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Helli und das einsame Haus

Helli und das einsame Haus · Romane

Helli flieht aus einem tragischen Leben in die Einsamkeit. Jetzt wird sie gesucht. Zwei kontrastreiche Reisen, die miteinander verschmelzen.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Was heißt verzeihen? Verzeihen kann man nicht nur Anderen, sondern auch und vor allem sich selbst. Mit Glück umgeben wir uns mit Menschen, die uns auf diesem Weg unterstützen. In meiner Geschichte begibt sich Helga ungewollt schon als kleines Mädchen in ein selbstbestimmtes Leben und erlebt eine schwierige Zeit auf der Straße. Sie erleidet Verluste und kämpft, doch irgendwann hat sie keine Kraft mehr. Sie entscheidet sich für die Einsamkeit und lebt viele Jahre unerkannt in einem Haus fernab der Zivilisation. Einsam, aus Angst vor ihrer eigenen Vergangenheit. Eine Entscheidung kann sie sich bis heute nicht verzeihen. Sie weiß nicht, dass diese viel Gutes mit sich trägt. Helga wird gesucht. Ich wünsche mir, dass mein Buch berührt und meine Leser zum Lachen und Weinen mit den Protagonisten anregt. Dass die Geschichte nachhängt und zum Nachdenken bewegt.

Über den/die Autor:in

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Jana Reuter wurde 1981 in der Nähe von Berlin geboren. Als kleiner Mensch war sie mehr draußen als drinnen, hat sich in ihren Tagträumen verloren und die spannendsten Abenteuer mit ihren Freunden erle...

Kapitel 1

Färöer, Sandur 1990

Jonas! Mach schon, flüsterte einer der drei Jungen. Sie hockten hinter einer Hecke und warteten ungeduldig und mit zitternden Knien. Keiner von ihnen hatte angeblich Angst. Das Zittern der Hände und das Schlottern der Knie kamen ausschließlich von der Kälte, versicherten sie sich gegenseitig. Die Mutprobe sollte das langweilige Wochenende in der Einöde, mit den kargen Felsen, unendlich grünen Wiesen und der allumgebenen rauen See, etwas auflockern. Das Ziel der Jungen, lag etwas abgelegen von der verschlafene Kleinstadt Sandur. Die kleine Stadt liegt auf der Insel Sandoy, eine der Inseln der autonomen Inselgruppe Färöer. Mit insgesamt ca. 580 Einwohnern und 1356 Schafen. Mehr bot Sandur inmitten des rauen Meeres nicht. Als aufregendstes Ereignis galt der Fund einer heidnischen Begräbnisstätte mit einer 150 Jahre alten Färingerin samt drei Bernsteinperlen, auf die einige Archäologen in Sandur gestoßen waren. Ab und zu gab es hier ein paar Feste.

Das Bekannteste ist das Grindadrap. Bei dem jahrhundertealten Grindelwalschlachtfest fanden alle Bewohner der Insel zusammen. Sie fingen gemeinsam Grindwale und schlachteten sie ab. Dieses Fest sahen vielen, die von außerhalb kamen, immer kritischer. Für die Färinger aber war es ein Teil ihrer Geschichte, eine unverzichtbare Lebensgrundlage. Getreide- oder Kartoffelanbau war aufgrund der Wetterbedingungen schwierig. Viele Lebensmittel werden importiert und sind entsprechend teuer. Eines der Hauptnahrungsmittel ist daher Walfleisch, was erklärt, warum Färinger an ihrer grausamen Tradition festhalten. Im Großen und Ganzen ist Sandur eine grüne, langweilige Insel zwischen dem Nordmeer und dem Atlantischen Ozean.

So kam es, dass sich die Jugend auf Sandoy immer neue Mutproben ausdachten, um ein bisschen Spannung in die Einöde zu bekommen. Da Sören seit letztem Wochenende im einzigen Krankenhaus mit einem gebrochenen Arm lag, lautete die Mutprobe dieses Mal wieder das einsame Haus abseits der Zivilisation, sofern man das auf Sandoy überhaupt so nennen darf. Schon der kleine steinige Weg versprach ein Abenteuer und man schaffte ihn nur zu Fuß oder reitend auf einem Esel. Die Jungen waren mit ihren Fahrrädern bis zum Ende der Straße gefahren und schlichen sich nachts zum Haus. Nun kauerten sie hinter einem Busch, Jonas hinter dem letzten schützenden Baum. Davon gab es nicht viele auf der Insel und vor allem keine Großen, aber dieser hier reichte als Versteck. Ziel der Mutprobe war es, das Haus zu berühren. Egal wie lange oder mit welchem Körperteil.

Jeder kannte das Haus auf Sandoy und die Geschichten dazu. Niemand traute sich ran, nicht einmal der Postbote des hiesigen Postamtes. Aber das war nicht notwendig, da es nie Post für diese Adresse gab. Es existierte ein Postfach für das Anwesen, aber niemand kam und fragte nach Briefen oder Päckchen. Wäre nicht ab und zu ein Licht zu sehen oder treibe sich eine unbekannte Alte mit vernarbtem Gesicht in der Stadt rum, könnte man vermuten, das Haus war verlassen.

Doch das Gruselhaus am Ende der Sanderkerendarn ohne Hausnummer war seit vielen Jahren bewohnt. Laut dem Einwohnerverzeichnis lebte dort jemand namens H. J. Mortensen. Der Name einer Hexe? Oder eines Mörders? Aus dem Nichts war die Bewohnerin da gewesen. Im Laufe der Jahre veränderten sich die Geschichten um das Haus. Von Einwanderer bis Hexe war alles dabei. Wie es so ist, wenn die karge Landschaft nicht mehr zu bieten hat.

Einmal erzählten sich die Leute von einer Hexe mit grünen Haaren, schiefen Zähnen und knochigen Finger, die kleine Kinder aß. Ein anderes Mal ein Mörder, der blutrünstig sein Unwesen treibt und unartige Menschen holt. Dann ein geflohener Nazi, der dort Okkultismus betreibt und Monster züchtet, die nachts über die Insel streifen. Sofern jemand starb, wurde der Geist desjenigen ins Gruselhaus gezogen. Das Haus war verflucht. Sobald man sich dem Grundstück nähert, wird man verrückt, gar wahnsinnig. So sagt man.

Die Nacht war friedlich. Ein leichter Wind wehte den Jungen um die Nase. Hier und dort hörte man ein Knacken. Aber es war still. Der Mond hatte den unerschrockenen Abenteurern bisher den Weg gezeigt. Die Silhouette des Hauses hob sich aus der Ferne vor dem Berg deutlich ab.

Das mittlerweile wolkenbehangene Firmament stahl den Jungen das letzte Licht, sogar die Sterne verschwanden, die zuvor so prächtig den Himmel geschmückt hatten. Da in vielen der alten Geschichten über das Haus empfohlen wurde, niemals, wirklich niemals im Dunkeln eine Lichtquelle in Sichtweite des Gebäudes anzuzünden, traute Jonas sich nicht, den Weg zu seinen sogenannten Freunden zu leuchten. Und so krabbelte er zitternd auf allen vieren zu den anderen. Sie warteten ungeduldig auf ihn. Als er die Dunkelheit überlebt hatte und grinsend bei ihnen ankam, erhielt er nur ein „Feigling“ und „Schisser“ zur Begrüßung. Alle waren sie noch 15 Meter vom Schuppen des Hauses entfernt. „Der Schuppen ist ein Teil des Hauses,“ sagte Jonas leise. „Nee, du musst das Haus berühren, nicht nur den Schuppen,“ flüsterte Mic.

Jonas schluckte. Hätte er an der Bushaltestelle nur nicht so den Mund aufgerissen. Die Haltestelle wurde vor Jahren errichtet, um den Nahverkehr auszubauen. Da hier aber nur alle drei Stunden ein Bus anhielt, und das lediglich bis acht Uhr abends, wurde diese zur Kommandozentrale, Jugendtreff und Klubhaus. Hier wurde immer besprochen, was „ab geht“, heimlich geraucht und Bier getrunken. Da die selbst gebaute Schanze vom letzten Wochenende nicht so erfolgreich gewesen war und Sören ja im Krankenhaus lag, weil er das Rad unter seinen Füßen verloren hatte, hockten sie jetzt hinter diesem Busch. Großmäulig hatte Jonas behauptet, dass es doch nur ein Haus war und dass da eine alte Frau drin lebte.

„Sie hat auch einen Hund, mit dem sie ab und zu auf dem Markt oder zum Fischer Jörgens ging,“ hatte er erklärt. Die Jungen antworteten ihm dann, dass es doch recht ungewöhnlich ist, dass man nie ihr Gesicht erkannte und wenn, dann nur Narben.

„Die Narben kommen von dem Hexenkessel“, bemerkte einer der Jungen und sah besorgt zu dem Haus hinüber.

Doch da war ja noch die Geschichte mit dem Mädchen Jonna von der Familie Larsen. Sie hielt sich gelegentlich tagsüber bei dem Haus auf. Eines Tages war sie verschwunden. Einfach weg! Und die Larsens gleich mit. Sie hatten über Nacht die Taschen gepackt und verschwanden mit der nächsten Fähre. Keiner hatte eine Ahnung, warum. Geschichten darüber gab es jedoch einige.

„Jetzt los!“, rief einer.

Jonas bewegte sich aber nicht. Im Dorf hatte er die Hütte in seinen Gedanken gesehen. Ein langweiliges Haus mit Wänden aus schwarzen Holzstämmen, die so typisch für diese Gegend waren, ein moosüberzogenes Dach und direkt auf dem Hügel vor dem Berg stand es einsam und verlassen. Dahinter lag eine große Wiese, rechts schaute man zum Berg hoch und zur anderen Seite zu den Klippen. Unmittelbar hinter dem Haus erstreckte sich ein Garten, aber soweit hatte sich bislang niemand gewagt.

Jetzt, wo Jonas hinter dem Busch stand und auf das Haus starrte, wirkte alles nur Schwarz und beängstigend groß. Der Wind hatte zugelegt. Es knarzte überall in den Ecken und dem Dachstuhl. Oder drangen die Geräusche aus dem Inneren des Hauses zu ihm? War jemand da oder sogar wach? Stand hinter dem Fenster, um sie heimlich zu beobachten? Jonas Knie schlotterten wieder und er fragte sich, ob er überhaupt noch genügend Kraft hatte loszurennen. Einer der Jungen stieß ihn an und schupste Jonas leicht Richtung Haus. Er schluckte, sein Hals war trocken. „Okay“, flüsterte er genervt. Ein Schritt nach dem anderen verließ er vorsichtig sein vermeintlich sicheres Versteck. Er atmete flach und schnell. Seine Beine waren schwer wie Blei. Er drehte sich zu den anderen Jungen, deren Köpfe wie dunkle Schatten hinter dem Busch hervorlugten.

„Von wegen Schisser“, Jonas schüttelte den Kopf und flüsterte vor sich hin, „Ihr habt genauso Angst, aber ich bin vor den Busch getreten. Ich bin auf dem Weg zum Haus.“

Mit neuem Mut wagte er den nächsten Schritt Richtung Unterschlupf des Bösen. Operation Gruselhütte war in vollem Gange. Der Wind wurde kühler und sein Körper erschauderte. Er hatte sich fast einen Meter vom Busch entfernt, als er ein Blitzen in einem Fenster des Hauses bemerkte. Er erstarrte augenblicklich. Sein Atem stockte, sein Herz raste. Hinter sich vernahm er das aufgeregte Murmeln und Flüstern seiner Freunde. Sie hatten es also auch gesehen. Tausend Gedanken jagten durch seinen Kopf.

Zurück? Weiter? Hexe? Monster? Gefahr? Oh Gott, er war noch zu jung zum Sterben, wollte doch das Fischerboot von seinem Vater übernehmen.

„Okay“, flüsterte sich Jonas selbst Mut zu. „Reiß dich zusammen!“

Das Wetterleuchten kam vom Himmel, nicht aus dem Haus. Es war mitten in der Nacht, vermutlich zwei Uhr oder so, da kommt so ein Leuchten öfter vor. Zuletzt hatte er im Klubhaus auf die Uhr gesehen. Jede normale Person schlief um diese Uhrzeit. Wenn das da drin überhaupt ein Mensch ist. Oder war die Nacht die wache Zeit des Wesens im Haus?

„Jonas,“ murmelte er verschwörerisch zu sich selbst: „Du schaffst das.“ Er wagte einen weiteren zögerlichen Schritt Richtung Haus. In geduckter Haltung, fast schon wieder auf allen vieren tat er den Nächsten. Seine Augen fixierten die Stelle, wo er zuletzt das Blitzen vermutet hatte. Doch das Gebäude blieb friedlich. Keine leuchtenden Augen oder schief funkelnden weißen Zähne warteten auf ihn. Das einsame Haus war still und dunkel. Schritt für Schritt näher an seinem Triumph über die Zurückgebliebenen, die hinter dem Busch kauerten und vermutlich vor Angst erstarrt waren.

Mutig schlich er weiter.

Triumphierend schaute er kurz vor dem Schuppen zurück. Seine Freunde standen mit aufgerissenen Augen und offen stehenden Mündern stillschweigend da. Ihre Gesichtsfarbe leuchtete geisterhaft weiß und stahlen dem Mond am Himmel die Show. Aber sie starrten nicht Jonas so entsetzt an, sondern an ihm vorbei. Als er das begriff, wagte er nicht, seinen Blick zum Haus zu wenden. Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde siegte jedoch seine Neugier über seine Angst. Er drehte seinen Kopf Richtung Haus und entdeckte in dem Fenster, wo er zuvor das Blitzen wahrgenommen hatte, eine blasse Gestalt stehen. Komplett kalkweiß leuchtete das Wesen hinter dem Fenster. Weißes langes Haar, bleiche Haut und statt der Augen klafften tiefe schwarze Krater im Gesicht. Oder waren es nur die Augenhöhlen der Hexe? Keine Nase, kein Mund? Sein Atem stockte, sein Herz rannte einen Marathon. Er wollte fliehen, aber sein Körper war wie versteinert und hörte nicht auf ihn. An seine Ohren drang ein lautes Knurren aus dem Inneren des Hauses. Auf einmal funktionierte sein Körper schlagartig wieder. Er wendete, stolperte zum Busch an den Jungen vorbei und brüllte sie an „Weg hier!“

Wie aus einem Traum gerissen, rannten und strauchelten die Jungs den Hang hinunter. Fast wäre Jonas gegen den Baum gerannt, der zuvor als sicheres Versteck gedient hatte. Die anderen schrien vor Angst und rannten um die Wette zur Straße. Zurück in die Sicherheit des Dorfes, in ihre Kommandozentrale oder direkt nach Haus, egal wohin, Hauptsache weit weg. Einer schrie: „Was war das?“

Und ein anderer „Hast du das gesehen?“

„Ruhig Rohan, mein Braver“, sagte Helga und trat wieder weg vom Fenster. Sie war froh, dass Fischer Jörgens vor ein paar Jahren an ihr Haus geklopft hatte und sie bat, den kleinen schwarzen Wolfshund bei sich aufzunehmen. Sie hatte erst kein Interesse. „Was soll ich damit?“, hatte sie ihn gefragt. Aber der Fischer blieb hartnäckig und erklärte ihr, der Hund hat sonst niemanden und du bist dann nicht mehr so einsam! Das wollte sie aber sein, deshalb hatte sie sich ja die ganzen Geschichten über das Haus ausgedacht. Ihr Herz war dann doch größer, als die Angst vor dieser Verantwortung, sich in ihrem Alter noch um ein Tier zu kümmern.

Heute war wieder einer dieser Nächte, wo sie froh war, dass Rohan an ihrer Seite wachte. Er war ein schlauer Mitbewohner. Er bemerkte die Jungen bereits, als sie noch den Hang hinauf stolperten. Er hatte Helga leise geweckt. Sie hatte kurz die Tür geöffnet, um ihren Wolfshund rauszuschicken, damit er den Jungen einen gehörigen Schrecken einjagen konnte.

Da diese Rüpel immer wieder in regelmäßigen Abständen nachts aus Langeweile ihre Ruhe störten, hatte sie beschlossen, den Geschichten um ihr Haus einen neuen Glanz zu geben. Zufrieden pustete sie das Streichholz nach dem ersten Aufflammen wieder aus, ermahnte ihren Hund zur Ruhe und wankte leicht verschlafen zum Ofen in der Küche. Sie entnahm aus der Feuerklappe ein wenig Ruß. Dann verteilte sie den Ruß um ihre Augen. Öffnete ihr langes bleiches Haar und schlürfte mit nackten Füßen in ihrem weißen Nachthemd ans Fenster zurück.

Trotz ihres Alters hatte sie noch Adleraugen, eines der wenigen Organe, das noch einwandfrei funktionierte.

Sie blickte aus dem Fenster und sah, dass einer der Jungen beinahe ihren Schuppen erreicht hatte.

„Auftritt Hausgeist“, flüsterte sie sich selbst zu mit einem kurzen Augenzwinkern zu Rohan, der neben ihr an der Tür lauerte, die immer noch einen Spalt offen stand. Mit einem weiteren Streichholz zündete sie die Kerze an und hielt sie direkt neben ihr Gesicht. Kurz hatte sie darüber nachgedacht, gruselige Laute von sich zu geben, aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Die Quälgeister da draußen würden das eh nicht hören. Geräusche schienen auch nicht notwendig, denn die Jungen rannten schon weg. Rohan stand in der Tür und knurrte. Helga pustete die Kerze wieder aus und beobachtete drei Gestalten, die wie von Bienen gestochen den Hang hinabliefen. „Die kommen so schnell nicht wieder mein Großer“, sagte sie zu Rohan. Dann schlenderte sie zur Eingangstür, schloss diese und verschwand in Richtung Bad.

Kapitel 2

Deutschland, Verden 1990

„Ilse und Christoph Becker bitte!“, rief der Testamentsvollstrecker und bat die beiden in sein Büro.

Christoph tippte seiner gedanklich abwesenden Mutter auf die Schulter und zeigte ihr, dass sie dem Herrn im Anzug hinterherlaufen sollten. Ilse nickte leicht und stand gemeinsam mit ihrem Sohn auf, um dem Beamten zu folgen. Das Amtsgericht Verden ist eines der typischen Gerichte, die weder alt noch jung sind. Die Verkleidung aus rotem Backstein und die teilweise graue Fassade passen in Christophs Augen nicht so recht zusammen. Insgesamt mochte er solch offiziellen Ämter eh nicht. Egal ob Krankenhaus, Polizei oder jetzt das Gericht, es fühlte sich so kühl an. In solchen Gemäuern war immer alles so perfekt und wie geleckt sauber. Das Gebäude passte nicht zu dem Chaos in seinem Inneren. Er war jetzt zwanzig und Deutschland befand sich in Aufruhr. So vieles hatte sich verändert. Die Luft roch nach Revolution. Erst letztes Jahr fiel die Mauer und jetzt sprechen alle von Wiedervereinigung der beiden Staaten.

Viele Menschen, vor allem Jugendliche in seinem Alter, besetzten Häuser und gingen auf die Straße, um zu demonstrieren. Christoph mochte das! Rebellion und Chaos waren seine Bestimmung! Und trotzdem musste er heute Morgen eine Krawatte umbinden und einen Anzug tragen. Mit dem schwarzen Anzug kam er klar, doch eine Krawatte? Das Sinnbild für Zwang und Ordnung. Aber er tat es seiner Mutter zuliebe. Sein Großvater war aus der Welt geschieden, und obwohl er selbst auch Schmerz und Trauer empfand, spürte er jeden Tag, wie sehr seine Mutter darunter litt. Nicht nur, weil er gestorben war und ein Loch im Herzen hinterließ, sondern auch, weil seine Mutter nun keine Eltern mehr hatte. Seit dem Tod ihres Ziehvaters dachte sie nur noch an ihre leibliche Mutter.

„Sesselfurzer“, flüsterte Christoph vor sich hin. „Pst!“, zischte Ilse und warf ihm einen feurig funkelnden Blick zu. Sie nahmen vor dem akkurat aufgeräumten Schreibtisch Platz. „Mein Name ist Herr Knödel“, sagte der Beamte.

Christoph grunzte leise lachend vor sich hin. Ilse blitzte ihn augenblicklich wieder an, konnte sich selbst, aber auch kein Schmunzeln verkneifen.

Ein wirklich unpassender Name für den 1,60 Meter großen, korpulenten Mann mit Knollnase. Herr Knödel setzte sich und holte aus seiner ordentlich drapierten Mappe ein Schriftstück heraus. Er überflog die erste Seite des Blattes und schaute hoch, um die beiden Personen zu betrachten, die ihm gegenüber saßen.

Er musterte die 52- jährige Frau mit langen schwarz-grauen Haaren, der man trotz ihres Alters und den Falten im Gesicht ansehen konnte, dass sie einmal eine Schönheit gewesen war. Zudem hatte sie alle Unterlagen pünktlich und ordentlich sortiert eingereicht. Sie war Steuerberaterin und wirkte insgesamt sehr diszipliniert.

Ihr Sohn hingegen zeigte ein ganz anderes Bild. Ein junger Mann mit wildem, dunklem Haar in einem Anzug, der nicht so zu ihm passte. Er wirkte lustlos, reizbar und wackelte mit seinem Bein. Aber wenigstens trägt er eine Krawatte, dachte sich der Knödel.

„Ilse Becker, geborene Seimet, geboren am 8. Mai 1938, Adoptiveltern sind die verstorbene Ursula Becker und Manfred Becker, ebenfalls verstorben.“ Er lugte skeptisch über das Blatt und betrachtete Ilse abermals einige Sekunden. Er schaute wieder auf das Dokument. Christoph legte genervt den Kopf nach hinten und dachte „Echt jetzt, der Typ ist langsamer als eine Schnecke.“ Der Knödel las in Zeitlupe weiter: „Christoph Becker, geborener Becker, geboren am 21. Januar 1970, Eltern sind Ilse Becker und Jörg Schultz.“

Der Knödel lugte wieder skeptisch über den Papierrand hinweg und beäugte Christoph ausgiebig.

„Und er war heute Morgen auch schon kacken“, sagte Christoph genervt.

„Chris!“, rief Ilse entsetzt und fügte hinzu „Lass den Mann seine Arbeit machen.“ Sie entschuldigte sich für das rüpelhafte Benehmen ihres Sohnes bei Herrn Knödel und bat ihn weiterzumachen. Dieser willigte angewidert ein und bat um die Ausweispapiere der beiden. Beim Betrachten der Ausweise nahm er einen Schluck aus seiner Tasse, auf der man deutlich mehrere Katzenbabys sehen konnte. Er fragte Ilse noch kurz nach dem Familienstand. Sie erklärte ihm, dass sie nie geheiratet hatte und mit dem Vater von Christoph nicht zusammen lebe. Herr Knödel quälte sich schnaubend aus seinem viel zu kleinen Stuhl und ging zum Kopierer. Als er zurückkam, gab er Ilse die Ausweise zurück und quetschte sich wieder in seinen Stuhl hinein. Erneut hob Herr Knödel das Schriftstück und las weiter: „Ich, Manfred Becker, geboren am…“

Ilse hörte nicht mehr zu und starrte gedankenverloren vor sich hin. Sie kannte das Testament ohnehin, da sie ihrem Vater beim Aufsetzen geholfen hatte. Eigentlich war es ihr auch egal. Er war nun weg und der Gedanke daran schmerzte. Obwohl sie schon vorher gewusst hatte, dass ihr Vater den Krebs nicht besiegen würde, kam sein Tod doch überraschend.

Ilse sagte immer wieder zu sich selbst: „Ich habe noch Zeit. Er hat noch Zeit.“ So war es nicht. Die Zeit ist ein Betrüger. Sie suggeriert einem immer wieder, es gäbe Sekunden, Minuten und Stunden, aber in Wirklichkeit ist das eine Illusion. Denn die Zeit bestimmt selbst, wie schnell sie vergehen will. In dem Fall viel zu rasch. „Und jetzt?“, fragte sich Ilse gedankenverloren.

Sie schaute an die Wand oder vielmehr durch sie hindurch in ihre eigene Vergangenheit. Ihre Eltern hatten ihr alles erzählt, was sie über ihre leibliche Mutter wussten. Sie haben keinen Hehl darum gemacht, wie sie zu ihnen kam und hatten ihrer Tochter immer wieder klar gesagt, dass es ein Wunder war. Ilse wurde geliebt. Die Geschichte war stets die Gleiche. Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren namens Helga Seimet. Ihr Vater kannte sie aus früheren Zeiten, als sie auf der Straße gelebt hatte. Helga hatte immer wieder Probleme, sie wurde festgenommen und verrichtete Zwangsarbeit. Sie gehörte der antifaschistischen Bewegung an. Es kam, wie es kommen musste und die vom Widerstand wurden nicht mehr nur inhaftiert, sondern einige von ihnen hingerichtet. Erschossen ohne Prozess. Es wurde zu gefährlich für Helga. Auch das Ehepaar Becker hatte sich entschlossen, aufs Land zu ziehen, um aus Bremen erstmal zu verschwinden. Ein Haus in Verden hatten sie bereits gekauft. Es war zu groß für die beiden, aber sie sehnte sich schon so lange nach einem Kind und hatten die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es schließlich doch klappen würde.

Sie mussten für den Umzug lediglich ihre eigenen Sachen mitnehmen, keine Möbel. Die Vorbesitzer des Hauses hatten nichts mitgenommen. Sie flohen nach Frankreich und ließen alles zurück. Als Ursula und Manfred damals gerade die letzten Sachen in ihrem Wagen verstaut hatten, stand aus heiterem Himmel Helga vor ihnen, mit einem Neugeborenen auf dem Arm. Manfred erkannte Helga sofort: das hübsche Mädchen mit den langen schwarzen Haaren. Eine Waise, die immer wieder in Schwierigkeiten steckte.

Helga war völlig außer Atem und sagte nur: „Ihr wollt hier weg? Super! Das ist meine kleine Ilse. Sie braucht dringend ein sicheres Zuhause. Die Überfahrt ist zu gefährlich für sie.“ Helga hielt Ursula das winzige Bündel hin. Ursula hatte kurz gezögert, aber dann nahm sie die kleine Ilse aus Helgas zittriger Umarmung. Sie legte die Kleine sanft in ihre sicheren Arme. Das Ehepaar betrachtete das Neugeborene liebevoll. Als Manfred hochschaute, um zu fragen, was denn los sei, rannte Helga so schnell sie konnte davon. Wie angewurzelt standen sie nun mit Ilse da. Sie waren Eltern. Die beiden hatten Ilse später immer wieder erklärt, dass dies der schönste Moment in ihrem Leben war.

Und jetzt? Wo ist sie? Lebt sie? Fragt sie sich, ob ich noch lebe? Hat sie noch andere Kinder? Habe ich Geschwister? Ihre leibliche Mutter hatte vermutet, sie gibt ihre Tochter in eine sichere Umgebung, aber dann kam der Krieg. „Sie glaubt bestimmt, ich bin tot und quält sich jeden Tag“, sagte Ilse plötzlich so laut, dass der Knödel fast samt seinem Stuhl umgekippt wäre.

Wie aus einem Traum erwacht, starrte Ilse in den Raum. Sanft legte Christoph seine Hand auf die Schulter seiner Mutter. Ilse entschuldigte sich abermals für die Unterbrechung und hörte brav zu. Nach fast einer Stunde verließen Mutter und Sohn das Zimmer und verabschiedeten sich von dem Knödel.

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