Textprobe aus Kapitel 3 und 4 von Ankommen (AT)
„Bleibst du länger in Bochum?“, fragte Peter quasi direkt nach der Begrüßung. Er musste kurz vor ihr gekommen sein, saß bereits an einem Tisch, hatte jedoch noch kein Getränk vor sich stehen.
Der Turm, diese ehemals düster-gammelige Kneipe, hatte sich in eine schicke Lounge verwandelt. Dabei wurde in der Ausstattung mit viel Rot und entsprechenden Bildern direkt auf das ehemalige Feuerwehrgebäude Bezug genommen, in dessen Erdgeschoss die Gaststättenräume waren. Interessant, hatte Anna beim Hereinkommen gedacht, und dennoch den alten Turm vermisst. Irritiert schaute sie nun ihren ehemaligen Freund an:
„Nein, das geht nicht. Übermorgen habe ich einen Zahnarzttermin in Berlin und gerade habe ich erfahren, dass ich nächste Woche für eine Kollegin einspringen und nach Neuengland fliegen soll.“ Sie machte eine kurze Pause. „Für eine Reisereportage.“ Woher sollte Peter wissen, was sie machte?
Sie hatte in einem Internet-Café ihre Mails abgerufen und wäre fast an die Decke gesprungen, als sie die Nachricht las. Die Möglichkeit, Jeff so bald schon wiederzusehen, erschien ihr auf einmal als das schönste Geschenk, das sie jemals bekommen hatte. Direkt danach war das schlechte Gewissen in ihr hochgekrochen – so, wie auch jetzt, unter Peters Blick.
„Ich kann ja hier doch nichts machen“, hängte sie an. Das klang nach einer ziemlich lahmen Entschuldigung, dachte sie sofort.
„Ja, es ist schwer.“
Vermutlich reimte Peter sich zusammen, wie kompliziert es für sie auch heute noch in ihrem Elternhaus war. Schließlich hatte er deutlicher als jeder andere ihre Probleme damals miterlebt.
Er sah nicht gut aus. Schlank war er immer gewesen, jetzt wirkte er jedoch mager. Dabei schien dem Körper jegliche Spannung zu fehlen; die Schultern hingen vornüber, die Unterarme lagen auf der gläsernen Tischplatte, als gehörten sie nicht zu ihm. Vergeblich suchte Anna nach der Fröhlichkeit, die er früher ausgestrahlt hatte.
Er nahm die Speisekarte auf.
„Bratkartoffeln mit Spiegeleiern gibt’s vermutlich nicht mehr?“, fragte Anna.
Er lächelte und die Fältchen um die Augen vertieften sich. „Nein, leider nicht.“
„Na ja, für drei Mark fünfzig frisch gebrutzelt, das kann sich heute kein Laden mehr leisten.“
Die junge, gepiercte Kellnerin trat an ihren Tisch und wollte die Bestellung aufnehmen. Peter zögerte, sein Blick wich nicht von der Karte. Anna stieß ihn unter dem Tisch an, sagte zu der Bedienung, dass sie sich melden würden. Als sie wieder hinter der Theke verschwunden war, fragte sie Peter:
„Pommes Currywurst?“
„Haben sie hier, glaube ich, auch nicht.“
„Nein, aber die Bude am Markt gibt’s noch. Habe ich gerade gesehen. Was meinst du?“
„Wenn du willst.“ Das klang nicht sonderlich begeistert, aber er erhob sich und zog seine Jacke an. Kurz darauf standen sie auf dem Bürgersteig. „Bist du mit dem Auto hier?“
Anna verneinte. Autos waren ein schwieriges Thema – eines der schwierigen Themen – in der Familie Jäger. Die Eltern hatten ihr nicht angeboten, mit einem der beiden sinnlos herumstehenden Wagen zu fahren, und sie hatte gar nicht erst danach gefragt, sondern den Bus genommen.
„Lass uns doch zu Fuß gehen“, sagte sie.
Peter erwiderte nichts, schlug aber den Weg zum Markt ein. Nebeneinander gingen sie durch die stille Zechensiedlung. An vielen Häusern waren die Rollladen heruntergelassen, aus einem gekippten Fenster dröhnte ein Fernseher. Es war kühl. Anna bohrte die Hände in die Taschen ihres Trenchcoats.
„Arbeitest du noch bei der Stadt?“
„Ja, immer noch im Katasteramt. Und du reist also in der Weltgeschichte herum?“
Vor einer Bude stand eine Gruppe türkischer Jugendlicher, rauchte und unterhielt sich lautstark. Zwei tranken Bier, einer hatte eine Literflasche Cola in der Hand.
Anna erzählte von ihrer Arbeit, Peter schwieg.
„Mehr als die Hälfte eines Jahres übernachte ich in Hotels – oder Pensionen oder Ferienwohnungen, oder schon mal auf einem Hausboot oder im Wohnmobil – aber eben nicht zu Hause“, schloss sie.
„Und was ist das dann für dich: zu Hause?“
Gute Frage, dachte Anna. Sie hatten den Marktplatz erreicht, die Fenster des Imbiss’ strahlten grell erleuchtet. Anna war erleichtert, dass er noch geöffnet hatte. Sie war hungrig und nicht in der Stimmung, Peter von fehlenden Heimatgefühlen zu berichten.
„Berlin“, behauptete sie deshalb leichthin und ging voran, die Stufen hinauf in den kleinen, gekachelten Raum.
Eine dicke Frau in den Sechzigern stand hinter der Theke, das Gesicht von der Hitze der Fritteuse glänzend, die blondierten Haare ordentlich im Nacken zusammengebunden. Anna bestellte eine große Portion Pommes Currywurst mit extra Mayonnaise und ein Bier „zum hier essen“.
Peter studierte die Angebotstafeln, räusperte sich dann.
Himmel, dachte Anna, war dieses Geräusch ein typisches Merkmal der Bochumer Männer?
„Einen Krautsalat und ein Brötchen, bitte“, sagte er. „Und ein stilles Mineralwasser.“
„Auch zum hier essen?“ Obwohl sie gemeinsam den Raum betreten hatten, sahen sie offenbar aus, als gehörten sie nicht zusammen.
Peter nickte, und sie nahmen ihre Getränke in Empfang, setzten sich an einen der drei Tische aus Holzimitat.
„Also, ich ernähre mich ja sonst auch sehr gesund, aber in einer Pommesbude Krautsalat und ein Brötchen?“
„Das fettige Zeug verträgt mein Magen nicht mehr“, erklärte er emotionslos. „Ich bin schon zweimal operiert worden.“
„Das tut mir leid! Das wusste ich nicht. Warum hast du nichts gesagt? Wir hätten doch im Turm bleiben können.“ Anna fixierte Peters mageres Gesicht, sah erst jetzt, wie tief die neben der Nase zum Mund verlaufenden Gräben waren.
„Nein, es ist in Ordnung. Wenn du gern in Kohlenpott-Nostalgie schwelgen willst ...“ Er hob sein Wasserglas, sie prosteten sich zu, und Anna stürzte einen Schluck Bier hinunter.
Die Bedienung brachte die Teller, zog das in dünne Papierservietten eingedrehte Besteck aus ihrer Kittelschürze, wünschte ihnen guten Appetit.
Die Wurst war aufgeplatzt und hatte kross gebratene Kanten, die Soße darüber duftete köstlich süß-scharf; die Pommes frites schimmerten knusprig-goldbraun. Peter hatte eine riesige Portion Krautsalat vor sich stehen. Er brach ein Stück von seinem Brötchen ab.
„Lass es dir schmecken. Na los, hau rein!“ Das klang endlich nach dem Peter von früher, von ganz früher – vor all ihren nervenzehrenden Diskussionen darüber, wo und wie sie leben wollten –, und Anna zwinkerte ihm zu und begann, sich ihr Essen in den Mund zu schaufeln.
Peter stocherte in dem Salat herum, schien jedoch Annas Anblick zu genießen. Sein Gesicht sah jetzt viel entspannter aus, amüsiert reichte er ihr seine Serviette, nachdem sie einen Batzen Currysauce auf ihre hatte tropfen lassen.
„Das war gut!“ Anna spülte den letzten Bissen mit dem restlichen Bier herunter. „Sollen wir jetzt woanders hin? Wo du etwas Besseres bekommst?“ Sie schaute auf seinen kaum berührten Teller.
„Nein, ich brauch nichts. Wir können aber noch ein bisschen herumgehen, was meinst du?“
„Gern.“ Anna bestand darauf, sein Essen mitzubezahlen, und kurz darauf standen sie wieder auf dem Marktplatz, das Neonlicht des Imbisses im Rücken.
„Wegen der Magen-Operationen lebst du zurzeit bei deinen Eltern?“, fragte sie nach ein paar Schritten.
„Um Himmels Willen, nein!“ Peter lachte einmal kurz auf und legte dann seinen Arm um ihre Schulter, drückte sie. „Das ist nicht so schlimm, ehrlich. Ich habe eine Scheidung hinter mir und bin pleite. Meine Frau – meine Ex-Frau – ist mit den Kindern in dem Haus geblieben und ich muss jetzt erst mal sehen, dass ich eine kleine, billige Wohnung finde.“
„Du hast Kinder?“
„Ja, zwei Mädchen – vierzehn und zwölf – und einen Jungen. Lucas ist letzten Monat drei geworden.“ In seiner Stimme war ein Lächeln zu hören.
„Wie heißen die Mädchen?“ Peter hatte seinen Arm auf ihrer Schulter gelassen und Anna fand das Gefühl angenehm, legte ihre Hand um seine Seite.
„Marlene und“, er hielt kurz inne. „Anna.“
„Oh – na, das freut mich. Für eine Patenschaft ist es vermutlich zu spät, aber ich stehe bereit“, überspielte Anna ihre Überraschung. „Kenne ich deine Frau?“
„Ex-Frau.“ Er deutete auf eine Seitenstraße, in deren hinterem Bereich eine Leuchtreklame flackerte. „Da ist jetzt eine neue Kneipe. Falls du noch ein Bier trinken willst.“
Langsam schlenderten sie auf die Lichter zu. Als sie noch etwa hundert Meter entfernt waren, drang Musik bis zu ihnen heran, etwas stark Basslastiges, durchmischt von lauten, jungen Stimmen.
„Ich glaube, das lassen wir“, sagte Anna, und beide lachten.
„Nein, ich denke nicht, dass du Christiane kennst. Sie war eine Arbeitskollegin.“
Gern hätte Anna gefragt, warum sie sich getrennt hatten, wusste aber nicht, wie. Einerseits fühlte es sich mit Peter noch immer vertraut an, andererseits waren die zwanzig Jahre, in denen sie keinerlei Kontakt gehabt hatten, deutlich spürbar. Die Kneipengeräusche schwollen mit jeden Schritt stärker an, dann hatten sie das Gebäude passiert, und der Pegel wurde wieder schwächer.
„Meine Schuld. Ich hab’s versaut“, beantwortete er unvermittelt die nicht gestellte Frage. „Ich bin fremdgegangen. Vor vier Jahren schon einmal. Lucas war dann – na ja, so ein Versuch, alles wieder zu kitten. Aber der Riss war da. Und dann ist es auch prompt noch einmal passiert.“
Anna juckte es, ihn darauf hinzuweisen, dass so etwas wie Fremdgehen nicht „passierte“, aber er fuhr schon fort:
„Da hat sie mich vor die Tür gesetzt.“
„Verständlich“, sagte Anna, dennoch hatte sie das Gefühl, ihn trösten zu müssen, und fasste ihn fester um die Seite.
„Wir könnten zu Fuß nach Hause gehen“, sagte sie nach einer Weile. „So wie früher, wenn der letzte Bus weg war.“
„Und kein Auto weit und breit, sodass Trampen auch keinen Sinn machte.“
Die schmale Straße lag wieder still vor ihnen. Wenn Anna sich nach all den Jahren noch richtig orientierte, war der Vorort gleich zuende und danach führte eine Abzweigung zu zwei Bauernhöfen. Nach wie vor gingen sie sehr nah nebeneinander.
„Wir könnten auch“, begann Peter zögernd, beendete den Satz nicht.
„Ja?“
„Die Nacht zusammen verbringen.“ Das stieß er geradezu heraus, es wirkte eher verzagt als werbend.
„Bei deinen Eltern oder bei meinen?“, machte Anna einen Versuch, die Situation ins Komische zu ziehen. „Nein, ich glaube, das ist keine gute Idee.“
Auch hier hatten die Stadtplaner zugeschlagen. Wo früher die Felder begonnen hatten, stand nun ebenfalls eine Reihenhaus-Siedlung. In einzelnen Fenstern war noch Licht.
„Okay, ja. Entschuldige.“ Peter löste sich von ihr und machte eine lange Pause, bevor er mit belegter Stimme schloss: „Wahrscheinlich hast du recht.“
4. Kapitel
Ihre Mutter war 16 gewesen, als sie sich in ihren Vater verliebte – genauso alt wie Anna, als sie mit Peter zusammenkam. Aber während Peter und Anna sich von klein auf kannten, hatte Manfred Jäger für Sabine Kleinhans in den Wirtschaftswunderjahren die Begegnung mit einer anderen Welt bedeutet. Eine Verheißung.
Wieder lag Anna wach auf dem Sofa in ihrem ehemaligen Kinderzimmer und dachte an die Frau, die ihre Mutter gewesen war. Sehr, sehr attraktiv. Auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos wäre sie jederzeit als Mannequin durchgegangen. Ein schöneres Wort als „Model“, fand Anna. Schönere Frauen waren es damals auch gewesen. Sie durften noch Rundungen haben, weiche Formen, die Sex und Geborgenheit suggerierten. Auf manchen Bildern erinnerte ihre Mutter an Marilyn Monroe.
Der Vater war aus dem zerstörten Hamburg nach Bochum gekommen, auf der Suche nach einem neuen Leben. Er hatte Gärtner gelernt, hasste es aber, liebte Autos und das Autofahren. Deshalb hatte er sofort zugegriffen, als er in einer Kneipe der Hansestadt den Chef eines Tiefkühl-Großhandels kennenlernte, der ihm anbot, für die Firma im Ruhrgebiet auszuliefern. Auch Manfred Jäger war nicht unattraktiv gewesen, für einen Mann klein und zierlich, aber mit einer verwegenen James-Dean-Tolle im dichten Haar.
Sabine Kleinhans hatte damals gerade ihre Ausbildung als Verkäuferin begonnen und half abends manchmal in der Kneipe aus, in der ihr Vater – Annas Großvater – kellnerte. Auch er neben seiner regulären Arbeit auf dem Bau. Die Großeltern träumten von einem Haus, dafür arbeitete der Großvater sich buchstäblich kaputt, während er seiner Frau untersagte, eine Anstellung zu suchen. Anna schauderte, als sie daran dachte, und sie krallte ihre Finger in die Bettdecke.
Die junge Sabine liebte ihre Rolle als Vorortschönheit in der Kneipe – so las Anna es aus den Erzählungen und den Fotos heraus. Die Großmutter hatte für ihre Tochter von einer Bürostelle geträumt, aber das Mädchen hatte mit Buchhaltung und Schreibarbeiten nichts im Sinn. Die Gardinenabteilung des kleinen Kaufhauses, wo sie eine Lehrstelle bekommen hatte, war schon eher etwas für sie, gab den Träumen vom perfekt dekorierten Leben Nahrung. Außerdem erhielt sie auf alle Waren des Kaufhauses Rabatt, sodass sie sich neue, schöne Kleider kaufen konnte. Die sie dann in der Kneipe ausführte, sich bewundern ließ, wenn sie mit Tabletts voller Bier und Tellern, überquellend von Bockwürsten und Kartoffelsalat, auf ebenfalls neuen, schicken Pumps durch den Gastraum schritt.
Annas Vater wurde Stammgast in der Kneipe. Mit Kollegen und allein, er ließ sich von Sabine Bier und Tagesgerichte bringen und flirtete mit ihr unter den strengen Blicken ihres Vaters. Er lebte in einem winzigen möblierten Zimmer, besaß aber bereits ein Auto, einen VW-Käfer, in dem er das Mädchen sonntags ausfuhr. Zunächst mit ihren Eltern im Schlepp, bald auch zu zweit.
Anna wollte nicht länger über die Vergangenheit ihrer Mutter nachgrübeln, und erst recht nicht über Peter, wie er sich mit einem unechten Lächeln auf den Lippen von ihr verabschiedet hatte. Sie beschwor Jeffs Bild herauf und spürte endlich, wie sie in den Schlaf hinüberglitt.
*
Am Morgen ging sie nicht joggen. Sie wollte Peter nicht begegnen. Stattdessen packte sie nach dem Aufstehen ihre Sachen wieder in den Koffer, wie sie es ständig in Hotelzimmern tat. Sie würde die Eltern zum Krankenhaus begleiten und von dort aus direkt zum Bahnhof gehen, um zurück nach Berlin zu fahren.
Das Frühstück fand in gedrückter Stimmung statt. Kurze Freude bei der Mutter über die flache, elegante Funkuhr, die Anna ihr zuschob, Rührung beim Vater angesichts des Geschenks seiner Frau. Leichte Verlegenheit auf allen Seiten, als Anna sagte, dass sie sich nichts gekauft hatte.
In die Klinik brachte sie ein Taxi – als sie ihrer Tochter erklärte, dass die Krankenkasse die Kosten für diese Fahrten übernahm, wurde Sabine Jäger etwas lebhafter. Offensichtlich genoss sie diesen Luxus, den sie sich sonst nie gegönnt hatte.
Schnell hatten sie das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert in der Innenstadt erreicht, das Taxi fuhr an der Notaufnahme vor, routiniert wurde die Mutter in einen Rollstuhl gesetzt und durch Flure geschoben, in einen Aufzug, wieder einen Flur entlang und schließlich in ein freundliches, helles Zweibettzimmer. Die Schwester, die sie auf der Station in Empfang nahm, begrüßte Sabine Jäger wie eine alte Bekannte.
Anna, die neben ihrem Vater stumm hinter dem Rollstuhl hergelaufen war, erstaunte die ehrliche Herzlichkeit, mit der die Krankenschwester sprach. Es gab Leute, die ein vollkommen unkompliziertes Verhältnis zu ihrer Mutter hatten, realisierte sie.
Die Frau in dem anderen Bett schien zu schlafen; hohlwangig und abgezehrt auch sie. Die Mutter legte sich in ihrem Hausanzug auf ihr Bett und Anna half dem Vater, den Inhalt der Reisetasche im Schrank unterzubringen. Einige neu aussehende Nachthemden, ein Bademantel, etwas Unterwäsche, zwei Jogginganzüge, eine Strickjacke. Zwei große Duschtücher, etliche Handtücher, Waschlappen.
Ein buntes Heft mit dem neuesten Klatsch aus Europas Königshäusern, ein Magazin, das „Die neue Herbstmode“ anpries, sowie eine Fernsehzeitschrift wanderten auf den Nachtisch, ebenso eine Flasche Saft. Anna legte eine Packung Pralinen dazu.
„Vielleicht hast du ja doch mal Appetit auf etwas Süßes.“
„Das ist lieb von dir, danke.“ Mit ein wenig Interesse begutachtete die Kranke die edle Packung. Plötzlich wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt, der den ganzen Körper erbeben ließ.
„Na, haben Sie sich nun noch erkältet?“
Eine junge Frau im weißen Kittel, aus dessen einer Tasche ein Stethoskop herausschaute, hatte den Raum betreten und strich Sabine Jäger leicht über die noch immer zuckende Schulter.
„Guten Morgen, Frau Doktor Hauschka“, grüßte die Kranke, um Luft ringend. „Das ist meine Tochter Anna.“ In ihrer Stimme schwang Stolz.
Die Ärztin betrachtete Anna eher abschätzig: „Die Journalistin aus Berlin. Guten Tag.“
Anna grüßte zurück und sagte etwas in der Art, dass sie immer viel unterwegs sei.
„Ja, ich habe den Koffer auf dem Flur gesehen.“ Da war offene Missbilligung hörbar. „Frau Jäger, Sie sollen jetzt gleich in die Röhre, damit wir sehen, woran wir sind.“
„Die Metastasen“, sagte die Mutter und nickte gefügig.
„Genau.“ Doktor Hauschkas Stimme klang nun sehr weich. „Schwester Chantal fährt sie hinunter.“
Die Krankenschwester, die zwischenzeitlich das Zimmer verlassen hatte, war mit der Ärztin wieder hereingekommen und half Sabine Jäger in den Rollstuhl, schob sie hinaus. Anna und ihr Vater standen hilflos im Raum herum.
Anna räusperte sich: „Was machen Sie denn jetzt – also was für eine Therapie?“
Die Ärztin hatte offenbar beschlossen, sich sachlich zu äußern. „Wir müssen die CT-Ergebnisse abwarten. Wenn die Metastasen sich nicht weiter ausgebreitet haben, können wir es noch einmal mit einer Chemo versuchen.“
Anna sah, wie ihr Vater zusammenzuckte.
„Und wenn nicht – oder doch?“ Sie verstummte, blickte weder ihren Vater noch die Ärztin an.
„Ja“, die junge Frau zögerte, wandte sich dann Herrn Jäger zu. „Wir haben eine Station, wo wir Schwerstkranke intensiv betreuen können. Besser als hier. Und Sie werden das zu Hause ja auch nicht so können.“ Sie hatte sich verhaspelt. Leicht verunsichert setzte sie neu an. „Vielleicht schauen Sie sich die Station einmal an.“ Sie beschrieb den beiden den Weg und verschwand aus dem Zimmer.
Erleichtert, dass es etwas zu tun gab, zog Anna ihren Vater mit sich über den Flur, in den Aufzug.
„Ich habe mich nie getraut zu fragen“, murmelte er leise, als sich im sechsten Stock die Türen wieder öffneten und sie die in warmen Gelbtönen gestrichenen Wände sahen.
Es war eine angenehme Atmosphäre. Keinerlei Krankenhausgeruch, kaum weiße Flächen. Aus einem Raum drang ein Schlager von Conny Froboess. Ein Pfleger erschien, fragte, ob sie jemanden suchten.
„Nein, wir, Frau Doktor Hauschka schickt uns“, stotterte der Vater.
„Wir wollten uns die Station anschauen“, erklärte Anna.
„Bitte.“ Mit einer einladenden Handbewegung deutete der Mann den Gang hinunter. „Bei uns geht es darum, den Kranken ihre letzten Tage so angenehm wie möglich zu gestalten.“
Ein Hospiz, dachte Anna. Natürlich. Warum fällt mir das Wort erst jetzt ein?
Seltsamerweise schien auch der Vater weniger angespannt, nachdem heraus war, dass es ums Sterben ging.
„Sie als Angehörige“, ein fragender Blick traf die beiden; Anna nickte bestätigend, der Vater reagierte nicht, „sollten Bilder, schöne Dinge, Musik mitbringen. Und – am Wichtigsten: hier Zeit mit der Kranken verbringen.“
Er hatte die weibliche Form benutzt, registrierte Anna. Natürlich, es war naheliegend, dass es um die Partnerin des Mannes, die Mutter der jüngeren Frau ging. Warum nahm sie das überhaupt wahr?
„Sie können so lange hierbleiben, wie Sie möchten“, führte der Pfleger aus. „Wenn Sie es wünschen, können wir Ihnen ein Bett in das Zimmer stellen, sodass Sie hier übernachten können.“
Nun nickte der Vater, während sich in Anna alles zusammenkrampfte.
*
Sie verschlief fast die gesamte Zugfahrt nach Berlin. Erleichtert, dass Dr. Hauschka nach der Computertomografie eine neuerliche Chemotherapie versuchen wollte. Beschämt über ihre Erleichterung.
Sie hatte der Mutter noch beim Duschen geholfen – nachdem die Krankenschwester gefragt hatte, ob sie das übernehmen wolle. Zunächst war ihr äußerst unwohl bei dem Gedanken gewesen – solch eine Form körperlicher Nähe hatte es zwischen den beiden Frauen kaum in Annas Kindheit gegeben. Als die Mutter nach ihrem zögernden Zustimmen glücklich wirkte, fühlte Anna sich egoistisch und oberflächlich. Mit aller Macht konzentrierte sie sich auf den Gedanken, dass sie hier einem Menschen mit einer Kleinigkeit etwas Gutes tun konnte.
Im Rollstuhl hatte sie Sabine Jäger, die fast euphorisch davon sprach, dass die Metastasen sich so wenig ausgebreitet hatten, in das große Badezimmer gefahren, sie beim Aufstehen gestützt, ihr beim Entkleiden assistiert. Sich bemüht, ihre Bestürzung zu verbergen, wie abgemagert die Kranke war. Die Brüste lagen langgezogen auf der faltigen Bauchhaut; der Hintern, die Beine: Überall war zu viel Haut, zu wenig Fleisch.
Die Narbe an der Außenseite der linken Brust war blass und klein und fiel kaum noch auf. Die Mutter war so glücklich gewesen damals, als nur der Tumor entfernt wurde und sie ihren Busen behalten konnte.
Es gab einen Sitz, auf dem sie unter dem Wasserstrahl sitzen konnte. Den Körper seifte sie sich selbst ein, die wenigen dünnen Haare wusch Anna, trotz ihrer Bemühungen mit den Gedanken bereits auf der Flucht: im Zug, in Berlin, im Flugzeug, in Boston.
Dabei schaffte sie es wenigstens noch, einfühlsam zu hantieren. So lange an den Heiß- und Kaltreglern zu drehen, bis die Temperatur perfekt war, Sabine Jägers Kopfhaut sanft zu massieren. Sogar beim Abtrocknen half Anna ihr, fühlte das schlaffe Fleisch durch das Duschhandtuch hindurch, war froh, als sie ihr ein frisches Nachthemd übergestreift hatte. Die Mutter war restlos erschöpft, als die Prozedur beendet war, lächelte Anna jedoch dankbar an.
Hatte sie früher etwa auch Berührungen, solch einen Kontakt, gewollt? Anna konnte sich an kaum eine Umarmung erinnern.
„In wenigen Minuten erreichen wir Berlin, Bahnhof Zoologischer Garten“, verkündete die Ansagerstimme und Anna schrak zusammen. Dieser Moment, vor allem dieses Lächeln ihrer Mutter war schön gewesen. Rein, unschuldig, ohne Hintergedanken. Die Erinnerung an diesen Anblick, diesen Moment, musste sie sich bewahren, dachte sie. Als Gegenpol zu den vielen Situationen ohne Kontakt, ohne Verständnis, ohne auch nur den Versuch dazu. Auf beiden Seiten.
Sie reckte sich, steckte ihre Mineralwasserflasche in die Umhängetasche, ließ die Bochumer Zeitung auf dem Sitz neben sich liegen, holte ihren Trenchcoat aus dem Gepäckfach, den Koffer aus der Lücke hinter der Sitzreihe und bewegte sich auf den Ausstieg zu. Stand vor der Tür und sah anstelle der vorbeigleitenden hohen, grauen Häuser wieder die abgemagerte Frau, das hohlwangige Gesicht, in dem die blassblauen Augen riesig wirkten. Das Lächeln verschwand langsam daraus.
*
Vom Bahnhof aus fuhr Anna direkt in die Redaktion. Zum ersten Mal seit Jahren grauste ihr vor ihrer leeren Wohnung und dem Alleinsein – obwohl sie sich in Bochum genau danach gesehnt hatte.
Natürlich fragten die Kolleginnen nach, was es mit dem Besuch bei ihrer Familie auf sich gehabt hatte – neugierig, da Anna nie über ihr Elternhaus sprach –, sie wich jedoch aus und erzählte stattdessen von dem trinkfreudigen Hans im Rioja. Nur Ellen, der Chefin, vertraute sie an, dass ihre Mutter so krank sei, dass sie damit rechne, ein weiteres Mal kurzfristig ins Ruhrgebiet fahren zu müssen. Die sportliche Mittfünfzigerin suchte ihren Blick:
„Wir können auch die nächsten Reisen noch einmal neu planen, wenn du in der Nähe bleiben willst. Du musst den Indian Summer nicht übernehmen.“
Anna schaffte es, souverän-geschäftlich zu bleiben: „Nicht nötig, so schnell sollte nichts passieren.“
Tatsächlich hatte sie das Gefühl, dass der Gedanke an die fernen Neuengland-Wälder, die unkomplizierte Freundlichkeit der Amerikaner und, ja, auch der an Jeff, sie aufrecht hielt.
Sie betrachtete Ellen und überlegte, dass die Gründerin der Agentur nur wenige Jahre jünger als ihre Mutter war. So im Hier und Jetzt wie die hochgewachsene, dunkelhaarige Chefin hatte Sabine Jäger nie gewirkt. Vielmehr so, als hinge sie immer irgendwelchen Träumen nach. Von einem makellosen Zuhause, einem schönen Leben. Vielleicht auch von einem aufregenden Mann oder der idealen Familie. Was sie dafür tat, kam aus den Ratgeberseiten der bunten Blätter: gut kochen, das Haus regelmäßig neu und geschmackvoll einrichten und dekorieren, alles picobello sauberhalten. Sich selbst gut kleiden, schminken und frisieren. Auch in den Zeiten ihrer schlimmsten Trinkerei war die Mutter nie schlampig angezogen herumgelaufen. Selbst als ihre Konfektionsgröße auf monströse 52 angeschwollen war, hatte sie noch Kleidung gefunden, die ihre Figur nicht allzu unvorteilhaft aussehen ließ. Wie viel Kraft sie all das gekostet haben musste!
„Bist du sicher?“, drang Ellens Stimme in ihre Gedanken.
Unwillkürlich schüttelte Anna sich leicht. „Ja, bin ich.“
„Gut.“ Damit war für die Chefin das persönliche Gespräch beendet. „Es ist eine große Geschichte: Highlights Neuenglands als Beitrag für ein Buchprojekt, wichtiger neuer Kunde. Die Fotos liefert ein amerikanischer Fotograf. Das Programm hat Christine dir hoffentlich schon weitergeleitet. Falls nicht, sprich sie bitte an. So viel ich weiß, fliegst du nach Boston und drehst dann die große Runde.“
So war es. Sonntag 14 Uhr Flug mit American Airlines ab Tegel über London Heathrow. Ankunft in Boston: 18.35 Uhr. Gute Verbindung.
Übernahme Mietwagen, erste Übernachtung im Logan Airport Hotel.
Am nächsten Tag nordwärts nach Portland, Maine. Weiter an der Küste hoch zum Acadia National Park, ganz in den Norden der USA zum Baxter State Park. Dann süd-westlich in die White Mountains, New Hampshire, durch Vermont nach Connecticut. Schließlich Rhode Island, Cape Cod und zurück nach Boston, von wo aus es dann einen Tag später wieder zurückging.
Sollte sie Jeff fragen, ob sie die beiden Bostoner Nächte bei ihm bleiben konnte?
Sie verspürte eine Sehnsucht, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Und es wäre albern, wenn er in seiner Heimatstadt für ein Bett in einem Hotel bezahlen würde – zumindest, solange es nichts Besonderes war, und das schien auch dasjenige zum Schluss der Reise nicht zu sein. Flughafenhotels gehörten ohnehin zu den deprimierendsten Orten der Welt.
Die Übernachtungskosten während des Trips wurden von den Fremdenverkehrsbüros der einzelnen Staaten übernommen – und Jeff war viel zu sehr integrer Publizistik-Dozent, um sich einladen zu lassen, sondern bestand stets darauf, seinen Teil der Hotelrechnung zu übernehmen, das wusste Anna mittlerweile nur zu gut. Er betrachtete dieses ganze System der gesponserten Reisen äußerst misstrauisch.
Von Bochum aus hatte sie ihm bloß die Nachricht geschickt, dass sie kommen würde. Nun leitete sie ihm das Programm weiter, schrieb dazu: „Airport Hotel oder Professorenvilla?“
Sie hatte kaum ihre Mails abgearbeitet, als die Antwort eintraf: „Wenn dir meine spartanischen Gemächer ausreichen, würde ich mich sehr freuen, dich hier zu haben. Umso mehr, als ich dich während der Tour kaum treffen kann. Hier ist die Hölle los: Etatdiskussion, Überprüfungen, Kürzungen. Ich bin froh, dass ich nächstes Jahr in Good Old Germany bin.“ Es folgte ein Zwinkersmiley.
*
Am späten Samstagnachmittag stand Anna vor ihrem Bett, auf dem sich Kleidungsstücke türmten, die in den Rollkoffer wandern sollten. Auch ihr Handgepäck – die kleine Kompakt-Kamera für Fotos als Erinnerungsstütze, Notizblock, Papiere, Reiseführer sowie „Hotel New Hampshire“ zur belletristischen Einstimmung – lag bereit.
Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen: Mit reichlich Stress hatte sie am Vortag die restliche Arbeit im Büro absolviert; ihre Wohnung war geputzt, der Zahnarzt hatte ihr versichert, dass sie die kommenden zwei Wochen ohne Probleme überstehen sollte. Am Abend würde sie noch mit einer Bekannten aus dem Fitness-Center ins Kino gehen.
Unschlüssig trat sie ans Fenster, rückte den großen Ficus ein Stück zur Seite, eine der wenigen Pflanzen, die bei ihr überlebten, ging dann kurz entschlossen ins Wohnzimmer, wo das Telefon auf dem Couchtisch lag, und wählte die Nummer ihrer Eltern, die sie noch immer auswendig wusste.
Nach dem achten Klingeln, als sie schon wieder auflegen wollte, meldete sich ihr Vater. Er fiel aus allen Wolken, als er ihre Stimme hörte.
Anna versuchte so zu tun, als riefe sie regelmäßig an. „Bist du eben erst hereingekommen?“
„Ja, ich komme gerade von der Mama.“
„Wie geht es ihr?“
Er räusperte sich umständlich. „Soweit ganz gut, besser – also sie kriegt Medikamente gegen die Nebenwirkungen von der Chemo und es ist nicht so schlimm wie beim letzten Mal.“
„Das ist gut, ja. Hat sie Telefon? Kann ich sie im Krankenhaus anrufen?“ Anna spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. „Ich muss morgen in die USA für zehn Tage“, fügte sie an.
Der Vater lavierte herum, Anna war nicht klar, ob er nicht wollte, dass sie die Mutter anrief, oder ob es wirklich ein Problem darstellen könnte. Endlich gab er ihr die Nummer. Sie bedankte sich, versprach, sich nach ihrer Rückkehr wieder bei ihm zu melden, und legte auf, atmete tief ein und aus, bevor sie neu wählte.
Sabine Jägers Stimme war sehr leise, kaum zu vernehmen. Anna ertappte sich dabei, dass sie lauter als normal sprach, als könnte die Mutter sie schlecht hören. Dabei wusste sie kaum, was sie überhaupt sagen sollte. Nach dem Befinden der Mutter fragen, natürlich. Dann jedoch begann sie auf einmal von Neuengland zu erzählen. Sogar, dass es da einen Mann gäbe, erwähnte sie. Mit dem es „etwas Ernstes“ werden könnte.
Sie sei so schwach, vernahm Anna endlich vom anderen Ende der Leitung. „Ich weiß nicht, wie – “ Die Stimme brach wieder ab.
Anna suchte nach tröstenden Worten, fand kein einziges, gab schließlich nur einen beruhigenden Laut von sich.
Dann folgte noch ein Satz der Mutter, erstaunlich klar; er traf Anna wie ein Faustschlag: „Das kann doch nicht alles gewesen sein.“
*
„Wir haben unseren Anflug auf Boston gestartet. Bitte verstauen Sie jetzt Ihr Handgepäck sicher in den Fächern über Ihnen oder unter Ihrem Sitz, schnallen Sie sich an, stellen Sie Ihre Rückenlehnen senkrecht und klappen Ihre Tische hoch. Das Wetter in Boston ist schön, es gibt ein wenig Wind bei 59 Grad Fahrenheit, das entspricht 15 Grad Celsius.“
Sie flogen in einen spektakulären Sonnenuntergang hinein. Das Farbenspiel von dunkelsamtenem Rot bis heiß kochendem Gelb ließ Anna aufseufzen. Alles ist gut, dachte sie. Da war der Atlantik, landeinwärts konnte man schon ein paar Wälder ausmachen, mit Blättern in ähnlichen Farbtönen wie der Himmel.
„Schön!“, sagte Anna an ihre Sitznachbarin gerichtet, eine kanadische Harvard-Studentin, mit der sie in den vergangenen sechs Stunden immer mal wieder einen Satz gewechselt hatte.
Strahlend nickte die junge Frau.
Die Einreise ging zügig vonstatten, das Gepäck erschien in Rekordzeit auf dem Band, und um halb acht saß Anna bereits in dem riesigen Miet-Chevrolet und steuerte Bostons Innenstadt an. Sie war noch nie bei Jeff zu Hause gewesen und überließ sich ihrer freudigen Neugier. Die alten Ängste, mit dem Alltag des anderen nicht klarzukommen, waren wie weggewischt.
Um diese Uhrzeit stellte selbst Bostons verwirrendes Einbahnstraßensystem kein Problem dar, auf Anhieb fand sie die Straße nahe dem Charles River im altehrwürdigen Viertel Back Bay. Traumhaft! Hohe Backsteinhäuser mit großen Erkern im Erdgeschoss, ein wenig von der breiten, baumbestandenen Straße zurückgebaut – New England aus dem Bilderbuch. Allerdings hätte Haus Nummer 27a, an dem sie klingelte, nachdem sie wirklich und wahrhaftig einen Parkplatz nur wenige Meter entfernt gefunden hatte, eine Renovierung vertragen können. Hier glänzten die Steine nicht rot, sondern sahen braun aus, und die Stufen zur Haustür waren schadhaft.
Anna dachte nicht weiter darüber nach, gönnte auch dem düsteren Treppenhaus keinen zweiten Blick, sondern stieg voller Energie in den dritten Stock hoch, wo Jeff sie an der offenen Tür empfing. Er trug Jeans und ein lose fallendes Flanellhemd, sein Lächeln war weich und offen.
„Hallo! Schön, dich zu sehen. Ich freue mich, dass du mich in meiner bescheidenen Heimstatt beehrst.“
Er nahm ihr den Koffer aus der Hand, und nachdem er das Gewicht realisiert hatte, verzogen seine Mundwinkel sich doch spöttisch. Anna folgte ihm in den Flur, und sie begrüßten sich mit einem innigen Kuss. Er roch gut, ein klein wenig nach Rasierwasser und Seife, etwas nach dem Kaffee, den er in rauen Mengen trank: Es war sein Geruch. Alltäglich, aber sie traute sich zu, ihn aus der Menge heraus zu riechen.
Erst, als seine Arme sie wieder freigaben, sah sie sich um und erkannte, dass der Eingangsbereich winzig klein war. Ihr Koffer, den Jeff direkt zu ihren Füßen abgesetzt hatte, sah hier mindestens so riesig aus wie bei ihren Eltern. An der Wand war eine Garderobe, vollgehängt mit Jacken, Mänteln, Schals, darunter standen etliche Paar Schuhe, zwei Schirme lehnten an der Wand. Der Spiegel daneben war höchstens zwanzig Zentimeter breit, dann kam schon ein hölzerner Türrahmen. Einer von dreien, alle hätten frische Farbe oder zumindest eine gründliche Reinigung vertragen können.
„Komm in die Küche. Magst du etwas essen? Ich habe ein Chili gekocht. Tut mir leid, es ist ein bisschen chaotisch hier.“
Das war nicht übertrieben. Anna war ihm in den angrenzenden Raum gefolgt, der ebenfalls eher klein war, vor allem aber zugestellt mit einem massigen Holztisch voller Unterlagen, dazwischen ein Laptop, an dem Jeff anscheinend gerade noch gearbeitet hatte, vier Stühlen und etlichen großen Pflanzen vor der Balkontür. Direkt daneben war eine leicht schiefe Arbeitsplatte mit Spüle, in der sich schmutziges Geschirr türmte, und einem Herd, auf dem ein großer Topf stand, in dem es leise vor sich hin blubberte.
„Ich weiß nicht, nein, ich glaube nicht. Ich würde gern duschen und ein paar Sachen aufhängen, wenn das geht.“ Ihre optimistische Energie war verpufft.
„Lass uns schauen.“ Wieder ging er voran.
Im Schlafzimmer war genug Platz – oder wäre genug Platz gewesen, wenn nicht überall Bücher und Zeitschriften gelegen hätten, dazu Kleidungsstücke auf dem Bett und dem ausladenden Sofa unter dem Fenster. Es gab keinen Kleiderschrank, sondern sämtliche Wände waren mit Regalen bedeckt, in denen der Übergang von Bücherborden zu Pulloverfächern fließend war. Lediglich ein größerer Zwischenraum barg Bügel, auf denen Hemden und Jacken hingen. Jeff streifte zwei Jacketts herunter, warf sie zu den anderen Sachen auf die Couch und reichte ihr die Bügel.
Er zwinkerte ihr zu: „Das Bad ist der einzige Raum, den du noch nicht kennst. Saubere Handtücher sind auf der Ablage über der Wanne. Dann lasse ich dich mal allein.“
Er schob ihren Koffer in das Schlafzimmer und verschwand. Anna bemühte sich, ein Seufzen zu unterdrücken. Sie hatte gewusst, dass Jeff unordentlich war. Auch in Hotelzimmern ließ er stets seine Sachen herumliegen, und sie erinnerte sich, dass genau diese Eigenschaft sie bei seinen Besuchen in Berlin wahnsinnig gemacht hatte. Sie hatte es verdrängt.
Das Bad hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeinem Sanitärbereich, den Anna auf ihren USA-Reisen bislang kennengelernt hatte, sondern erinnerte sie eher an die WG-Bäder ihrer Jugend. Alles wirkte wie selbst gemacht. Die auf Klauenfüßen stehende Wanne war mindestens fünfzig Jahre alt und entsprechend angeschlagen. Angeekelt betrachtete Anna einen Rostfleck. Der Spiegel hatte blinde Flecken, gefliest war lediglich eine kleine Fläche über dem Handwaschbecken, die übrigen Wände bedeckte ein Ölfarbenüberzug, der an etlichen Stellen abgeplatzt war.
Wenigstens sah alles einigermaßen sauber aus. Sie duschte schnell und zog frische Wäsche samt halterlosen Seidenstrümpfen an, darüber den erst vor zwei Tagen gekauften, raffiniert durchgeknöpften Cordsamtrock und das dazu passende Shirt mit eckigem Ausschnitt. So gern Jeff es im Sommer kalt hatte, so sehr schien er in der kühleren Jahreszeit Wärme zu brauchen. Sämtliche Heizungen – alte, massige Eisenkörper – strahlten ordentlich Hitze ab. Anna schlüpfte in ebenfalls neue Wildledermokassins und kehrte in die Küche zurück.
Jeff hatte den Laptop zugeklappt, er lag oben auf dem zusammengeschobenen Stapel Unterlagen. Eine Flasche Rotwein stand entkorkt auf dem Tisch, er hatte bereits zwei bauchige Gläser zur Hälfte gefüllt. Vor seinem Platz dampfte Chili in einem Teller.
„Sorry, ich muss etwas essen. Ich hatte heute noch kaum etwas.“
Sie hoben die Gläser und prosteten sich zu; sein Blick wirkte abwartend. Er wollte wissen, wie sie seine Wohnung beurteilte, dachte Anna und wünschte ihm zunächst guten Appetit, ließ sich auf dem Küchenstuhl nieder. Jeff nahm ebenfalls Platz und aß von seinem Eintopf.
„Der Herr Professor lebt wie ein Student“, sagte sie nach einer kleinen Pause. Es sollte witzig klingen, kam aber nicht so heraus.
Sein Grinsen sah nach „Ich wusste es“ aus: „Tja, das gewohnte Fünf-Sterne-Ambiente kann ich dir nicht bieten.“
Anna fühlte sich mit Absicht missverstanden: „Jetzt unterstell mir mal nichts! Ich lebe doch zu Hause auch nicht im Luxus!“ Und die Unordnung hatte sowieso nichts damit zu tun, dachte sie wütend.
„Nicht?“ Wieder dieser ironische Ton.
„Nein. Ist meine Wohnung etwa luxuriös?“
„Lass mich überlegen. Saniertes Haus, beste Lage in Berlin, ganz schön groß für eine Person. Ausblick auf den Reichstag, Küche mit allen möglichen Geräten; Fliesen, Parkett – das habe ich in Erinnerung behalten.“ Er trank einen Schluck Wein. „Ist das Standard?“
Wie er das schilderte, hörte sich ihre Dreizimmer-Altbau-Wohnung nach sonst was an. Das war nicht fair! „Auf jeden Fall geht’s deutlich luxuriöser“, sagte sie kühl.
„Ich könnte irgendwo außerhalb Bostons ein Haus bewohnen, aber ich liebe dieses Viertel“, lenkte er ein. „Und hier kann ich mir nun mal nicht mehr leisten.“ Nach einer winzigen Pause schob er spöttisch hinterher: „Du hast also gedacht, amerikanische Uni-Dozenten sind reich?“
„Unsinn.“ Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie viel oder wie wenig Jeff verdiente. Sie dachte auch nicht darüber nach, wie viel sie verdiente. Oder wie sie lebte. Ihre Wohnung war schön und sie fühlte sich dort wohl. Darauf kam es doch an.
„Und was spricht gegen renovieren oder wenigstens aufräumen?“ Sie wollte sich nicht so in die Enge drängen lassen.
Jeff brach in lautes Lachen aus. „Nichts, außer der Zeit, die es kostet.“ Er hatte seinen Teller fast geleert. „Außerdem habe ich aufgeräumt. Du hättest es hier mal heute Morgen sehen sollen!“
„Nein, Danke.“
„Anna, mein Geist, lass es dir sagen: Du bist verwöhnt. Man könnte über dich ja eine Studie zum deutschen Großbürgertum anstellen. Vermutlich gab es in deiner Familie Personal, was? Du hast nie davon erzählt.“
Sie starrte ihn an, ohne sein Gesicht mit dem rundlichen Kinn und der schmalen Nase zu sehen, ohne auf den herausfordernden Blick aus seinen grauen Augen zu reagieren.
„Meine Mutter stirbt“, sagte sie mit fester Stimme und fügte leise an: „Sie hat meine Wohnung nie gesehen.“
„Was?!“
Anna blickte in ihr Weinglas.
„Das tut mir leid.“ Jeff schob seinen Teller zur Seite. „Erzähl mir von ihr.“
„Sie fände meine Wohnung auch luxuriös. Und sie würde ihr gefallen. Luxus gefällt ihr.“ Was da aus ihrer Kehle kam, war eine hysterische Mischung aus Lachen und Weinen.
Er stand auf und ging um den Tisch herum, legte seinen Arm um ihre Schultern, drückte sie an sich. „Das ist doch nichts Schlimmes! Anna, mein Geist, ich wollte dich doch nur aufziehen.“
Sie nickte angestrengt, schluckte die Laute hinunter. Bleischwer legte sich auf einmal die Müdigkeit auf ihre Schultern. Der Jetlag, natürlich. Wie spät war es jetzt für sie? Das Umrechnen war ihr zur zweiten Natur geworden. Zwanzig nach neun hier, also nach drei Uhr morgens. Ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hatte. Sie sollte jetzt schlafen gehen. Kein Sex mehr. Schade. Aber morgen musste sie fit sein, um elf hatte sie einen Termin mit der Vertreterin des Fremdenverkehrsamtes von Portland. Gut zwei Stunden Fahrt dorthin. Zu packen war nicht viel, sie hatte ja kaum etwas aus dem Koffer geholt. Würden sie hier frühstücken?
„Anna?“
„Sie ist nie wirklich aus Bochum herausgekommen. Aber ich glaube, sie hat sich immer danach gesehnt.“
„Bochum?!“
Nun war Annas Nicken nur angedeutet. „Ja, Bochum. Kohlenpott“, sagte sie auf Deutsch und lachte leise, erklärte das Wort nicht. „Arbeiterfamilie. Von wegen Großbürgertum, von wegen Luxus. Das war nur der Traum. Reingefallen!“ Bitter lachte sie auf. „Reingefallen auf die Wirtschaftswunder“, dieses Mal hatte sie vor dem deutschen Wort gezögert, „die Nachkriegs-Versprechen.“
Jeff strich ihr noch einmal leicht über die Schulter und kehrte an seinen Platz zurück, füllte sein Weinglas neu. Annas war unberührt.
„Sie war eine Säuferin. Geworden, eine Säuferin geworden. Es gibt ein Foto von ihr auf der Hochzeitsfeier, da trägt sie im weißen Brautkleid einen Bierkasten die Treppe zur Wohnung hoch. Da sieht sie so schön aus, Jeff, so unglaublich schön! Dieser schwere, volle Kasten scheint ihr überhaupt keine Probleme zu bereiten. Sie lacht in die Kamera – ich weiß nicht, vielleicht war es eine Wette oder ein Gag – “ Anna griff nach ihrem Glas und stürzte einen großen Schluck hinunter. „Diese Wohnung da, die erste Wohnung meiner Eltern, sie war winzig klein, mit Toilette auf dem Flur und Ofenheizung – “
„Also schlimmer als meine hier“, versuchte Jeff die Stimmung aufzulockern.
Anna reagierte nicht darauf. „Aber ich glaube, sie war glücklich da. Es war für sie der Anfang von etwas Besonderem. Sie hat alles dekoriert, viel selbst gemacht. Es gibt heute noch Untersetzer und Schalen, die sie mit“, sie suchte nach dem Wort, fand es nicht, „Bildern, Emblemen von Zigarren beklebt hat. 50er-Jahre, ganz stilvoll. Dann Geschirr, Gläser ...“
Sie spürte, wie ihr die Gedanken entglitten. Der Wein hatte dem Jetlag einen weiteren Schub versetzt. Was sie da erzählte, war nicht das Wichtige, nicht das große Ganze, es waren Details, mit denen Jeff, seiner Miene nach zu urteilen, nicht viel anfangen konnte. Kein Wunder.
Mühsam kämpfte sie sich in die Gegenwart zurück und lächelte Jeff an. „Ich sollte ins Bett gehen, ich rede zu viel.“
„Du solltest mehr reden, mein Geist. Viel mehr.“
*
Ein lautes Poltern. Ein schwerer Körper hatte das Gleichgewicht verloren, war am Schuhschrank angestoßen, vielleicht gegen die Wand getaumelt, auf den Boden gefallen. Unterdrückte Schmerzensgeräusche, dann die laute, männliche Stimme zornig, fluchend. Worte, die sie nicht hören wollte, Worte, die sie niemals sagen durfte, sonst wurde sie mit den Schlägen bedroht, die nun über die gefallene Person hereinbrachen. Sie hatte Angst, sie wollte das nicht hören, wollte vor allem keinesfalls gehört werden. Sie durften nicht wissen, dass sie wach war, dass sie mitbekam, was da passierte.
Nicht laut weinen, den Kopf unter die Decke stecken, dann hörte sie auch nicht so genau, wie die Beschimpfungen unten weitergingen, der schwere Körper sich mühsam hochwuchtete und schwankend den Flur hinunterbewegte, ins Bad. Wie der Vater voller Zorn hin- und herstapfte.
Als müsse sie sich aus den tiefsten Ozeanschichten an die Wasseroberfläche kämpfen, tauchte Anna aus dem Traum auf, spürte, dass das Kopfkissen, in das sie das Gesicht gepresst hatte, nass war von den Tränen, die ihr noch immer über die Wangen liefen. Jeff neben ihr schlief tief und fest.
3.55 Uhr. 9.55 Uhr.
Vorsichtig schob sie sich unter Laken und Wolldecke hervor. Im fahlen Licht der Straßenlaterne vor dem Haus sah sie das Flanellhemd, das Jeff vorm Zubettgehen oben auf den Couch-Stapel geworfen hatte, schlüpfte hinein und ging in die Küche. Sie füllte den Wasserkocher und machte sich auf die Suche nach Kräutertee, fand jedoch nur einen uralten zerknickten Beutel mit Kamillenblüten. Natürlich, Jeff war der Typ für frisch gemahlenen Kaffee, nicht für beruhigenden Tee. Sie brühte einen Schwung Kamille auf und setzte sich an den Tisch, auf dem noch die Weingläser und Jeffs Chiliteller standen.
Diese Gewalt, diese Brutalität hätte sich niemand vorstellen können, der ihre Eltern heute sah, dachte sie. Aber nachdem die Mutter in den Suff abgerutscht war, hatte es zum Alltag gehört. Zum verschwiegenen Alltag, natürlich. Ohne dass es ihr irgendjemand gesagt hätte, war Anna immer klar gewesen, dass sie darüber mit niemanden sprechen durfte.
Noch nicht einmal mit der Oma, die bei solchen Vorfällen ebenso ängstlich wie das kleine Mädchen in ihrem Zimmer blieb.
Die ihrerseits hilflos versuchte, die Mutter – ihre Tochter – vom Saufen abzuhalten, indem sie sie kontrollierte, überwachte. Das aufgedunsene Gesicht studierte, wenn Sabine Jäger nach Hause kam, ihren Wäscheschrank durchsuchte, wenn sie fort war. Die Kornflaschen, die sie dabei fand, auskippte.
Der Vater war natürlich genauso hilflos gewesen, das war Anna heute klar. Vermutlich war der Übergang von gemeinsamen feucht-fröhlichen Feiern zum einsamen Saufen seiner Frau ein schleichender gewesen; worin der Grund dafür lag, wurde nie erörtert. Nie, nie, nie.
Anna spürte schon wieder ein Schluchzen in der Kehle. Sie seihte den Tee ab und trank einen Schluck. Es war kalt in der Küche. Sie drehte am sichtlich nachträglich installierten Thermostat des bulligen Heizkörpers und setzte sich darauf, spürte, wie erst das Metall, dann ihre nackten Beine erwärmt wurden.