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Seelenschmied

Seelenschmied · Romane

Jemand stiehlt Lebewesen Magie. Seelenschmied Ceshian könnte ihn entlarven - und riskieren, mit seiner Magie alles Leben zu vergiften ...

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Ich möchte Lesende den Alltag vergessen lassen durch zauberhafte Welten und plastische Figuren. Ich möchte sie unterhalten, ich möchte sie teilhaben lassen am Leben meiner Figuren, und ich möchte, dass sie es genießen, mit den Figuren ein Stück von deren Leben zu erleben. Ich möchte, dass Lesende in meine Welt eintauchen können wie in einen Film und sich wirklich gut amüsieren, vielleicht zur Ablenkung von der aktuellen Realität, oder um in unserer entzauberten Welt wieder ein bisschen mehr Wunderbares zu entdecken, weil meine Figuren ihnen Kleinigkeiten zeigen, die man in unserer Welt auch finden kann.

Über den/die Autor:in

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Nora-Marie Borrusch hat Musikwissenschaft, Anglistik/Literaturwissenschaft und Romanistik studiert. Sie arbeitet als freie Lektorin (VfLL) und promoviert in Münster über Mittelalter-Rock. Ihre erste ...

KAPITEL 1: BLUT UND WASSER

Am Wegrand, umgeben vom goldenen Schimmer reifer Ähren, lag die erste Leiche. Die Wangen des Mannes waren eingefallen, seine Lippen rissig und seine im Todeskampf aufgerissenen Augen voll geplatzter Adern.

Ceshian hob die Hand und bedeutete dem Trupp, anzuhalten. Er stieg vom Pferd und kniete neben der Leiche nieder. Die Seele hatte den Toten schon lang verlassen. Wie viele würden sie dieses Mal zu beklagen haben?

Er wollte schon die Hand ausstrecken, um dem Mann die Augen zu schließen, aber besann sich. Das Gift würde seinen Handschuh zwar nicht durchdringen, aber er konnte auch kein Wasser verschwenden, um ihn abzuwaschen.

»Komm sofort her!«, drang die heisere Stimme seines Vaters gedämpft aus der Sänfte.

Das Leder von Ceshians Rüstung knarzte laut in der Stille zwischen dem Rascheln der Ähren, die sich im sanften Wind bogen, und dem angehaltenen Atem der Krieger, als Ceshian aufstand, die Arme hinter dem Rücken verschränkte und zur Sänfte lief.

»Ceshian!«

Ceshian schauderte. Kies und Sand knirschten unter seinen Stiefeln. So musste sich ein Schaf beim Gang zum Schlachter fühlen.

Bei der Sänfte angekommen, schob Ceshian mit einer Hand den nachtblauen Vorhang beiseite und hakte ihn ein.

König Rerin blinzelte. Sein bleiches Gesicht war vor Wut verzerrt.

»Hier bin ich, Vater«, sagte Ceshian sanft.

König Rerin richtete sich mühsam auf. »Sind wir schon da?«

Ceshian schüttelte den Kopf. »Am Weg liegt jemand. Ich wollte nachsehen, ob –«

»Wir sind nicht zum Nachsehen gekommen«, schnauzte Rerin. »Wie du weißt, gibt es hier weit und breit kein Wasser, bis heute Abend müssen wir hier lange weg sein, wenn wir nicht verdursten wollen. Willst du, dass wir verdursten?«

Ceshian seufzte innerlich. »Natürlich nicht, Vater. Der Tote –«

»Der Tote ist tot und braucht unsere Aufmerksamkeit nicht mehr. Wir müssen den Lebenden unsere Aufmerksamkeit schenken, Sohn, wenn wir unser Land bewahren wollen.«

»Natürlich, Vater. Bitte verzeih –«

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Sei künftig umsichtiger.«

Ceshian nickte, zog den Vorhang zu und ging zurück zum Pferd.

Sie folgten dem staubigen Pfad weiter, vorbei an raschelnden Gräsern und Verstorbenen. An einer Biegung lag eine Mutter mit einem Kleinkind und einem Säugling an der entblößten Brust. Aus den Augen des Säuglings krabbelten Fliegen. Ceshian wandte den Blick ab und sah sich nach den Männern um. In ihren Gesichtern spiegelten sich Abscheu und Angst – die auch Ceshian verspürte. Wie viele Dörfer mochten hier noch betroffen sein?

Zwischen vereinzelten Birken führte der Weg in ein Tal hinab. An einem der Stämme lehnte ein weiterer Leichnam, die Augen verdreht, den Mund grässlich aufgerissen. Seine Hand wies den Weg, den sie gekommen waren. Ceshian schauderte. Ein Zeichen zum Umkehren. Selbst Ahorn scheute, als sie den Toten passierten, aber Ceshian kraulte ihm die Mähne und lehnte sich vor.

»Ruhig, mein Guter. Du hast nichts zu befürchten, heute Abend sind wir wieder weg.« Das Pferd schüttelte den Kopf und folgte etwas ruhiger dem Weg über den Hügel. Die Räder des Karrens, den es zog, knarrten wie die Holztreppe, wenn man zum Camuranther Galgen hinaufstieg. Das Geräusch schnürte Ceshian die Kehle zu. Er lockerte seinen Kragen.

An den gegenüberliegenden Hang schmiegte sich ein kleines Dorf, dessen strohbedeckte Häuser im Licht der Nachmittagssonne glänzten wie das tote Gold der Hügel. Die Gegend um Serth hatte bis vor einem halben Jahr den westlichsten Rand des Goldenen Meeres markiert, der riesigen Weizenfelder im Herzen von Talyrea. Jetzt gab es hier nur noch ausgestorbene Dörfer und das Gold würde bald zu abstoßendem Braun verfaulen.

In der Mitte des Dorfes entsprang eine Quelle, deren Wasser zwischen großen Felsen hervorsprudelte und sich einen Weg ins Tal bahnte, wo es zunächst in einem kleinen Becken aufgefangen wurde und am anderen Ende des Sees austrat und sich durch die Landschaft davonschlängelte.

Während sie sich dem Dorf näherten, musste Ceshian sich mehr und mehr zwingen, weiterzureiten. Im Dorf regte sich keine Menschenseele. Das Mühlrad am See knarrte bei jeder gemächlichen Umdrehung, aber niemand war in der Mühle zu sehen und aus keinem Schornstein stieg Rauch. Ceshian versuchte, seinen Blick auf die goldenen Hänge zu heften, aber je tiefer sie ins Tal kamen, desto mehr beschlich ihn ein Gefühl des Unbehagens. Niemand von ihnen wollte hier sein. Niemand von ihnen sollte hier sein. Über allem lag der süßliche Geruch der Verwesung.

Er legte Ahorn die Hand auf den Hals und streichelte es sanft, denn sicherlich merkte es auch, dass sie in ein Grab ritten. Hoffentlich ritten sie alle heute Abend wieder hinaus.

Bald kamen sie an die Ufer des Sees, wo die Kadaver von Fischen und Fröschen im verdorrten Uferschilf geschaukelt wurden. Sie folgten dem Uferweg schweigend, bis sie an den Rand des Dorfes kamen, wo der Hauptweg zwischen Häusern hindurch fast direkt auf die Quelle zuführte. Das Glitzern des plätschernden Wassers zu ihrer Linken stach seltsam in den Augen und der Gestank verfaulten Schilfs verursachte bei Ceshian Übelkeit.

Er bedeutete den Männern, abzusitzen, und befahl ihnen, die Pferde mit den Zügeln aneinanderzubinden und dann an seines, das er an einen Baum band. Wenn der Geruch schon für Menschen unerträglich war, konnte er den Tieren das wirklich nicht zumuten.

Ceshian winkte die Truppe zu sich. »Ihr seht die Quelle. Es ist für diese Runde das letzte Mal, dass wir uns zusammenreißen müssen. Auf dem Feld gegenüber der Mühle sollte genug Platz sein. Amut, du und Markon grabt einen Graben um das Feld. Dann durchsucht ihr die Mühle nach Leichen, und vergesst nicht, auch alles Essbare aufs Feld zu tragen. Man weiß nicht, was davon vergiftet ist, und wir wollen nichts riskieren.«

Amut nickte seinem Nebenmann zu und zusammen eilten sie den Weg Richtung Mühle. Ceshian war froh, dass Amut Schmied war. Die schwersten Arbeiten gingen ihm so leicht von der Hand wie anderen Leuten das Musizieren.

»Yeshan, Ihr nehmt Euch die restlichen Männer und beginnt …« Ceshian sah den Weg zurück, den sie gekommen waren und den Tote säumten wie stumme Mahnmale. Er sah nach vorn zum Dorf, wo noch mehr reglose Menschen auf den Wegen und in Hauseingängen lagen. Er schluckte. Er durfte den Männern jetzt keine Hoffnungslosigkeit zeigen. Mit der Rechten fuhr er über die Ringe an der linken Hand, die Königsringe, nach deren Grundsätzen er zu handeln versuchte. Und über den Stein, der im Ring zum Lobe Tareans, dem Gott der Standfestigkeit, eingelassen war.

Er wandte sich wieder an Yeshan. »Ihr beginnt mit den übrigen Männern am Taleingang. Vielleicht findet sich in der Mühle ein Karren oder vielleicht finden wir einen im Dorf. Bringt alle Leichen zum Feld.«

Die Männer nickten und machten sich auf. »Und vergesst nicht die Tiere. Auch nicht die im See«, rief Ceshian ihnen hinterher.

Yeshan salutierte und eilte mit seinen Männern davon.

Golan, Varoth und Mairin, die in hinterster Reihe standen, blieben reglos, wo sie waren. Ceshian rieb sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Er nickte den dreien zu, sie erwiderten sein Nicken grimmig. Sie waren die Ältesten der Gruppe, wie Rerin hatten sie das halbe Jahrhundert erreicht oder lange überschritten. Auf sie konnte Ceshian sich verlassen. Jeder von ihnen packte eines der vier Sänftenpferde am Zügel, die als Einzige ertragen mussten, dass Ceshian sie hinauf ins Dorf führte.

Auch hier lagen überall Tote. Dort waren zwei auf der Bank vor ihrem Haus im Todeskampf ineinander verkrampft, hier war einer Magd der Korb voller Äpfel aus der Hand gefallen, bevor sie zusammengebrochen und gestorben war. Einige der Früchte waren über den Weg gerollt, inzwischen braun und voller Maden, die auch nur noch im Todeskampf zuckten.

Ceshian schwitzte, als sie die Pferde bergan zogen, aber die Brise, die durchs Dorf wehte, brachte nur den Geruch von Fäulnis und Tod und eine Kälte, die Ceshian in die Glieder kroch und nur mehr Schweiß auf die Stirn trieb.

Neben den moosbewachsenen Quellwächtern ließen sie die Pferde anhalten. Das Gras um die Quelle war verbrannt, Verwehungen von Asche hatten sich in den Ritzen der Steine gesammelt. Ceshian bedeutete Varoth, Golan und Mairin, bei der Sänfte zu warten. Er umrundete die Quelle. Wenn der Phönix noch hier war und lebte, mochte er nicht allzu gut gelaunt sein.

Auf der rückwärtigen Seite der Quelle war überall Asche in kleinen Verwehungen. In einem Geflecht wirrer Äste lag der Kadaver eines Phönix, seltsam verdreht, die eingetrockneten Augen weit aufgerissen, die Federspitzen angesengt, weil er gestorben war, bevor er sich durch Entflammen reinigen konnte. Aber Asche bedeutete, dass andere Phönixe die Verwandlung geschafft hatten, und wo so viel Asche war, waren viele Phönixe gewesen.

Ceshian sah ins Tal, wo sich bereits einige Männer mit einem Karren aus der Mühle aufmachten, während zwei mit Schaufeln den Graben um das Feld zogen. Zwei weitere trugen Leichen aus der Mühle. Ceshian wandte den Blick ab. Die Aufgabe, die vor ihm lag, war schwierig genug.

Das lustige Plätschern, das er von Quellen kannte, war einem seltsamen Zischen gewichen, mit dem das leicht trübe Wasser aus dem Stein sprudelte. Alles Moos auf den Felsen sah aus und roch wie faulendes Pilzgeflecht.

Könnte er seinem Vater doch endlich diese Bürde abnehmen! Ceshian holte noch einmal tief Luft, dann ging er zurück zur Sänfte. Vorsichtig zog er den Vorhang der Sänfte beiseite und klappte die Leiter nach unten.

König Rerin sah ihn müde an. »Ist es hier?«, fragte er leise.

Ceshian nickte.

»Ist das die letzte?«

Ceshian nickte wieder. »Danach kehren wir heim und du kannst dich erholen, Vater.«

Er half ihm, sich aufzurichten und die Beine aus der Sänfte zu bekommen. Als Rerin ins helle Sonnenlicht trat, musste Ceshian sich zwingen, seine Gesichtszüge zu beherrschen.

Erst gestern hatten sie dieselben Rituale in einem Dorf den Fluss hinab vollzogen, aber es schien Ceshian, als habe die Magie seinem Vater noch viel mehr zugesetzt. Der König, der einst stolz auf seinem Thron gesessen war, kletterte nun gebeugt aus seiner Sänfte. Ceshian musste ihn stützen und spürte dabei, wie er vor Anstrengung zitterte. Sein schwarzes Haar war von matten, grauen Strähnen durchzogen und stand struppig aus seinem Zopf, und seine einst moorgrünen Augen waren zur Farbe von Brackwasser verblasst. Wie viele Lebensjahre hatte ihn die Magie wohl schon gekostet, die er wirken musste, um das Land und das Volk von Talyrea am Leben zu halten?

Ceshian führte seinen Vater, der so gebeugt lief, dass er einen Kopf kleiner war als Ceshian. Bei der Quelle ließ der König sich auf einem Felsen nieder.

Dann trat Ceshian einen Schritt zurück, als Rerin sich die weiten Ärmel seiner purpurnen, goldbestickten Robe hochkrempelte und den Kragen zurückschlug. Ceshian senkte den Blick auf seine Füße, um nicht die blutigen Verbände zu sehen, die der König sich nun mit zittrigen Fingern von den Handgelenken und vom Hals wickelte. Damit entblößte er zwei feine gläserne Röhrchen, die in seinen Pulsadern steckten, und das viel dickere, das in seiner Halsschlagader steckte. Rerin ließ die Verbände achtlos fallen und Ceshian hob sie auf und reichte sie Golan, der sie im Korb am Sattel des vorderen Pferdes verstaute und aus dem anderen dort angebrachten Korb drei neue Verbandsrollen hervorholte, um jederzeit bereit zu sein.

Unterdessen spannten Varoth und Mairin ein Tuch in den Wasserfall unterhalb der Quelle, das jeder von ihnen an einem Ufer mit beiden Händen festhielt. Ceshian war froh, dass sie inzwischen alle Handschuhe trugen und nicht wie bei früheren Runden durchs Land an dieser Stelle Leute verlieren mussten.

»Komm her!«, befahl der König.

Ceshian trat direkt neben ihn und reichte ihm die Hand. Sein Vater ergriff sie und lehnte sich dann so weit über den Quell, dass er hineingefallen wäre, hätte Ceshian ihn nicht gehalten.

Langsam führte Rerin die Hand zum Röhrchen an seinem Hals, während er Ceshian ansah.

Ceshian lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter, als wie so oft die Magie erwachte. Vaters Augen wurden glasig und es war, als schöbe sich eine Mauer vor Rerins Ich. Sein Vater war plötzlich nicht mehr da. Stattdessen funkelte Misstrauen rot wie geronnenes Blut, rot wie das Fleisch unter abgezogener Haut in des Königs Augen.

Er spürte den Puls seines Vaters bis in dessen Fingerspitzen. Den Puls der Blutmagie.

Rerins Mund verzerrte sich zu einem schmallippigen Grinsen, bevor er das fingerdicke Röhrchen öffnete.

Ein Schwall Blut spritzte hervor in die Quelle, und noch einer und noch einer, bevor Ceshian seinen Vater heranzog und hastig den Stopfen auf das Glasrohr drückte.

Das Plätschern der Quelle wurde zu einem Zischen, als sich ein blassrosa Film über das Wasser legte und es zu dampfen begann. Kurz später stiegen Blasen auf, sprudelten an die Oberfläche, bildeten Schaumkronen, die über den Rand des Quellbeckens getragen wurden.

Das Gesicht seines Vaters blieb zum starren Grinsen verzerrt, während das Glühen seiner Augen noch zunahm und sein Körper zu beben begann.

Vage nahm Ceshian wahr, dass die beiden Soldaten Mühe hatten, das Tuch zu halten, während Rerin unverständliche Silben hervorstieß und immer wieder in Kichern ausbrach.

Unendlich lange schien es zu dauern, bis auf einmal das Glühen im Gesicht des Königs erlosch und er in sich zusammensackte. Ceshian und Golan fingen ihn auf.

»Wir sind fertig«, rief Ceshian zu den anderen beiden hinab.

»Das war ein ganz schöner Fang«, rief Mairin zu ihm hinauf.

Ceshian hob das Kinn seines Vaters und hielt ihm seinen Wasserschlauch an die Lippen. Sachte vergoss er ein wenig Wasser, aber dann kam der König zu sich, öffnete mühsam die Augen und trank gierig.

Als er fertig war, zogen sie ihn auf die Beine und führten ihn zurück zur Sänfte. Die zwei Stufen der Leiter konnte er kaum bewältigen, sodass Ceshian ihn in die Sänfte hob, wo er bereits schlief, bevor Ceshian ihn zugedeckt hatte. Hastig löste Ceshian den Vorhang und zog ihn zu.

»Prinz Ceshian«, rief Varoth. Sie kamen vom Wasserlauf und schleppten zwischen sich das Tuch, in dem ein pferdekopfgroßer, blutiger Klumpen lag.

Ceshian konnte es nicht noch einmal sehen, er konnte nicht … Er räusperte sich und zwang sich zu einem Lächeln. »Das sieht aus, als habe der König es geschafft.«

Die Männer nickten erleichtert. Mit dem vielen Blut musste Rerin es einfach geschafft haben, alles Gift darin zu binden und die Quelle zu reinigen. Was hätte Ceshian nur darum gegeben, wenn sie gleich daraus hätten trinken können! Aber so war es nicht mit der lebendigen Magie. Er stellte es sich immer vor wie bei einer Pflanze. Wenn sie am Vertrocknen war und man ihr Wasser gab, dann brauchte sie ein paar Tage, um sich zu erholen. Auch die Quellen brauchten ein paar Tage, um sich zu erholen, um wieder ihr Gleichgewicht zu finden, damit man aus ihnen trinken konnte.

Ceshian war froh, dass die Männer sich ohne Befehl abwandten und den Klumpen ins Tal schleppten, wo er auf den Karren geladen würde. Aus jeder Quelle hatten sie einen solchen Klumpen mitgebracht, um sie in Camuranth untersuchen zu lassen und vielleicht irgendwann herauszufinden, warum das Wasser giftig war und vor allem, wie man es dauerhaft entgiften konnte und ohne dass der König ständig Blutmagie anwenden musste.

Er nickte Varoth zu. Der Hauptmann verstand und nickte. Er packte das vorderste Pferd am Zügel, führte es um die Quelle herum und ins Tal hinab.

Ceshian atmete tief durch. Es war ein grässliches Gefühl gewesen, als in seinem Vater die Blutmagie aufs Neue erwacht war. Wenn Rerin das jedes Mal spürte … Ceshian schauderte. Immerhin schien es seinem Vater zu helfen, wenn Ceshian bei dem Akt dabei war. Aber er fühlte sich jetzt auch wie erschlagen.

Gern hätte er seine Hände ins kühle Wasser getaucht und sich das Gesicht gewaschen. Stattdessen zog er seinen Wasserschlauch vom Gürtel und trank zwei Schlucke des warmen, schalen Wassers. Sein Schlauch war leicht. Zu leicht für den Tagesmarsch, den sie noch vor sich hatten, bevor sie wieder an trinkbare Gewässer kamen. Wie es wohl den Männern ging?

Immerhin hatten sie genug Wasser für seinen Vater dabei, das eines der Sänftenpferde in Tonkrügen trug. Ceshian war froh, dass der König in seinem geschwächten Zustand nicht noch dursten musste. Hoffentlich kamen sie zurück ans Wasser, bevor einer der Männer vor Durst zusammenbrach.

Ceshian straffte die Schultern. Je länger er hier herumstand, desto länger würden sie brauchen, um diesem Tal den Rücken zuzuwenden.

Beim Umdrehen wurde ihm schwindlig. Er stützte sich auf den Felsen ab. Er durfte sich jetzt keine Schwäche erlauben! Sie hatten ihre Aufgabe erfolgreich abgeschlossen und diese Quelle von der Magie entgiftet. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass alle Männer wohlbehalten in Camuranth ankamen.

Der Schwindel ging vorüber, nachdem Ceshian noch einen Schluck getrunken hatte. Er holte tief Luft und sah sich um. Ein Stück den Berg hinauf sah er an einem Hauseingang ein Schild mit einem Hammer darauf. Nun, der Tischler des Dorfes würde wohl einen Karren haben, mit dem er sein Holz geholt und seine Holzwaren geliefert hatte.

Mit einem mulmigen Gefühl öffnete Ceshian die Tür zum Arbeitsraum. Wo der Tischler im Todeskampf über seiner Werkbank zusammengesunken war.

Ceshian schloss sachte die Tür, lief ums Haus und fand im Hof tatsächlich einen Karren, voll beladen mit zurechtgesägten Brettern. Er kippte den Karren kurzerhand aus. Das Poltern klang unheimlich lebendig zwischen den Häusern.

Vor dem Laden stellte Ceshian den Karren ab, ging hinein und packte den Toten unter Schultern und Beinen, um ihn hinauszutragen, wo er ihn sanft auf den Karren legte. Er ging noch einmal hinein und die Treppe hinauf in die Wohnstube, wo er die Familie des Mannes vorfand. Zwei kleine Kinder, eine Frau in seinem Alter und eine alte Frau, die ihn aus qualvoll aufgerissenen Augen anstarrten, als störe er ihre Totenruhe.

Behutsam brachte Ceshian einen nach dem anderen nach draußen. Er zwang sich, nur daran zu denken, wo er auf der knarrenden Treppe am besten die Füße hinsetzte, um nicht mit seiner Last hinabzustürzen.

Als er zum letzten Mal hinauskam und ins Tal sah, stieg neben der Mühle eine Rauchsäule auf. Der Anblick des brennenden Leichenbergs war tröstlich, bedeutete er doch, dass jemand am Leben war.

Vorsichtig legte Ceshian den Körper des toten Kindes auf den Karren. Dann packte er die Griffe, musste kurz anschieben und machte sich auf den Weg hinab. An der Quelle drehte er den Wagen seitlich, dass er nicht weiterrollte, und lief zu dem Nest. Behutsam befreite er den toten Phönix aus den widerspenstigen Zweigen. Sanft legte er ihn auf den Leichenkarren und setzte sich wieder in Bewegung. Der steile Hang machte ihm zu schaffen. Der Karren mit den sechs Toten zerrte ihn den Berg hinab. Mit aller Kraft versuchte er, das Gewicht abzubremsen, aber bei den letzten Häusern schaffte er es kaum, dagegenzuhalten. Die letzten Pferdelängen stolperte er schlitternd und rutschend hinter dem Karren her, begleitet von Geröll und Staub. Er war froh, als er unten ankam und der Wagen ausrollte.

Auf halbem Weg zu dem Feld kam ihm Markon entgegen, der ihm zunickte und dann einen Griff des Karrens packte. Ceshian lächelte ihn an, aber er brachte keinen Ton heraus. Auch hier im Norden Talyreas hatten viele Bauern gewohnt, Felder mit Weizen bestellt, Fische in den Gewässern gefangen und weiterverarbeitet oder Obsthaine gepflegt. Nun waren die Früchte verdorrt, die Tiere verendet und die Dörfer voller Leichen. So wie es in weiten Teilen des Landes der Fall war. In Talyrea gab es viele kleine Quellen, also waren nicht alle von der fortschreitenden Vergiftung betroffen. Viele Bauern wanderten trotzdem in die Städte ab, wenn ihr Dorf als Einziges in einem Landstrich nicht betroffen war und wenn umliegende Dörfer, in denen notwendige Handelswaren produziert wurden, bereits ausgestorben waren. Wie lange würde es so weitergehen, bis sie endlich herausfanden, was die Gewässer verseuchte? Wie viele Leben würde es noch kosten? Und wie oft konnte der König noch Blutmagie wirken, ohne sich ausreichend zu erholen, bis ihn der Wahnsinn nicht mehr aus seinen Klauen ließ?

Ein paar Manneslängen vor dem Feld wehte ihnen der Gestank brennenden Fleischs entgegen. Ceshian war nicht der Einzige, der würgen musste. Zu zweit packten sie einen Toten unter den Armen und an den Füßen und trugen ihn über den schrittbreiten Wassergraben auf die Toteninsel, wo sie ihn in der Nähe der brennenden Körper ablegten, um zum Karren zurückzugehen.

Beim nächsten Gang ergriff Ceshian den toten Phönix. Ihn würde er ganz oben auf den Scheiterhaufen legen. Vielleicht war es noch nicht zu spät.

Einige Männer hatten die Toten bereits vom Karren geladen und sich damit wieder auf den Weg ins Dorf gemacht. Während Ceshian und Markon noch einen Toten zum Feuer trugen, machten sich Männer mit dem zweiten Karren auf ins Dorf.

So arbeiteten sie bis Sonnenuntergang, während stets ein Mann neben der geschlossenen Sänfte stand und dem König etwas zu trinken oder zu essen von einem der Packpferde reichte. Ceshian ließ den Wächter alle Stunde wechseln, und für diese Wache wählte er immer einen aus, dem er die Verzweiflung im Gesicht ablesen konnte. Jeder Mann, den er für den Wachdienst abteilte, brauchte dringend eine Pause, und jedem bot er an, sich einen Becher Wasser von den Vorräten des Königs abzufüllen. Die durstigen Männer nahmen dieses Angebot dankbar entgegen. Ceshian war froh, dass er wenigstens etwas tun konnte, um ihnen die Arbeit zu erleichtern oder eine Pause zu gönnen. Manches Mal waren sie durch Dörfer gekommen, wo Soldaten ihre Familien, Kinder, Frauen und Eltern beerdigen mussten. Ceshian hatte es aufgegeben, jedes Mal zu fragen, ob jemand im Dorf Familie hatte. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte, um den Männern Mut zuzusprechen. Aber immerhin konnte er ihnen kurze Erleichterung verschaffen, und der König würde ohnehin nicht alles Wasser trinken. Dafür waren die Vorräte an Wein ja auch noch da.

Der Himmel um sie herum war blutrot, als Soldaten die letzte Fuhre Leichen brachten. Ceshian war gerade damit beschäftigt, ein Tuch um zwei Äste zu knoten, damit er ein Netz hatte, um die toten Fische und Frösche aus dem Uferwasser zu sieben. Als er um die Mühle ging, schwappte ein aufgeschwemmter Igel mit dem Bauch nach oben gegen einen Pfosten der Mühle. Um ihn herum war das Wasser dunkel, weil Schwärme von Fliegenleichen auch an die Stelle gespült worden waren. Ceshian fischte sie heraus und entleerte das Tuch auf der Toteninsel, wo die Überreste eines zerhackten Pferdekadavers schwelten. An großen Tieren hatten sie nur ein Wasserpferd, fünf Schafe und zwei Kühe gefunden. Immerhin. Alle anderen Tiere musste man wenigstens nicht zerhacken, bevor man sie zum Feuer bringen konnte.

Allmählich überstrahlte der Schein des Leichenfeuers die Dunkelheit, die über die Hänge kroch. Ceshian warf das Netztuch mit den Ästen auch ins Feuer, und zischend fraßen es die Flammen.

Er umrundete noch einmal die Insel, um sicherzugehen, dass der Graben überall tief genug war und einen nassen Schutzwall bilden würde, damit nicht Feuer auf die trockene Umgebung übersprang und sie einen Großbrand auslösten. Als er zufrieden war, nahm er den Phönixkadaver und trat so nah ans Feuer, dass er Fleisch brutzeln und Augen zerplatzen hörte. Er holte aus und warf den Phönix oben auf den Haufen. Hastig verließ er die Toteninsel.

Auf der der Mühle abgewandten Seite hatten sich einige Männer im Gras niedergelassen und aßen, während sie mit leerem Blick in die Flammen starrten. Markon hatte sich neben seinen Vater gesetzt und bot ihm ein Stück Brot an. Golan drückte die Schulter seines Sohnes.

Ceshian trat zu Varoth, der sich gerade mit dem Messer Dreck unter den Fingernägeln hervorschabte. Er ging bei ihm in die Hocke und klopfte ihm auf die Schulter.

»Der Weg auf die Toteninsel müsste noch geöffnet werden. Helft Ihr mir?«

Varoth seufzte, dann nickte er und erhob sich. Er setzte den Spaten an einer Seite an, Ceshian an der anderen, und so schaufelten sie sich aufeinander zu, bis sich das Wasser seinen Weg bahnte und der brennende Leichenberg ganz von Wasser umgeben war.

»Geht und ruht Euch aus«, wies Ceshian ihn an, »und bitte seid so gut und schaut kurz, ob der König etwas braucht, ja? Ich räume die hier an ihren Platz.« Er packte beide Schaufeln und machte sich auf zur Mühle.

Im Inneren war es dunkel, nur der Feuerschein tanzte über den Boden. Ceshian lehnte die Schaufeln an die Wand neben dem Eingang und ging weiter hinein, während er sich das Tuch vom Gesicht zog. Nach ein paar Schritten ertastete er eine Öffnung in der Wand und ging hindurch, in den Raum mit dem Mahlstein. Dort spiegelte sich der aufgegangene Mond im Wasser und malte Wellen an die Decke.

Ceshian setzte sich auf den Mahlstein und tastete nach seinem Wasserschlauch. Es waren nur wenige Schlucke übrig. Er nahm einen. Wenn sie die Nacht über liefen, den Tag ruhten, nachts wieder liefen, stießen sie mit etwas Glück am späten Vormittag des übernächsten Tages auf die Quelle, an der sie auf dem Hinweg ihre Schläuche gefüllt hatten. Dann konnten sie die Schläuche auffüllen, die jeder Mann trug, und auch die leeren, die das Packpferd trug.

Ceshian trank noch einen Schluck. Das Wasser tat gut. Inzwischen war der Durst sein ständiger Begleiter. Hoffentlich war die Lieferung Eis aus dem Süden angekommen, wenn sie heimkehrten.

Eine Weile saß er im Dunkeln und atmete tief durch. Die Männer brauchten einen starken König in diesen Zeiten, und Rerin hatte sich so verausgabt durch die ständige Notwendigkeit, Blutmagie zu wirken, dass er es nicht mehr sein konnte. Aber Ceshian fühlte sich noch nicht bereit. Sicher, sie hörten auf seine Befehle, sie respektierten, mochten ihn gar. Aber konnte er wirklich über ein ganzes Volk entscheiden? Entscheidungen treffen, die das Leben aller Talyrener in die Waagschale warfen? Konnte er ein König sein, der dem Volk gab, was es brauchte? Und wenn es ihn alles kostete? Ceshian fuhr mit dem Finger über den Ring an seinem Ringfinger. Das filigrane Symbol Phoreons, die Waage, war durch das dicke Leder kaum zu spüren. Genau wie es in Wirklichkeit auch nicht immer ersichtlich war, welche die richtige Entscheidung war.

Ceshian war müde. Gern hätte er sich hier und jetzt schlafen gelegt. Aber sie mussten so schnell wie möglich zurück zu einer Quelle.

»Cesh?« Amuts Stimme kam vom Eingang.

»Komme«, rief Ceshian. Seine Stimme klang in seinen Ohren erschreckend heiser. Hoffentlich hatte Amut das nicht gemerkt. Nach einem letzten Blick auf das schillernde Wasser, das er so gern getrunken hätte, stand er auf und lief Richtung Eingang.

Dunkel stand Amuts Schemen vor dem Scheiterhaufen.

»Was gibt es?«, rief er ihm zu, noch bevor er den Raum durchquert hatte.

»Ich bringe dir Brot und Käse«, sagte Amut und reichte ihm das Essen, als Ceshian bei ihm angelangt war.

»Wie umsichtig von dir, danke«, sagte Ceshian. Er steckte seine Handschuhe in den Gürtel, bevor er das Essen entgegennahm.

Sie aßen beide im Dunkeln, während sie die Männer und ihre schwarzen Umrisse vor dem Feuer ansahen.

Oben auf dem brennenden Leichenberg regte sich etwas. Waren das die Flammen? Nein, jetzt zeichnete sich deutlich ein Umriss ab, ein zierlicher Körper, ein langer gebogener Hals erhob sich. Der Kopf mit einer pompösen Flammenkrone reckte sich über die Flammen. Die Schemen aller Männer waren plötzlich erstarrt, die Gesichter dem Phönix zugewandt.

Das Tier breitete die Schwingen aus. Lang und immer länger hoben sie sich, Glut troff herab und grub sich schimmernd in die Erde der Toteninsel. Der Phönix duckte sich, setzte zum Sprung an. Er stieß sich ab. Vulkanischer Wind fegte über die Senke und ließ die Spitzen aller Gräser erglühen, als der Phönix sich lodernd in die Lüfte erhob. Wenige Flügelschläge brachten ihn in den Himmel hinauf. Sein Schweif war noch lange am Horizont zu sehen.

Das Feuer hatte ihn wiederbelebt. Ein magisches Tier also. Ceshian schob sich noch ein Stück Brot in den Mund. Ob der Phönix dieses Mal rechtzeitig aus diesem Giftland kam? Bevor ihn der Durst wieder dahinraffte?

»Machst du dir Sorgen?«, fragte Amut.

Ceshian nickte. Der Phönix war ja nicht der Einzige, der es von hier fort schaffen musste. »Man sieht einigen den Durst an. Wie viel Wasser hast du noch?«

Amut schnaubte.

Ceshian legte ihm die Hand auf die Schulter. »Merkst du es schon?«

Amut nickte. »Und du?«

»Zum Glück nicht.«

Amut klopfte ihm auf die Schulter. »Ich bin mir sicher, du wirst uns heil nach Camuranth zurückbringen, Cesh.«

»Ich versuche es.« Er wollte an Amut vorbeigehen, aber der hielt ihn am Arm fest.

»Dein Vater möchte nur Wein trinken. Varoth versucht, ihn davon zu überzeugen, dass Wasser besser wäre, aber …«

Ceshian nickte. »Wir müssen ohnehin aufbrechen. Die Quelle kommt ja nicht zu uns, nicht wahr?« Eigentlich hatte er es lustig gemeint, aber Amut nickte nur grimmig und ihm selbst war auch nicht nach scherzen zumute.

Schweigend gingen sie zurück zum Lager, wo die meisten Männer erschöpft von der Arbeit dasaßen und aßen. Einige hatten sich im Gras zurückgelegt, vielleicht schliefen sie auch schon.

»Männer, esst Eure Brote auf und trinkt noch einen Schluck. In einer halben Stunde brechen wir auf.«

Ein paar der Männer murrten, einige nickten und kauten schweigend weiter. Ceshian umrundete das Lager und ging zur Sänfte, die etwas abseits stand. Der Brandgeruch war hier zumindest erträglich.

Varoth wurde Ceshians gewahr und warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. Ceshian nickte ihm zu und trat neben ihn an die Sänfte.

»Vater, wir brechen bald auf. Hast du dich ein wenig erholt? Brauchst du etwas?«

Ein abfälliges Schnauben kam aus dem Inneren, bevor König Rerin den Kopf hinausstreckte. Als das bleiche Mondlicht auf sein Gesicht fiel, musste Ceshian sich beherrschen, nicht vor dem verzerrten Grinsen zurückzuweichen.

»Gib mir Wein!« Er hielt ihm einen leeren Becher hin.

Ceshian nahm ihn entgegen und eilte zum Packpferd mit den Wasserschläuchen. Er füllte den Becher dreiviertels mit Wasser, dann goss er den Rest mit dem schweren Wein auf und eilte zur Sänfte zurück.

»Hier, Vater. Ich habe den Wein ein wenig verdünnt, das wird dir guttun.«

Rerin nahm den Becher entgegen und nahm einen Schluck. Er spülte ihn in den Backen hin und her, dann spuckte er ihn Ceshian ins Gesicht.

»Haben dich alle guten Geister verlassen?«

Rerin warf den Becher nach ihm, aber zum Glück nur halbherzig, sodass Ceshian ihn gerade noch vor seinem Gesicht abfangen konnte. Hoffentlich hatten das die Männer nicht gesehen. Der König sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Immer. Nicht seinen Sohn bespucken und bewerfen wie ein Betrunkener den Nachtwächter.

»Bring mir Wein. Nicht Wasser.«

Ceshian wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Vater, bitte trink doch Wasser. Der Wein wird dir erst guttun, aber danach hast du noch viel schlimmeren Durst.«

Ceshian sah die Bewegung aus dem Augenwinkel, da klatschte schon Rerins Hand auf seine Wange, so heftig, dass es ihn fast umwarf.

»Jammer nicht, bring mir Wein«, kicherte Rerin.

Ceshian fand mit Mühe sein Gleichgewicht wieder, denn nach dem Schlag war der Schwindel wieder da. »Ist gut, Vater«, sagte er so ruhig wie möglich. Dass die Männer den Wahnsinn ihres Königs sahen, war schlimm genug. Ceshian hatte Lederrüstungen knarzen gehört und wusste, dass einige der Männer zu ihnen herübersahen. Aber sie mussten nicht sehen, dass Rerins Wahnsinn so weit fortgeschritten war, dass er niemanden mehr respektierte und die talyrenischen Werte vergaß. Wenn so ein König Entscheidungen treffen musste, die das Wohl des Volkes betrafen, wie sollte man darauf vertrauen, dass es der beste Weg war? So einem König konnte man sein Leben nicht mehr anvertrauen.

»Ist gut«, sagte er wieder, suchte einen neuen Becher aus dem Gepäck, füllte ihn mit Wein und brachte ihn seinem Vater.

»Na endlich«, sagte der König, als Ceshian ihm den Weinbecher reichte. »Jetzt hau ab.«

Ruhig schloss Ceshian die Vorhänge der Sänfte, nickte Varoth zu und lief zu den Männern zurück. Die wenigen Schritte waren nicht genug, sich etwas Geistreiches zu überlegen, und so wie seine Wange pochte, war sie wahrscheinlich immer noch rot. Er beschloss, einfach so zu tun, als sei nichts. Dann würden sie es schnell vergessen. Vielleicht fiel es im Schein des Feuers auch nicht so auf. Einen Moment traf sein Blick den wütenden Blick Amuts, aber er ignorierte auch ihn und sah in die Runde.

»Wir sind alle erschöpft«, erhob er die Stimme, »aber wir müssen weiterziehen. Nehmt noch einmal alle Kraft zusammen. Wir können uns glücklich schätzen. Der König ist am Ende seiner Kräfte, aber wir sind auch am Ende unserer Rundreise. Wir haben alle Quellen entgiftet, deren Verseuchung man uns zutrug, und nun können wir uns endlich auf den Rückweg machen.«

Ein paar der Männer hoben ihre Wasserschläuche und prosteten Ceshian zu. Ceshian hob seinen Schlauch auch vom Gürtel, aber er benetzte nur seine Lippen. Gern hätte er alles getrunken, aber er wollte nichts riskieren. Vielleicht hatten sie Glück und konnten bald ihre Schläuche auffüllen und sich Gesicht und Hände in einem kühlen Bach waschen. Aber wenn die letzte Quelle, an der sie gehalten hatten, inzwischen auch vergiftet war, würden sie nicht heimkommen, wenn sie jetzt alle Wasservorräte verbrauchten.

 


KAPITEL 2: HEIMGEKEHRT 

Die weißen Türme von Tiarinth erhoben sich strahlend über den Fluten des Stillen Sees. Vereinzelt schimmerten goldene Blätter im satten Rot des Schlosshügels und des Tempelhügels. Auf der der Sonne abgewandten Seite der Insel spiegelten sich die weißen Zinnen in der glatten tiefblauen Wasseroberfläche. Das war ein Anblick für müde Augen!

Leana sah dem vertrauten Menschenstrom nach, der heute nach Tiarinth drängte. Bis zum Stadttor, das verschlossen war. Warum bei allen Göttern war ausgerechnet am Markttag das Tor verschlossen? War etwas passiert in den fünf Jahren ihrer Reise?

Hast du nicht gesagt, die Tore stünden immer jedem offen? Neben ihr trat Wind nur so weit aus dem Schatten der Bäume, dass gerade seine schwarze Schnauze ins Licht kam.

Leana legte ihre Hand an den seidigen schwarzen Hals des Einhorns. »Hab ich gesagt, ja.«

Wind blähte die Nüstern, dann schüttelte er die Mähne. Dann bleibe ich lieber hier.

Seine Worte klangen in ihrem Kopf, aber mehr wie die Erinnerung an Worte, die gesagt worden waren. Leana nickte.

Willst du mit mir kommen? Du hast mein Leben gerettet, ich würde dir den Gefallen gern erwidern. Er stupste sie mit der Schnauze an und sie kraulte ihm die Mähne.

»Ich muss ja doch irgendwann nach Hause.«

Dann hast du was bei mir gut.

Sie musste wohl ein sehr finsteres Gesicht gemacht haben, als sie an die Wilderer dachte, deren Trupp sie überrascht hatte. Vergitterte Wagen, einer nach dem anderen, mit vielen seltenen oder magischen Tieren darin. Und nur eines hatte sie befreien können.

»Auch darum muss ich nach Tiarinth, Wind. Herausfinden, was das sollte. Schauen, wo die anderen Tiere hingebracht wurden.«

Ja, das ist gut. Sie werden sich freuen, wenn du sie rettest. Wenn du mich rufst, werde ich kommen. Jetzt bin ich hier. Dann bin ich auch hier.

Leana musste lächeln. In dieser Hinsicht war Wind wie andere Tiere. Es gab für ihn nicht so viel Vergangenheit und Zukunft wie für Leana, es gab mehr das Hier und Jetzt, ohne all die Sorgen.

Stimmt. Aber nicht immer.

»He!«

Verzeih.

Leana grinste. »Du weißt ja, dass es nur die Vorteile beschreibt. Uns Menschen täte ab und zu ganz gut, mehr im Hier und Jetzt zu leben. Abgesehen davon habe ich vor dir eh keine Geheimnisse.«

Wind stupste sie wieder an. Lass mich dein Geheimnis sein. Wenn niemand weiß, dass ich hier wohne, wird mich niemand suchen kommen.

Leana seufzte. »Du hast ja recht. Schon wieder. Und ja, ich werde niemandem erzählen, dass du jetzt hier wohnst. Dann heißt es jetzt wohl Abschied nehmen.« Sie legte ihre Stirn an seine. »Ich werde dich besuchen kommen.«

Ich werde hier sein. Das Gras hier ist viel grüner als in … wie nennst du es?

»Talyrea.«

In Talyrea dann. Die Blumen sprießen, die Quellen gluckern. So war es auch in Talyrea.

»Du kannst gern in diesen Wäldern wohnen, solange du willst, und … wenn du willst …«

Was möchtest du sagen, Menschenkind?

»Ich kann sicher ein königliches Dekret bekommen und du könntest deine Herde herholen. Ihr könntet hier leben, nicht im vertrockneten, vergifteten Talyrea.«

Wind trat einen Schritt zurück und musterte sie. Das wäre schön. Sobald du es für sicher genug hältst, wenn deine Menschen wissen, dass in ihren Wäldern Einhörner leben. Aber meine Herde wird mir erst zuhören, wenn mein Horn nachgewachsen ist. Bis dahin bleibe ich gern allein hier.

Leanas Blick huschte wieder zu dem Horn, das zu zwei Dritteln abgeschlagen war. Sie schloss die Arme um Winds Hals und drückte sich an ihn. Wie konnten Menschen es nur wagen, dieses schöne Tier so zu verstümmeln? Die Leute mit den Käfigen hatten nicht so ausgesehen, als hätten sie das zum ersten Mal gemacht. Sie musste dringend etwas dagegen tun. Also auf in die Stadt!

Leana drückte Wind noch einmal und schulterte ihren Rucksack. Sie war froh, endlich heimgekehrt zu sein. Ihre Füße schmerzten, als sie über die erste Zugbrücke auf die weiße Marmorbrücke trat. Aber während sie sie überquerte und den einzigen Landweg nach Tiarinth lief, stieg Freude in ihr hoch. Was waren die Iliriler doch privilegiert! Und für das verschlossene Tor gab es sicher eine gute Erklärung.

Sie sah sich um, aber falls Wind noch da stand, verhielt er sich so ruhig, dass sie ihn im Schatten der Bäume nicht ausmachen konnte. Dennoch fühlte sie sich in gewisser Weise beobachtet, oder eher … mit Blicken beschützt. Sie genoss die pralle Sonne und das Plätschern der Wellen unter der Brücke. Und während sie auf die Stadtinsel zulief, wollte sie den prächtigen Anblick in vollen Zügen genießen.

Am westlichen Strand rekelten sich zwei Nixen in der Sonne im schwarzen Sand der Muschelbucht. Nur zwei? Leana suchte die Bucht mit den Augen ab, aber keine andere Flosse war zu sehen. Ihre grünen Fischschwänze schillerten mit den kleinen Wellenkämmen um die Wette, die heute auch ungewöhnlich grün aussahen. Wo waren denn die Schwärme an Nixen, die sich sonst bei Sonnenschein im schwarzen Ufersand tummelten?

Ein Mann rempelte sie im Vorbeigehen an. »Habt Ihr nichts Besseres zu tun, als im Weg zu stehen?«, schnauzte er sie an.

»Sollte ich lieber Leute anrempeln oder was?«, rief sie, aber er drehte sich nicht einmal nach ihr um.

Sie wich hastig einem anderen Mann aus, der seinen Karren sonst über ihren Fuß geschoben hätte. Der Karren war hoch beladen mit … Pfannen, Gewändern und einem Stuhl. Das wollte er verkaufen? Seit wann wurde auf dem Tiarinther Markt denn Bettelware verkauft? Leana sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt, dass er mit seinem Hausstand in die Stadt wollte. Aber er sah nicht aus, als könne er sich auch nur eine Kammer in Tiarinth leisten.

Leana sah sich um. Einige Leute kamen mit ähnlichen Karren und ähnlicher Ladung. Dagegen sah sie ungewöhnlich wenige Karren, die mit Handelswaren beladen waren. Hier mal einer mit Kürbissen, dort einer mit Gemüse, bald ein dritter mit Fisch. Dagegen zehn oder mehr mit Haushaltsgegenständen. Warum wollten plötzlich so viele Leute nach Tiarinth ziehen?

Sie lief auf die andere Seite der Brücke, um einen Blick auf den westlichen Hafen zu erhaschen. Normalerweise war er am Markttag überfüllt mit goldüberdachten Gondeln und hoch beladenen Kähnen, die Gäste, Kaufleute und Handelswaren in die Stadt einfuhren. Heute hatten auch hier nur wenige Gondeln angelegt, ihre Dächer schillerten mit dem Gold und Rot der Herbstblätter um die Wette.

Die Menge geriet ins Stocken, je näher sie dem ersten Tor kamen. Leana schlüpfte zwischen zwei Eseln hindurch, bevor sie ihr den Weg abschnitten.

Wachen standen vor dem Tor und selbst die kleine Pforte war verriegelt. Soeben wurde sie geöffnet, die schweren Schlösser rasselten und ein Mann mit zwei Kindern wurde hindurchgelassen. Der dumpfe Nachhall von Metall sagte Leana, dass die Pforte von der anderen Seite wieder verriegelt worden war. Die Wächter taten ihr Möglichstes, die Menschen in eine Reihenfolge zu bringen, sodass jeder vorsprechen konnte und um Einlass bitten. Leana sah eine Weile zu und versuchte, herauszufinden, wer eingelassen wurde.

»Wisst Ihr, wen sie einlassen? Und wer draußen bleiben muss?«, fragte sie einen rotnasigen Mann neben sich, der einen Karren hatte, der wie ein kleiner Schrank verschließbar war. Er roch nach Alkohol. Vielleicht ein Händler von Kräutermittelchen.

Der Mann zuckte die Achseln. »Händler. Manchmal andere Leute.«

»Was ist denn aus den offenen Toren von Tiarinth geworden?«

Der Blick des Mannes wurde finster. »Ihr seid nicht von hier, oder? Früher war das so, inzwischen wird nachts sogar die Zugbrücke nach dem Tor hochgezogen und der Hafen überwacht. Auf dem Land ist es nachts nicht mehr sicher, drum wollen alle in die Stadt, da wird Tiarinth abgesperrt. Wusste ich auch nicht, ich komme aus Vilaria … Das ist etwa dreihundert Wegstunden die Tiar hinab, in der Nähe von Jorringad«, fügte er hinzu, als Leana ihn fragend ansah. Immerhin konnte sie nicht jedes ilirillische Dorf mit Namen kennen.

»Hätte ich gewusst, wie es hier ist, wäre ich nicht gekommen!« Offensichtlich redete er sich gerade in Fahrt. »Die Reise lief so gut, und kaum komme ich an den See, ist der Bootsverkehr gesperrt, man braucht eine teure Erlaubnis oder kann es über den Landweg versuchen, und hier stehe ich mir nun seit Morgengrauen die Füße platt. Nicht dass es gestern Abend allzu leicht gewesen wäre, eine Unterkunft zu finden, sonst hätte ich die Nacht hier auf der Brücke verbringen dürfen!«

Leana zog sich auf die Brüstung hoch und ließ die Beine baumeln. Sollte sie dafür sorgen, dass heute alle in die Stadt kamen? Andererseits sollte sie vielleicht erst die andere Seite anhören. Es half alles nichts, sie musste jetzt erst einmal hinein.

Sie sprang von der Mauer und reihte sich in die Schlange ein, die auf Einlass wartete.

»Euch lassen sie bestimmt nicht ein!«, rief der Elixierbrauer ihr hinterher.

Leana lächelte grimmig. Aus dem kopasirischen Harem war sie entkommen, als sie nur eine mit durchsichtigen Tüchern und drei Haarnadeln bekleidete Sklavin gewesen war. Hier war sie Spielfrau, bekleidet, wortgewandt, bewaffnet und begleitet von tausend guten Wünschen zwischen hier und dem nördlichsten Zipfel von Koloran. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht hineinkäme.

Als sie an der Reihe war, lächelte sie den Hauptmann an.

»Warum wollt Ihr in die Stadt?«, fragte er sie barsch.

»Ich wohne da.«

Der Mann musterte sie von oben bis unten. »Ihr seht aus wie eine Fahrende. Gehört Ihr zu einer Spielmannstruppe?«

Sie schüttelte den Kopf. Nicht mehr, hätte sie am liebsten gesagt. Aber so finster, wie der Mann sie musterte, würde er wohl kaum zugänglicher werden, wenn sie das sagte.

»Ich war lange auf Reisen.«

Sie löste das Lederband um ihren Hals und hielt ihm die drei Ringe hin.

Der Mann erschrak. »Woher habt Ihr die?«

»Sind meine.«

Der Mann musterte sie abermals von oben bis unten. In seinem Blick las sie, dass er sie als das erkannte, was sie heute war. Eine Spielfrau in bunten, teils zerrissenen Kleidern, unordentlichem Haar und vor Dreck starrend. Mit einer großen, staubigen Tasche, wie Fahrende ihre wenigen Habseligkeiten umhertrugen. Armreife aus bunten Glasperlen und Bronze, wie sie die Sklavinnen in Ralesh-Khal trugen, und Ketten koloranischer Kriegerinnen, an denen Federn, Holzschnitzereien, Muscheln und Knochenamulette mit eingebrannten Zeichen hingen, deren bloßer Anblick einen schaudern ließ.

»Wachen!«

Verflucht! »Nein, ich –«

Sofort sprangen zwei Wächter herbei und packten Leana an den Armen.

»Bringt sie zum Palast. Sorgt dafür, dass ihr nichts passiert. Die Königin und die Prinzen werden wissen wollen, wie sie an die Ringe gekommen ist.«

»Zu Befehl, Hauptmann Joruth.«

Der Griff um ihre Arme verstärkte sich. Die beiden Männer nahmen sie in ihre Mitte und wandten sich zur Pforte.

Leana ließ sich mitführen. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt zu winden. Immerhin kam sie so durchs Tor. Im Getümmel auf dem Marktplatz würde es für Leana ein Leichtes werden, ihnen zu entkommen.

Als sie durch die Pforte traten, sah Leana zurück. Das waren wirklich viele Menschen, die Einlass begehrten. Was war nur passiert, dass Tiarinth diese harschen Maßnahmen ergriffen hatte?

Ein Wächter trat vor ihr in den gerade einmal einen Zwieschritt breiten Gang, der unter dem Tor hindurchführte. Der andere schubste sie hinein und zog hinter sich die Tür zu, die er von innen verschloss.

Sie war schon lang nicht mehr in solch steinerner Enge gewesen. Letztes Mal war sie den koloranischen Kriegerinnen in den Hort des Zermalmerkönigs gefolgt, um die Ziegen zurückzuholen. Bei der Flucht nach draußen hatte er versucht, sie in seinen Steingängen zu erschlagen, und nur die Hälfte der Kriegerinnen – immerhin die mit den Ziegen – waren hinausgekommen.

Leana schloss die Augen und setzte einen Fuß vor den anderen. Nein, die Decke würde nicht über ihr zusammenbrechen. Nein, es zeigte sich kein Riss über ihr, der mit grässlichem Knirschen ihrem Weg folgte.

Leana sah vorsichtshalber nach oben. Nichts zu sehen. Innerlich seufzte sie, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Da keiner der Wächter reagierte, war sie wohl erfolgreich gewesen.

Zurück zum Hier und Jetzt. Wenn sie ihrem Hintermann vors Schienbein trat und ihrem Vordermann einen kräftigen Stoß verpasste, konnte sie an ihnen vorbeischlüpfen. Doch schon sah sie das Licht von der anderen Seite und verwarf die Idee. Auf dem Markt zu verschwinden war die bessere. Sie wusste ja nicht, mit wie vielen Wächtern sie auf der anderen Seite des Tors umgehen musste.

Als sie wieder ins Freie traten, holte Leana tief Luft. Schon ergriffen die Männer sie wieder an beiden Armen und liefen mit ihr weiter. Einige der Menschen, die vor ihr durchs Tor gelassen worden waren, hatten schon den halben Weg bis zur Stadtmauer zurückgelegt. Aber die Wachen schritten recht schnell aus, sodass sie einige von ihnen überholten.

Je schneller sie auf den Markt kamen, desto besser. So herzlich hatte Leana sich ihre Heimkehr gar nicht vorgestellt. Sie fühlte sich so willkommen wie ein Eismagier in Feuerland. Hoffentlich ging das nicht den ganzen Tag so weiter.

Sie überquerten die zweite Zugbrücke und tauchten in den breiten Schatten des Tors ein, der mehrere Mannlängen durch die Mauer führte und nach der prallen Sonne auf der Brücke angenehm kühl war.

 »Wartet hier.«

Einer der beiden ließ sie los und verschwand in der Wachstube, der Griff des anderen um ihren Arm wurde schmerzhaft.

»Ich stehe nicht ruhiger, wenn Ihr mir den Arm zerquetscht, wisst Ihr?«, sagte Leana.

Der junge Wächter wurde rot und lockerte seinen Griff ein wenig.

Leana dankte es ihm mit einem Lächeln.

Schon trat der ältere Wächter aus der Wachstube mit einem Seil in der Hand.

Bereitwillig hielt Leana ihm die Hände hin.

Er sah sie kurz irritiert an, versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Dann verfinsterte sich seine Miene. Er packte ihr Handgelenk, drehte ihr die Hand auf den Rücken und band sie mit der anderen zusammen.

Verflucht! Leana hatte gehofft, dass ihr das Entkommen nicht noch zusätzlich erschwert würde. Wenn sie jetzt stolperte, würde sie sich nicht einmal abfangen können.

Diese Tatsache stellte sich jedoch erst einmal nicht als Problem dar, denn die Wachmänner ergriffen wieder jeder einen Arm und zerrten Leana auf das Getümmel hinter dem Tor zu. Schon tauchten sie in den Trubel des Marktplatzes ein wie in eine weitere Mauer. Was er tatsächlich war, führte er doch in einem Gürtel fast um die Stadt. Ausgenommen im Norden, wo sich Stadt und Mauer zum See hin öffneten. Zwischen Parkanlagen verbanden breite Treppen und Rampen den Hafen mit der Stadt. Früher hatte Leana gern den Händlern beim Verladen ihrer Waren zugesehen oder hatte die Fischer beobachtet, die mit vollen Kähnen anlegten und den Fisch an Händler verkauften, die sie auf dem Markt einlegten, pökelten oder brieten, sodass man frisch gebackene Fladen mit Fisch und Gemüse kaufen konnte. Beim Gedanken daran merkte Leana, wie groß ihr Hunger war. Aber die Wächter würden ihr wohl kaum eine Essenspause gönnen, bis diese Sache nicht geklärt war. Leanas Magen knurrte enttäuscht.

Bevor sie zwischen die Stände traten, bemerkte Leana die Wächter, die zwischen dem Markt und dem Tor postiert waren. Und als sie sich umdrehte und hochblickte, sah sie mehr Wächter als üblich auf der Stadtmauer ihre Runden laufen. Überwachten sie etwa die Geschehnisse auf dem Markt? Das war ja großartig. So musste Leana aufpassen, sofern sie entkam, dass auch von denen keiner sie entdeckte.

Die beiden Wächter schoben Leana im Kriechtempo zwischen den Leuten und bunt überdachten Ständen hindurch. Immer wieder hielten Menschentrauben sie auf. Auch sie schienen den Lärm auf dem Markt zu genießen und es nicht allzu sehr zu bedauern, dass sie nur langsam vorankamen.

Hier ein Stand mit Geschirr aus Messing, dort einer mit verschiedenen Käselaiben, langen Würsten und getrocknetem Gemüse in Öl. An der nächsten Kreuzung war ein Ofen aufgebaut und es duftete nach frischgebackenem Brot, das hinter weißen wehenden Vorhängen in all seiner Pracht des Überflusses aufgereiht lag. Aber wo früher eine Allee von Fischhändlern ihre Stände aufgebaut hatten, war heute nur einer, der bereits seine Auslagen zusammenpackte. Der Duft von gebratenem Fisch hing nur noch als Erinnerung zwischen den Läden. Stattdessen folgte der mit bunten Tüchern geschmückte Stand eines Weinhändlers in der Gasse, der in kleinen, verschlungenen Fläschchen auch allerhand Liköre feilbot. Außerdem waren ungewöhnlich viele Frauen und Kinder unterwegs. Selbst in den Rüstungen der Wachleute steckten mehr Frauen als Männer.

Sie passierten einen Teestand, wo auf bunten Kissen um kleine Tische herum einige Leute beisammensaßen, lachten, sich unterhielten und zu ihren würzig duftenden Tees Kekse, kandierte Früchte und Süßholz serviert bekamen. Gern hätte Leana sich von ihrem letzten Silberstück kandierte Äpfel und karamellisierte Nüsse gekauft. Aber das würde ihre erste Tat sein, wenn sich diese Sache hier aufgeklärt hatte.

»Wo bringt Ihr mich eigentlich hin?«, fragte Leana, weil ihr aufgefallen war, dass sich die Männer immer links hielten. Dieser Weg zum Ufer des Stadtrings, von wo aus Gondeln zum Burgberg übersetzten, war in etwa so geradlinig wie eine eingerollte Schlange.

»Ihr werdet ein schönes Plätzchen im Verlies bekommen. Morgen wird man Euch vor den Kronrat bringen, um zu entscheiden, was mit Euch geschehen soll.«

Auch das noch! Leana wollte eigentlich nur in ihr Bett fallen und ihre müden Füße ausruhen, und jetzt sollte sie noch die Nacht im Kerker verbringen – wo es sogar ungemütlich war, wenn gerade das Schlafstroh ausgewechselt worden war. Der Spaß ging Leana jetzt zu weit.

Leana lächelte schweigend in sich hinein.

Der Ältere bemerkte es. »Was freut Euch denn so?«

»Nichts, nichts.« Leana kam sich hinterhältig vor, weil sie die beiden manipulierte. Andererseits würde sich der Auftrag der beiden auf diese Weise auch am schnellsten lösen und sie konnten in Ruhe zu ihrem Tagewerk zurückkehren.

Der Wächter riss sie herum und sah ihr in die Augen.

Leana lächelte ihn an. Bog den Kopf zurück und reckte die Brust, damit eine der Ketten der koloranischen Kriegerinnen besser sichtbar wurde. Die Kette, an der eine Trophäe hing – der abgeschlagene Fingerknochen einer besiegten Kriegerin.

Seine Augen zuckten zu ihrem Busen. Er erbleichte. »Bei Keliena, ist das ein Finger der Prinzessin?«

Leana grinste und senkte den Blick. »Noch geht es der Prinzessin überwiegend gut«, sagte sie leise.

Der Wächter erlangte seine Fassung wieder. Sein Griff um ihren Arm wurde so fest, dass Leana Mühe hatte, keinen Laut von sich zu geben. Aber wenn sie jetzt jammerte wie eine Adlige, zerstörte sie vielleicht ihren Plan.

»Wir bringen sie direkt zur Königin!«, knurrte er und zerrte Leana und den anderen Wächter herum, nun eher in Richtung Burgberg.

»Nein!« Leana sträubte sich.

Der Wächter kam ihrem Gesicht ganz nah. »Warum denn nicht?«

»Ich … äh …« Tatsächlich fiel Leana nichts ein, aber sein Grinsen sagte ihr, dass es trotzdem funktionierte.

»Dachte ich mir. Die Königin muss erfahren, wo die Prinzessin ist, und zwar so schnell wie möglich!«

Leana war froh, dass ihre List so gut geklappt hatte. Sie würde an ihr Ziel kommen, indem sie das Ziel der beiden Wächter erfüllte.

Obwohl sie sich ab und zu ein bisschen sträubte und so tat, als wolle sie sich losreißen, konnte sie es endlich genießen, über den Tiarinther Markt zu schlendern. Doch nun, da sie sich auf den Markt besinnen konnte, fielen ihr noch mehr Veränderungen auf. An jeder größeren Kreuzung standen Wachleute und im Vorbeigehen bemerkte Leana, dass sie schwer bewaffnet waren.

Sie traten auf den Platz im Zentrum des Marktes, wo das große Wasserspiel Kaskaden des glitzernden Nass in kunstvollen Gebilden gleich großen Blüten in die Luft schleuderte. Früher war das Brunnenbecken vor lachenden Kindern übergelaufen. Heute saß nur ein kleiner Junge auf dem steinernen Rand und sah seinem Freund zu, der mit hochgekrempelten Hosenbeinen im Brunnen stand und ein Holzschiffchen aufs Wasser setzte.

Nun nahmen sie den direkten Weg zum Rand des Marktplatzes und traten bald zwischen den Buden heraus in eine der abgehenden Straßen. Auf ihrem Weg zum Gondelhafen überquerten sie Kanäle und passierten die vielen Wasserspiele und Springbrunnen, die auf jedem größeren Platz glitzernde Tropfen in den schönsten Formationen in die Luft schleuderten. Was wohl die Talyrener für diesen Anblick geben würden? Das Plätschern wurde ergänzt durch Wasserrauschen in den Aquädukten, die zwischen den oberen Stockwerken der Gebäude Wasser transportierten, sodass die dortigen Bewohner aus ihren Fenstern schöpfen konnten wie die Bewohner unten aus den natürlichen Wasserläufen.

Aber viele Fensterläden waren geschlossen, obwohl es gerade Mittag war, und als sie zur Uferstraße abbogen, sah Leana den zerbrochenen Stützpfeiler eines Aquädukts. Aus der höheren Seite plätscherte Wasser aufs Pflaster. Die Straße war rutschig und Leana war froh, dass die beiden Männer sie immer noch festhielten, während sie über die nassen Kopfsteine zum Ufer hinabliefen.

Am Gondeldock schipperten nur vier Gondeln. Während der jüngere Wächter auf ein Nicken des älteren hin Leana vorwärtsschob und ihr behilflich war, in die nächstliegende Gondel zu steigen, ging ihr Begleiter zum nahen Bad des Morgens, von dem zwei Becken in einiger Entfernung in den Hafen mündeten. Natürlich waren zu dieser Jahreszeit nur noch wenige Badegäste draußen. Die meisten bevorzugten den inneren Bereich, wo es Dampfbäder und eine heiße Therme gab. Dazwischen noblere Gastwirte, die in verschiedenen Ständen kandierte Früchte, gewürzte Schokoladen und Tee und Kaffee aus Kopasir oder dem palmenumsäumten Süden von Iliril oder heiße Fladen mit Gemüse und gebratenem Fisch anboten. Die Gondolieri hielten sich zumeist dort auf, wenn sie keine Kundschaft erwarteten.

Bald kam der Wächter mit einem mürrischen Gondoliere wieder und sie setzten über den großen Graben, der den äußeren vom inneren Stadtring trennte. Während der Überfahrt lehnte Leana sich an den Bootsrand und sah ins kristallklare Wasser, das fröhlich an die Bootswand plätscherte. Es war angenehm, eine Weile nicht gepackt und weitergezerrt zu werden. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie die beiden Wächter, die sich unbeobachtet fühlten und sie unverhohlen musterten.

Bevor sie die Straße betraten, die sich um den Burgberg hinauf zum Schloss schlängelte, blickte Leana hinauf. Immer wieder führten kleine Treppen ein Stück höher, die Straßen zwischen ihnen stiegen nur sanft an. Oft wurde die Straße von Wasserfällen durchbrochen, über die sich zierliche Brücken spannten, deren Geländer von der Gischt glitzerten. Vor und nach jeder Treppe und gab es kleine Ausbuchtungen im Weg, in denen Bänke standen und wo man sich im Schatten der Ulmen, Linden und Kirschbäume ausruhen konnte. Viele Bäume trugen ihr Blätterkleid jetzt mit roten und goldenen Einsprengseln. Aber das tat der Pracht keinen Abbruch.

Die Wächter schoben Leana auf die breite Straße und sie machten sich an den Aufstieg. Auf halber Höhe schmiegten sich die Villen des Iliriler Hochadels an den Berg. Die Straße wand sich durch Gärten und Leana meinte noch den sommerlichen Duft von Oleandern und Jasmin in der frischen Brise zu riechen. Links und rechts führten Treppen von der Straße ab, mal hinauf, mal hinab, durch die Gärten und zu den Herrenhäusern. Immer wieder führten auch hier Aquädukte über den Weg, doch hier endeten sie meist in Springbrunnen, da jede adlige Familie ihre eigene Quelle im Haus hatte.

Am frühen Nachmittag erreichten sie die Hochebene, wo über der Stadt das königliche Schloss thronte. Und in seinem Inneren, im Schlossgarten, die Ewige Quelle, die alle Springbrunnen, Aquädukte, ja sogar den See mit kristallklarem Wasser speiste.

Ihre Schritte knirschten über den von Blumenbeeten gesäumten Weg zum Schloss. Auch hier gab es Springbrunnen, Wasserwege und von prallen Blumenkelchen gesäumte Pavillons, in denen man sich niederlassen, die bereitgestellten Getränke und Gebäckstücke genießen und darauf warten konnte, dass man eingelassen wurde. Oder einfach nur seine Ruhe vor dem Trubel der Stadt haben konnte. Viele Studenten der Magierorden kamen hier hinauf, um sich in Lerngruppen zu treffen. Und welch besseren Ort hätten sie wählen können? Leana musste schmunzeln. Nun ja, eines der öffentlichen Bäder wäre auch nicht schlecht, um über die Genussprinzipien der Satena-Anhänger zu lernen.

Sie überquerten die Brücke, den einzigen allen bekannten Zugang zum Schloss. Am offenen Alabasterportal standen vier Wachleute, zwei Männer und zwei Frauen. Kein bekanntes Gesicht darunter. Viele junge Leute in Tiarinth, eigentlich in ganz Iliril, wollten herausfinden, wohin ihr Weg sie im Mannesalter führte. Also dienten sie bei Hofe, verdienten Geld, standen auf eigenen Füßen und konnten in der Zeit darüber nachdenken, was sie mit ihrem Leben anfangen wollten, wo ihre Stärken und ihre Ziele lagen und ob sie in die Fußstapfen der Eltern treten oder eigene Wege beschreiten wollten. Manche blieben ein Jahr, manche fünf, manche für immer.

»Wen bringt Ihr da?«, rief sie einer der Männer an, als sie in Hörweite kamen.

»Wir haben dringende Nachrichten für das Königshaus«, antwortete der ältere Wächter und salutierte.

Mit seinem Speer versperrte eine Wachfrau ihnen den Weg. »Die Königin empfängt heute niemanden mehr.«

Leanas Wächter baute sich vor den anderen auf. »Es geht um das Wohl der Prinzessin. Diese Frau«, er zeigte auf Leana, »weiß, wo die Prinzessin ist, und kann über ihr Wohl bestimmen. Je schneller wir zur Königin kommen, desto besser!«

Leana hatte Mühe, nicht zu schmunzeln. Er wusste ja gar nicht, wie recht er hatte!

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