst bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall gedient. Daraus wurde nun also nichts. So wartete ich mit Spannung, ob ich bald eingezogen werden würde. Wie eine Bombe schlug da mein Gestellungsbefehl ein. Voll Freude und Genugtuung legte ich dieses entscheidende Papier im Krankenhaus und zu Hause vor. Am 6.9. bereits trat ich meine Fahrt nach Dachau an, gespannt auf das Soldatenleben und vor allem auf das Konzentrationslager, von dem ich auch etwas zu sehen hoffte.“

Das KZ bot sich ihm weitgehend von Häftlingen entblößt, für die Aufstellung der SS-Division TOTENKOPF wurde Platz benötigt. Der Bedarf an Ärzten war überschätzt worden, die Mehrzahl der Neuankömmlinge blieb in der Reserve. Tatenhungrig pochten sie auf sinnvollere Verwendung. Unser Vater erhielt einen Marschbefehl in Hitlers „Schutz- und Trutzgau“ Thüringen. Damit entkam er der Eingliederung in die TOTENKOPF-Division, die sich dann im Westfeldzug unrühmlich hervortat. Die ehemaligen Wächter der Konzentrationslager seien dort, wie beklagt wurde, als organisierte Raubmörder aufgetreten, welche gebrandschatzt und Gefangene erschossen, aber bei Feindfeuer Fersengeld gegeben hätten.

Wurde er nur zufällig nach Liste für den Dienst im KZ ausgewählt? Nach der Reichsärzteordnung hatte er „seine Aufgaben im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erfüllen“. Während seines Studiums konnten Zweifel entstanden sein, ob er dem hundertprozentig nachkommen würde. Die Versetzung mochte für probat gehalten worden sein, ihm den letzten Schliff zu geben.

Das KZ Dachau war vorzeigbar. „Wir waren überrascht von der Sauberkeit und Bequemlichkeit, in der sich uns das Häftlingslager zeigte“, lautet sein Bericht, „Küchen, Kantine, Lazarett, die hygienischen Einrichtungen, alles ebenbürtig, zum Teil besser als im Übungslager.“ Gudrun Himmler schwärmte 1941 zwölfjährig: „Heute haben wir das Konzentrationslager in Dachau besucht. Wir sahen die Gartenarbeiten. Wir sahen die Birnbäume. Wir sahen all die Bilder, die Häftlinge gemalt haben. Wunderbar.“ Was sie nicht wusste war, dass hinter der Gartenbauidylle mörderische Frondienste mit unzureichender Kleidung und Ausrüstung bei Wind und Wetter standen. Mittelpunkt des gärtnerischen Interesses der SS waren die Versuchsfelder des „Kräutergartens“. In einer Verkaufsstelle auf dem Gelände wurden die Produkte den Dachauern zum Verkauf angeboten.

Die pubertär anmutende Sensationslust unseres Vaters bestürzt angesichts dessen, was wir heute wissen. Redensarten wie „Was gibt’s für neue Witze?“ – „Zwei Monate Dachau“, „Alter schützt vor Schutzhaft nicht“ oder „Lieber Gott mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm“ waren in aller Munde. Sollte ihm der tiefere Ernst, der dahintersteckte, verborgen geblieben sein? „Konzentrationslager“ – für ihn wirklich kaum mehr als ein Begriff, bar jeglicher multisensoriellen Erfahrung, eine Chiffre für einen Ort, an dem die „konzentriert“ wurden, die ihren Platz in der Gesellschaft ohnehin verwirkt hatten? Zumindest dürfte sein erster Eindruck der Aura des Unheimlichen, Monströsen entgegengewirkt haben, den die „jüdische Gräuelpropaganda im Ausland“ vermittelte. Und ob das Schicksal seines im KZ inhaftierten Onkels zu dieser Zeit an ihn herangetragen wurde, ist bei der innerfamiliären Verdrängungshaltung, wie sie später seine eigene Person betraf, zu bezweifeln. Bald würde er ein KZ mit allen Sinnen erfahren. Wie weit er davon entfernt war, zeigt eine Ansichtskarte aus Berlin, die er von seinem Dienstantritt bei der dem KZ Sachsenhausen unmittelbar benachbarten Inspektion der Konzentrationslager verschickte: Auf einem geschnitzten Wegweiser nimmt ein neckischer Schupo einen Delinquenten am Schlafittchen, um ihn ins KZ zu bringen. Das entsprach der amüsierten Distanz des Conférenciers Kurt Wallner: „Um mal wieder über die Musik zu sprechen. Ich freue mich eigentlich, dass heute alles so wunderbar im Takt geht, nicht wahr. Wenn es auch hier und da immer noch so etliche Querpfeifer bei uns gibt … Och, da machen wir wenig Federlesen. Die kommen zur weiteren Ausbildung in ein Konzertlager, wo man ihnen dann so lange die Flötentöne beibringt, bis sie sich an eine taktvolle Mitarbeit gewöhnt haben.“

Als ich 1965 zum ersten Mal Auschwitz besuchte, war ich erschüttert von dem Anblick der Berge von Frauenhaar, Kinderschuhen, Koffern mit den Namen von Ermordeten und anderen Relikten ihres Lebens, die sich verstaubt vor mir auftürmten. 50 Jahre später war der Eindruck ein anderer. Die Routine eines auf Massentourismus eingerichteten „Museums“ mit Bank, Buchhandlung und Souvenirshop lenkte die Besucher an mit musealer Ästhetik ausgestatteten Vitrinen vorbei ins Restaurant, wo sie sich an Schnitzel und Pommes gütlich taten. Die Zeitzeugen sterben dahin und die Vermittlung direkten Erlebens ist bei solcher Art Museumspädagogik nicht mehr möglich. Damit wird sich das Kürzel „KZ“ wie für unseren Vater auf ein Zeichen reduzieren, dessen Bedeutung in den Alltag nicht eingeht.        

„Davon haben wir nichts gewusst!“ hieß es nach dem Krieg. Die 1936 in Paris erschienene Dokumentation „Das deutsche Volk klagt an“ bezog sich auf in Deutschland öffentlich zugängliche Quellen. In den Zeitungen wurde wegen der erhofften abschreckenden Wirkung freimütig über Inhaftierungen und Hinrichtungen berichtet. Im „Klugen Alphabet“ von 1934, der ersten im Dritten Reich herausgegebenen Enzyklopädie, war nachzulesen, dass es sich bei den Konzentrationslagern um international bewährte Einrichtungen handele, eingeführt von den Engländern im Burenkrieg, womit sie einen seriösen Anstrich erhielten.

Mit Beginn der NS-Diktatur begann die SA damit, diesem Vorbild zu folgen und verbreitet Inhaftierungs- und Folterstätten einzurichten. Nicht nur politische Gegner des Regimes, sondern jeder, der ein abweichendes Verhalten zeigte, konnte außerhalb des normalen Rechtssystems in „Schutzhaft“ genommen und misshandelt werden. Das betraf Gesetzesbrecher jeglicher Couleur, Juden, Sinti und Roma, „Asoziale“, Pfarrer und engagierte Mitglieder der christlichen Kirchen, Zeugen Jehovas („Bibelforscher“) und Homosexuelle. Mit Beginn des Krieges kamen Kriegsgefangene, Widerstandskämpfer und Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern hinzu. Ebenso wie die SS die KZ zur Disziplinierung ihrer Angehörigen benutzte, überwies die Wehrmacht widerspenstige Soldaten, deren Erziehung im KZ „abschreckender und deshalb erfolgreicher“ erschien. Der Bevölkerung wurde vermittelt, dass sie durch ein KZ vor „Asozialen“ und Kriminellen geschützt würden. Ich lernte noch in den 1950er-Jahren in der Schule, Konzentrationslager seien als vorgebliche Besserungsanstalten im Grunde etwas Gutes gewesen. Dabei umfasste die Kategorie „Berufsverbrecher“, die wohl diverseste Häftlingsgruppe. Allein die Einordnung von Kleinkriminellen als „Berufsverbrecher“ oder „arbeitsscheue Asoziale“ wird oft eher zufällig gewesen sein. Ähnlich vage war die Definition des „Asozialen“. Nach einem Erlass über "Vorbeugende Verbrechensbekämpfung" von 1937 galt als asozial, wer durch gemeinschaftswidriges Verhalten, ohne dass es verbrecherisch war, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen wollte.“ Das ließ beliebige Ausdeutungen zu. Die Presse berichtete von einem Pärchen, das zum Horst-Wessel-Lied einen Schieber getanzt hatte und ebenso wie andere „Missmenschen“ – Bettler, Landstreicher, Gammler, Tierquäler, Prostituierte, Alkoholiker, Raufbolde, Verkehrssünder, Querulanten, Psychopathen sowie Geisteskranke und Behinderte im KZ landete.

Mit der Entmachtung der SA im „Röhmputsch“ 1934 unterstanden alle Konzentrationslager der SS. Durch die berüchtigte „Dachauer Lagerordnung“ bekamen sie ein einheitliches Gesicht. Ihr Schöpfer: Theodor Eicke, im Ersten Weltkrieg Zahlmeister, dann Polizist, wegen Rechtslastigkeit entlassen, schließlich „Sicherheitskommissar“ der BASF. Sein politisches Engagement erweckte Himmlers Wohlwollen. Im Juni 1933 vertraute der ihm das KZ Dachau an. Neben einer verschärften Disziplinar- und Strafordnung für die Häftlinge sorgte er mit seiner „Dachauer Schule“ für den Drill der Konzentrationslager-SS, die er „zu einem abgrundtiefen Hass auf die ‚Feinde hinter dem Draht‘“ erzog: „Brecht ihnen die Knochen und haut sie, dass sie das Schnaufen vergessen. Für einen SS-Führer oder SS-Mann gibt es nie ein Zurück, sondern nur ein Festbeißen mit dem unerschütterlichen Willen, den Gegner zu vernichten.“ Ein „Neuer“ wurde beim „Anlernen“ zu Misshandlungen aufgefordert. Hemmungen wurden beseitigt, indem er als „Feigling“ bloßgestellt wurde. Von diesem „Initiationsritus“ war unser Vater nicht ausgenommen. Nachdem Eicke beim „Röhmputsch“ den SA-Stabschef und den ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten eigenhändig liquidiert hatte, stieg er zum Inspekteur aller Konzentrationslager auf. Größten Wert legte er auf den Korps- und Kameradschaftsgeist der Totenkopfverbände, die seit 1936 die Wachmannschaften stellten, für ihn als „politische Soldaten“ eine eigene Elite innerhalb der SS. Dabei brach er mit den Traditionen des Offizierskorps, kumpelte mit den Untergebenen und sie mit ihm. Fotos zeigen „Papa“ Eicke Zigarre rauchend, jovial, in lässiger Attitüde. Oft wurde mir beruhigend gesagt: Unser Vater sei ja bei der Waffen-SS gewesen, die eigentlichen Henkersknechte hätten zur Totenkopf-SS gehört – ein wenig sachkundiges Argument, denn Versetzungen von einer Einheit zur anderen waren gang und gäbe, so wie er aus der Sanitätsreserve zur „KL Verstärkung Buchenwald“ kam und von dort zu einer SS-Felddivision. Viele wurden kriegsuntauglich wieder im KZ eingesetzt.

Der vertrauliche Umgang innerhalb der Totenkopfmannschaften übertrug sich nicht grundsätzlich auf die übrige SS. Als die ersten Einheiten in Dachau aufgestellt wurden, war dort noch Wachpersonal verblieben. Wie der SS-Arzt Hans Pichler schildert, hätten sie die Kameraden auf der anderen Seite des Lagerzauns eher als beamtete Gefängniswärter gesehen. „Ich gebe es ganz offen zu“, schreibt er, „dass wir uns ein wenig erhaben fühlten und auch keinen Kontakt suchten.“ Ungeachtet dessen lag über dem Gemenge wechselnder Koalitionen in Buchenwald eine Decke „verkameradeter“ Einigkeit. Darunter gärte es. Den Häftlingen fiel auf, dass sich unser Vater mit dem berüchtigten Arrestaufseher Martin Sommer duzte, obwohl dieser rangmäßig weit unter ihm stand. Offenbar hatte er in seiner Verunsicherung Anlehnung an einen der scheinbar Stärksten gesucht. Nach dem Krieg sprach jener vor Gericht davon, dass sie miteinander „befreundet“ gewesen seien, und zögerte nicht, seinen vorgeblichen Freund ans Messer zu liefern. Für unseren Vater zahlte sich die Grenzüberschreitung nicht aus.

Ernst Haberland, Vorarbeiter in der Lagerdruckerei, gibt eine seltsame Szene wieder: „SS-Leute ließen sich von Häftlingen die schriftlichen Hausaufgaben erledigen. Zu den Schwarzarbeiten gehörte eines Tages auch der Auftrag, für den SS-Arzt, SS-Untersturmführer Wagner, eine Arbeit zur Erlangung der Doktorwürde zu drucken. Er hatte zwar die Genehmigung eines Vorgesetzten, allerdings keinen Auftragsschein. Dieser junge SS-Arzt hatte gerade die Universität absolviert und unterschied sich in seiner Haltung zu den Häftlingen noch vom übrigen Personal. Als ich mit ihm über seine Arbeit sprach, kehrte er nicht den SS-Mann heraus. Die Broschüre sollte mit Bildern von Tätowierungen illustriert werden. Eines Tages betrat plötzlich die Frau des Kommandanten, die ’Kommandeuse’ Ilse Koch, die Fotoabteilung. Wagner erstarrte vor Ehrfurcht und erstattete sofort eine stramme Meldung. Anmaßend fragte die Koch, ob ihr Mann die Aufnahmen genehmigt habe. Er stammelte einiges zurecht. Die Koch sprach mit ihrem Mann über die Aufnahmen des Arztes und in den Hirnen der beiden entstand der grausige Plan, Häftlinge mit besonders schönen Tätowierungen zu töten. Aus der tätowierten Menschenhaut ließen sie Lampenschirme und Geldbörsen herstellen: Diese scheußlichen Requisiten wurden bei Besuchen höherer Nazigrößen als Aufmerksamkeiten überreicht. Der SS-Arzt, der meines Wissens den Dienst noch unbefangen angetreten hatte, war zu einem der verrufensten und gewissenlosesten Mörder im Lager geworden.“ Er schließt: Ein Verbrechen habe seinen Anfang genommen, welches in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen gesucht habe. Schildert er hier „die schlimmsten Nazis überhaupt“? Soll doch Ilse Koch ihr Bestes getan haben, ihren Aufenthalt in Buchenwald unvergesslich zu machen, indem sie Häftlinge gezwungen haben soll, an Experimenten teilzunehmen, die von ihrem „Freund“ Dr. Erich Wagner durchgeführt worden seien.

Haberlands outriertes Urteil berührte mich bei der ersten Lektüre weniger als das Porträt eines charakterschwachen Menschen, der gegenüber dem anmaßenden Auftreten der „Kommandeuse“ völlig hilflos war. „Die Koch“ hatte weder eine Dienststellung im Lager noch irgendeine Art von Befehlsgewalt. Als „First Lady“ sah sie sich augenscheinlich als Mitglied der SS-Familie, verfügte freizügig über Offiziere und spielte sich vor den Häftlingen kokett auf. Riskierte einer einen Blick, denunzierte sie ihn als zudringlich. Das zog die Prügelstrafe nach sich, der sie gerne beiwohnte. Eickes Bootcamp-Pädagogik dürfte unserem Vater den Respekt vor der „Frau Standartenführer“ eingebläut sowie Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines KZ ausgeräumt haben.

4 Fallen

Fortsetzung der Vernehmung des Beschuldigten Erich Wagner  durch den Untersuchungsrichter 17.-20.3.1959 nach dem Wortlaut der Übertragung der Kurzschriftanlage / Zur Person: „Nach meiner Doktorprüfung (17.12.1940) erhielt ich die Versetzung zur SS-Div. REICH, gleichzeitig Weihnachtsurlaub und am 18. Januar 1941 vom SS-Sanitätsamt den Marschbefehl über Metz nach Vesoul zum II. Rgt. (mot.) DER FÜHRER als Hilfsarzt. Im März machte ich bei dieser Truppe den Einsatz in Jugoslawien mit. Nach einem 6-wöchigen Aufenthalt in Alkoven bei Linz wurde die Truppe dann östlich von Warschau im Raum Puławy / Baranów gegen Russland eingesetzt. Der Vormarsch stockte am Jelnjabogen. Im September 1941 in die Kesselschlacht von Kiew geworfen, wurde die Division im gleichen Monat an den Jelnjabogen zurückverlegt. Von dort stieß sie beim Großangriff ab 2.10.1941 über Gschatsk, Mozhaysk weiter vor, bis am 4. Dezember 1941 27 km vor Moskau am Moskau-Wolga-Kanal der Rückzug begann. Mir erschien der Krieg verloren. Auf Vorhalt, dass ich trotz der drohenden Niederlage aktiver SS-Sanitätsarzt geworden sei, erwidere ich, dass ich mich bereits zuvor aus rein materiellen Gründen beworben hatte. Verwundet kam ich ins Lazarett Mozhaysk, aus diesem nach Smolensk, wurde am 4.1.1942 in das Sanitäts-Ersatzbataillon in Berlin-Oranienburg versetzt, erhielt Heiratsurlaub und schloss am 15.1. die Ehe. Ab 4. März war ich mit dem SS-Gebirgsjägerregiment Nr. 6 der SS-Gebirgsdivision Nord in Wildflecken/Rhön stationiert. Im Juni wurden wir nach Lappland eingeschifft. Bei der SS-Div. NORD machte ich den Krieg bis zu dem Rückzug von Finnland und der Operation NORDWIND in den Vogesen mit. Nach Kämpfen im Raum Trier war sie bei Boppard über den Rhein zurückgegangen. Ich war seit 27.12.1944 Kompaniechef der 1. Sanitätskompanie, hatte im März 1945 noch das Lazarett in Schlangenbad und sollte von dort über die Autobahn in den Raum Idstein verlegen. Dabei geriet der mit Pferden bespannte Teil in Gefangenschaft. Mit dem Zahnarzt und dem Chirurgen entkam ich. Wir marschierten durch den Vogelsberg nach Wildflecken, wo wir ein erhebliches Durcheinander vorfanden. An die nächstgelegene SS-Einheit in Nürnberg verwiesen, wurden wir im April von dort nach Hallein bei Salzburg in Marsch gesetzt. In Traunstein (immer noch mit allen Rangabzeichen und Auszeichnungen) sahen wir an den zurückflutenden Truppen, dass der Weitermarsch aussichtslos war, und ließen uns von dem Chefarzt des Traunsteiner Lazaretts aus der Waffen-SS entlassen. Ich trug nun Zivil und ging nach Bad Reichenhall zu meinen Angehörigen.“

Gottlob dabei

Endlich war unser Vater am Ziel seiner Wünsche angelangt, das Ruhm und Ehre versprach. Was traf er an? Sein Gefieder war beschmutzt und mit seinem Schritt vom SS-Lageradel zum profanen Kriegerverein der SS hatte er sich selbst degradiert. Eicke war ihm als Kommandeur der TOTENKOPF-Division vorausgegangen. Wegen seiner Verdienste beim Lagermanagement hatte der Olympier seinen Kämpen den Totenkopf auf den Kragenspiegeln belassen, außerdem durfte er seine Reihen weiterhin aus den Lagerwachen auffüllen. Da diese nur begrenzt zur Verfügung standen, senkte er die Aufnahmekriterien und beauftragte „Kopfjäger“, von der Wehrmacht bereits erfasste Soldaten zu greifen: „Holt sie aus den Kneipen, holt sie aus den Sportvereinen, vom Friseur, meinetwegen, aus den Bordellen.“ Ergänzt wurde die neue Truppe durch Polizisten, die sich im Osten über alle hermachten, denen das Recht auf Leben genommen war. Ihre Schatten legten sich über die Raben an der Front, die als Mordmelder gesehen wurden. Der „Führer“ meinte: „Es ist gut, wenn uns der Schrecken vorausgeht, dass wir das Judentum ausrotten.“ Die bei den Bewegungsjagden und dem Kesseltreiben eingesetzten Schutztruppen der Liquidatoren ließen im Gegensatz zu ihnen Federn. Zu viele streckten die Flügel.

Ihren Ursprung hatte die Waffen-SS in den Stellungskämpfen des Ersten Weltkriegs. Auf dem Kaiserstuhl wurde mit leicht bewaffneten „Stoßtrupps“ der Bewegungskrieg trainiert, nicht mit Drill und Exerzierreglement, sondern mit körperlicher Fitness und intensiver Ausbildung an der Waffe. Ranghierarchien waren nur funktional, jeder musste für den anderen einspringen können. Frühzeitig trugen sie statt der Pickelhaube den Stahlhelm. Mitunter zierte ihn ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Handgranaten darunter. Die mit diesen Warriors gebildeten Bataillone gediehen zur Lieblingstruppe des Kronprinzen. Sie waren die Ersten, die motorisiert wurden, profitierten von den längsten Etappenzeiten sowie Sonderrationen und waren nicht nur deshalb unbeliebt. Als unentbehrliche „Facharbeiter“ des Krieges wurden sie nach Einsätzen zurückgezogen. Ihre Kameraden aus der zweiten Reihe mussten sehen, wie sie die Stellung hielten. Die Stoßtruppenmentalität formte die nächste Kriegergeneration, darunter den Reichswehrmajor Felix Steiner, der sie in die SS einbrachte. Er setzte auf enge Kameradschaft, Körpertraining und eine „Gemeinschaft des ‚Wir‘“. „Pirschgänger, Jäger und Athleten“ in einer Person: „wie in einer wohlgeölten Maschine“ hatten sie zusammenzuwirken. Als Vollzugsorgan des „Führers“ erhielt sie den dreigesichtigen Charakter der utopischen Street Judges in den Megacitys des dritten Jahrtausends, die als Polizisten, Richter und Vollstrecker auftreten.

Carnifex, der „Fleischer“, hieß bei den Römern der Henker. Es waren Sklaven, die an den Verurteilten die Prügelstrafe vollzogen und sie ans Kreuz schlugen. Im Mittelalter oblagen dem Henker weitere entehrende Tätigkeiten wie Folter, Müllbeseitigung und Abdeckerei sowie die Vertreibung von Aussätzigen aus der Stadt und die Aufsicht über die Dirnen. Wegen seiner Fertigkeit, durch die hochnotpeinliche Befragung verursachte Körperschäden zu kurieren, wandten sich Kranke an ihn. Paradox genug verband sich Heilen und Töten in einer Person. Die SS konnte diese Arbeitsfelder reibungslos in ihr Konzept einer allumfassenden Ordnungsmacht integrieren. Ihre Fachkräfte suchte sie sich unter den arbeitslosen Militärs, die nach dem Kriegsende 1918 zur Polizei gegangen waren, und den je nach Standpunkt ehemaligen „Republikschützern oder Terroristen“ der Freikorps, in denen wiederum zahlreiche Veteranen der Genozidspezialisten aus den Kolonien untergekommen waren. Bei der blutigen Niederschlagung des „Röhmputsches“ offenbarte sich diese Meute unter der einigenden Sigrune.

Ab April 1940 wurden alle bewaffneten Einheiten der SS als „Waffen-SS“ geführt. Operativ dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellt, verblieben sie in Personalangelegenheiten bei der SS-Verwaltung. Als das RSHA sukzessive alle Polizei- und Ordnungsaufgaben im Sinne der „guten Polizey“ an sich zog, konnte sich jedes Mitglied der Kriminal- und Schutzpolizei, des SD oder der Gestapo mit zugeordneten Hilfskräften als Carnifex in den paramilitärischen Polizei-Einheiten wiederfinden. Eingesetzt im Ordnungsdienst der Partei startete unser Vater freiwillig in der Allgemeinen SS. Dann landete er im Kriegsdienst an der Seite von SS-Totenkopfverbänden in einer der miserabelsten Arbeitsstellen, die sich ein Jungarzt vorstellen kann, und soll sich dort als vorgeblicher Heiler zum Abdecker und Henker entwickelt haben. Seine Illusion, bei der Waffen-SS als Truppenarzt ehrenvoller gefordert zu sein, erfüllte sich nicht. „Mord“ wurde weiterhin „zur Bedingung des Seins“, obgleich er als bloßer „Gehilfe“ Abstand halten konnte. Die Titel der Deathcore- / Death-Metal-Band „Carnifex“ lesen sich heute wie Menetekel: „Entmenschlichen“, „Stirb ohne Hoffnung“, „Leichen Überall“, „Ins Grab geschleppt“.

„Gottlob zum Teil im Bett“

Es ließ sich harmlos an. Anfang 1941 stieß er in Burgund westlich von Vesoul zur „SS-Infanterie-Division REICH (mot.)“. Seine Einheit war aus Wiener, Klagenfurter und Grazer Sturmbannen gebildet worden, die zur Verfügungstruppe gehört hatten. Er dürfte sich bei seinen Landsleuten heimisch gefühlt haben, zumal es eine große Ehre gewesen sein musste, in dem FÜHRER-Regiment zu dienen. Statt des Totenkopfes trug er nun die Sigrunen auf dem Kragenspiegel. Sein Verband war motorisiert, während die Wehrmacht mehrheitlich zu Pferd oder zu Fuß unterwegs war. Viel zu tun gab es in der Öde der Bourgogne nicht. Seine Hauptaufgabe waren Impfungen. Kollegen taten sich morgens mit einem Wasserglas Kognak und zwei Morphium-Spritzen gütlich, mittags mit Kokain und abends zuweilen Hyoskin. Er wich in höhere Sphären aus. Am Westwall soll er auf dem Mast einer Überlandleitung herumgekraxelt und dafür in den Bau gewandert sein. Fehlte ihm die Herausforderung des Bergsteigens? Oder suchte er den Überblick über das Kommende? „Offnen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen“, „ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern“, ein „Nachtwandler des Tages“  mit der Imagination, auf einem Abenteuerspielplatz herumzutollen. Sein Fernblick wird sich in den Vogesen verloren haben. Die „Blumen des Bösen“, von denen Jacques Brel in seinem Chanson „Vesoul“ singt, erblickte er nicht.

Der Bericht eines Feldarztes aus dem Russlandfeldzug eröffnet uns, was ihn erwartete: „Tag und Nacht gab es keine Ruhe. Es gab zahlreiche Schwerverwundete, Amputationen, Bauch- und Lungenschüsse, Schussbrüche. Man isst im Operationsraum rasch einige Bissen Brot und nimmt einen Schluck Kaffee, weil gerade eine Pause eingelegt werden muss, um blutige Verbandsstoffe, die ausgeschnittenen Hautfetzen, die blutigen Tupfer, Uniformfetzen und amputierte Glieder wegzuschaffen. Man schläft im Stehen, die Beine sind gefühllos, man ekelt sich vor der blutigen Arbeit, die Läuse beißen.“

Die Hochstimmung der im Westfeldzug sieggewohnten „Blitzmänner“ überdeckte ihre hohen Verluste. Sie waren der schlechten Führung, ihrem Ungestüm und nicht zuletzt der dürftigen Rüstung geschuldet. Als es nicht, wie erwartet gegen „Engelland“ ging, sondern nach Rumänien, zeigte sich ihre mangelnde Vorbereitung. Auf dem Marsch gab es Unfälle mit Toten, es fehlte an Sprit, überladene Lkws behinderten das Tempo und wurden von der erfahreneren Wehrmacht überholt. Ob sie bei einer Rast im Heimatort des „Führers“ seiner gedenkend die Arme zum deutschen Gruß ausstreckten? Während sie noch unterwegs waren, zog der den Balkan in seinen Krieg hinein. Mussolinis Blitzkriegsambition gegen Griechenland gefährdete durch die drohende Intervention der Engländer die rumänischen Erdölfelder. Die Jugoslawen, vermeintlich Verbündete, wurden abtrünnig und Hitler schickte mehr als eine halbe Million Soldaten ins Gefecht. Ungarn und Bulgarien beteiligten sich.

Unser Vater blieb draußen vor. Am Palmsonntag verunfallte er mit seinem „San Krad“ im Banat nahe der serbischen Grenze. Seine Krankenakte verzeichnet eine „Gehirnerschütterung mit längerer Bewusstlosigkeit (ca. 15 Minuten), mehrfache Rippenbrüche, Handgelenksbruch re.“ Er notiert: „7.4. Gottlob zum Teil im Bett“. Die Blessur erbrachte keine Lorbeeren, sie war nicht durch feindliche Waffenwirkung erfolgt. Der Tag des Unfalls war der des Kirchenjahres, an dem er 18 Jahre später aus dem Leben scheiden sollte. Er hielt fest, dass er um zwei Uhr nachts in dem Dorf Gottlob im Banat ankam und kurz zuvor gegen einen Baum geprallt war. Auf rutschigem Untergrund, völlig übermüdet, oder von Panik bestimmt angesichts des Kommenden? Hatte er nach dem Ortsnamen bewusst kein Satzzeichen gesetzt? War es Ironie? Gottlob war es glimpflich abgegangen. Hatte ihm Lazarus, der Schutzpatron der Metzger, Abdecker und Totengräber (und damit nicht gleichermaßen der SS?) zur Seite gestanden?

Die Serben legten am 18. April die Waffen nieder, zur „Auffrischung“ ging es nach Alkoven in den „Heimatgau des Führers“. Die Etymologie des Ortsnamens ist eine andere. Doch drängt sich die Assoziation zu dem „Alkoven“, einer Bettnische, in der man die Außenwelt hinter sich lassen kann, auf. Er zog in der Tat den Vorhang zu. In Sichtweite seiner Unterkunft begann zur Zeit seiner Ankunft in der „Idioten- und Cretinenanstalt“ im Schloss Hartheim die Ermordung von Patienten im Rahmen der „Euthanasie-Aktion-T4“, die sich bis August 1941 hinzog. Aus anderen österreichischen Anstalten wurden sie zum „Linzen“ hergeschickt. In seinem Studium ging es noch um Sterilisierung, nun unzweideutig darum, sich der „leeren Menschenhülsen“ und „Ballastexistenzen“ zu entledigen.  Berief man sich angesichts dieser reichsweiten Aktion bei mir zu Hause wieder auf Luther? Für ihn waren behinderte Kinder bloßes Fleisch (massa carnis), „da kein Seel innen ist“, „ das denn nicht gedeiet, sondern nur frisset und säuget“ und das man „ersäuffen“ sollte.

In Buchenwald hatte unser Vater bei den Anfängen der Menschenvernichtungsstrategie des Dritten Reiches mitgewirkt. Aus nächster Nähe erlebte er nun ihre Fortsetzung und Radikalisierung: die systematische Tötung von Kranken mit dem „Ideal, die Menschenvernichtung am laufenden Band“ zu erreichen. Die Polen konnten nicht mehr als Sündenbock herhalten. In Hartheim und den anderen Tötungsanstalten waren es physisch gesunde Psychiatriepatienten und Behinderte, derer man sich entledigen wollte – „unnütze Esser“, die dem Etat zur Last fielen. Er floh in seichte Unterhaltung und Spannungsentladung ins Private. …

5 Aufbrüche

Fortsetzung der Vernehmung des Beschuldigten Erich Wagner durch den Untersuchungsrichter 17.-20.3.1959 nach dem Wortlaut der Übertragung der Kurzschriftanlage / Zur Person: „Nach dem Einmarsch der Franzosen erhielten wir Einquartierung, die glimpflich ablief, weil mein Vater französisch sprach und ich die Rote-Kreuz-Binde als Arzt trug. Nach 2–3 Wochen kamen die Amerikaner. Ihrem Aufruf zur Meldung folgte ich nicht, da der automatische Arrest für ehemalige SS-Angehörige drohte. Es muss aber eine Liste der Allgemeinen SS in Bad Reichenhall gefunden worden sein und am 13. Juni 1945 wurde ich verhaftet. Ich hatte von der Verhaftung schon einen Tag vorher erfahren und wurde in das Lager Moosburg verbracht. Auf blankem Fußboden machten wir eine Hungerzeit bis ungefähr in den Herbst durch. Um die Jahreswende erhielt ich den üblichen Fragebogen, den ich wahrheitsgemäß ausfüllte. Als ich von dem jüdischen CIC-Beamten vernommen wurde, schaute dieser im Kriegsverbrecherverzeichnis nach, ohne dass ich darinstand. Die Verwaltung des Lagers ging 1947 in deutsche Hände über, nachdem sich inzwischen die Verhältnisse gebessert hatten. In dieser Zeit war ich auch im Lagerhospital tätig, wurde bald wieder abkommandiert, da nur Fachärzte gebraucht wurden. In dem Spruchkammerfragebogen verschwieg ich meine Zugehörigkeit zur SS, weil jeder, der im Zusammenhang mit Buchenwald stand, offenbar nach Dachau abtransportiert wurde, wie es auch Auslieferungen an Oststaaten gab. Von Rückkehrern aus Dachau erfuhr ich, dass es ihnen dort nicht gut gegangen war. Unter der Verwaltung der Amerikaner wurden unter Zuhilfenahme von uns Häftlingen Entlassungen aus Wehrmacht und Waffen-SS durchgeführt, um die Inhaftierten dann als Zivilgefangene zu behandeln. Es war üblich, dass man dem Entlassungsoffizier Blanko-Entlassungsscheine zuschmuggelte, die unterschrieben gegen Tabak und Ähnliches gehandelt wurden. Auch ich besaß zwei. Kleine SS-Dienstgrade wurden bereits entlassen und höhere zurückgestellt. Daher sah ich auf absehbare Zeit keine Aussicht auf Entlassung. Während 1947 verließen Häftlinge auch auf eigene Faust das Lager, um in eine andere Zone zu gelangen, in der man nach den bestehenden Gerüchten nicht festgehalten wurde, vor allem in der englischen, während die Gerüchte über die französische widerspruchsvoll waren. Ich nutzte ein Außenkommando zur Flucht. Auf besonderes Befragen erkläre ich, dass die Angst, als ehemaliger KZ-Arzt von Buchenwald besondere Nachteile zu erleiden, eigentlich mit den Dachauer- und den Ärzte-Prozessen geringer geworden war, nachdem ja nichts gegen mich unternommen war. In einem war sogar von den Tätowierungen die Rede gewesen, sie bildeten nicht den Anstoß für meine Flucht. Bei meiner Frau, die bei ihren Eltern in Lahr wohnte, hielt ich mich nur eine Nacht auf. Im Hinblick auf die Verhältnisse in der französischen Zone riet sie mir dringend, zu verschwinden. Den zweiten Entlassungsschein stellte ich auf den Namen meines leiblichen Vaters ‚Walter Zahn‘, den Entlassungsort Duisburg und den Beruf Drogist aus. In Duisburg wohnte ich bei der Schwägerin meiner Mutter. Ich meldete mich polizeilich, arbeitete bis 1954 in den Lingner-Werken in Düsseldorf und brachte es vom Arbeiter bis zum Werkmeister.“

Undenkbar / unsagbar

Peter Sloterdijk spricht von den „angesammelten Beschriftungen, die jedem Leben von Anfang an zugefügt wurden“ und fordert: „Wo Brandmarkung war, soll Sprache entstehen“ – und das in einer Zeit, in der das Verschweigen zur Staatsräson wurde. Der Ich-Erzähler in den „Marmorklippen“ schildert, wie „das Wort von den Erscheinungen sich löste“, als er „ein Stückchen vom Iris-Schleier dieser Welt“ gesehen hatte“. „Ich hatte nie zuvor geahnt“, fährt er fort, „dass Sprechen solche Qual bereiten kann“. Unser Vater sah in Buchenwald in den Abgrund menschlicher Zerstörung. Seine Aufzeichnungen brachen ab. Sprache sei ihrem Wesen nach Erfindung, schreibt Roland Barthes, und der Aufwand zur Wiedergabe von Tatsächlichem enorm. Den gelang es ihm nicht zu leisten. Ob er sich bei Jünger damit wiedergefunden hat? Die beiden Botaniker der „Marmorklippen“ beginnen nach ihrer Sprachlosigkeit, „in leichten Metren“ Sätze auf Zettelchen zu schreiben, mit denen sie „die Dinge und die Verwandlungen“ beschreiben. Abends stecken sie sich die Zettel zu, um sie nach der Lektüre zu verbrennen. Ihre Mühen sehen sie darin belohnt, dass „Maß und Regel in den Zufall und in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet“ seien und die Furcht nachlasse, indem das Land um sie herum „klarer, more geometrico“ hervortrete. Die Arbeit an der Tätowierungsstudie könnte unserem Vater in dem ihn umgebenden Chaos „Maß und Regel“ zurückgegeben haben. Jüngers Naturforscher zwingen die Worte selbst in ein Korsett und machen sie zu einem Gegenstand der Vermessung gleich den Pflanzen, die sie katalogisieren. Wie sie mag er sich Notizen gemacht haben, um sie anschließend zu vernichten. Bei der strengen Observanz durch den kriminellen Lagerkommandanten hätte eine Niederschrift gefährlich werden können. Das Frontkommando löste nichts. Der Alb des Lagers ließ sich nicht abschütteln. Näher kam er sich auch in Finnland nicht. Sein Leben gerann weiterhin zu einer Fahrtenbuchbiografie mit einer Sprache, die zwar eine Brücke zum unmittelbar Fassbaren schlug, sich andrerseits darin verhakte. Die Tür des selbst verfertigten Käfigs, dessen Gitterstäbe ihm Schutz vor dem nicht zu bewältigenden Außen gaben, war ihm verwehrt zu öffnen.

Nach dem Krieg weiteten sich die inneren Vergitterungen allmählich, äußere Strukturierungen ermöglichten wieder Orientierung. In unzugänglichen Alpentälern zögerten immer noch ganze Verbände der SS zu kapitulieren – nicht nur aus Trotz und Wut. Churchill hatte im März befohlen, einen Feldzug gegen den Verbündeten im Osten vorzubereiten. Die undenkbare Operation sollte am 1. Juli 1945 gemeinsam mit Wehrmachtdivisionen beginnen, die in Schleswig-Holstein und Süd-Dänemark bereitgehalten wurden. General Patton, Militärgouverneur für Bayern, wollte es nicht abwarten. Am Tegernsee lag eine noch voll armierte Panzergrenadier-Division der SS. Sie wollte er als Kerntruppe gegen die „Mongolenbrut“ einsetzen. Die Deutschen, besonders die Waffen-SS, eine „Bande sehr disziplinierter Hurensöhne“, hätten ihm als die einzigen anständigen Leute in Europa gegolten. Die Qualität einer Armee soll er an ihren Sanitätseinheiten gemessen und einem deutschen Korpsarzt zur Rekrutierung von Ärzten in den Kriegsgefangenenlagern einen Jeep mit Fahrer gestellt haben. Ob sich unser Vater ihm gerne angeschlossen hätte? Vielleicht, um wieder zum weißen Raben zu werden und ein normales Leben führen zu können. Zur Kommandoübergabe soll der General mit einem Hubschrauber inmitten der im Karree angetretenen Kämpen gelandet und mit einem dreifachen „Heil Hitler“ begrüßt worden sein. Überwältigt soll er sie gefragt haben, ob sie mit ihm kämpfen würden. Alle seien dabei gewesen. Der neue „Kreuzzug“ habe sich in ihm schließlich als Wahn festgesetzt. Er wurde abgesetzt und kam auf dubiose Weise bei einem Autounfall ums Leben. Churchills Plan wurde Makulatur.

„KZ Moosburg“

Bald nach dem Polenfeldzug wurden Verletzungen des Völkerrechts durch die Deutschen ruchbar, wenngleich Informationen über den Holocaust wie durch das „Riegner-Telegramm“ nicht ernstgenommen wurden. Mit der Moskauer Erklärung von 1943 wurde die Ahndung derartiger Verbrechen festgelegt. Die Westalliierten setzten, kaum im deutschen Machtbereich, mutmaßliche Kriegsverbrecher auf der Grundlage des „automatischen Arrests“ fest. Das „C.I.E. 6 Moosburg“ war ein heruntergekommenes, verlaustes und verwanztes ehemaliges Kriegsgefangenenlager. Die Betten hatten lediglich ein Drahtnetz als Unterlage, zu essen gab es morgens eine Scheibe Brot und „Landserkaffee“, mittags eine frugale Wassersuppe. Gravierende Mangelerscheinungen waren die Folge. Jeder Vierte litt Anfang 1946 an Hungerödemen. Die meisten waren in leichter Sommerkleidung eingeliefert worden und trafen völlig unvorbereitet auf die Winterkälte. Schwere Lungenerkrankungen waren unvermeidlich. Sein späterer Anwalt Morgen, ebenfalls dort interniert, sprach später gegenüber der Staatsanwaltschaft Offenburg beharrlich von einem „KZ“. Im Unterschied dazu fand sich einer, der sie aus ihrer Misere erlöste. Nach einer Besichtigung des Lagers schockiert von den Zuständen, ordnete Patton die Verbesserung der Ernährung an. Im Sommer 1946 begann die Inquisition der „Spruchkammern“ und durchsiebte die Bevölkerung nach „Hauptschuldigen, Belasteten, Minderbelasteten, Mitläufern und Entlasteten“. Jeder wollte höchstens Mitläufer gewesen sein, die Jagd nach den „Persilscheinen“ begann. Es erwies sich als nützlich, ein KZ-Opfer in der Familie zu haben.

Die Situation im C.I.E. entspannte sich. Der ehemalige Frankfurter Generalintendant inszenierte Theateraufführungen. Der Name unseres Vaters taucht auf den Programmzetteln nicht auf. Lieber ließ er sich Arbeitskommandos zuweisen, dort gab es höhere Essensrationen. Zu der Trennung von der Familie und der Angst vor der Zukunft kam interner Terror. Der eine oder andere mochte sich arrangiert, die meisten werden mit ihrer Existenz gehadert und nach Rechtfertigungen gesucht haben. 1946 wurde in Zürich Max Frischs Schauspiel „Die Chinesische Mauer“ uraufgeführt, „eine makabre Revue-Ballade der menschlichen Unbelehrbarkeit.“ Größen der Weltgeschichte können angesichts der Veränderungen, die das Leben nach ihrem Tod genommen hat, nur das sagen, was sie ständig von sich gegeben haben. Eine „mechanisch-bewusstlose Repetition“ wie die der ausgedienten Goldfasane und Waffenträger bei uns zu Hause: „Es ist, als sei’n sie tot, doch reden sie und tanzen auch und drehen sich im Kreis, wie sich Figuren einer Spieluhr drehn.“

Unruhe kam auf, als sich der ehemalige Sachsenhausen-Häftling Pastor Niemöller von der Bekennenden Kirche zur „Alleinschuld Deutschlands“ bekannt haben sollte. Dabei hatte lediglich der Rat der EKD deutlich gemacht, dass sich die Kirche mit ihrem Volk in der Gemeinschaft des Leidens ebenso wie in der Solidarität der Schuld sehe. Die obersten Seelsorger offenbarten sich sonst eher mit Sprachlosigkeit. Äußerstenfalls beklagten sie, dass einige gottlos gehandelt und so Unglück über alle gebracht hätten. Reuige Rückkehrer in den Schoß der Mutter Kirche wie unser Vater mussten sich verlassen fühlen. Erzbischof Gröber aus Freiburg brachte vor, dass keiner von ihrer Zunft je „beweiskräftig“ etwas über die Vorgänge im Osten erfahren habe. Den Versuch, die Juden zu „neutralisieren“, rechtfertigte er damit, dass sie in der ihnen aufgezwungenen Abwehr gefährlicher geworden seien als die größte feindliche Armee. Der Württemberger Landesbischof Wurm gründete 1951 mit der Prinzessin von Isenburg, dem Münchener Weihbischof Neuhäusler, Joseph Kardinal Frings und hohen SS-Führern außer Diensten die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, um publizistisch, juristisch wie materiell flüchtige, inhaftierte und verurteilte NS-Täter zu unterstützen. Aktiv waren ebenfalls Himmlers Tochter, die Frau von Rudolf Heß sowie der Jurist Rudolf Aschenauer, ehemals im Reichspropaganda-Amt München, der später unseren Vater vertrat. Gab es Angebote, sich über die „Rattenlinie“ ins Ausland abzusetzen? Offenbar sah er sich nicht so gefährdet, dies in Erwägung zu ziehen. In einem Brief äußerte er anklagend: „Wir sind missbraucht worden“, ohne die Frage nach Verantwortung und Schuld zu stellen. Darin folgte er seiner Zeit. Beckmanns Opferklage aus Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ wird ihn wie viele angesprochen haben. In der Schule fand unsere Auseinandersetzung mit dem Krieg durch dieses Theaterstück statt. …

 

 

 

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