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Diana - zwischen Licht und Dunkel (Covergestaltung Claudia Mühlhans)

Diana - zwischen Licht und Dunkel (Covergestaltung Claudia Mühlhans) · Romane

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Mutiges Auseinandersetzen mit der Vergangenheit als notwendiger Schritt in die innere Freiheit.

Über den/die Autor:in

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Ich bin Autorin und Malerin. Mein künstlerischer Werdegang und meine literarischen Veröffentlichungen sind auf meiner Homepage "claudia-muehlhans.de" einzusehen.
  1. Teil


 

  1. Kapitel

 

Meine gesamte Kindheit und Jugend fühlte ich mich, als würde ich eine schwere Traurigkeit in mir herumtragen, deren Ursprung ich nicht benennen konnte.

Denn eigentlich war ich ja ein Kind des Lichts.

In der Heimat meiner kroatischen Mutter fühlte ich mich von Wärme und Licht umschlossen.

Dies stammte gleichermaßen von dem zuverlässig schönen Klima des Landes und der Liebe und Zuwendung, die ich von meiner Großmutter empfing.

Oma Ruža war Halt und Anker in meinem Leben.

Sie stand fest und unverrückbar wie die Felseninseln in dem klaren, türkisfarbenen Meer vor der kroatischen Küste.

Ich war ihre erste Enkelin, das Kind ihrer ältesten Tochter und sie gab mir das Gefühl, wie es ist, in Gänze geliebt zu werden.

Meine Mutter schaffte es nicht, mir das zu vermitteln. Ich gab mir die Schuld daran.

Ich nehme an, dass ich damals meine Mutter noch liebte und um ihre Zuneigung kämpfte.

Ich war ein temperamentvolles Kind, dem sie oft ihr eigenes Temperament entgegensetzte, aber ich spürte auch ihre Erleichterung, mich in ihrem kroatischen Heimatort der zahlreichen Familiensippe überlassen zu können.

Kleine Kinder wandern dort von Arm zu Arm, knallende Küsse wärmen weiche Kinderbäckchen und man lebte wild und frei.

Mit Kindern wurde nicht pädagogisch gespielt. Ich erinnere mich an kein einziges Kinderlied oder Kinderbuch von meiner Mutter gesungen bzw. vorgelesen.

Meine Oma kuschelte mit mir und las mir vor.

Auch als mein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder auf der Welt war, verlor sich das liebevolle Verhältnis zwischen meiner Oma und mir nicht. 

Sie lebte und arbeitete nun auch teilweise in Deutschland, auch etliche meiner Onkel und Tanten arbeiteten als Gastarbeiter im gleichen Werk. 

Wenn meine Mutter mit ihrem damaligen Mann, den ich als meinen Vater betrachtete, kleinere Wochenendreisen unternahm,  wurde ich bei meinen Großeltern untergebracht. Sie lebten damals gemeinsam, oder teils mit einigen ihrer Kinder in einer Wohnung in Bruchsal im Badischen.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit, in der ich als Vierjährige unter dem Esstisch spielte, dass meine Großmutter auf dem Tisch die Suppe austeilte und alle Anwesenden zum Essen zusammenrief. Ich hangelte mich unter dem Tisch hervor, griff um mich aufzurichten nach der Tischdecke und die heiße Suppe ergoss sich über meinen Kopf und Schultern.

Ich schrie, alle schrien, liefen zusammen, hoben mich auf, legten kühlende Tücher auf mich.

Ein herbeigerufener Arzt untersuchte das verbrühte Kind und erklärte die kühlenden Maßnahmen für ausreichend.

Etliche Jahre später kippte meine Mutter in einem Wutanfall über mein mäkeliges Essverhalten einen Teller allerdings schon abgekühlter Suppe über meinen Kopf. Kleine spiralige Nudeln und sperrige Gemüse – vor allem Petersilienteile – verfingen sich in meinem üppigen braunen Lockengewirr. Es brauchte einige Zeit, bis ich allen Suppeninhalt herausgewaschen hatte.

Noch viele weitere Jahre später rutschte mir zwei Wochen vor meiner fünften Eheschließung ein mit kochendem Spaghettiwasser gefüllter Kochtopf aus den Händen und verbrühte mir Bauch und Oberschenkel.

 

Doch diese Ereignisse sind weit vorgegriffen und liegen noch in ferner Zukunft dieses vierjährigen Mädchens, das ich damals war.

 

 Das verletzte Kind wurde von Oma Ruža und Opa Jure getröstet und verwöhnt.

Ich saß oft bei meinem Opa auf dem Schoß, er war lieb zu mir, obwohl er zu anderen sehr grob sein konnte. Er neigte zu Wutausbrüchen, wenn ihm eine Laus über die Leber lief, und er fluchte bei vielen Gelegenheiten aus vollem Herzen. Aber das war nicht böse gemeint, in der kroatischen Sprache wurde viel geflucht, überwiegend von den Männern. Die Frauen begütigten dann und hätschelten die Kinder. 

 

  1. Kapitel

 

Ich liebte die Küche meiner Oma.

Die Erwachsenen pflegten nicht zu frühstücken, aber für mich und meine jüngere Cousine Silvia bereitete unsere Oma Maisbrei mit warmer Milch zu oder sie ging in den Hühnerstall und holte frischgelegte Eier, die wir dann mit ihrem selbstgebackenen Brot aßen.

Meine kroatischen Großeltern waren nicht reich, nach westeuropäischen Wertmaßstäben sogar arm, aber wir aßen hervorragende Lebensmittel. Alles frisch und selbst erzeugt, und es wurde jedem Besucher mit selbstverständlicher Gastfreundschaft angeboten. Dies hat sich bis heute auch nicht geändert, die Kroaten sind wie die meisten Mittelmeervölker berühmt für ihre Gastfreundschaft.

Freigiebig wurden die selbstangebauten Früchte verteilt: im Sommer reiften die Melonen und Trauben, im Herbst die Feigen und Granatäpfel. Meine Oma nahm einen Granatapfel, brach ihn mit beiden Händen auseinander und die rubinroten Kerne lagen frei zum Vernaschen.

Sie konnte wunderbar kochen, vor jedem Essen gab es Juche, eine Nudelsuppe auf Fleischbasis, das Fleisch wurde dann in einer separaten Mahlzeit verzehrt. Heute noch liebe ich Kupus, Kohleintopf, und Blitva, Mangold mit Kartoffeln, alles mit Olivenöl und viel Knoblauch zubereitet. 

Mein Großvater angelte in dem Fluss Neretva, aus dem Fang wurde Brudet bereitet, der kroatische Fischeintopf, der manchmal mit Froschschenkeln vervollständigt wurde. Das Fleisch schmeckte gut, mild wie Hähnchen, aber dennoch mochte ich es nicht. Ich hasste es, dass meine Onkel den Tieren die Schenkel ausrissen.

Neben dem Kukuruzfeld lag ein Sumpfgebiet, das sich bis zur Neretva erstreckte. Dorthin brachten meine Cousine  und ich die im Kukuruzfeld gefangenen kleinen Frösche. Sie sollten in die Freiheit hüpfen.

Oft pflückten wir den reifen Mais, mein Opa steckte ihn auf Holzspieße und wir rösteten die Kolben über dem Feuer an der Feuerstelle, an dem auch ganze Lämmer an einem Drehspieß gegrillt werden konnten.

Die Grillen zirpten unüberhörbar ihren Sommergesang, es entfalteten sich blaue und goldene Tage.

Dass meine Mutter und mein Vater Jochen oft mit meinem jüngeren Bruder alleine weiter reisten und mich bei meinen Großeltern ließen, war mir recht. Meine Oma verwöhnte mich, meine Tanten Dragana und Gordana passten auf mich auf.

Im Sommer kam die Familie, von denen viele in Deutschland arbeiteten, zusammen.

Meine Tante Dragana, die im Gegensatz zu meiner Mutter eine blonde und blauäugige Hübschheit aufwies, war zehn Jahre jünger als meine Mutter Suza, die Älteste. Es waren insgesamt sieben Geschwister.

Meine Tante Gordana und meine Mutter glichen einander wie Zwillinge. Sie hatten den gleichen exotischen Gesichtsschnitt, dunkle Augen und wundervolle, dichte schwarze Haare. Sie waren beide groß und schlank.

Zu der Zeit kleidete sich meine Mutter sehr elegant. Sie trug eng anliegende Kostüme, knappe, figurbetonte Kleider, toupierte und föhnte sich die Haare zu einem Bienenkorb und umrandete ihre mandelförmigen Augen mit einem dicken Lidstrich.

In unserem deutschen Zuhause in Bruchsal ging sie regelmäßig in ein Kosmetikstudio.

Auch ihre Kinder steckte sie in teure Kleidung. Ich trug Kindermode aus dem nobelsten Geschäft und mit meinem braunen Lockenkopf war ich ein niedliches Kind.

 

  1. Kapitel

 

Ich war der Liebling meines Vaters Jochen, dabei war ich nicht sein leibliches Kind. Er adoptierte mich, als ich ca. ein Jahr alt war.

Dies erfuhr ich aber erst sehr viel später in einer verstörenden Situation. Für sein leibliches Kind, meinen Bruder Benni, interessierte er sich nicht sehr. Mein kleiner Bruder war nur zwei Jahre und drei Monate jünger als ich, also schien er mir aus der Sicht meines Kleinkindlebens immer dagewesen zu sein. Ich liebte ihn, nahm ihn bei seinen ersten Schritten an die Hand und wickelte ihn auch. Er schien Schutz zu benötigen, denn er war häufig krank. 

Er litt unter asthmatischen Anfällen, rang dann pfeifend nach Luft, und meine Mutter fuhr ihn panisch vor Angst ins Krankenhaus. 

Einmal bekam er eine Lungenentzündung, die ihn lange schwächte. Eine Meningitis kostete ihn fast das Leben.

Im Schwimmbad wäre er mit drei Jahren durch die Unaufmerksamkeit der Erwachsenen fast ertrunken, fremde Menschen zogen ihn aus dem Wasser und holten ihn durch Mund-zu-Mund-Beatmung ins Leben zurück.

Ich war seine große Schwester und passte auf ihn auf. Das war ich durch die vielen Aufenthalte in Kroatien gewohnt. Die Älteren waren für die jüngeren Geschwister oder Cousins zuständig, ansonsten liefen die Kinder im Familienleben einfach mit und wurden früh an die notwendigen Handlungen des Alltagslebens herangeführt.

Meine Mutter spielte nie mit uns Kindern, aber mit meinem Papa baute ich mit Legosteinen, wir spielten Mensch-ärgere-dich-nicht oder legten Memorykarten.

Manchmal nahm er mich sogar mit in sein Büro. Ich war dann ganz stolz auf ihn, er hatte ein eigenes Büro und war dort der Chef. Was sein Beruf Steuerberater bedeutete, war mir damals natürlich nicht bewusst, aber dass wir als Familie großzügig davon leben konnten, spürte ich schon.

Einmal kam mein zweijähriger Bruder mit in das Büro unseres Papas, mein Vater musste sich dann auf die Arbeit konzentrieren und schickte uns Kinder zum gemeinsamen Spielen auf die Straße.

Ich weiß nicht mehr warum, aber ich wollte die Straße überqueren, nahm meinen Bruder an die Hand und lief los.

„Komm mit Benni“, rief ich, aber seine kleinen Beinchen konnten nicht so flink laufen wie meine, seine Hand rutschte aus meiner, ein Auto brauste um die Straßenbiegung heran, so schnell, dass ich es erst sah, als mein Bruder darunterlag.

Er lag seitlich zusammengekrümmt, sein kleines Gesicht war nicht zu sehen.

Ich wollte ihn hervorziehen, aber herbeigeeilte Erwachsene hinderten mich daran. Mein Papa lief heran und wieder zurück in sein Büro, um einen Notarzt zu rufen. Ich weiß nur noch, dass mein kleiner Bruder mit blutüberströmtem Gesicht bewusstlos auf eine Trage gelegt und dann mit einem Tuch zugedeckt wurde.

Mein Vater nahm mich hart bei der Hand. „Warum hast Du nicht auf ihn aufgepasst?“ fragte er mich vorwurfsvoll. Dasselbe fragte mich meine wütende Mutter, nachdem die Untersuchung im Krankenhaus ergeben hatte, dass der kleine Kerl Glück im Unglück gehabt hatte. Sein linkes Ärmchen war gebrochen und musste genagelt werden und das viele Blut in seinem Gesicht kam von einer großen Platzwunde auf der linken Stirnseite, auf die er bei dem Zusammenstoß mit dem Auto geprallt war.

Beide Eltern schimpften mit mir und gaben mir die Schuld an dem Unfall, obwohl das Auto viel zu schnell um die Ecke geschossen gekommen war. Ich hatte die Straße entlang geschaut, bevor ich losgelaufen war.

Keiner von beiden kam auf die Idee, mich mal tröstend in den Arm zu nehmen.

Ich litt ja auch unter dem Schock, den der Unfall meines Bruders in mir ausgelöst hatte. Ich liebte ihn doch und trug jetzt ein von mir als Fünfjährige nicht zu benennendes Schuldgefühl wie einen festen Klumpen im Bauch mit mir herum.

Ich schlief auch schlecht, er fehlte mir im gemeinsamen Kinderzimmer und wenn wir ihn im Krankenhaus besuchten, musste ich immer viel herumzappeln, um eine innere Spannung loszuwerden.

Dann begegnete ich dem zornigen Blick meiner Mutter und wandte mich ab. Ich spürte, dass sie mich für den Unfall verantwortlich machte.

Eine an die jeweilige Straßensituation angepasste Verkehrserziehung hatte es von Elternseite her nicht gegeben.

Im Kindergarten sangen wir zwar kleine Liedchen: „Augen links, Augen rechts und dann gehen“, aber vorsichtiges Verkehrsverhalten hatte mit  uns Kindern keiner geübt.

In Kroatien liefen wir einfach aus dem Haus auf die Landstraße und niemandem konnte etwas passieren.

Ich war sehr erleichtert, als Benni endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Auf der Stirn trug er noch ein großes Pflaster, darunter war die Platzwunde genäht worden. Diese Narbe blieb ihm und ist bis heute deutlich sichtbar. Sein Ärmchen heilte gut, es war ein glatter Bruch gewesen.

 

4. Kapitel

 

Während die Wunden meines Bruders verheilten, brachen in der Beziehung meiner Eltern diverse Risse auf. Sie waren in jeglicher erdenklichen Hinsicht grundverschieden und fanden auch keine Wege, sich einander mitzuteilen.

Mein Vater wollte sich mit seinem Steuerbüro finanziell erfolgreich etablieren und war auch bereit, sich dafür zeitlich und menschlich zu engagieren. Er besaß Ehrgeiz und eine klare Vorstellung von seinem persönlichen und beruflichen Weg. Mit einer zu ihm passenden Partnerin wäre es ihm vielleicht gelungen, private und berufliche Aspekte erfolgreich zu verbinden, mit meiner Mutter war das nicht möglich. Sie zeigte kein Interesse für seinen Beruf, interessierte sich nicht für Weiterbildung, weder ihre noch seine. Sie besaß eine natürliche Intelligenz und ein waches Interesse an Literatur, aber ihr Ehrgeiz beschränkte sich darauf, ein angenehmes Leben zu führen. Eine eigene qualifizierte Berufstätigkeit strebte sie nicht an. Ihr ganzes Leben verband sie berufliche Arbeit mit einer unangenehmen Lästigkeit, für die ihr jeweiliger Mann zuständig war.

Ihre jüngeren Schwestern entwickelten sich offener für Herausforderungen. Dragana entschied sich nach mehreren Lebensentwürfen für das Leben und eine Banklehre in der Schweiz. Gordana, die äußerlich ihrer älteren Schwester wie ein Ei dem anderen glich, war tüchtig, wissbegierig und bereit, viel Einsatz in die Ausbildung zur Steuerfachgehilfin zu investieren, die sie bei meinem Papa im Büro erfolgreich absolvierte.

Damals waren sie einfach liebe, freundliche Tanten für mich, später erfuhr ich, dass meine Mutter ihrer Schwester Gordana eine Affäre mit ihrem Mann unterstellte. Beide streiten es bis heute ab. Ob die Eifersucht meiner Mutter berechtigt war, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, vielleicht galt sie auch einfach nur dem beruflichen Einverständnis, das die beiden miteinander teilten.

Und meine Mutter nahm bei Auseinandersetzungen kein Blatt vor den Mund. „Gefühlstiger!“ nannte sie mein Papa. Sie stritten viel und lauthals miteinander. Wir Kinder kuschelten uns dann zusammen und fühlten uns von Hilflosigkeit und Angst bedroht.

Diese Phase der ständigen Elternstreitereien ist mir gut im Gedächtnis geblieben, ich war ja schon fünf Jahre alt.

Irgendwann in dieser Zeit warf ich den gesamten Schmuck meiner Mutter in die Toilette und spülte ihn hinunter. Ich wusste, dass ihr der Schmuck viel bedeutete, dass er auch einen großen Wert darstellte, war mir nicht bewusst. Ich wollte, dass sie auch litt, und in meiner kindlichen Kenntnis ihres Charakters war mir klar, dass sie das treffen würde.

Nachdem meine Eltern noch Teile der Perlenkette in der Toilettenschüssel schwimmen sahen, stellten sie mich zur Rede und versuchten mit Hilfe des Hausmeisters aus den Rohren zu retten, was irgend möglich war. Aber der größte Teil war schon die Stockwerke unwiederbringlich nach unten gerauscht.

Ich konnte mir und ihnen nicht helfen, die Situation spitzte sich täglich zu und gipfelte in der Situation, in der meine Mutter meinen Papa aus der Wohnung warf und sie ihm seine Koffer vor die Tür stellte. Er brüllte vor der Tür seine Beschimpfungen und Wut heraus, bis sämtliche Nachbarn diskret hinter den Gardinen hervorlugten.

Wie ich später erfuhr, hatte sie ihn im gemeinsamen Schlafzimmer beim Ehebruch mit einer ihrer Freundinnen ertappt und im Schock blindlings reagiert.

An die Freundin kann ich mich erinnern, sie war blond und hübsch gewesen, aber bei dem Vorgang selber war ich nicht dabei gewesen.

Vielleicht waren wir Kinder bei Oma Ruža oder ich alleine bei Oma Reuter.

Diese war eine der konstanten freundlichen Menschen in meinem Leben. Solange ich zurückdenken konnte, war sie für mich dagewesen.

Sie war weich und ausufernd,  auf ihrem Schoß zu sitzen fühlte sich an, wie in ein Kuschelkissen zu sinken. Ihre Hände legten sich sanft auf mich, ihr Druck war nicht so fest und zupackend wie der von Oma Ruža.

Mit meiner Mutter verstand sie sich sehr gut. Meine Mutter konnte ausgezeichnet kochen und wenn sie Gäste bewirtete, war es ihr eine Selbstverständlichkeit, sie zu verwöhnen.

Und für Oma Reuter war es jedes Mal eine große Freude, wenn Suza, wie sie von ihr genannt wurde, ihr erlaubte, mich für ein paar Tage zu sich einzuladen.

Ich war gerne bei ihr. Sie wohnte in einem Haus in Leimen, das war die Stadt, in der ich geboren worden war. Ihr Haus hatte einen wunderbar verwinkelten Dachboden, in dem ich auch schlafen durfte.

Tatjana, meine Freundin, war circa ein Jahr jünger als ich und ihre Enkeltochter. Wir vertrugen uns gut und spielten Hüpfekästchen und ähnliche Mädchenspiele miteinander.

Insgesamt war die Situation dort sehr viel friedlicher als in meinem zerstrittenen Zuhause oder auch in Kroatien, wo es immer laut und temperamentvoll zuging. Mehrere Kroaten in einem Raum können einfach nicht leise sein.

Oma Reuter war ein phlegmatischer Mensch. Auf ihrem Wohnzimmersofa saßen viele, fast lebensgroße Puppen. Sie waren schön angezogen, fast genauso wie wir echten Mädchen, aber sie erlaubte uns, mit ihnen spielen und ihnen die Haare kämmen.

Es existiert ein Foto von mir, auf dem ich neben einer dieser Puppen stehe, sie trägt ein Kleidchen mit einer bunten Borte um die Taille und mein üppiger Lockenkopf  reicht genau bis zu ihren von mir sorgsam geflochtenen Zöpfen.

Oma Reuter war meine leibliche Oma und Tatjana meine Cousine, aber das wusste ich damals noch nicht.

Ich kam mir damals selber manchmal wie eine lebendige Puppe vor. Ich wurde abgelegt, hergeholt, herausgeputzt oder links liegengelassen, wie meine ..., die ich auch dann und wann mit dem Fuß achtlos beiseiteschob, so dass ihr Köpfchen ganz verschrammt war.

Ich reagierte auf die Nichtbeachtung mit ungebärdigem Verhalten und bekam dafür Ohrfeigen zurück. Meine Mutter bestrafte schnell und schreckte auch vor körperlichen Züchtigungen nicht zurück. Einmal schlug sie mich mit dem Kochlöffel solang und heftig, dass dieser zerbrach. Damit kochen konnte sie auf jeden Fall hinterher nicht mehr. Sie gab ungefiltert und unempathisch den am eigenen Leib erfahrenen Erziehungsstil weiter, zumindest an mich.

Ich erinnere mich daran, wie sie nach der Scheidung von meinem Papa mit uns Kindern zu ihren Eltern nach Metković fuhr. Abends  wollte sie mit Freunden ausgehen, wir Kinder wurden ja von den Großeltern betreut. Ich nahm erst gar nicht wahr, wie hitzig sich plötzlich eine Diskussion zwischen meinem Großvater Jure und meiner Mutter entwickelte.

Erst als mein Opa meine Mutter mit dem klatschenden Gürtel rund um den Küchentisch jagte, versteckte ich mich heulend darunter.

Meine Oma versuchte ihren Mann zu beruhigen. „Sie ist eine erwachsene Frau“, rief sie und fiel ihm in den erhobenen Arm.

„Sie soll zuhause bei ihren Kindern bleiben und nicht herumhuren!“

Meine Großmutter besänftigte meinen Großvater und meine Mutter durfte ausgehen.

Deftige Ohrfeigen bekam ich weiterhin von ihr. Mein Papa hatte mich nie geschlagen, ich vermisste ihn sehr.

Wir Kinder durften ihn nach der Trennung zwar noch regelmäßig sehen, aber meine Mutter redete nur verächtlich über ihn. Ich sollte mich nicht nur verhalten, wie sie es wünschte, sonst wurde ich bestraft, ich sollte auch so fühlen wie sie, eine Puppe möglichst ohne Emotionen, die ihren eigenen widersprachen. 

 

5. Kapitel

 

Aber ich liebte meinen Papa weiterhin und sehnte mich nach ihm. Er wollte auch sein Lieblingskind behalten und versuchte meine Mutter zu überzeugen, ihm das Sorgerecht für mich zu überlassen. Welche Folgen das, wenn es so gekommen wäre, für mich gehabt hätte, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, aber zu der Zeit hätte ich mir nichts Schöneres 

vorstellen können. Einmal noch fuhren mein Bruder und ich mit Papa gemeinsam zum Skifahren, dann wurden die Besuche spärlicher.

Meine Mutter legte keinerlei Wert auf einen geregelten Umgang ihrer Kinder mit dem getrennt lebenden Vater. Eine andere Seelenkarte außerhalb ihrer Gefühlslage existierte nicht in ihrem Vorstellungskosmos.

Sie wollte nichts mehr mit diesem Mann zu tun haben, also verlangte sie von ihren Kindern das gleiche Verhalten, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wie diese diesen Racheakt des Vergessens bewältigen sollten.

 

Eines Tages saß ich in meinem Sommerkleidchen auf einer der Treppenstufen, die zu der Haustür unseres neuen Zuhauses in Forst führten.

Ich saß geduldig da und wartete auf meinen Papa. Er hatte versprochen, mich abzuholen, damit wir diesen Nachmittag gemeinsam etwas unternehmen konnten. 

Die Zeit verstrich, die Schatten wurden länger und ich begann zu frieren. Ich bohrte meine Füße in den weißen Sandalen in den Kies und schob sie hin und her, kleine Steinchen pikten sich in meine Haut, aber ich wartete unverdrossen.

Ich hatte die einzige Hoffnung, mein Vater würde kommen, weil zumindest er mich liebte, die mich durch diese Zeit trug.

Auf einmal erschien meine Mutter hinter mir. Ich sah sie nicht, denn ich drehte mich nicht um und sie fasste mich nicht an.

„Was wartest du denn auf den? Er kommt ja sowieso nicht!“ sagte sie und verschwand wieder im Haus. Ich saß noch lange da.

Sie wollte nicht, dass unser Vater den Kontakt zu seinen Kindern aufrechterhalten konnte und sie untergrub seine Versuche auf vielfältige Weise.

Vor meinem Bruder und mir redete sie ausschließlich verächtlich und herablassend über ihn. Sie nannte ihn nur „der Schmidt“. Jedem Menschen, der mit ihr in Kontakt trat, ob vertraut oder nicht, erzählte sie die Geschichte seiner Verfehlungen und schilderte seinen miesen Charakter. Dass mein Bruder und ich mit offenen Ohren zuhörten, störte sie nicht.

Viel später, nach der Scheidung vom Vater meiner Tochter, versuchte sie, diese Machenschaften ebenfalls auf meinen geschiedenen Mann zu übertragen. Ich unterband dies erfolgreich. Als Kind konnte ich mich nicht dagegen wehren. Aber es schlug ihr nicht zum Guten aus.

Ich begann, meinen abwesenden Papa zu verehren und meine Mutter abzulehnen. Ich stellte sie in Frage. Ich verlor jedes Vertrauen in sie. Sie log. Sie musste lügen. Mein Papa liebte mich.

Mein Bruder war noch zu klein, und sie hatten auch nicht das liebevolle Verhältnis zueinander, das mein Vater und ich gehabt hatten.

 

6. Kapitel

 

Mit diesem für mich nicht benennbaren sinkenden Lebensmut begann unser neuer Lebensabschnitt in Forst.

Meine Mutter hatte dort gemeinsam mit ihrer Freundin Birgit eine Wohnung bezogen. Eine Freundinnen-WG. 

Birgit war Krankenschwester. Sie war klein, etwas füllig und hatte blonde Locken. Ihr herzliches Lachen, bei dem sie ihre strahlendweißen Zähne zeigte, ist mir tief in Erinnerung geblieben.

Sie hatte ein freundliches Wesen und eignete sich bestimmt ausgezeichnet für ihren Beruf. Leider hatte ich wenige Berührungspunkte mit ihr, denn sie arbeitete viel und im Schichtdienst.

Meine Mutter war Hausfrau und lebte vom Unterhalt ihres Exmannes.

Gerne würde ich jetzt erzählen, dass meine nicht berufstätige Mutter ihre Zeit nach der Trennung liebevoll ihren Kindern widmete, dass sie morgens früh aufstand, die Fensterläden öffnete oder die Jalousien hochzog, so dass das frische Morgenlicht über unsere Kinderbettchen fiel. Während sie uns die Schlafanzüge auszog und in die am Abend herausgelegten Kleider half, nahm sie uns immer wieder liebevoll in den Arm und erzählte mir, wie schön der Tag im Kindergarten für mich werden würde. In der Küche strich sie uns Honig auf die frischen Butterbrötchen und eine lecker gefüllte Brotbox wanderte in meine Kindergartentasche.

Dann machten wir uns zu dritt auf den Weg in den frischen Morgen hinein. 

Es mag sein, dass dieses idyllische Leben für andere Kinder so stattfand.

Auch bei den Großeltern in Kroatien gab es ein sonniges Aufwachen und dann geschäftiges Treiben, ohne dass sich sonderlich auf Kinderbetreuung umgestellt wurde. Die Kinder liefen mit im gleichmäßigen Trab des Tagesablaufs, aber hier bei mir zuhause gab es nichts außer einem dunklen Durcheinander.

Ich wachte auf, frühstückte Haferflocken, mal mit mal ohne Milch, es gab immer Haferflocken.

Dann ging ich in den Kindergarten. Meine Mutter lag im Bett.

Einmal kam ich mittags aus dem Kindergarten zurück, da saß mein kleiner Bruder mitten auf dem Wohnzimmerteppich und spielte still mit seinen Legosteinen.

Er sagte mir, dass er hungrig sei. Ich ging in die Küche und gab ihm Haferflocken.

Meine Mutter lag im Bett.

Aber sie lag nicht immer im Bett.

Einmal wachte ich nachts auf, da lag sie eng umschlungen mit ihrem besten Freund Eumel auf der Wohnzimmercouch. Überall standen volle Aschenbecher und leere Flaschen und Gläser.

Ich sehe meine Mutter rauchend auf der Toilette sitzen.

In dieser Zeit wurde ich in Forst eingeschult. Oma Reuter war dabei und ich bekam eine Schultüte.

Ich lernte Lesen und Schreiben und schloss mich an neue Freundinnen an. Manchmal wurde ich auf einen Geburtstag eingeladen und staunte über die fröhliche und festliche Art, wie ein simpler Kindergeburtstag gefeiert werden konnte.

Der Tisch war schön mit bunten Servietten und Papiergirlanden geschmückt worden, das Geburtstagskind durfte die Kerzen in der Anzahl der Lebensjahre auf dem Geburtstagskuchen ausblasen und sich etwas wünschen.

Unter der mütterlichen Anleitung wurden dann lustige Spiele wie Topfschlagen und die Reise nach Jerusalem gespielt. Und abends gab es meistens noch Würstchen und Kartoffelsalat.

Das war schön und ich genoss es, aber ich neidete es meinen Freundinnen nicht.

Ich hatte in diesem Fall Verständnis dafür, dass es bei meinem Geburtstag nicht so ablief. Ich bekam ja auch Geschenke und Kuchen, aber meine Mutter war nicht in dieser Tradition der Kinderfeste aufgewachsen. Das gab es damals in Kroatien nicht.

So konnte ich die Einladungen für mich genießen und vermisste sie zuhause nicht. Ich vermisste, ohne es zu wissen, viel essentiellere Dinge.

Ich funktionierte als junges Schulkind.

Natürlich wurde zuhause mit mir gesprochen.

„Steh auf!“ „Geh ins Bett!“ „Komm her!“ 

„Halt doch still!“, wenn meine Mutter versuchte, mit der Bürste meinen widerspenstigen Lockenkopf zu striegeln.

Doch sie erkundigte sich weder nach meinen schulischen Erlebnissen noch nach dem, was mich innerlich bewegen könnte.

Sie wusste nichts von meinen Ängsten und Sorgen, zum Beispiel um meinen Papa, oder nahm sie nicht ernst.

Wenn ich mit ihr zum Einkaufen oder Spazierengehen unterwegs war, hatte ich die Eigenart, nach kurzer Zeit mir eine nett aussehende ältere Dame auszusuchen und mich ihr unbefangen anzuschließen. Ich wäre auch mit ihr mitgegangen.

Meine Mutter pflegte dies als komische Eigenschaft eines naiven Kindes lachend zu erzählen.

 

7. Kapitel

 

Ich glaube, es ist ihr bis heute nicht klar, wie naiv und gedankenlos SIE damals war. Es wurde ihr nicht bewusst, dass dieses Verhalten meine ersten Ablösungsversuche von ihr markierten.

Meine Mutter gehörte zu denen, die nie die Ansicht eines Anderen gelten ließen – es sei denn, sie machte sie sich zu eigen.

Und dies perfektionierte sie in höchstem Maße mit dem Mann, der mein nächster Stiefvater werden sollte.

Als ich ihn zum ersten Mal sah, lag er bei meiner Mutter im Bett.

Es war der Morgen nach einer lauten, wilden Partynacht.

Suza feierte gerne mit ihren Freundinnen bis tief in die Nacht hinein, jeder konnte noch andere Bekannte mitbringen und einer der hereinschneienden Gäste brachte zwei Medizinstudenten aus Gießen mit.

Wir Kinder mochten es, wenn Party gemacht wurde, wir kannten die meisten Besucher und bekamen von ihnen Süßigkeiten, Chips und Aufmerksamkeit.

Manche waren wirklich nett und spielten sogar kurzfristig mit uns.

Je weiter der Abend voranschritt, desto lauter wurde der Geräuschpegel, desto voller die Aschenbecher und leerer die zahlreicher Flaschen und Gläser.

Irgendwann wurden wir Kinder ins Bett geschickt.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war noch alles still und dunkel, die Luft roch nach kaltem Zigarettenrauch, überall stand halbvolles Geschirr herum.

Ich trabte zu meiner Mutter ins Schlafzimmer, um zu sehen, ob sie schon wach war und da lag ein fremder Mann dicht neben ihr. Sie schickte mich ohne ein Wort der Erklärung wieder hinaus. „Geh wieder ins Bett“, sagte sie schlaftrunken.

Das war meine erste Begegnung mit Lukas, einem der Medizinstudenten aus Gießen.

Er besuchte meine Mutter von da ab regelmäßig jedes Wochenende in Forst.

Am Anfang beachtete ich ihn nicht sonderlich, Menschen kamen und gingen. Manche wurden uns vertraut, manche verschwanden nach einiger Zeit und tauchten nie wieder auf.

Aber da Lukas, oder Lucki, wie ihn meine Mutter nannte, für sie immer wichtiger wurde, mussten wir Kinder ihn auch notgedrungen als häufigen Gast akzeptieren.

Wie nahm ich Lukas wahr?

Er war äußerlich nicht auffällig, knapp größer als meine Mutter, schmächtig (später wurde er immer fülliger), mit schmalen Schultern, fünf Jahre jünger als Suza.

Das sah man beiden auch an.

Sie war damals eine attraktive Frau, mit schlanken Beinen und einem üppigen Busen.

Dieser zog ihn besonders an.

Ich wusste damals noch nichts von Sex und Geschlechtsverkehr, aber dieser Mann grapschte meiner Mutter bei jeder Gelegenheit an die Brüste. Schön fand ich das nicht.

Dann trennte sich Lukas aus uns Kindern unbekannten Gründen von ihr und in den folgenden Wochen war meine Mutter im Grunde genommen für uns nicht vorhanden. Gott sei Dank sorgte Birgit, ihre Freundin, für uns.

Nach einigen Wochen erschien Lukas wieder auf der Bildfläche und Suza nahm ihn mit offenen Armen wieder auf.

Nach dieser Episode wurden sie offiziell ein Paar und wir feierten das erste gemeinsame Weihnachten.

Ich erinnere mich, dass mein Bruder selig über den sich gewünschten Fischertechnikbaukasten war und er den ganzen Abend mit Lukas daran tüftelte.

Ich hatte mir ein Puppenhaus gewünscht und nicht bekommen und war enttäuscht gewesen. Vielleicht hatte mir das Christkind auch nicht richtig zugehört.

Ich fühlte darüber inzwischen nicht nur Traurigkeit, sondern spürte auch manchmal, wie sich ein Klumpen Wut in mir ausbreitete. Traurig und hilflos hatte ich versucht, als Vierjährige nachts splitterfasernackt dem ewigen Gezänk meiner Eltern aus der Hochhauswohnung in Bruchsal davonzulaufen. Nachbarn fanden das im Regen vor Aufregung zitternde Kind und brachten es zu den Eltern zurück. Dann zogen wir nach der Auflösung der Familie zu dritt nach Forst, wo ich ohne aufmerksame Betreuung im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder geriet.

Ich spielte mit anderen Kindern auf dem Hof einer Freundin Fangen. Beim Abschlagen näherten wir uns immer mehr der nahen Straße und beim nächsten temperamentvollen Ausweichen vor einem heranstürmenden Kind prallte ich mit einem von der linken Straßenbiegung heraneilenden Auto zusammen.

Während die Eltern meiner Freundin zu meiner Mutter liefen, um sie von dem Unglück zu informieren, kam der herbeitelefonierte Notarzt. Im Krankenhaus stellten sie Schürfwunden und etliche Prellungen fest. Ich durfte nach der Untersuchung wieder mit meiner Mutter nachhause.

Die Prellungen waren schmerzhaft, aber mir ist am meisten im Gedächtnis haften geblieben, wie roh der behandelnde Arzt den durchgesuppten Verband jedes Mal von der schlecht heilenden Wunde am Knie riss. Dieser war bei jeder der vier oder fünf Nachuntersuchungen wie mit Kleber an meiner zart nachwachsenden Haut fixiert. Ich hasste diese Nachbehandlungen.

Und obwohl ich Angst vor körperlichen Schmerzen hatte, wagte ich es als Sechsjährige, mich mit deutlich älteren Jungs anzulegen.

Mein Bruder war dreieinhalb Jahre alt und seit Kurzem Besitzer eines schwarz-roten Kettcars. Er setzte seinen ganzen Stolz darein, mit dem Gehabe eines Rennfahrers auf der Straße damit hin- und herzufahren. Plötzlich kam er tränenüberströmt zu mir auf den Hof gestürzt. Zwei ältere Jungs hatten ihm sein Kettcar geklaut. Er zeigte weinend mit seinem Zeigefinger auf sie. In einem nahen Park spielten sie mit dem Gefährt, als wären sie die rechtmäßigen Besitzer.

Ausgestattet mit meiner neuerworbenen Grundaggressivität stürzte ich mich mit wirbelnden Fäusten und laut kreischend auf die einen Kopf größeren beiden Straßenbengel. Ich schlug wild um mich und schaffte es, ihnen das Kettcar abzunehmen.

Triumphierend gab ich es meinem kleinen Bruder zurück und nahm mir vor, ihn weiterhin immer zu beschützen.

Das war auch nötig, denn uns stand ein neuer Lebensabschnitt bevor. 

Wir zogen um.

 

8. Kapitel

 

Lukas und meine Mutter hatten beschlossen zusammenzuziehen. Sein Medizinstudium litt unter dem häufigen Hin- und Herpendeln zwischen den beiden Wohnorten, und er und meine Mutter waren sich ihrer Beziehung sicher geworden. Lukas‘ Eltern opponierten zwar gegen eine fünf Jahre ältere, geschiedene Schwiegertochter mit zwei Kindern. „Wir haben ein Anrecht auf eigene Enkel“, warfen sie ihrem Sohn an den Kopf.  Aber sein Entschluss stand fest, und meiner Mutter war nichts so wichtig, wie mit diesem Mann zusammen zu sein.

Also verließ sie ihr bisheriges Lebensumfeld und siedelte mit uns Kindern nach Gießen um.

In Großen-Linden, einem großen Dorf  bei Gießen, fanden sie eine bezahlbare Wohnung für eine vierköpfige Familie.

Ich wurde dort in die zweite Klasse eingeschult.

Es fiel mir schwer, mich in die neue Schule einzugewöhnen. Ich war in mich gekehrt und sehr schüchtern. Die Klassenlehrerin war zwar nett zu mir, aber als ich am nächsten Tag die Schultreppe hochstieg und dann vor der Klassentür stand, fühlte ich Panik und Fluchtgedanken in mir hochsteigen.

Ich saß im Klassenraum hinten links, war die Neue und niemand kümmerte sich um mich.

Doch nach einigen Tagen begann ein Lehrer die schüchterne Kleine, die so offensichtlich hilflos war, zu misshandeln.

Erst mit Worten, dann mit Handlungen und zuletzt mit Ohrfeigen.

Er hieß Herr Jung, war aber weißhaarig und korpulent. Er war der Mathematiklehrer.

Er ließ mein Aufgabenheft durch die Klasse gehen, um anderen Kindern meine hässliche Schrift vorzuführen. Als ich einmal zaghaft versuchte, mich zu melden, sagte er: „Was willst du, Bastard, du bist nicht dran“.

Ich war in seinen Augen das Kind einer kroatischen Mutter und eines Deutschen, die nicht miteinander verheiratet waren.

Das gab ihm in seinem verqueren Lebensverständnis das Recht, mich zu quälen und vor der gesamten Klasse zu mobben.

Ich wusste nichts mit dem Begriff ‚Bastard‘ anzufangen (die anderen Kinder auch nicht), aber in seinem Unterricht wurde ich immer unsicherer und konnte die einfachsten Rechenübungen nicht wiederholen.

Nachdem ich zweimal an der Tafel versagt und jeweils eine Ohrfeige von diesem grenzenlos mir Angst einjagenden Lehrer kassiert hatte, weigerte ich mich, weiterhin in die Schule zu gehen.

Ich verweigerte den Schulgang so konsequent, dass meine Mutter und Lukas wissen wollten, was ich für Gründe für mein Verhalten anführen könnte.

Ich erzählte von den zwei Ohrfeigen und erzählte, dass der Lehrer mich ‚Bastard‘ genannt hatte.

Darauf reagiert Lukas mit einer Vorsprache bei Herrn Jung und drohte ihm mit einer Anzeige bei der Polizei.

Von da an unterließ dieser die offensichtlichen Anfeindungen. Aber aus dieser Zeit blieben tiefe Spuren.

Meine Leistungen in der Schule wurden so schlecht, dass meinen Eltern ein Wechsel meinerseits in die Sonderschule vorgeschlagen wurde.

Von meiner Mutter bekam ich keinerlei Unterstützung oder Zuspruch in Bezug auf meine Schularbeiten.

Daraufhin begann Lukas mit mir zu lernen. Ich war ja nicht sein Kind und wir hatten auch kein enges oder liebevolles Verhältnis zueinander, aber er versuchte wenigstens, meine schwierigen schulischen Nöte zu beheben.

Allerdings konnte er mit Kindern nicht gut umgehen, er besaß kein richtiges Verständnis für sie und auch keinerlei pädagogisches Geschick. Und vor Mathematik hatte ich inzwischen einfach nur Angst und mein Denken war wie blockiert.

Dann setzte es schmerzhafte Kopfnüsse von ihm, als ob das meine Denkfähigkeit anregen würde.

Ich lernte dadurch nur, ihn innerlich abzulehnen.

Trotz des Rechenfiaskos wurde ich versetzt und langsam in die Klasse integriert.

Es setzte sich jedoch in Gedanken die Gewissheit fest, dass ich einfach nichts wert war.

Deshalb nahm ich es auch widerspruchslos hin, als mein Vater mich bat, ihn nicht mehr ‚Papa‘ zu nennen.

Ein einziges Mal noch besuchte er meinen Bruder Benni und mich in Großen-Linden. Er holte uns zu einem Ausflug in unsere alte Heimat Bruchsal ab. Kurz bevor er von der Autobahn abbog, sagte er unvermittelt zu mir: „Diana, ich möchte dich bitten, statt ‚Papa‘ ‚Jochen‘ zu mir zu sagen.“  Vor lauter Verblüffung schwieg ich und es fiel mir auch nicht ein, nach dem Grund für seine Bitte zu fragen. An Benni richtete er dieses Ansinnen nicht.

Beim späteren Nachdenken fiel mir ein, dass meine Mutter ihn darum gebeten haben könnte, weil ich Lukas ja auch mit ‚Papa‘ titulierte. Aber als ich ihr davon erzählte, reagierte sie genauso verständnislos wie ich.

Ich gewöhnte mich an das Leben im neuen Heim mit neuem Papa.

Lukas absolvierte erfolgreich seine medizinischen Prüfungen und er führte meine Mutter ebenso erfolgreich in seinen Freundeskreis ein. Meine Mutter war eine gute Köchin und Gastgeberin.

Wenn Gäste kamen, dann wurde nach kroatischer Sitte üppig und großzügig aufgetischt.

Sie und Lukas lebten finanziell über ihre Verhältnisse, denn außerhalb ihrer Gästebewirtungen gingen sie auch gerne aus, in Diskotheken oder mit Freunden zum Essen.

Wir Kinder blieben dann natürlich allein zu Hause. Einmal bekam mein kleiner Bruder Benni spätabends einen derart massiven Migräneanfall, dass er mir vor Schmerzen heulend zuschrie, er würde sich den Kopf an der Wand zu zerschmettern. Ich wusste mir nicht mehr alleine zu helfen und deshalb wählte ich mit zitternden Fingern die Telefonnummer eines engen Freundes von Lukas.

Dieser hörte sich meine weinende Beschreibung des Notfalls an und, weil er damals noch kein Auto besaß, orderte er ein Taxi und kam so schnell wie möglich zu uns Kindern gefahren. Handys, um eventuell meine Mutter oder Lukas anzurufen, gab es damals ja noch nicht.

Ich war froh, als ich endlich die Verantwortung für meinen Bruder in die Hände eines Erwachsenen legen konnte. Lukas‘ Freund versorgte meinen Bruder und beruhigte mich.

Viele Jahre später bestritt meine Mutter in einem Gespräch mit mir, dass es jemals so einen Vorfall gegeben habe, aber wir hatten ja einen Zeugen, der dieses Erlebnis bestätigen konnte.

Ein anderes Mal waren mein Bruder und ich wieder alleine, „Benni und Diana allein zuhaus‘, die Eltern waren beide aus“, als wir aus nichtigem Anlass in einen fürchterlichen Streit gerieten. Ich schubste Benni durch die Tür auf die Terrasse und verriegelte sie von innen. Er patschte mit seinen Händen kräftig gegen die Glasscheibe und schrie mir zu, dass ich sofort die Tür öffnen solle, oder er würde die Scheibe mit einem Stein einwerfen. Ich zeigte ihm grinsend den Vogel. Er drehte sich um und verschwand im Garten. Dann kehrte er mit einem Steinbrocken aus dem Kräutergarten meiner Mutter zurück und zertrümmerte damit die Terrassentür.

Fassungslos starrten wir auf den Haufen Scherben.

Ich drinnen, er draußen.

Dann erwachte ich aus meiner Erstarrung und öffnete Benni die Terrassentür. Er stapfte durch knirschende, funkelnde Glassplitter auf mich zu.

„Was sollen wir jetzt bloß machen?“ sagte er leise und griff nach meiner Hand.

„Hättest du den Stein nicht geschmissen, wäre das nicht passiert“, wollte ich ihn anschreien, aber stattdessen standen wir Hand in Hand und starrten auf das Trümmerfeld.

Eins war uns sonnenklar, dieser zerstörerische Vorfall würde Prügel mit dem Kochlöffel nach sich ziehen. Und das würde der Kochlöffel nicht überleben und wir vielleicht auch nicht.

Also entwickelten wir gemeinsam einen Plan, einen richtigen Pippi Langstrumpf-Plan. Mit dem von meinem Bruder geworfenen Stein schlugen wir unsere Sparschweine entzwei, dann sammelten wir die Münzen aus den Scherben.

Wir wollten gemeinsam zur Tankstelle gehen, uns für das Spargeld Süßigkeiten kaufen und den Eltern erzählen, dass Einbrecher dagewesen sein mussten und, um an unser Geld zu kommen, die Terrassentür eingeschlagen hatten.

Doch bei den inzwischen heimgekehrten Eltern kam unsere Einbruchsgeschichte nicht gut an. Sie glaubten uns natürlich kein Wort, und das lag nicht nur daran, dass wir genüsslich an Gummischlangen lutschten.

Der Kochlöffel wurde verschont, wir nicht und ich erlebte es das erste und einzige Mal, dass nicht nur ich sondern auch mein verwöhnter kleiner Bruder mit dem Gürtel schwer geschlagen wurde. Die Striemen taten lange weh.

Was Lukas über meine Mutter bei dieser Strafaktion des Auspeitschens dachte, war nicht klar.

Jedenfalls mischte er sich nicht ein.

Nach meinem anfänglich desaströsen Schulstart in Großen-Linden lebten wir Kinder uns jetzt ganz gut ein. Benni ging inzwischen in die Vorschule. Meine Mutter freundete sich mit seiner Lehrerin an.

Auch sonst bekamen wir Kontakt mit befreundeten Familien und deren Kindern.

Ich erinnere mich an den viel kleineren Nikolai, der mit einem sonnigen Lächeln munter hinter mir her stapfte. Ich spielte gerne mit ihm und wickelte ihn sogar, wie meine kleineren Cousins in Kroatien.

Noch heute fühle ich mich ihm wie einem Bruder verbunden.

Eine Zeitlang besaßen wir auch einen Hund. Einen kugelrunden, schwarzlockigen Welpen namens Schalk.

Meine Eltern schafften sich in unregelmäßigen Abständen immer wieder mal Haustiere an, mit deren Erziehung sie dann nicht klarkamen. Sie hatten keine Ahnung von Tierhaltung und eigneten sie sich auch nicht an.

Ich mochte zwar Tiere, aber Schalk mochte ich nicht. Er war ungebärdig, bellte bei jedem Anlass, nagte die Möbel an und buddelte im Garten die frisch eingesetzten Kräuterpflänzchen meiner Mutter aus.

Einmal biss er mich ganz unvermittelt von hinten in die Wade. Lukas zog mir später mit einer Pinzette einen steckengebliebenen Milchzahn des Hundes heraus, dabei brüllte ich wie am Spieß.

Der lästige Schalk wurde seinem früheren Besitzer zurückgegeben.

 

9. Kapitel

 

Mittlerweile hatte ich mich an das Leben in Großen-Linden gewöhnt. Es stellte sich im Vergleich zu den letzten düsteren Jahren als deutlich friedlicher und strukturierter dar.

Allerdings vermisste ich meinen Papa Jochen immer noch schrecklich, ich nannte Lukas zwar ‚Papa‘, aber er nahm diesen Platz in meinem Herzen nicht ein.

Die früheren Freunde und Freundinnen meiner  Mutter aus Bruchsal und Forst besuchten uns zwar anfänglich, aber irgendwann teilten sich die früher verbundenen Lebenskreise und man traf sich nur noch jährlich oder es verlief sich ganz.

Aber wir hatten in der neuen Umgebung andere Freundschaften geknüpft, sowohl die Erwachsenen als auch wir Kinder.

Jede Sommerferien verbrachten wir in meiner Heimat Kroatien. 

Da fühlte ich mich aus tiefstem Herzen zuhause. Lukas und Suza tourten durch das wunderschöne Land, in dem die Winnetoufilme gedreht wurden, und er bestaunte die traumhafte Inselwelt. 

Wenn sie Verwandte besuchten, nahmen sie manchmal Benni mit, ich blieb bei meinen Großeltern. Lukas ließ sich auf Kroatien ein. Seine Eltern hatten sich auf Grund seiner Beziehung zu meiner Mutter komplett von ihm losgesagt. Ihm gefiel der enge Familienverbund, zu dem auch noch Cousins und Cousinen fünften Grades oder noch weiter verwandt gehörten und er genoss die herzliche, ehrliche und immer großzügige Gastfreundschaft der Kroaten.

Was da war, wurde geteilt, auch mit Fremden.

Aber ich war keine Fremde, das Heim meiner Großeltern war mein Zuhause.

Egal, wie lange meine Eltern unterwegs waren, ich spürte kein Heimweh nach ihnen. Im Gegensatz zu meinem kleinen Bruder Benni.

Wir saßen am Frühstückstisch und meine Oma Ruža stellte ihm in einem tiefen Teller sein Frühstück hin, Zwieback in warme Milch gebrockt. Er nahm den Löffel auf, legte ihn dann wieder hin, „Wo ist denn Mama?“ fragte er und seine Augen sahen traurig aus.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich munter, meinetwegen hätten sie noch länger wegbleiben gekonnt.

Aber als Benni sein Frühstück verspeist, genauer gesagt geschlürft hatte, sprang er doch fröhlich mit mir in den Sonnenschein hinaus. Er hüpfte zu seinen unbefangenen Kinderspielen davon.

Mit mir hatte meine Oma Wichtigeres vor. Sie lehrte mich melken. Es war überhaupt nicht einfach, die Kuh- oder Ziegenzitzen mit der richtigen Fingerfertigkeit zu bearbeiten, so dass die Milch herausfloss, aber ich lernte es schnell. Mit meiner Cousine Silvia klaubte ich Kartoffeln aus dem Acker, den gefüllten Korb trug ich auf meiner linken Schulter stolz ins Haus.

Ja, hier wurde ich geschätzt und meine Fähigkeiten geachtet. Diese Unterstützung hatte ich bitter nötig.

Ich empfand mich als hässliches Entlein.

Meine Mutter hatte eigenhändig meinen üppigen dunkelbraunen Lockenschopf zu einer kurzen Prinz Eisenherz-Frisur gestutzt, die mein Gesicht ungünstig umrahmte. Mein Oberkiefer stand vor und musste kieferorthopädisch korrigiert werden.

Nachdem meine Mutter mich mit der Schere optisch derart verunstaltet hatte, betrachtete Lukas mich und kommentierte vernehmlich an meine Mutter gerichtet: „Ich habe noch nie ein so hässliches Kind gesehen!“

Meine Mutter fand seinen Ausspruch nicht weiter schlimm und Lukas behielt seine fiesen Sticheleien mir gegenüber bei. Sogar hier in Kroatien bei meiner ureigenen Familie der Tanten, Onkel und Cousinen verschonte er mich nicht.

Als wir bei meiner Tante Dana zu Besuch waren, saß meine Mutter bei ihrer Schwester in der Küche und beide probierten den selbstgebrannten Schnaps aus Trauben.

Ich kam aus dem hellen Spätsommertag in den dunklen engen Flur, um auf die Toilette zu gehen, da stolzierte Lukas mir entgegen. Einer musste Platz machen.

„Geh mir aus dem Weg, hässliches Kind“, schmetterte er mir wohlgelaunt entgegen. Der Trester hatte wohl sehr gut geschmeckt.

Deshalb war ich einfach froh, dass die beiden fortgefahren waren und ich in der Fürsorge meiner Oma Ruhe fand.

Aber auch die längsten Sommerferien und der schönste Urlaub enden einmal und wir begaben uns auf den Rückweg nach Deutschland.

Ich wusste, was uns dort erwartete.

Erst fand im August 1977 die Hochzeit von Lukas und Suza statt, dann stand nach zwei Jahren wieder ein Umzug an. Diesmal nach Süddeutschland ins Allgäu.

Lukas und meine Mutter gaben sich ihr Jawort in der evangelischen Kirche Großen-Linden. Meine Mutter trug ein mit rosa Rosen bedrucktes Flatterkleid und einen breitkrempigen Hut. Beides stand ihr nicht. Zum Hochzeitsmahl gab es Spanferkel, das nicht für alle der zahlreichen Gäste reichte.

Viele frühere und jetzige Freunde waren erschienen, etliche Geschwister meiner Mutter und Lukas‘ Schwester Barbi.

Es war eben auch ein Abschied.

„Ich will nicht schon wieder umziehen“, heulte ich los, als meine Mutter uns ihr Vorhaben mitteilte.

„Papa ist in Mittenwald stationiert und ich will bei ihm sein!“ war ihre bestimmte Antwort.

Auch meinem Bruder fiel diesmal der Abschied nicht leicht, er war nicht mehr so klein, dass man ihn wie ein Postpaket verfrachten konnte, auch er trauerte um sein soziales Umfeld, das erste, an das er sich erinnern konnte.

Aber der Kummer von uns Kindern zählte nicht, keiner von beiden begriff, dass wir darüber unglücklich waren und so wurden wir auch nicht emotional aufgefangen. 

 

 

10. Kapitel

 

Im Herbst 1977 bezogen wir unsere neue Wohnung in Kempten.

Sie lag in den Außenbezirken der Wohngebiete und befand sich im ersten Stock über der Filiale einer Sparkasse.

Wir Kinder bekamen jeder ein eigenes Zimmer, bei Bedarf zogen wir aber zusammen und eine Kammer wurde für Gäste hergerichtet.

Lukas leistete in Mittenwald seinen Militärdienst als Stabsarzt.

Er fühlte sich zu dieser typischen Allgäuer Landschaft hingezogen, denn er war als Kind dort aufgewachsen.

Für Benni und mich bedeutete dieser Umzug einfach nur wieder eine neue Schule, den Verlust von alten Spielkameraden.

Oh, wie ich es hasste, die Neue in einer Klasse zu sein.

Zwar blieben mir in Kempten die Demütigungen, die mich in Großen-Linden traumatisiert hatten, erspart, aber dennoch war es schwierig, in dem festen Klassengefüge Fuß zu fassen.

Aber im Laufe der Zeit schloss ich mich einer Leichtathletikgruppe an und knüpfte dort Kontakte.

Auf dem Schulhof lernte ich Axinja kennen, die ein Jahr jünger war und meine beste Freundin wurde. Deren Eltern befreundeten sich mit meinen.

Meine Kommunion stand an und ich ging zu den katholischen Pfadfindern. Deren Uniform fand ich so kleidsam und wenn ich sie trug, sah ich genauso aus, wie alle anderen Mädchen.

In dem Haus, in dem wir wohnten, lebte auch eine ältere, alleinstehende Dame, Frau Schiebel. Meine Mutter lud sie zu uns zum Essen ein und ich schloss mich ihr an. Ich fühlte mich ja sowieso zu älteren Frauen, in denen sich für mich meine Großmütter verkörperten, hingezogen.

Meine Mutter war wie immer sehr gastfreundlich und Frau Schiebel revanchierte sich und bot mir, wenn meine Mutter unterwegs war, ein freundliches Zuhause. Ich bekam nach der Schule von ihr duftende Dampfnudeln oder ähnlich leckere Speisen vorgesetzt.

Meine Mutter kochte eigentlich nicht für uns Kinder, sie bewirtete und verwöhnte Gäste und bereitete Lukas seine Lieblingsspeisen zu, dem man sein herzhaftes Zugreifen bei Tisch auch ansah, er wurde immer dicker, aber wir Kinder bekamen oft nach der Schule kein warmes Essen.

Übriggebliebene Reste konnten wir uns natürlich aufwärmen und essen. Und selbstverständlich standen uns Haferflocken als Standardnotnahrung zur Verfügung.

Duftende Dampfnudeln waren besser.

Ansonsten verliefen die Tage und Nächte wie gehabt, Lukas arbeitete in Mittenwald, meine Mutter ging ihrer Wege, wir Kinder in die Schule, ansonsten stritten und spielten wir Geschwister miteinander.

Einmal waren meine Mutter und Lukas gemeinsam weggegangen, wohin weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur daran, dass wir auf den nahen Spielplatz geschickt wurden, mit dem Hinweis, dass sie bald wieder zurück wären.

Die Zeit zog sich, die Spielgeräte waren mehrmals bespielt worden, und Benni wurde quengelig. Schniefend und unkonzentriert zog er noch einmal los, um sich auf dem Klettergerüst hochzuhangeln, verfehlte, sich an einer Stange festzuhalten und knallte mit dem Gesicht auf das Gerüst.

Dann lag er im Sand und blutete stark, denn seine Oberlippe war gerissen.

Eine fremde Frau, die den Vorfall beobachtet hatte, kam zu uns geeilt und bat einen Anwohner, nach einem Arzt zu telefonieren.

Der kam, meine Eltern waren immer noch nicht da.

Benni wurde an Ort und Stelle versorgt, er weigerte sich laut heulend, die Oberlippenwunde nähen oder klammern zu lassen.

Die eingezogene Narbe an der Lippe blieb ihm für immer und gab ihm einen charakteristischen ironischen Zug. 

 

11. Kapitel

 

Natürlich war ich wieder der Sündenbock.

„Warum hast du nicht aufgepasst?“ schimpften mich beide Eltern aus. Aber ich hatte ja direkt neben dem Klettergerüst gestanden, als Benni herabfiel. Ich hatte den Sturz nicht verhindern können, es passierte zu schnell.

Selbst wenn meine Mutter dabei gewesen wäre, hätte auch sie nicht schneller eingreifen können. Wieso wurde ich eigentlich immer für die Unfälle eines Siebenjährigen verantwortlich gemacht? Ich war doch auch noch ein Kind, meine Mutter musste doch auf ihn aufpassen.

Und nach den Vorfällen flötete sie mit ihm herum, aber sie lernte nicht daraus und änderte ihr Verhalten nicht.

Ich fühlte in Kempten oft eine dumpfe Traurigkeit, die wie ein schwerer Mantel auf mir lastete. 

Dabei hatten wir es oft schön. Wir besichtigten während eines Familienausflugs Schloss Neuschwanstein und ich war beeindruckt von der Prachtentfaltung, die mir unendlich und unwirklich vorkam. Ich hatte das Gefühl, leibhaftig durch ein Märchen zu laufen.

Im Sommer machten wir Ausflüge durch die friedliche Allgäuer Hügelwelt, diese meistens allerdings nur, wenn wir Gäste hatten, denen wir unser schöne Umgebung nahebringen wollten.

Wenn wir die Straße vor unserem Wohnhaus überquerten und dann ein paar hundert Meter durch eine Wiese liefen, die im Frühjahr mit Löwenzahn wie von einem Maler üppig gelb betupft war, kamen wir zu einem Abenteuerspielplatz, auf dem im Sommer von der Stadt arrangierte Freiluftspiele mit den Kindern stattfanden. Oder wir wurden kunstvoll durch Schminken in Tiermasken verwandelt und jagten uns kreischend gegenseitig.

Im Winter war der hohe Hügel hinter dem Abenteuerspielplatz ideal zum Rodeln oder mit den Skiern abwärts wedeln zu üben. Und in diesen Wintern mangelte es nie an Schnee.

Knirschend stapften wir mit unseren Stiefeln durch kniehohe Wälle in die Schule und bewarfen uns mit Schneebällen.

So lärmend ich manchmal durch meine Tage tobte, umso stiller wurde ich, wenn es abends zur Nachtruhe gehen sollte.

Anstatt mich ins Bett zu legen, stand ich in meinem geliebten quer-gestreiften jeansblauen Nachthemd am Fenster meines Kinderzimmers und starrte in die Dunkelheit, froh um jedes Auto, das vorbeifuhr und einen Lichtblitz hochstrahlte, so vergänglich er auch war.

„Dieses Kind liest zu wenig“, befand mein Stiefvater Lukas und verdonnerte mich dazu, das Buch ‚Ben Hur‘ zu lesen. Warum ausgerechnet diese für mich Zehnjährige völlig ungeeignete Lektüre ausgewählt wurde, konnte ich nur vermuten. Lukas liebte weitschweifige Schmöker und hatte seine eigene höchstpersönliche Meinung über gute Literatur. Er bevorzugte Schwarten, die er aus seinem Elternhaus kannte und mit denen er aufgewachsen war.

Von zeitgemäßer Kinderliteratur verstand er nichts. Also musste ich mich durch eine mir unverständliche Geschichte quälen, deren Hintergrund mir gleichgültig blieb. Auch entging es der ohnehin kaum vorhandenen Aufmerksamkeit beider Eltern, hinter meinem stillen aus dem Fensterstarren eine zunehmende seelische Vereinsamung zu registrieren.

Einmal schickte mich meine Mutter spätabends in den zwei Straßen entfernten Supermarkt, um Sahne zu holen, mit der sie eine Soße verfeinern wollte. Es war schon dunkel und mir war sowieso etwas mulmig zumute, denn ich hasste die Dunkelheit, als plötzlich ein Auto neben mir hielt.

„Kannst du mir zeigen, wie ich zu einem Arzt komme, kannst du mir den Weg zeigen?“ fragte mich eine Männerstimme.

Ich schaute durch das heruntergekurbelte Fenster in das Autoinnere und hätte in dem Moment nicht benennen können, was ich sah.

Ein Mann öffnete seine Hose und holte sein Geschlechtsteil heraus, er begann es zu reiben. 

Ich sah es und gleichzeitig sah ich es nicht. Denn es geschah mir nicht.

Ganz starr stand ich da.

Später beschrieb ich ihn als dünn mit dünnem Haar.

„Willst du nicht einsteigen und mir den Weg zum Arzt zeigen?“ fragte der Fremde. Ich schüttelte verneinend den Kopf, das löste mich aus der Erstarrung und ich rannte blindlings in Richtung Supermarkt.

Dort musste ich mich erst sammeln und zurechtfinden und es dauerte einige Zeit, bis ich mich wieder auf die Straße wagte. Zuhause wurde ich mit Vorwürfen wegen meiner angeblichen Trödelei empfangen, aber ich konnte den Vorfall nicht erzählen, ich konnte einfach nicht.

Drei oder vier Tage später las Lukas am Frühstückstisch eine Story über einen Sittenstrolch, der ein Mädchen verfolgte, das auf der Flucht vor ihm einen Hang hinunterstürzte und sich das Genick brach. Der Täter wurde als schlaksig und mit blondem schütterem Haar beschrieben.

Da platzte es aus mir heraus. „Den kenne ich“, rief ich.

Lukas und Suza zweifelten zuerst an meinem Erlebnis. Aber wie hätte ich es mir ausdenken können? Ich hatte ja keine Ahnung von den beschriebenen Vorgängen gehabt.

Nach eingehender dringlicher Befragung, in der ich beharrlich mein Schockerlebnis beschrieb, beschloss Lukas mit mir zur Polizei zu gehen.

Meine Mutter war, nicht nur in dem, was ihre Kinder betraf, eine schlechte Psychologin. Aber vor allem darin.

Sie erschien mir nie überlebensgroß, sondern eher winzig klein, wie durch ein umgedrehtes Fernglas gesehen.

„Mein Gott, deine Fantasien gehen wie immer mit dir durch“, war ihr Kommentar zu dem pädophilen Übergriff auf ihre zehnjährige Tochter. Ich kannte keine sexuellen Fantasien. 

„Wenn du jetzt hier lügst, dann ist der Teufel los“, drohte sie mir. Ihr kam nicht in den Sinn, dass ich, wenn ich die Geschichte erfunden hätte, Hilfe und Anteilnahme gebraucht hätte, ebenso oder noch mehr nach dem bedrohlichen und befremdenden Erlebnis.

„Wenn das nicht stimmt, passiert was!“ hieb Lukas in die gleiche Kerbe.

Ich bereute schon bitter, dass es aus mir herausgebrochen war, doch nach weiterer mit Drohungen gegen mich gespickter Befragung, entschloss sich Lukas doch, mit mir zur Polizei zu gehen. Ich machte meine Aussage und sie wurde von einer freundlichen Beamtin protokolliert. Sie nahm mich ernst. 

Von der weiteren Entwicklung dieser Geschichte weiß ich nichts.

Weder meine Mutter noch Lukas wussten diese Erfahrung psychologisch aufzufangen.

Die Verhaltensweisen meiner Mutter uns Kindern gegenüber bewegten sich in engen Grenzen, genauer gesagt zwischen den zwei Polen ihres Egoismus. Wenn das Kind ihren Erwartungen entsprach, also funktionierte, und sie sich keine weiteren Gedanken darüber machen musste, zeigte sich das in meinem Fall in der selbstverständlichen Annahme des Verhaltens in ihrem Sinne. Wenn es anders lief, als sie es wünschte, wurde drastisch bestraft. Nach der Ursache des kindlichen Verhaltens zu forschen, war ihr fremd und lag ihr auch nicht.

Aber da Benni mehr Sonnenschein von ihr abbekam, hatte er doch die besseren Karten.

 

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