Etwas ist schiefgelaufen

Du kannst versuchen die Seite erneut hochzuladen. Wenn der Fehler weiterhin besteht, bitten wir dich mit uns Kontakt aufzunehmen auf kontakt@boldbooks.de.

Fehlercode 418

Bad Creatures

Bad Creatures · Sci-fi und Fantasy

Junge Halbelfe erkennt, dass ihre Welt aus Lügen und Geheimnissen besteht und verbündet sich mit dem Feind, um die Wahrheit zu ergründen.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Menschen haben Angst vor dem Unbekannten und begegnen ihm oft mit Hass und Gewalt. In Rückblicken während der Handlung wird ein solcher Hass und der daraus resultierende Untergang der uns bekannten Welt beschrieben. Die Geschichte spielt in der Zukunft, nach einem Krieg, den die Vorurteile jedoch überlebt haben: Durch einseitige Informationen wächst Protagonistin Lionne nach dem Sieg der Kreaturen über die Menschen in dem Glauben auf, Menschen seien nicht mehr als seelenlose Monster. Die junge Halbelfe durchschaut die Lügen erst, als sie ihre Feinde kennenlernt und feststellt, dass die Unterschiede zwischen den Völkern kaum existent sind. In meinen Büchern setze ich mich stets für Toleranz und gegen Schubladendenken ein. Ich appelliere daran, nicht vorschnell zu verurteilen, sondern stattdessen hinter die Fassade zu blicken, zu hinterfragen. In jedem Menschen (und jeder Kreatur) steckt so viel mehr, als sie zunächst offen zeigt. Außerdem hat jeder seine Gründe, so zu handeln wie er es tut. Mir ist es wichtig, mich für etwas mehr mitfühlendes Verständnis auszusprechen.

Über den/die Autor:in

undefined undefined

Hi, ich bin Sandra, geboren 1985, und wohnhaft im Herzen Oberschwabens. Noch bevor ich lesen und unzählige Bücher verschlingen konnte, kam ich mit dem Theater in Berührung und stand im Alter von fünf ...

Prolog

Mirees Aufzeichnungen

23. Mai 2054

Es ist so heiß. Viel zu heiß für diese Jahreszeit.

Ob es ihre sadistischen Seelen befriedigt, wenn sie beobachten, wie wir unter den Wellblechdächern in unserem eigenen Saft schmoren? Und ob sie wohl lachen, wenn sie uns den Strom abstellen und dabei zusehen, wie wir um die Plätze an den Kühlanlagen kämpfen, sobald sie die Geräte vorübergehend wieder anstellen? Die quälende Hitze erschöpft und zermürbt uns, macht uns aggressiv. Und bald gesellt sich der Hunger zu dieser explosiven Mischung.

Unsere spärlichen Vorräte verderben bereits und da sie die Nahrungsmittellieferungen gestoppt und unsere Anbauplätze vergiftet haben, kommt unser menschliches Publikum demnächst in den Genuss, die Kreaturen hier drin elendig krepieren zu sehen. Ich weiß, es liegt nicht in meiner Macht als Elfe, die Gefühle der Menschen wahrzunehmen, aber ich bilde mir ein, ihre ungeduldige Vorfreude zu spüren - jedes Mal, wenn mich der gehässige Blick eines ihrer Soldaten trifft.

Miko meint, er könne Strom vom Zaun abzapfen. Ich lasse ihn in dem Glauben. Es ist gut, Hoffnung zu haben, daher bringe ich es nicht über mich, sie ihm zu nehmen. Er wird ohnehin bald aufgeben - hoffe ich. Seit Tagen versucht er, unbemerkt zur Linie zu gelangen. Noch ist er schnell genug, ihren Kugeln auszuweichen. Aber früher oder später, ohne Wasser und Nahrung, wird sogar ein Gestaltwandler schwach und langsam - egal welche Gestalt er annimmt.

Tag für Tag frage ich mich, wie es so weit kommen konnte. Was haben wir den Menschen nur getan, um so viel Hass zu verdienen? Weshalb ist unser Leid ihr Triumph? Wir haben doch alles ertragen - die separaten Viertel; die getrennten Schulen, Ämter und Restaurants; die vergitterten Busse. Wir haben uns das Wahlrecht, ach was, die Hälfte aller Rechte nehmen lassen. Wir haben ihnen gehorcht, weil wir dachten, wir könnten irgendwann, wenn sie sich endlich an uns gewöhnt hätten, friedlich koexistieren. Wir wollten uns doch nur nicht mehr verstecken müssen. Ich war so fest davon überzeugt, wir wären fähig, eine Welt zu erschaffen, in der unsere Kinder aufwachsen, ohne sich die hübschen Elfenohren kupieren oder ihre Nixenhände verhüllen, ohne ihre Kulturen, ihre Wesenszüge verleugnen zu müssen.

Die Menschen haben uns allerdings nie vertraut. Sie haben uns nicht zugehört, uns nicht geglaubt, dass wir ungefährlich sind. Denn in ihren Mythen und Märchen waren wir immer schon die Bösen. Deshalb haben sie uns weiter unterdrückt, uns alles genommen ... und sind zu den Bösewichten der realen Welt geworden.

Wie viel kann eine Kreatur ertragen? Wir mussten uns schließlich wehren, sonst wären wir untergegangen. Sie ließen uns keine Wahl ...

Zugegeben, ich fand nicht alles gut, was die Kreaturen-Bewegung getan hat. Ich bin auch nicht auf jede meiner Taten stolz. Immerhin sollten wir uns vornehmlich für die Gleichstellung von Menschen und Kreaturen einsetzen und vielleicht waren unsere Mittel, uns Gehör zu verschaffen, ein wenig zu radikal ... Doch andererseits ... Was hätten wir tun sollen? Hätten wir die Menschen schlicht ‚bitten‘ sollen, uns in Ruhe zu lassen? Monster sind von Worten nicht beeindruckt.

Sie zwangen uns, zu handeln. Aber wir waren nicht stark genug.

Tayo ist überzeugt, sie haben Angst vor uns. Er glaubt, sie wollen uns vernichten, weil sie sich vor unseren Fähigkeiten fürchten. Einerseits gebe ich ihm recht. Ich frage mich jedoch, wieso sie uns dann nicht einfach töten? Warum wollen sie uns leiden sehen? Laut Tayo brauchen sie einen ‚Grund‘. Können sie es besser mit ihren Gewissen vereinbaren, uns verhungern zu lassen, als die Containersiedlung zu bombardieren? Das würde allerdings voraussetzen, dass sie ein Gewissen haben. Und nach meinem gestrigen Zusammenstoß mit einem ihrer Soldaten, wage ich allmählich, das zu bezweifeln.

Ich war noch nicht einmal in der Nähe der Grenze. Die wilden Beeren wuchsen innerhalb der Containersiedlung. Auf unserem Gebiet. Es war mein Recht, sie einzusammeln. Er hätte nicht auf mich schießen dürfen. Aber wen interessiert es schon, wenn ein menschlicher Soldat auf eine Elfe schießt? Nachdem die Kugel in meinen Oberarm eingedrungen war und ich sah, wie das Blut aus der zerfetzten Haut quoll ... ich weiß nicht, da war es, als bestünde ich nur noch aus Frust und Wut und Verzweiflung.

Mit aller Willenskraft musste ich die Tränen zurückhalten. Ich stand auf und schaute dem Soldaten in das gelangweilte Gesicht. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, plötzlich hörte ich mich selbst brüllen. Allerdings klang es nach einer merkwürdig verzerrten Version meiner Stimme.

‚Mein Name ist Miree. Ich bin eine Elfe! Ich bin fähig, Schmerz zu empfinden.‘ Ich fasste an die Wunde und hielt ihm meine blutigen Finger entgegen. ‚Ich blute, wenn man mich verletzt, siehst du, genau wie du!‘

Er meinte bloß, ich solle mich von der Grenze fernhalten und sah an mir vorbei mit seinen kalten, leeren Augen.

Die Wunde brennt und juckt immer noch fürchterlich. Ich hoffe sie entzündet sich nicht. Wäre kein Wunder, bei unserer medizinischen Ausrüstung, denn mehr als Wodka und Pflaster sind uns nicht geblieben. Aber ich darf jetzt nicht schlappmachen. Ich muss stark bleiben, muss bereit sein, wenn Tayo den Startschuss gibt. Ich bin ein fester Bestandteil seines Plans.

Bald schon werden wir unsere Freiheit zurückzuerlangen.

1. Fremde

„Was ist los, Prinzesschen? Machst du schon schlapp?“

Lionne stolpert über einen Erdhügel, landet unelegant auf einem Knie und lässt dabei beinahe die Armbrust fallen. Hastig richtet sie sich auf und bedenkt Ragnar mit einem zornigen Blick. „Nenn mich nicht so.“

Schmunzelnd schüttelt er den Kopf. Wenn Lionne so erschöpft aussieht, wie sie sich fühlt, ist es kein Wunder, dass sich ihr bester Freund über sie lustig macht. Wochenlang hat sie auf ihn eingeredet, damit er sie mit auf die Jagd nimmt, und seine Warnungen, wie anstrengend ein Marsch durch den Wald ist, mit einem Schulterzucken abgetan. Sie hat geglaubt, er würde sich nur aus Angst vor ihrem Onkel derart zieren.

Ihre Antwort, nämlich, dass sie zäher sei, als sie aussieht, kommt ihr rückblickend betrachtet etwas lächerlich vor. Dennoch strafft sie ihre Gestalt und hebt entschlossen das Kinn. „Gehen wir endlich weiter oder brauchst du eine Pause?“

Lachend klopft ihr Ragnar auf die Schulter. Kein Tröpfchen Schweiß perlt auf seiner breiten Stirn, kein Hauch von Röte ziert seine Wangen – typisch Bergtroll. Auf den ersten Blick wirken sie ein wenig plump und gemütlich, wie Bären. Aber wie solche sind sie von Natur aus auch stark, robust und ausdauernd. Ragnar scheint wie dafür gemacht, in der Wildnis zu leben. Lionnes untrainierte Arme können dagegen kaum die Armbrust waagrecht halten.

Elfen sind nun einmal magische Wesen. Rohe Gewalt und Waffen liegen ihnen nicht; sie nutzen stattdessen ihre Magie. Was Lionne ebenfalls gern tun würde, wenn ihr Onkel nur endlich ihre Ausbildung billigte ... Allerdings meint dieser, sie bräuchte es in Friedenszeiten nicht lernen, und bleibt stur bei seiner Ansicht.

Ragnar löst das Band, das seine langen braunen Haare zurückhält, da sich einige Strähnen bereits daraus gelöst haben, und bindet sich einen neuen Zopf. Für gewöhnlich ist er nicht derart eitel, er verschafft Lionne lediglich eine kurze Pause.

Dankbar lächelt sie ihm zu und stützt sich für einen Moment auf die schwere Armbrust, um zu verschnaufen. Trotz der Schmerzen in ihren Armen und Beinen, saugt sie jedes Detail des Waldes in sich auf. Wer weiß, ob es noch einmal zwanzig Jahre dauern wird, bis sie sich wieder aus der Stadt schleichen kann.

Ihr überbesorgter Onkel besteht darauf, dass sie innerhalb der Stadtmauern bleibt. Dabei ist der Krieg schon lange vorbei und die Kreaturen sind in Sicherheit. Oder glaubt Onkel Tayo etwa an die Ammenmärchen, die man unartigen Kindern erzählt?

Wenn du nicht brav bist, schicken wir dich in den Wald zu den Menschen.

Seit Jahren hat niemand mehr von einer Menschensichtung berichtet. Und dieser Wald ist schlicht zu schön, zu ruhig und zu friedlich, als dass sich hier gefährliche Gestalten herumtreiben könnten.

Lionne atmet tief durch und schaut durch die Baumwipfel auf den hellblauen Himmel. An diesem Ort riecht es herrlich nach Erde, Moos und Freiheit. Keine Straßen, keine Leute, kein Lärm und vor allem: Weit und breit keiner von Onkel Tayos nervigen Kriegern, die wie zu groß geratene Kletten an der Anführernichte kleben und ihrem Herrn alles - wirklich alles - berichten.

Glücklicherweise sind sie auf ihr Ablenkungsmanöver hereingefallen und glauben immer noch, sie säße mit Melina in Ragnars Scheune und führe ‚Mädchen-Gespräche‘. Arme Melina ... Sie unterhält sich seit geschlagenen zwei Stunden mit den toten Kaninchen, die Ragnar gestern geschossen hat.

„Lass uns weitergehen.“ Der Bergtroll zwinkert ihr zu und marschiert mit einer Leichtigkeit voran, die Lionne nur bewundern kann.

Ein Ächzen unterdrückend, zwingt sie ihre Beine, sich zu bewegen, stützt die Armbrust auf der Schulter ab und versucht, an ihrem Freund dranzubleiben. Sie sind keine zwei Minuten gewandert, da bedeutet er ihr durch ein Handzeichen, stehenzubleiben.

Ragnar duckt sich und sieht sich wachsam um. Hier draußen ist er voll in seinem Element. Lionne ist beeindruckt, wie sich der sonst eher ungeschickte und schüchterne Kerl auf der Jagd in eine geschmeidige und fähige Kreatur verwandelt. In seiner dunkelgrünen Kleidung, die größtenteils aus Hirschleder gefertigt wurde, verschmilzt er beinahe mit dem Wald.

Plötzlich geht er in die Hocke und deutet auf die Spuren, die ein Tier auf dem Waldboden hinterlassen hat. Lionne muss zweimal hinsehen, um die Hufabdrücke überhaupt zu erkennen.

Ragnars Augen schimmern wie flüssiges Harz, als er zu ihr aufsieht. „Reh“, klärt er die Elfe auf.

Lionne erwidert sein Lächeln. Das bedeutet Rehbraten bei Ragnars Mutter. Der Elfe läuft bei dem Gedanken das Wasser im Mund zusammen. Dieses Mal wäre der Sonntagsbraten etwas ganz Besonderes, denn Lionne hätte ihn selbst erlegt. Natürlich dürfte sie das niemandem sagen, aber sie wüsste es. Und Ragnar auch.

„Versteck dich dort.“ Er weist mit dem Kinn auf ein dichtes Gebüsch. „Du zielst einfach geradeaus, so wie wir es geübt haben. Ich treibe es genau in deine Schussbahn.“

Lionne nickt und schleicht auf den ihr zugewiesenen Platz. Als sie sich nach Ragnar umdreht, ist dieser bereits geräuschlos zwischen den Bäumen verschwunden. Die Elfe sieht sich noch einmal um, dann hockt sie sich auf die weiche Erde, zieht das linke Bein unter den Hintern und benutzt das rechte Knie als Ablage für die Armbrust. So hatten sie es natürlich nicht geübt - Ragnar würde stöhnend die Augen verdrehen, wenn er sie sehen würde -, aber der Marsch hat sie derart ermüdet, dass sie es einfach nicht mehr schafft, die schwere Waffe, ohne Stütze hochzuhalten.

Nun, da sie still in ihrem Versteck ausharrt und Ragnar nicht mehr in ihrer Nähe ist, scheinen die Geräusche des Waldes anzuschwellen. Lionne hört die Gesänge von Vögeln und das Rascheln der Blätter im Wind. Und plötzlich ein Knacken hinter sich. Sie fährt erschrocken herum, kann allerdings nichts und niemanden erkennen. Dennoch hat sie das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Sie spürt wie sich die Härchen an ihren Armen pfeilgerade aufrichten. Angestrengt lauscht sie in den Wald und hätte fast aufgeschrien, als sie das Geräusch schwerer Schritte heraushört.

Ist das Ragnar? Hat er das Reh nicht gefunden? Nein, er würde niemals einen solchen Krach machen. Lionne stiert in die Richtung des Geräuschs, bis sie einen dunklen Schatten zwischen den Bäumen erkennt. Der Schatten entwickelt sich nach und nach zu einer klaren Kontur, umso weiter er auf sie zukommt. Zu einer Kontur, die ihr völlig fremd ist.

Lionne duckt sich tiefer in das Dickicht und zielt mit der Armbrust auf den Fremden, der geradewegs auf ihr Versteck zuhält. Trotz seiner vorsichtig gebückten Haltung ist er recht groß, seine sonstige Statur wird jedoch von dem Mantel, der wie ein Sack an ihm herunterhängt, verschleiert. Außerdem sieht das Kleidungsstück aus, als hätte ihn eine Horde Mäuse überfallen. In seinem linken Stiefel ist ebenfalls ein Loch, sodass ein verdreckter großer Zeh daraus hervorragt. Sein Gesicht, das von einem struppigen Bart verborgen wird, ist genauso schmutzig, wie der Zeh. Und die maronenbraunen Haare hängen ihm matt und fransig in die Stirn. Welche Kreatur würde derart unordentlich gekleidet durch den Wald spazieren?

Lionnes Herz setzt einen Schlag aus. Nein, das ist keine Kreatur - das ist ein Mensch! Sie presst eine Hand auf den Mund, um einen Aufschrei zurückzuhalten. Dieser grausame Wilde darf nicht auf sie aufmerksam werden. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtet sie den Mann, der sich misstrauisch umsieht.

Als sein Blick auf das Gebüsch fällt, hält sie den Atem an und presst die Hand noch fester auf ihre Lippen. Am liebsten würde sie nach Ragnar rufen. Ob er sie hören würde? Im Augenwinkel sieht sie, wie die Armbrust auf ihrem Knie bebt, so sehr zittert sie.

Der Mensch hält an, legt den Kopf schief und scheint geradewegs durch das dichte Gebüsch in ihr Gesicht zu blicken. Kann er sie etwa sehen? Was hatte sie noch über Menschen gelernt? Irgendjemand - wenn ihr nur einfiele, wer - hat einmal gesagt, sie könnten nur schwarzweiß sehen. Oder war das metaphorisch gemeint? Vorsichtig legt die Elfe einen Finger an den Abzug ihrer Waffe. Was soll sie jetzt tun? Abdrücken?

Sie schaut in seine Augen und plötzlich scheint die Zeit still zu stehen. Das sollen die Augen eines Menschen sein? Sie wirken nicht leer und grausam, vielmehr scheu und wachsam und so braun, wie die eines Rehs. Lionne würde sie sogar als warm bezeichnen. Ihre Finger verharren noch immer über dem Abzug. Nein, sie kann nicht auf dieses Wesen mit den sanften Rehaugen schießen.

Ein donnerndes Geräusch lässt sie beide zusammenzucken. Der Mensch wirbelt blitzschnell herum und flieht. Und noch bevor Lionne die Situation ansatzweise erfassen kann, ist auch schon ein Reh an ihr vorbeigeprescht. Sie springt auf und drückt den Abzug, schießt jedoch meterweit daneben. Schnaubend schüttelt sie den Kopf, versucht, die Verwirrung aus ihrem Hirn zu vertreiben.

Plötzlich rauscht ein undeutlicher Schemen, der Ragnar sein könnte, an ihr vorbei und erlegt das Tier mit nur einem einzigen Pfeil in den Kopf. Das war er dann wohl, der Traum vom selbsterlegten Sonntagsbraten. Wie ein ausgedientes Requisit rutscht die Armbrust aus Lionnes kraftlosem Griff.

„Hey, was war das denn, Prinzesschen?“ Ragnar lacht, bis er sich zu seiner Freundin umdreht und ihren sicherlich mehr als verstörten Gesichtsausdruck wahrnimmt. „Ist was passiert?“

Nach wenigen großen Schritten ist er an ihrer Seite und packt sie etwas zu fest am Arm, als fürchtete er, sie könne jeden Moment umkippen. Lionne schüttelt den Kopf, spürt allerdings, wie blutleer ihr Gesicht ist. Mit einem Mal hämmert ihr Herz gegen ihre Rippen, als hätte es die Gefahr erst jetzt erkannt.

„Geht es dir nicht gut?“

„Ich ... Doch ... Alles in Ordnung.“ Sie steht auf und fasst sich an die Stirn. „Nur ein bisschen schwindlig.“

Sie schielt zu Ragnar hinauf, dessen Miene sorgenvoll verzerrt ist. Sollte sie ihm von dem Menschen erzählen? Wahrscheinlich schon. Ein Mensch so nah an der Stadt, in dem Wald, in dem ihr bester Freund fast täglich unterwegs ist - das ist mehr als gefährlich. Doch, was würde der Bergtroll tun? Ihm nachgehen? Ihn jagen? Ihn töten?

Es wäre das Richtige, ihm davon zu erzählen. So wie sie ihm sonst auch alles erzählt. Aber irgendetwas tief in Lionne wehrt sich hartnäckig dagegen. Sie holt Luft, die Worte wollen jedoch nicht über ihre Lippen kommen. Ist sie denn verrückt geworden?

„Vielleicht war das ein bisschen zu viel frische Luft für ein Stadtkind.“

Ragnar versucht sich an einem Schmunzeln, das ihm allerdings nicht recht gelingen will. Seine Besorgnis ist verständlich. Sollte Lionne etwas zustoßen, würde ihr Onkel seine gesamte Streitmacht auf den Bergtroll hetzen - ohne mit der Wimper zu zucken.

Lionne befreit sich aus seinem Griff, hebt die Armbrust vom Boden und stützt sie auf eine Schulter.

„Schaffst du es?“

Ragnar breitet die Arme aus, bereit, sie aufzufangen, Lionne winkt jedoch ab und stapft los.

„Trag du lieber das Reh.“

Selbst mit dem schweren Tier über der Schulter hat Ragnar Lionne bald überholt und marschiert zügig und sicher durch das Unterholz. Der Kopf des Rehs ruht auf seinem breiten Rücken und die toten Augen starren Lionne vorwurfsvoll an. Sie haben exakt dieselbe Farbe, wie die des Menschen.

„Ich glaube, ich kann das Reh nicht essen“, murmelt die Elfe.

Ragnar wirft ihr einen Blick über die Schulter zu und lächelt. Vermutlich glaubt er, er hat den Grund ihrer gedrückten Stimmung endlich verstanden. „Sie wirken so unschuldig mit ihren großen, dunklen Augen, oder? Gar nicht so leicht eins zu töten.“

„Ja ...“, antwortet Lionne nachdenklich. „Genau ...“

*

Deli rennt, so schnell ihn seine Füße tragen, durchs Dickicht. Zweige peitschen ihm ins Gesicht, er stolpert über den unebenen Waldboden und fängt sich an der rauen Rinde eines Baums ab. Er keucht, seine Lunge schmerzt, aber er treibt seine Beine weiter voran. Er muss zurück zu Lux.

Warum haben sie ausgerechnet ihn geschickt? Gerade heute? Und wieso musste Deli unbedingt noch eine letzte Runde drehen?

Dieses ... Ding hat ihn gesehen. Da ist er sich sicher. Und wo eines ist, sind die anderen nicht weit.

Das kleine Monster, dieses Elfentier, wird seinen Leuten verraten, was es entdeckt hat, und dann werden sie kommen und ihn jagen. Weil sie nichts und niemanden neben sich dulden. Weil sie alle Menschen auf diesem Planeten vernichten wollen. Und weil sie es einfach immer schon so gemacht haben.

Endlich kommt er zu dem Platz, an dem er Lux zurückgelassen hat: ein dichtbewachsenes Gebiet umringt von Felsen und gespickt mit Erdlöchern. Keuchend stützt sich Deli auf dem kalten Stein ab und blinzelt in die Höhle, in der er die vergangen Wochen verbracht hat. Das Feuer wurde bereits gelöscht und es ist so dunkel im Inneren, dass er rein gar nichts erkennen kann.

„Lux?“ Als keine Antwort kommt, geht er einige vorsichtige Schritte hinein und schaut sich panisch um, sieht allerdings nichts in der Finsternis. „Lux!“

„Du bist schon wieder da?“, ertönt es hinter ihm.

Deli wirbelt herum, macht einen Satz aus der Höhle und packt Lux am Kragen seiner Jacke. „Ich sagte doch, du sollst da drin bleiben.“

Sein Freund hebt ergeben die Hände, aber seine Mundwinkel zucken. „Komm mal wieder runter.“

Nachdem er Delis Finger von seiner Jacke gezupft hat, richtet er seinen Kragen und fährt sich durch das honigblonde Haar, das ihm beinahe bis zu den Ohren reicht. Ständig hängen ihm die Strähnen in den Augen, so wie Deli nach den Wochen hier draußen auch, nur kann jener es nicht erwarten, eine Schere zu sehen. Na ja, Lux hat eben noch nie viel von Praktischem gehalten.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, meint er schmunzelnd.

Deli brummt. „Nicht ganz.“

Lux‘ bernsteinfarbene Augen weiten sich. Er hat anscheinend verstanden. „Wo?“

„Keine zwei Kilometer von hier. Irgendwo da hinten muss eine ihrer Städte sein.“ Er deutet vage in die Richtung, aus der er gekommen ist. „Wir müssen unbedingt rausfinden, wo genau. Wenn sie uns zu nahe sind ...“

„Mist. Ich hatte mich gerade an das Lager gewöhnt.“ Lux verzieht die Lippen, dann klopft er Deli auf den Rücken. „Schnapp dir deine Sachen und lass uns verschwinden. Hork hat auf der andere Seite schon Stellung bezogen. Du warst jetzt lange genug hier draußen.“

Deli nickt. Er ist froh, dass die beiden Schichten, die er übernommen hat, vorbei sind. Der Wachposten ist nicht seine liebste Aufgabe, aber jemand muss den Job schließlich übernehmen. Er greift nach dem Rucksack, den er am Höhleneingang zurückgelassen hat und bedeutet seinem Freund, sich zu beeilen.

„Nächstes Mal mache ich meine Schicht selbst“, sagt Lux mit vorwurfsvoller Miene.

Deli zuckt mit den Schultern und blickt ihn unschuldig an. „Ich habe eine Wette verloren. Das war nur fair.“

„Fair, ja klar ... Du wolltest verlieren.“

„Wollte ich nicht“, lügt er und wendet den Blick von ihm ab.

Lux ist viel zu zerstreut und sensibel für eine Schicht als Wachposten, das wissen sie beide. Deli macht es dagegen nichts aus, im Dreck zu schlafen und sich sein Essen selbst zu erlegen. Außerdem ist es gefährlich hier draußen und er würde es sich nie verzeihen, wenn seinem besten Freund etwas zustößt. In seinem kurzen Leben hat er schon zu viele Menschen verloren, die ihm wichtig waren. Das haben sie alle ...

Eine Weile lang marschieren sie schweigend nebeneinander her, während Deli auf die Geräusche des Waldes lauscht und sich aufmerksam umsieht.

Die Erinnerung an diese Kreatur beschert ihm eine Gänsehaut. Sie hat so harmlos ausgesehen, wie sie sich ins Gebüsch vor ihm duckte. Beinahe hat er geglaubt, einen Menschen vor sich zu haben, allerdings konnte er ihre spitzen Ohren deutlich erkennen. Sie lugten unter dem goldblonden Haar hervor, das die zarten Züge ihres Gesichts umspielte.

Ihre riesigen Augen wirkten so verwirrt und ängstlich zugleich ... Kann es sein, dass dieses Ding sich vor ihm gefürchtet hat?

Als Deli die Armbrust in ihren Händen sah, dachte er, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Sie hat jedoch nicht abgedrückt. Die ganze Zeit über fragt er sich schon: wieso nicht?

Plötzlich hört er Lux leise kichern und wendet sich ihm mit erhobenen Brauen zu.

„Du warst echt viel zu lange hier draußen. So langsam siehst du aus wie ein Waldschrat.“

Deli stimmt in sein Lachen ein. „Ein Bad und eine Rasur, dann fühle ich mich wieder wie ein Mensch.“

Er stupst ihm den Ellbogen in die Seite. „Bin gespannt, ob das reicht, damit du auch wieder wie einer aussiehst.“

Das ist wohl nicht mehr wichtig, wenn die Elfen uns finden, denkt er, hält sein Lächeln jedoch aufrecht. Er will Lux nicht beunruhigen.

2. Neugier

Es gibt einen schmalen Tunnel, einen Meter unter der Erde, von der Innenwand der Mauer bis zur Scheune von Ragnars Eltern, die an der Grenze von Verte steht. Oft war Lionne schon froh an diesem geheimen Fluchtweg, der ihr wenigstens ein bisschen Freiheit schenkt. Allerdings fragt sie sich des Öfteren, wieso ihre Wachen nicht aufmerken, wenn Ragnar ohne sie das Gebäude verlässt. Denken sie wirklich, ihr Freund lässt sie allein dort hocken? Immerhin ist seine Schwester Melina nicht immer da, um die Unterhalterin zu spielen. Oder schauen sie bloß weg, weil sie das Verhalten ihres Onkels ebenfalls übertrieben finden?

Nachdem Lionne die Scheune durch das Haupttor verlassen hat, schlendert sie - flankiert von ihren Leibwächtern - in Gedanken versunken durch die Stadt.

Hier ist nicht viel von der Welt zu sehen, wie sie vor dem Krieg einmal gewesen ist. Es gibt Gegenden, wo riesige Häuser aus Beton stehen, verfallen und eingewachsen von der Natur, die allmählich die Herrschaft über die Erde zurückerobert. Zur Freude der Kreaturen. Sie sind sehr naturverbunden und konnten kaum ertragen, was die Menschen ihrer Welt antaten. Gestank, Verschmutzung, Chaos – es muss grauenvoll gewesen sein.

Lionnes Heimatort Verte wurde neu auf freier Fläche erbaut. Die Häuschen sind aus Holz und Stein und die Straßen ungeteert. Vereinzelt gibt es noch Autos, mit denen Wachposten und Versorgungstrupps unterwegs sind, doch die einfachen Leute reiten lieber oder fahren mit Kutschen. Bei diesem friedvollen Anblick kann sich Lionne kaum vorstellen, wie es damals gewesen ist.

Das massive Blockhaus auf dem Hügel, in dem sie mit ihrem Onkel lebt, ragt wie ein Schloss über den anderen Häusern auf. Ein leuchtendes Schloss, das auf seinem grasbewachsenen Podest von der goldenen Abendsonne bescheint wird. Vorsichtig schielt Lionne zu der breiten Fensterfront hinauf, an der ihr Onkel so oft steht und wie der Anführer, der er ist, auf die Stadt hinabblickt. Da sie ihn dort nicht entdecken kann, gibt es nur zwei Orte, an denen er sonst noch sein könnte: in seinem Arbeitszimmer oder im Rathaus bei seinen Beratern. Wenn sie also Glück hat, schafft sie es ohne das übliche Verhör in ihr Zimmer.

Auf Zehenspitzen betritt Lionne ihr Zuhause und schließt leise die Tür hinter sich. Langsam schleicht sie die Treppe hinauf und lässt vorsichtshalber die quietschende Stufe in der Mitte aus. Oben angekommen wirft sie einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür am anderen Ende des Flurs - ihre Zimmertür. Da Tayos Arbeitszimmer offensteht, wird sie aber wohl nicht ohne größere Zwischenfälle dort hingelangen.

Sie ist noch nicht halb an ihm vorbeigehuscht, da drückt sich bereits seine gebieterische Stimme in den Flur. „Halt!“

Mit einem lauten Stöhnen bremst Lionne ab und rollt mit den Augen. Was ist nur los mit diesem Mann? Kann er ihr schlechtes Gewissen etwa riechen?

Prüfend schaut sie an sich hinab. Sie kann zwar keine Waldspuren mehr auf ihrer Kleidung entdecken, doch vorsichtshalber klopft sie Hemd und Hose nochmals ab. Ihr Onkel hat nämlich nicht nur einen extrem guten Riecher, sondern auch Augen wie ein Luchs.

„Was gibt’s?“ Lionne streckt lediglich den Kopf ins Zimmer und setzt eine erprobte Unschuldsmiene auf.

Tayo sitzt aufrecht hinter seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und mustert Lionne, ohne zu blinzeln. Die Muskeln an seinen Armen, die er vor der Brust verschränkt hat, sprengen beinahe das Leinenhemd, so angespannt ist er.

Sie schafft es nur wenige Sekunden lang, seinem wissenden Blick standzuhalten. Mit diesem stummen Geständnis hat er wohl gerechnet. Mit einem einzelnen Finger winkt er seine Nichte herein.

„Wo bist du gewesen?“ Tayos sonst so schillernde brillantblaue Augen wirken matt und dunkel unter den dichten Wimpern, durch die er sie eisern fixiert.

„Ähm, ich war ...“ Lionne deutet mit dem Daumen grob über ihre Schulter. „Bei Ragnar.“

Ihr Onkel zieht lediglich eine Braue hoch, ohne seine Haltung zu verändern. Doch dieses Mal wird sich Lionne nicht durch dieses Anstarr-Spielchen verunsichern lassen. Sie wird nicht einknicken. Sie wird ... „Ja, gut, wir waren im Wald.“

Frustriert wirft sie die Arme in die Luft und schüttelt den Kopf. Es muss Hypnose sein. Obwohl sie ihren Onkel jedoch sonst nicht anlügen kann, wenn er sie so wissend ansieht, stecken ihr die Worte, die ihre Begegnung mit einem Menschen erklären wollen, im Hals fest. Beinahe, als fürchteten sie sich davor, ausgesprochen zu werden.

Tayos steinerne Miene verdüstert sich und Lionne unterdrückt ein Schaudern. In Momenten wie diesen wird ihm die Statue auf dem Marktplatz mehr als gerecht. Mit seiner marmorgleichen Elfenhaut, den hohen Wangenknochen und den stechend blauen Augen in dem reglosen Gesicht, wirkt er wie der einschüchternde Elfenkrieger, der er einst war, und dessen drei Meter großes Abbild in der Stadtmitte Vertes an den grausamsten und todbringendsten aller Kriege erinnert.

„Der Troll hätte es besser wissen müssen“, knurrt er.

„Ragnar kann nichts dafür. Ich habe ihn überredet. Ich wollte endlich raus aus meiner Geiselhaft und wenigstens ein Mal in meinem Leben den Wald sehen ...“ Sie setzt sich auf die Tischkante und bedenkt ihren Onkel mit einem vorsichtigen Blick. „Meinst du nicht, du übertreibst etwas in deiner Rolle als überbesorgter Gefängniswärter?“

Tayo springt so rasch vom Stuhl auf, dass Lionne zusammenzuckt. Geräuschvoll knallt er die Handflächen auf den Tisch und beugt sich so abrupt zu ihr vor, dass sein dichter, kohleschwarzer Haarzopf über seine Schulter nach vorne schnellt. „Du glaubst, ich übertreibe? Du hast keine Ahnung, wie die Welt außerhalb dieser Mauern aussieht, Kind. Du bist noch nie etwas Gefährlicherem begegnet, als einem wilden Kaninchen. Also wage es nicht, mich und mein Urteil anzuzweifeln. Wenn du mir nicht mehr gehorchen willst, dann ...“ Er bricht den Satz unausgesprochen ab, atmet tief durch und schließt für einen Moment die Augen.

Lionne schluckt. Sie hat ihren Onkel bereits wütend erlebt, aber selten verliert er so rasch und ohne Vorwarnung die Beherrschung. Vor allem seiner Nichte gegenüber. Nun ja, Lionne ist bisher allerdings noch nie so offenkundig ungehorsam gewesen. Natürlich schleicht sie sich manchmal davon, sie bleibt für gewöhnlich jedoch innerhalb der Stadtmauern.

Normalerweise wäre sie nach seiner heftigen Reaktion eingeschüchtert, würde nicken, versprechen, es nie wieder zu tun. Aber mit einem Mal spürt sie einen Zorn, der sich wie ein Feuerball in ihrem Bauch bündelt.

„Ich bin kein ‚Kind‘“, faucht sie, für sich selbst überraschend. „Und vielleicht weißt du ja nicht mehr, wie die Welt außerhalb dieser Mauern aussieht. Vielleicht hat sie sich verändert, in all der Zeit, in der du uns beide schon hier gefangen hältst. Und vielleicht ist der mächtige Feind, den du so fürchtest, zu einem harmlosen Kaninchen geworden.“

Automatisch muss sie an den Menschen denken, dieses bemitleidenswerte Geschöpf, das völlig allein durch den Wald trottete. Sie kann sich kaum vorstellen, dass von ihm eine akute Gefahr ausgeht.

Tayo lacht ein raues, humorloses Lachen, das Lionne die Härchen im Nacken aufstellt. „Du weißt nicht, was du da sagst. Aber ich werde dich schon wieder zur Vernunft bringen. Glaub mir, ich weiß, was das Beste für dich ist, Miree.“

„Lionne.“

Tayo zieht die Brauen zusammen und blinzelt seine Nichte fragend an.

Augenblicklich ist Lionnes Wut verraucht und macht einem schmerzhaften Ziehen in ihrer Brust Platz. „Du hast mich eben Miree genannt.“

„Tatsächlich?“ Ein merkwürdiger Schatten huscht über sein Gesicht, während er seine Nichte eingehend mustert. Seine Miene macht nicht unbedingt den Eindruck, als würde ihm gefallen, was er vor sich sieht und sein Tonfall bestätigt diese Vermutung. „Du erinnerst mich von Tag zu Tag mehr an deine Mutter.“

Damit verschränkt er erneut die Arme vor der Brust und versteckt jegliche Emotion hinter einem strengen Blick. Jede andere Reaktion hätte Lionne verwundert. Ihr Onkel spricht nicht über seine Schwester. Alles, was Lionne über die tapfere Frau weiß, die im Artenkrieg an Tayos Seite gekämpft hat, stammt aus den Aufzeichnungen, die ihr Onkel ihr eines Tages überlassen hat, nachdem sie nicht aufhören wollte, nach ihrer Mutter zu fragen.

Miree Krem war eine Heldin, die bei dem Versuch ermordet wurde, eine bessere Welt zu schaffen, erinnert sie sich an seine Worte, als er ihr das alte, zerfledderte Buch in die pummeligen Kinderfingerchen drückte.

Lionne kann sich kaum vorstellen, wie schwer es für ihn sein muss, seine Nichte jeden Tag anzusehen. Auf dem Foto, das noch immer zwischen den Seiten des Tagebuchs steckt, ist die verblüffende Ähnlichkeit zu ihrer Mutter erkennbar: Neben dem herzförmigen Gesicht, dem glatten, goldenen Haar und den türkisgrünen Augen, hat Lionne den schlanken, großen Körperbau ihrer Mutter geerbt. Nur eines unterscheidet sie grundlegend von Miree, wie auch von Tayo: die Ohren. Denn niemand hat sie jemals gezwungen, die Spitzen zu kupieren.

„Es tut mir leid, dass ich dir Kummer bereitet habe.“ Lionne bedenkt ihren Onkel mit einem mitfühlenden Hundeblick. „Aber du musst endlich einsehen, dass ich nicht sie bin. Wir leben in anderen, in friedlicheren Zeiten. Mich wirst du nicht verlieren.“

Tayo kommt mit seinen selbstbewussten Politikerschritten um den Schreibtisch herum auf sie zu und zupft etwas aus ihren Haaren. Ein Eichenblatt. Drohend hält er es ihr vor die Nase. „Du bleibst innerhalb der Stadtmauern von Verte. Du hältst dich vom Wald fern. Und du widersprichst mir nicht noch einmal. Verstanden?“

Nun kann Lionne tatsächlich nicht anders, als zu nicken. Auch wenn eine kleine Stimme in ihrem Kopf über die Befehle ihres Onkels schimpft. Allmählich wird es wohl Zeit, ihm klarzumachen, dass er sie nicht auf ewig herumkommandieren und einsperren kann. Schließlich ist sie mit zwanzig Jahren eine erwachsene Frau.

„Darf ich jetzt auf mein Zimmer gehen? Oder lauert dort ebenfalls die Gefahr?“

Als ihr Onkel lediglich eine Braue hebt, wirbelt Lionne herum und verlässt fluchtartig den Raum. Bei allen rebellischen Ambitionen, die neuerdings in ihr erwacht sein mögen, will sie ihn heute lieber nicht noch mehr reizen.

*

Tayo blickt auf die Tür, die Lionne eben hinter sich geschlossen hat. Diese Aufmüpfigkeit, die sie seit einigen Wochen zur Schau stellt, ist eine besorgniserregende Entwicklung. Und genau die, die er immer befürchtet hat. Seufzend reibt er sich die Stirn.

„Sie entwickelt ... Courage, Herr.“

„Ach, meinst du?“ Er schießt einen zornigen Blick auf Trom ab, obwohl der Ghul exakt seine Gedanken ausgesprochen hat. Lionne wird immer mehr wie ihre rebellische Mutter, das ist deutlich zu sehen.

„Du kennst meine Meinung, Herr.“ Die heisere Stimme erklingt direkt neben ihm. Trom stand die ganze Zeit lang unbemerkt in einer Ecke des Büros, geschützt durch einen alten Verbergungszauber. Ghule sind entgegen der landläufigen Meinung wahre Meister im Versteckspiel.

Er beugt sich zu Tayo und sein ekelhafter, nach Verwesung stinkender Atem weht dem Elfen um die Nase. Entnervt wedelt jener mit einer Hand, um Trom zu einem Schritt zur Seite zu bewegen.

„Ich sage nur, Herr, wenn sie die Wahrheit herausfindet, kann sie zu einer ernsten Gefahr für dich werden.“

Tayo malt mit dem Kiefer, während er seinen Berater mustert: die aschefarbene Haut, die Knorpel-Nase, die kleinen schwarzen Augen, die spitzen Zähne, die hinter den zersprungenen, fahlen Lippen hervorblitzen und die ausgefransten Narben, die sein gesamtes Gesicht verunstalten. Trom ist ein außergewöhnlich hässliches Exemplar seiner Gattung. Doch so abstoßend er wirkt, so trickreich ist er auch. Deshalb hat Tayo ihn zu seiner rechten Hand und seinem Vertrauten ernannt.

„Ich sage nur, Herr, du hättest es längst tun müssen. So war das nicht geplant ...“

„Schluss damit“, fährt der Elf seinen Untergebenen an. „Ich weiß genau, was zu tun ist.“

Von dem bloßen Wissen ist es ein sehr weiter Weg zu der tatsächlichen Handlung, das wird Tayo in diesem Moment klar. Er weiß, dass Trom recht hat und wie er jetzt vorgehen müsste. Weshalb er es einfach nicht über sich bringt, kann er sich selbst nicht recht erklären.

„Ich weiß genau, was zu tun ist ...“, wiederholt er dennoch.

*

Mirees Aufzeichnungen

5. Dezember 2052

Seit sie uns markiert haben, ist es noch schlimmer geworden. Am liebsten würde ich die Armbinde verbrennen, die mich als Elfe kennzeichnet. Das Nichttragen in der Öffentlichkeit wird allerdings mit Haft bestraft. Wobei ich mich nicht entscheiden kann, welche Option die bessere ist. Im Gefängnis wäre ich wenigstens unter Kreaturen, meinen Leidensgenossen - vom Personal abgesehen. Hier in der „Freiheit“ muss ich mich mit den Menschen und ihrem Hass auseinandersetzen.

Als ich gestern auf dem Weg zur Arbeit im Schneematsch ausrutschte und meine Tasche fallen ließ, eilte ein junger Mann auf mich zu. Er war ein Mensch. Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee kam, er wolle mir helfen. Während ich mich aufrappelte, schüttete er den Inhalt meiner Handtasche auf den Bürgersteig, kramte lachend in meiner Geldbörse und zog meinen Kreaturen-Schein daraus hervor.

„Miree, die Elfe“, sagte er so verächtlich, dass ich automatisch einen Schritt zurückwich.

Ich wollte meine Sachen vom Boden aufsammeln, aber er packte mich an der Schulter und stieß mich fort. Er lächelte dabei auf diese gehässige Art, wie wohl nur Menschen lächeln können.

„Habe ich gesagt, dass du das aufheben darfst?“

„Bitte, ich komme zu spät zur Arbeit“, flehte ich ihn an.

Nun wurde er richtig wütend. Er schubste mich erneut und so lange, bis ich die Hauswand in meinem Rücken spürte.

„Wieso sprichst du mich an, hm? Darfst du das, du wertloses Stück Scheiße?“

Das war exakt die richtige Bezeichnung, dachte ich noch. Ein wertloses Stück Scheiße – das war es, was er, was alle in mir sahen. Menschen konnten mich besitzen, mit mir tun, was sie wollten, und mich wieder verkaufen, wenn sie genug von mir hatten, denn laut Gesetz war ich nicht mehr wert als irgendein Gegenstand.

Der Kerl presste seinen wabbeligen Körper an mich und hielt meine Hände an den Handgelenken über meinem Kopf zusammen. Er roch nach Schweiß und Tabakrauch und ich atmete flach, um mich nicht übergeben zu müssen.

„Ich werde dir beibringen, wie man sich als Kreatur einem Menschen gegenüber verhält“, raunte er in mein Ohr.

Ich war wie erstarrt, als er eine Hand unter meinen Mantel schob. In dem Moment, indem er an meinem Hosenknopf nestelte, wachte ich jedoch auf und rammte ihm ein Bein in den Unterleib. Er schrie auf und ich wollte wegrennen, da packte er mich am Handgelenk. Ich sah seine Faust kommen, sie traf auf meiner Wange ein wie ein Donnerschlag.

Ich bin froh, dass er mich nur verprügelt hat. Wie es sonst ausgegangen wäre, will ich mir nicht ausmalen ...

Hoffentlich hat er sich meine Kennnummer nicht gemerkt. Wenn er mich anzeigt, könnte ich in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Lionne streicht über das vergilbte Blatt und den Papierfetzen in der Mitte, wo die nächste Seite herausgerissen wurde, dann legt sie das Tagebuch weg und schüttelt schnaubend den Kopf. Sie hat die Aufzeichnungen ihrer Mutter schon tausende Male gelesen und dennoch ist sie jedes Mal aufs Neue schockiert.

Wie kann jemand nur auf solcherlei Weise mit einem anderen lebenden, fühlenden Wesen umgehen? Diese Menschen müssen gewissenlose Bestien sein.

Sie streckt sich auf ihrem Bett aus, faltet die Hände unter dem Kopf und blickt an die Decke. Wenn sie im Tagebuch etwas über diese Monster liest, kann sie Tayo gut verstehen. Er will nicht, dass sie einem von ihnen in die Fänge gerät. Warum aber lässt er sie dann nicht ihre Magie erlernen, damit sie sich im Ernstfall wehren kann? Glaubt er, sie wird leichtsinnig, weil sie denkt, sich verteidigen zu können?

Jedes Mal, wenn Lionne ihn darauf anspricht, wird er wütend, fast so sehr wie gerade. Er macht dicht und lässt nicht weiter mit sich reden. Er erwartet, dass seine Nichte ihm blind gehorcht. Etwas, in dem Lionne immer schlechter wird – sie entwickelt ihren eigenen Kopf, möchte endlich Hintergründe erfahren und sich selbst eine Meinung bilden. Was Tayo wiederum nicht gut heißt.

Und wieder einmal denkt Lionne an den Mann im Wald. Er sah nicht aus, als hätte er viel vom Krieg mitbekommen, vermutlich war er damals noch ein Kind. Und vor allem sah er nicht sonderlich böse aus, nicht wie jemand, der Unaussprechliches mit unschuldigen Kreaturen anstellen würde. Nein, diese warmen, braunen Augen wirkten eher treu und friedliebend. Vielleicht haben sie sich tatsächlich geändert, vielleicht ...

Stöhnend legt sie sich die Hände aufs Gesicht. Wie kann sie nur, nach allem, was sie von ihrer Mutter weiß, so über einen Menschen denken? Wieso bildet sie sich ein, zu wissen, wie dieser Mann im tiefsten Inneren ist?

Sie nimmt sich vor, weiter die Aufzeichnungen zu lesen, diese Menschensichtung nicht zu verharmlosen und morgen mit ihrem Onkel darüber zu sprechen. Er ist das Oberhaupt Vertes und muss davon in Kenntnis gesetzt werden.

Zur Bekräftigung nickt sie sich selbst zu, dann nimmt sie das Tagebuch wieder in die Hände.

Abonniere unseren Newsletter!

BoldBooks Logo
ALLi Partner Member
Symbol
Symbol
© BoldBooks 2024