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Vivacissimo

Vivacissimo · Romane

Ehemaliger Star-Bariton der Wiener Oper findet durch den Gast-Dirigenten aus Oslo zurück ins Leben und zur Liebe - nicht nur für die Musik.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Seitdem ich denken kann, begleiten mich die Geschichten, die ich mir ausdenke. Viele von ihnen wurden begonnen und niemals fertiggestellt. Einige wurden nicht einmal aufgeschrieben. Höhen und Tiefen meines Lebens waren nur mit diesen Mitstreitern meiner Phantasie überhaupt machbar gewesen. So viele Stationen in meinem bisherigen Leben brachten ihre eigenen Geschichten hervor. Dabei fließen selbstverständlich immer viele persönliche Faktoren mit ein. Die Auswirkungen meines Lebens auf die Handlung einer Geschichte und die Auswirkungen der Geschichte auf mein Leben bedingen sich in einer Art, in dem Schreiben für mich zur Therapie geworden ist. Genau deswegen handelt dieses Buch nicht nur von der Musik, die mir seit jeher das Wichtigste war. Sie handelt vom Leben zweier Personen, in deren Gestaltung einiges von mir selbst einfließen konnte. Ob nun Charakterzüge, Unsicherheiten, Wunschdenken, Ängste oder "Was wäre wenn" - diese Charaktere sind ein Teil von mir. Mit ihnen bestreite ich mein Leben, darum ist es nur fair, die Probleme, die diese beiden nun mit auf den Weg bekommen haben, realistisch und behutsam zu bearbeiten. In diesem Buch geht es natürlich um Musik. Um Vorurteile, die feine Gesellschaft, Menschen mit zwei Gesichtern und verworrene Familienkisten. Doch es geht auch darum, Menschen mit ihren Nöten, Sorgen, ihren Traumata und Problematiken im Alltag zu begleiten, die Welt über psychosomatische Leiden zu informieren. Das bin ich meinen Herzens-Charakteren schuldig.

Über den/die Autor:in

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Kathrin Stegmayer wurde 1990 in Baden-Württemberg geboren und lebt seitdem mit Musik auf den Ohren und einem Bleistift in der Hand in vielen verschiedenen eigenen Welten. Aufgrund einer chronischen ps...

"VIVACISSIMO"

von Kathrin Stegmayer

LESEPROBE

Anfang von Kapitel 1: "Begegnungen"

Es gab Menschen, von denen konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es sie wirklich gab.

Menschen, die so in ihrer eigenen Welt lebten, dass sie auf ihre Umwelt allerhöchstens befremdlich und vollkommen rücksichtslos wirkten.

Blind für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen saßen sie mit einer Statur von geschätzt nicht einmal siebzig Kilo schlaksig verteilt auf gut einen Meter achtzig in der zum Bersten vollen Straßenbahn und belegten zwei Sitze.

Von dem vollgepackten Aktenkoffer neben ihm abgesehen, musste das nicht sein. In der Gepäckablage über ihm war genügend Platz. Jeder normale Mensch würde diese dafür nutzen.

Alfred hatte das Gefühl, in der nächsten Kurve gegen einen der anderen stehenden Menschen zu prallen und sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Etwa einhundert Kilo verteilt auf nur knapp einen Meter achtzig würden die anderen Fahrgäste vermutlich stören, wenn sie auf dem Boden lägen. Außerdem besaß Alfred Wunderlich bei solchen Kleinigkeiten einen fast schon übertrieben ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Der blutjunge Mann hätte ohne Probleme stehen und seinen Platz der gebrechlich wirkenden Dame neben Alfred anbieten können.

Als aber an der nächsten Haltestation jemand aufstand und sich durch die Stehenden zwängte, wandte sich eben diese ältere Frau besorgt an Alfred:

„Setzen Sie sich bitte, junger Mann! Sie sehen blass aus, ist Ihnen nicht wohl?“

Soweit kam es noch! Alfred raufte sich innerlich das Haar, lächelte die Frau an und deutete diskret auf den freien Sitz.

„Nicht doch. Das ist ausgesprochen freundlich, aber es geht mir gut. Ich bitte darum, dass Sie Platz nehmen!“

Sie sah ihn zweifelnd an, schenkte ihm ein dankbares Lächeln und ließ sich mit einem Aufatmen auf das Polster sinken.

Den rücksichtslosen Jungspund schien das nicht zu interessieren.

Alfred hatte längst mitbekommen, dass ihn vor allem ältere Damen als charmant erachteten. Ihn dabei als „jungen Mann“ zu bezeichnen, klang in seiner derzeitigen Verfassung mit den tiefen Furchen im Gesicht und den dunklen Ringen unter seinen Augen aber nach bloßer Höflichkeit.

In solchen Situationen fühlte er sich mit seinen vierzig Jahren erstaunlich alt.

Sein Blick lag wieder auf dem jungen Mann mit seinem Koffer. Unberührt von den jüngsten Ereignissen, vermutlich hatte er sie nicht einmal wahrgenommen, sah dieser aus dem Fenster, cremte sich fast schon demonstrativ gründlich die Hände ein und wippte beschwingt mit dem Bein.

Das Kabel von seinem neumodischen Telefon zu den Stöpseln in seinen Ohren schottete ihn komplett von der Außenwelt ab.

Alfred war machtlos gegen die Wut, die in ihm aufstieg.

Es war gar nicht einer dieser typischen Halbstarken, die noch nicht einmal die Güte besaßen, ihre furchtbare Musik leise und für sich zu hören.

Der Aktenkoffer sprach zumindest in Alfreds Augen von einem Mindestmaß an geistiger Reife. Das scheinbar ordentlich gebürstete Schuhwerk aus schwarzem Leder ließ beinahe darauf schließen, dass Alfred sich im Schätzen seines Alters vertan hatte.

Lediglich die jugendlichen Gesichtszüge passten nicht so ganz in das Erscheinungsbild mit dem hellen Hemd, der dunklen Stoffhose und dem kinnlangen, penibel gescheitelten Haar. Trotzdem, ein rücksichtsloser Jungspund, der eindeutig keine Erfahrungswerte im Leben vorzuweisen hatte. Wäre er nämlich nicht noch gänzlich grün hinter den Ohren, würde er sich mit Sicherheit nicht derartig egoistisch in der Öffentlichkeit verhalten.

Insgeheim tippte Alfred in einem Anflug von Wunschdenken auf einen Referendar des Gymnasiums, das von der übernächsten Haltestelle aus gut zu erreichen war. Dann würde er nämlich aussteigen und es wären gleich zwei Plätze frei. Nur ein bisschen schämte sich Alfred, die Dame angelogen zu haben. Es war eine Notlüge im Sinne der Höflichkeit gewesen, dennoch war ihm bei weitem nicht wohl gerade.

Ihm war schwindlig, vor seinen Augen tanzten kleine schwarze Punkte und er hatte das Gefühl, als würde sich ihm gleichzeitig der Magen umdrehen und die Schwerkraft dreimal stärker als sonst auf seine Schultern drücken.

„Entschuldigen Sie“, wandte er sich schließlich in einem Anflug von Mut und Verzweiflung gleichermaßen an den jungen Mann mit dem Koffer.

Alfred hatte wenig Einfluss darauf, wie zittrig und dünn seine eigene Stimme klang, ganz entgegengesetzt zu der fordernden Wut, die er empfand.

„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

Er hatte geplant, dem jungen Mann einiges an den Kopf zu werfen, sollte er sich dafür entscheiden, ihn anzusprechen. Statt eine Szene in der Bahn zu machen, blieb es allerdings bei dieser Frage.

Die Höhe jedoch war, dass der Mann nicht einmal aufsah. Alfred klammerte sich an der Rückenlehne des Sitzes fest, nahm einen tiefen Atemzug und tippte ihm diskret auf die Schulter.

Sofort zuckte er zusammen, fuhr herum und starrte ihn entgeistert an.

Alfred blickte in große schwarze Augen, der verwunderte scheue Blick darin nahm ihm für einen Moment den Atem.

Erst mehrere Sekunden von Alfreds Leid später kam der Fremde auf die Idee, die Stöpsel aus den Ohren zu ziehen.

„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, fragte Alfred erneut, diesmal zwar atemlos, aber doch mit gewissem Nachdruck und er schaffte es beinahe, seine Stimme schneidend und streng klingen zu lassen.

„Selbstverständlich“, sagte der Mann und seine Mundwinkel zuckten kurz, als würde er sich zumindest bemühen, zu lächeln.

Alfred wartete einen Moment. Für einige Augenblicke sahen sich die beiden einfach nur an und das Fiepen in seinem linken Ohr wurde stärker.

Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Wie war es möglich, dass ein einzelner Mensch als eine derartig umfassende Katastrophe geraten war?

Er war ungewöhnlich schön für einen Mann mit seinen makellosen Zügen und der porzellanweißen Haut, aber in diesem adretten Köpfchen schien nicht viel los zu sein, denn der Fremde schien doch gar etwas verwundert, als Alfred schließlich schnaufte und ihn dann schließlich doch ins Bild seiner grenzenlosen Ignoranz rückte:

„Der Koffer!“

Tatsächlich fiel der Blick des Mannes sogleich auf seinen Aktenkoffer, als würde er gar nicht zu ihm gehören. Es dauerte einige weitere Momente, bis er erstaunt die Augenbrauen hob.

„Oh pardon! Natürlich.“

Dann sprang er abrupt auf, um das Gepäckstück vom Sitz zu nehmen und auf die Ablage zu hieven. Alfred konnte es nicht fassen, doch er wollte es mittlerweile auch gar nicht mehr fassen.

Er war lediglich erleichtert, als er endlich auf den freien Platz neben diesem absurden Mann sinken und wenigstens für ein paar Minuten erschöpft die Augen schließen konnte. Ihm war, als würde er trotz der deutlichen Entlastung für seinen Körper jeden Moment ohnmächtig werden.

Er schien sogar schon zu fantasieren; eine Nahtoderfahrung sicherlich, denn für einen Augenblick war er sich sicher, noch Brahms' Deutsches Requiem zu vernehmen, bevor sich der penetrante Duft von Lavendel über seine Sinne legte.

„Nächster Halt: Karlsplatz!“

Die Bandansage aus den Lautsprechern in der Bahn ließ Alfred hochschrecken und er hatte kaum Zeit, sich wieder zu besinnen, nachdem er offensichtlich entweder tatsächlich bewusstlos geworden oder kurz eingenickt war.

Er hatte mehrere Haltestelle verpasst und musste sich erst einmal sammeln. Das Schwindelgefühl war nun weitaus weniger bedrückend, doch noch bevor er wirklich wieder wach war, rührte sich der Mann neben ihm.

„Verzeihung, aber ich muss hier aussteigen.“

Er war schon im Begriff, sich hastig an Alfred vorbeidrängen zu wollen, als dieser sich dazu imstande sah, sich zu erheben.

„Das muss ich ebenso“, murmelte er mehr zu sich selbst und wusste dabei noch nicht einmal, was in ihn gefahren war, dass er sich ohne weiter darüber nachzudenken nach oben streckte, um den Aktenkoffer aus der Gepäckablage zu nehmen und ihn seinem Besitzer in die Hand zu drücken.

„Ich danke sehr“, sagte der Mann und wandte sich um.

„Gern geschehen“, sagte Alfred und folgte ihm.

Die beiden stiegen aus und die Straßenbahn fuhr kurze Zeit später wieder ab. Alfred nickte dem Mann kurz zu und machte sich auf den Weg zur Oper.

„Auf Wiedersehen!“, sagte Alfred und ging hastigen Schrittes seines Weges.

Das sagte man ja so, er persönlich legte keinen Wert darauf, diesem Mann irgendwann noch einmal zu begegnen.

„Einen angenehmen Tag noch!“, sagte der Mann und folgte ihm in einem ähnlich hektischen Tempo.

Ein paar Mal wandte Alfred sich unauffällig um, aber der junge Mann mit dem Koffer lief ihm eindeutig immer noch hinterher. Es dauerte einige Momente, bis Alfred dämmerte, dass der Fremde ihn womöglich gar nicht zum Narren halten wollte, sondern tatsächlich einen ähnlichen Weg hatte.

Schnell begutachtete er den schweren Koffer erneut, um sich zu vergewissern. Aber er war bestimmt nicht von Sinnen, es war in keinem Fall ein Instrumentenkoffer und nicht einmal einem derartig seltsamen Mann traute er zu, dass er darin ein solches verwahrte.

Er beschloss, sich keine weiteren Gedanken mehr über den Mann zu machen, als sich ihre Wege an der Pforte trennten, wo Alfred einen Blick darauf erhaschen konnte, dass sich der Mann lediglich an die Information wandte. Jetzt wurde er dank dieses seltsamen Mannes wohl auch noch paranoid? Nein, das konnte Alfred sich nicht leisten und würde es auch unter keinen Umständen zulassen.

Mit einem tiefen Seufzen schüttelte er den Kopf und besann sich darauf, nun vielleicht endlich zu seinem normalen Alltag zurückkehren zu können.

Es waren exakt diese Tage, an denen sich Alfred wünschte, in seiner Jugend doch die Führerscheinprüfung abgelegt und sich ein Auto angeschafft zu haben.

Manche Menschen waren einfach unmöglich.

(...)

Während er hektisch sämtliche Taschen in der Kleidung nach seinem Schlüssel absuchte, zweifelte Alfred gar einen Moment lang an sich selbst, ehe er doch fündig wurde und mit einem erleichterten Seufzen den Geigenkoffer aus seinem Schließfach nahm.

Eigentlich hatte er ja vermutet, oder zumindest gehofft, dass der Tag ab diesem Zeitpunkt nur noch besser werden konnte, aber schon wenige Momente, nachdem er sich auf seinem angestammten Platz im Probensaal niedergelassen hatte, erwartete ihn ein weiteres Hindernis auf dem Weg zurück in den mittlerweile wünschenswert ereignislosen Alltagstrott.

„Berentz will dich sprechen, hat er gesagt. Er wartet in seinem Büro, hat er gesagt!“, flüsterte Jasper neben ihm, noch bevor er überhaupt seinen Koffer hatte öffnen können.

Alfred sah mit nach oben gezogenen Augenbrauen zu seinem jungen Sitznachbar, der eingehend die Partitur musterte, statt ihn direkt anzuschauen.

„Was ist denn so dringend, dass es nicht bis nach der Probe warten kann? Hat er dir das auch gesagt?“

„N-nein, das hat er nicht gesagt!“, stammelte Jasper und senkte den Blick.

Jasper Sundström war ein überdurchschnittlich begabter Violinist. Ein Wunderkind, das mit zarten zehn Jahren schon ganze Konzertsäle allein gefüllt hatte. Ein Ausnahmetalent, ein Virtuose.

Dass er hier still auf dem Platz neben Alfred saß, kleinlaut in der Partitur blätterte und bei jedem Konzert tadellos in der Menge unterging, sagte sicherlich mehr über die einnehmende Persönlichkeit des Ferdinand Berentz als über den pflichtbewussten Jasper aus.

Dennoch war zumindest Alfred der Überzeugung, dass der werte Herr Direktor Berentz ihm gern persönlich bescheid geben konnte, ohne einen Mann als Boten zu nutzen, den er mit nicht nur um den wohlverdienten Ruhm gebracht, sondern auch derartig klein gehalten hatte, dass ihm selbst dieser unangebrachte Gehorsam wohl nicht einmal weiter auffiel.

„Keine Sorge“, flüsterte Alfred ihm zu und warf einen diskreten Blick auf seine Armbanduhr, „Ich werde später zu ihm gehen. Oder auch gleich, wenn nicht einmal Doktor Marquardt die Güte hat, hier zu erscheinen.“

Es war spät genug, dass die Musiker auf ihren Stühlen langsam unruhig wurden. Immer mehr sahen auf ihre Uhr, auch die Resigniertesten unter ihnen schienen mittlerweile ungeduldig. Als sich die Tür endlich öffnete, wandten sich tatsächlich sämtliche Köpfe unisono dem Eingang zu.

Statt Doktor Marquardt war es Ferdinand Berentz persönlich, der mit langen, festen Schritten den Raum betrat. Das laute Räuspern hätte er sich sparen können, die Aufmerksamkeit aller Personen war ohnehin auf ihn gerichtet.

Zumindest solange, bis Alfred das erstickte Flüstern neben ihm vernahm:

„Mensch, Alfred. Das- das ist Darius Ottesen!“

Alfred runzelte die Stirn. Über Berentz hatte er tatsächlich glatt den Mann übersehen, der ihm scheinbar direkt auf den Fersen in den Raum gefolgt war.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge.

Ferdinand Berentz war betrunken. Das konnte Alfred auf seinem Platz sogar riechen und sicherlich jeder andere, der ihn länger als ein paar Wochen kannte, zumindest sehen.

„Meine Herren! Wenn ich höflichst um Ruhe bitten darf!“

Stille. Für ein paar Momente herrschte Totenstille im Raum.

„Sie sind mit Sicherheit überrascht – lassen Sie mich versuchen zu erklären.“

Alfred konnte Berentz nicht in die Augen schauen. Der Blick in ihnen hatte etwas Wildes in sich, wie ein angestochener Bulle, der panisch Ausschau danach hielt, wann der Stierkämpfer zum nächsten Angriff ausholen würde.

Sein schweifender Blick fiel auf den sogenannten Ottesen, den man laut Jasper anscheinend kennen sollte und hätte in dem Moment nicht Berentz begonnen zu sprechen, wäre Alfred in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Er hatte hier zwar gnädigerweise keine Stöpsel mehr in den Ohren, aber es war ohne Zweifel der Mann mit dem übermäßig schweren Aktenkoffer aus der Bahn.

Das konnte doch einfach nicht wahr sein!

„Meine Herren - Ich bin zutiefst erschüttert. Worte können nicht sagen, wie schmerzlich der Verlust eines solch unvergleichlichen Mannes für uns alle ist. Fast zwanzig Jahre lang war ich ein enger Freund von Doktor Helge Marquardt und ich bin mir sicher, jeder einzelne von Ihnen ist sich seiner unfassbaren Größe und Wichtigkeit für dieses Orchester bewusst gewesen. Mit Gewissheit werden wir alle ihn für immer in der bestmöglichen Erinnerung behalten.“

Alfred erstarrte. Jasper war leichenblass geworden und schien zu zittern.

Berentz hingegen schien seine Worte noch einmal zu überdenken und dann doch noch relativieren zu wollen.

„Ich bin davon überzeugt, dass es noch lange nicht an der Zeit ist, zu zweifeln oder zu verzagen!“, fuhr Berentz fort und legte eine seiner Hände väterlich auf die Schulter des jungen Mannes, der fast schon verschwindend unscheinbar neben ihm stand.

Alfreds Blick lag auf dem Aktenkoffer des Fremden. Derselbe Koffer, den er vor beinahe beachtlich kurzer Zeit selbst in der Hand gehalten hatte. Derselbe Mann, der ihn vor beinahe beachtlich kurzer Zeit schon einige Nerven gekostet hatte. Und ein Name zu diesem hübschen, teilnahmslosen Gesicht.

„Meine Herren – Ich würde euch gern Darius Ottesen vorstellen!“, sagte Berentz und wies fast schon theatralisch auf den Jungspund, der mittlerweile sogar tatsächlich menschliche Regungen zeigte und etwas nervös die Hände ineinander knetete.

Ottesen? Den Namen hatte Alfred noch nie gehört. Jasper hingegen schien es nicht fassen zu können. Er sah zu dem rücksichtslosen Schönling auf, als würde der heilige Geist persönlich vor ihm stehen.

Der Mann, von dem gesprochen wurde, schien zu den Leuten zu gehören, deren Ego ihnen körperliche Schmerzen bereitete, wenn sie lächelten und so versuchte er es wohl nicht einmal. Auch ohne die vorherige Begegnung in der Straßenbahn wäre dieser Ottesen Alfred sofort unsympathisch gewesen.

Ferdinand Berentz hingegen schien aus unerfindlichen Gründen große Stücke auf ihn zu halten, was er den Musikern auch nicht vorenthalten wollte:

„Herr Ottesen leitete zuvor mehrere hochkarätige Gruppen von Musikern in Norwegen und ist nun den weiten Weg von Oslo bis nach Wien gekommen, um den Platz von Doktor Helge Marquardt einzunehmen!“

Aus einer der hinteren Reihen drang erst Gemurmel, dann eine auch vorn sehr gut verständliche Frage:

„Stimmen wir dann jetzt ab?“

Direktor Berentz runzelte die Stirn.

„Es wird keine Abstimmung geben – Ich habe bereits über die Situation entschieden und wer damit ein Problem hat, kann dieses gern schriftlich bei mir in meinem Büro einreichen!“

Nun meldete sich sogar Jasper kleinlaut zu Wort:

„Aber“-

Berentz unterbrach ihn:

„Nichts aber! Wie ich schon sagte: Es ist bereits entschieden!“

Jasper sah hilfesuchend zu Alfred, der es so langsam wirklich nicht mehr fassen konnte. Berentz zog das Stofftaschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich seine Stirn ab, dann sah er noch einmal in die Runde.

„Das ist mein letztes Wort!“

Und damit rauschte er so stürmisch aus dem Raum, wie er ihn schon betreten hatte – und ließ Ottesen allein vor den zu Recht etwas perplexen Musikern stehen.

„Mein Name ist Ottesen“, sagte Ottesen und Alfred musste sich zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen.

Einen derart unbekannten Namen derartig inflationär zu wiederholen konnte man wirklich nur dem üblichen Phänomen des Narzissmus zuschreiben.

Ottesen hatte aber noch mehr zu sagen, während er den Koffer neben Doktor Marquardts Pult stellte und zwischen erstaunlich viel Papierkram dann tatsächlich die passende Partitur für den neuen Job zu finden schien.

„Ich bin nicht Helge Marquardt, das ist mir bewusst. Allerdings-“, er räusperte sich leise, als er weiter in der Tasche kramte und niemanden direkt anblickte, „Allerdings sollte Ihnen, meine Herren, auch bewusst sein, dass ich nicht lediglich der Ersatz für Doktor Marquardt bin!“

Jasper starrte noch immer.

Ottesen beförderte ein schmales Holzkästchen ans Tageslicht, aus dem er seinen Taktstock zog. Als er beim Sprechen die erste Seite der Partitur aufschlug, sah er noch immer nicht nach oben.

„Also meine Herren – wir fangen an! Direktor Berentz setzte mich bereits in Kenntnis über den aktuellen Stand, aber vielleicht sollten wir uns erst einmal kennen lernen.”

Dass er hier einfach herein marschieren konnte und sich ganz ohne eigenes Zutun eine perfekt aufeinander abgestimmte Einheit einverleiben konnte? Alfred hätte gern sehr sehr viele Dinge gesagt und ihn nun tatsächlich alles Mögliche und Unmögliche genannt, doch es herrschte längst gespannte Stille im Raum und sogar Jasper hatte bereits den Bogen gehoben.

Alfred verstand die Welt nicht mehr.

Er hatte es ja immerhin sehr leise und unbemerkt geschafft, zumindest seine Geige aus dem Koffer zu nehmen. Darauf aber nun auch zu spielen kam einem Betrug an dem guten Doktor Marquardt gleich, dem er immer sehr loyal gewesen war.

Allerdings – wie loyal war Marquardt ihnen gegenüber, wenn er nun die Stelle in Deutschland angenommen hatte, sobald sich ihm die Gelegenheit geboten hatte?

Ottesen hingegen schien diese Chance beim Schopf gepackt zu haben.

Und auch wenn es ihm gehörig gegen den Strich ging, Alfred Wunderlich war niemand, der zur Meuterei aufrief.

Seine Wut auf Marquardt allein brachte ihn schon dazu, Haltung einzunehmen und auch noch hastig die Partitur aufzuschlagen.

Sie kamen tatsächlich bis etwa zur Hälfte des dritten Stückes, bevor statt des richtigen Einsatzes die donnernde Stimme von Erwin Gebauer wieder aus einer der hinteren Reihen dröhnte:

„Das ist eine Zumutung! Wir erwarten eine Erklärung, weshalb man uns nicht einmal nach unserer Meinung gefragt hat!“

Ottesen ließ die Arme sinken.

Für einen Moment sah er aus wie ein kleiner Junge, den man ohne Abendessen auf sein Zimmer geschickt hatte.

Kurz wandten sich einige Köpfe zu Gebauer. Der hatte längst das Horn in den Koffer gepackt und marschierte gen Ausgang.

Wie vom Donner gerührt starrte Alfred ihm ungläubig nach, als er ohne eine weiteres Wort aus dem Raum stürmte und die Tür zuschlug.

Jasper zuckte zusammen, sog scharf den Atem ein und wirkte mit zittrigen Händen schon jetzt vollkommen aufgelöst.

Das war ein Statement. Allerdings schien sich ansonsten niemand dieser Rebellion anschließen zu wollen. Alfred ließ hastig doch unauffällig seinen Blick durch die Reihen schweifen und sah in Gesichter, in denen sich seine eigene Einstellung wieder spiegelte.

Sie würden das hier durchziehen. Erwin Gebauer war bekannt für seine Impulsivität. Er würde morgen wieder auf seinem Platz sitzen und niemand würde mehr ein Wort darüber verlieren.

Der einzige, der dies allerdings nicht wusste, war Ottesen – und wenn Alfred sich nicht täuschte, verlangte es ihm einiges ab, nicht auch noch die Fassung zu verlieren.

„Wir machen zwanzig Minuten Pause!“

(...)

In der Pause ging Alfred nach draußen und zog die zerknickte Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche, die er darin vor etwa zwei Jahren verstaut hatte. Sie war bereits geöffnet und es fehlten exakt zwei Zigaretten. Darauf war Alfred zugegeben sogar ein bisschen stolz. Wollte er diesen Triumph über sich selbst nun wirklich nur wegen Ottesen wieder zunichte machen?

Bis vor drei Jahren hatte er zwei Packungen von dieser Sorte an einem Tag leer in den Müll geworfen. Etwa ein Jahr lang hatte er überhaupt nicht geraucht, dann hatte er sich diese Packung zugelegt und seitdem überall mit hin genommen.

Er hatte keinen anderen Menschen um eine Zigarette gebeten. Er hatte in den letzten drei Jahren exakt zwei Zigaretten geraucht. Es waren eindeutig zwei zu viel, aber immerhin war es dennoch besser, als nach einem Fehltritt wieder komplett in die Sucht zurück zu verfallen.

Deswegen behielt er diese komplett zerknitterte Packung in der Tasche; so würde er es im Auge behalten können. Natürlich war er nicht davor sicher, dass sie irgendwann leer sein könnte und er die nächste kaufte – doch da würde sich eventuell wieder entweder der persönliche Ehrgeiz oder die bittere Realität bemerkbar machen.

Das hoffte Alfred zumindest. Doch in Momenten wie diesen schien ihm das Rauchen noch das kleinste Übel.

Er würde vielleicht sogar Tagebuch über die gerauchten Zigaretten führen. Alfred war sich sicher, dass die ersten beiden jeweils einer der Launen von Ferdinand Berentz zum Opfer gefallen waren, die natürlich meist nicht nur den Direktor selbst betrafen, sondern stattdessen immer andere ausbaden mussten.

Die dritte würde mit dem Vermerk „Ottesen“ in das Buch des Versagens eingetragen werden. Aber wenn Alfred ehrlich zu sich selbst war, dann war dieses Scheitern sein eigenes und er war eindeutig zu erwachsen, um einen anderen dafür verantwortlich zu machen.

Hinter ihm öffnete sich die Tür und hinaus trat – wie konnte es anders sein – Ottesen. Alfred wandte sich zu ihm, darauf gefasst, dass er ihn entweder in Ermangelung einer besseren Alternative anschnauzen würde oder ein verzweifeltes Gespräch mit der Bitte um Hilfe suchte.

Allerdings ging er einfach nur hastigen Schrittes an ihm vorbei, den Blick gesenkt und die Hände in den Taschen seiner Hose. So als wollte er nicht gesehen werden und so als würde er schon gar nicht irgendjemand anderen sehen. Er lief in Richtung Parkplatz und Alfred fragte sich für einen Moment, ob er einfach ins Auto steigen und nach Hause fahren würde – aber dann fiel ihm wieder ein, dass Ottesen mit der Bahn gekommen war.

Alfred schaute ihm nur kurz noch hinterher, dann wandte er den Blick mit einem Seufzen wieder auf die Zigarettenschachtel in seiner Hand.

Er hatte nun zwei Möglichkeiten.

Entweder er ging Ottesen hinterher oder er rauchte eine Zigarette. Entweder er versuchte, das in seiner Macht stehende zu tun, um ein großes Fiasko zu verhindern oder er sah zu, wie das Schiff ohne Marquardt als Kapitän versank.

Alfred entschied sich gegen die Zigarette.

Stattdessen sah er sich kurz um, konnte aber niemanden sonst entdecken, bevor er sich zwar fragte, was er da eigentlich tat, sich aber dennoch in Bewegung setzte und zu den Parkplätzen lief.

Dort waren viele Autos aber kein Ottesen zu sehen.

Kurz sah Alfred in Richtung des Weges zur Straßenbahnhaltestelle, aber auch dort kein Ottesen. Ein Glück, Berentz hätte sicher einen riesigen Aufstand gemacht, hätten sie ihn gleich am ersten Tag vertrieben.

Tatsächlich fand Alfred den Mann am nächsten Zigarettenautomaten und fühlte sich mit einem Mal ertappt. Wie sollte er ihm überhaupt erklären, warum er ihm nachgelaufen war? Sollte er sagen: Entschuldigen Sie, Herr Ottesen, aber ich dachte Sie wollen das Handtuch werfen, was ich unbedingt verhindern musste, weil mir doch tatsächlich etwas an diesem Orchester liegt?

Als Ottesen das Rückgeld und die Packung aus dem Automaten nahm und sich danach wieder umdrehte, sahen sie sich für einen Moment lang gegenseitig an. Er öffnete kurz ganz leicht den Mund, wohl um etwas zu sagen, schloss ihn aber unverrichteter Dinge wieder. Und Alfred? Alfred zog den Geldbeutel aus seiner Jackentasche und kaufte sich eine weitere Zigarettenpackung, nur um nicht aufzufallen.

Lieber gab er unnötig Geld aus, als sich dieser Rechenschaft stellen zu müssen. Es wäre doch sehr peinlich, Ottesen von seiner Sorge zu berichten.

Nun besaß er eine noch komplett verschlossene und eine bereits geöffnete Packung minus exakt zwei Zigaretten. Dafür, dass er eigentlich nie wieder hatte rauchen wollen, waren es erstaunlich viele in seinem Besitz.

Zurück vor der Tür zum Gebäude angekommen, hatte Alfred schon bemerkt, dass er nicht einmal Streichhölzer, geschweige denn ein Feuerzeug eingesteckt hatte. Immerhin rauchte er ja sonst nicht. Aber sein Entschluss stand sowieso längst fest:

Er würde sich nicht einfach so von den Umständen unterkriegen lassen. Er würde nicht einfach aufgeben, für was er all die Jahre gekämpft hatte. Weder das Vorhaben, mit dem Rauchen aufzuhören, noch das Orchester.

Ein leises Räuspern war zu vernehmen, dann umgab ihn trotz der frischen Luft wieder der prägnante Geruch von Lavendel. Alfred sah auf und blickte direkt in die schwarzen Augen von Ottesen, der sich ein kleines, zuckendes Lächeln auf’s Gesicht zwang und zögerlich fragte:

„Entschuldigen Sie bitte - Aber haben Sie Feuer für mich?“

Alfred sah ihn an, musterte die schönen Gesichtszüge und das zaghafte Lächeln, das die strengen Sorgenfalten fast verschwinden ließ. Und in diesem Moment wurde ihm fast schon schmerzlich bewusst, dass vor ihm eigentlich nur ein Mensch wie jeder andere stand.

„Nein“, sagte Alfred wahrheitsgemäß und fühlte sich ein bisschen dämlich.

Ottesen musste schmunzeln und gestikulierte vage in die Luft.

„Ich habe kein Feuerzeug bei mir“, sagte er, „Ich rauche für gewöhnlich nicht!“

Alfred musste kurz auflachen. In dieser skurrilen Situation schien es, als wären sich die beiden in dieser Hinsicht gar nicht so unähnlich.

Merklich entspannten sich Alfreds Gesichtszüge ebenfalls zu einem Lächeln. Es fühlte sich wie eine Erleichterung für seine Muskulatur an – da wollte er gar nicht wissen, wie er zuvor dreingeschaut hatte.

„Für gewöhnlich rauche ich ebenfalls nicht“, sagte Alfred erneut die Wahrheit.

Nun war es Ottesen, der amüsiert schnaufte.

Da standen sie nun beide mit Zigaretten, aber ohne Möglichkeit diese anzuzünden.

„Das nächste Mal-“, begann Ottesen und zögerte.

Alfred hob erwartungsvoll eine Augenbraue, lächelte aber sanfter als geplant.

„Das nächste Mal bringen Sie ein Feuerzeug mit und ich biete Ihnen eine Zigarette an?“, schlug Ottesen vor und wirkte mit einem Mal viel weniger wie eine Bedrohung.

Mehr schien er plötzlich wie jemand, der sicherlich seine ganz eigenen Gründe hatte, so zu sein wie er nun mal war. Und jemand, der nun allein gegen eine ganze Gruppe von Leuten stand, die sich alle schon ewig kannten und bei denen er sich erst einmal beweisen musste.

Vielleicht brauchte er da zumindest eine Person, die sich dazu herabließ, nach den anfänglichen Schwierigkeiten erst einmal unvoreingenommen an die Sache heranzugehen.

Ihm war bewusst, dass er ablehnen sollte und das auch würde – immerhin hatte er das Rauchen aufgegeben – aber das ging Ottesen weder etwas an, noch war es gerade von Belang.

(...)

Ottesen blickte auf seine Armbanduhr.

Alfred räusperte sich leise.

Ottesen sah ihn an und Alfred neigte dem Kopf gen Eingangstür.

„Wollen wir wieder?“, fragte er.

Ottesens Lippen zuckten erneut zu einem kurzen Lächeln und er nickte.

Und Alfred fühlte sich seltsamerweise gar nicht so sehr wie ein Verräter an seinem Orchester wie er möglicherweise sollte, als er zur selben Zeit wie Ottesen den Raum wieder betrat. Ein paar Blicke ruhten auf ihnen und als er sich setzte, sah Jasper fragend zu ihm auf.

Aber Alfred lächelte nur still vor sich hin, während er nach seiner Geige griff.

Viel eher fühlte er sich, als hätte er heute in dieser absurden Situation zumindest mal eine gute Tat vollbracht, anstatt einfach wie sonst in solchen Härtefällen üblich frustriert eine Zigarette zu rauchen.

Der Rest der Probe verlief überraschend friedlich und als Alfred schlussendlich zuhause ankam, ging er ohne Abendessen gleich erschöpft zu Bett.

Vor dem Einschlafen sinnierte er über den Sinn und den Unsinn vieler Dinge nach, doch als er die Augen schloss, um diesen ganzen skurrilen Tag endlich hinter sich zu lassen, tauchte hinter seinen Lidern ungefragt das Gesicht von Ottesen auf. Nein, sagte er zu sich selbst. Soweit kam es noch!

Dann schlief er ein und träumte von Beethoven.

Wie bereits erwartet kam Erwin Gebauer am nächsten Tag wieder zur Probe. Wider Erwarten stand anstelle Ottesen jedoch Ferdinand Berentz am Pult und bat ungeduldig um Ruhe. Jasper sah Alfred mit großen Augen an, doch dieser hatte auch keine weiteren Informationen, nur eine unangenehme Vermutung.

„Meine Herren! Meine Herren!“, Berentz klatschte in die Hände, als das allgemeine Gemurmel nicht aufhören wollte.

„Wie Sie alle wissen, ist die nächste Aufführung in fünf Tagen. Das sind fünf Tage, an denen wir uns keine weiteren Verzögerungen leisten können!“

Es wurde still im Raum. Alfred musste husten, aber Berentz beachtete ihn gar nicht weiter. Lediglich Jasper sah ihn besorgt an, aber Alfred rang sich ein müdes Lächeln ab und räusperte sich noch kurz, ehe er es schaffte, sich endlich wieder zusammenzureißen.

Berentz war nüchtern und schien noch mieser gelaunt als zuvor.

„Doktor Marquardt wird nicht zurückkommen“, sagte Berentz.

Aus den hinteren Reihen rief Erwin Gebauer wieder dazwischen.

„Ottesen hoffentlich auch nicht! Ich wäre dankbar für eine endgültige Lösung zu diesem Problem, immerhin haben wir nur noch fünf Tage!“

„Genug!“, rief Berentz mit hochrotem Kopf, „Herr Ottesen wird gleich hier sein. Das ist mein letztes Wort – und Sie, Gebauer, Sie können gern abermals gehen, wenn Ihnen etwas nicht in den Kram passt!“

Es wurde wieder still im Saal, Berentz wischte sich mit dem Taschentuch energisch den Schweiß von den Schläfen, seine Stimme war aber noch immer bedrohlich laut:

„Das gilt für alle – wer etwas zu sagen hat, soll in mein Büro kommen. Ich dulde keine weiteren Vorkommnisse!“

Dann rauschte der Direktor ab und in den Räumlichkeiten brach wieder Gemurmel aus. Alfred schloss für einen Moment mit einem Seufzen die Augen, dann stand er auf und winkte Erwin zu sich, dass er zu ihnen kam. Er zog einen leeren Stuhl heran und setzte sich verkehrt herum drauf, als Alfred ihn bat, kurz bei ihnen zu bleiben.

Natürlich hatte er die Absicht gehabt, mit Erwin über Ottesen zu sprechen, aber nun da er sich in der Lage befand, wollten die Worte nicht so recht aus seinem Mund kommen und er zögerte zu lange auf der Suche nach einer treffenden Formulierung.

„Das war kurios“, sagte stattdessen Jasper, als sie nun alle da saßen und warteten.

„Nun ja“, Erwin zuckte mit den Schultern, zog ungefragt sein Vesper aus der Tasche und biss von seinem Butterbrot ab.

„Es war eher peinlich! Wer hätte gedacht, dass der hochwohlgeborene Ottesen diese – nun ja, fast schon mütterliche Unterstützung von Berentz benötigt, um sich zwischen uns professionellen, kultivierten Menschen durchzusetzen?“

Alfred sagte nichts, sondern trank einen Schluck Wasser, um endlich das unangenehme Gefühl in seinem Hals loszuwerden.

„Du hast es ihm aber auch nicht gerade einfach gemacht“, meinte Jasper leise.

„Nun ja“, Erwin biss nochmal in sein Brot, „Das hat er es uns ja auch nicht – und noch viel weniger Berentz!“

Alfred räusperte sich erneut und meldete sich dann doch zu Wort:

„Vielleicht sollten wir nicht außer Acht lassen, dass uns Marquardt in diese Situation gebracht hat; Niemand sonst.“

Jasper und Erwin nickten beide. Erwin kaute geräuschvoll und sprach weiter, noch bevor er geschluckt hatte, „Ich bin maßlos enttäuscht. Er hätte wenigstens etwas sagen können. Das wäre er uns nach all den Jahren schuldig gewesen!“

Alfred seufzte leise und schraubte den Verschluss der Wasserflasche wieder zu.

„Du hast Berentz gehört“, sagte Alfred, „Marquardt kommt nicht zurück. Was bringt es, wenn wir nun vor lauter Aufregung den Kopf verlieren und dann in fünf Tagen auch noch unser Gesicht?“

„Nun ja – also, nun ja!“, Erwin schluckte und verzog das Gesicht, als würde ihm das Brot nicht mehr schmecken, „Ich dachte du warst derjenige, der den Doktor immer als eine Art zweiten Vater angesehen hat. Und jetzt ist es dir egal, dass ihn da so ein dahergelaufener Hampelmann vertreten soll? Das kaufe ich dir nicht ab, werter Herr Wunderlich!“

Jasper traute sich wohl nicht mehr zu Wort, aber Alfred kam gerade erst richtig in Fahrt:

„Ach und ich dachte ‚der Hampelmann da vorne ist grundsätzlich und jederzeit ersetzbar, solange er nicht komplett taub ist‘ – deine Worte, lieber Herr Gebauer!“

Jasper räusperte sich untypisch laut, sodass sowohl Alfred als auch Erwin sofort zu ihm schauten. Er holte tief Luft und erklärte nüchtern:

„Darius Yngve Ottesen wurde 1990 in Kopenhagen als Sohn einer norwegischen Gospelsängerin und eines dänischen Rockgitarristen geboren. Er wuchs in Oslo auf, wo er an der NMH studierte und schon zu Schulzeiten große Erfolge als Pianist feierte. Nach seiner“-

Erwin unterbrach den Vortrag mit schallendem Lachen:

„Wo hast du das denn her? Und vor allem – warum hast du es als so wichtig erachtet, dass du es gleich auswendig gelernt hast?“

Alfred klopfte Jasper behutsam auf die Schulter und lächelte ihn an.

„Du vergisst, dass wir hier ein wahrhaftiges Genie unter uns haben“, sagte er zu Erwin und zwinkerte Jasper zu, der merklich errötete, „Er hat es wahrscheinlich mal irgendwo beiläufig aufgeschnappt und seitdem nur noch nicht genug freien Platz in seinem klugen Kopf benötigt, um die Information wieder als irrelevant auszusortieren!“

„Bitte was?“, fragte Erwin verwirrt.

Jasper und Alfred lachten beide.

Erwin rollte mit den Augen und stopfte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund.

Dann meldete sich Jasper ein bisschen schüchtern doch wieder zu Wort: „Naja, eigentlich weiß ich das nur, weil ich einige Zeit mit ihm zur Schule gegangen bin."

(...)

Ende von Kapitel 1: "Begegnungen"

Später saß Alfred vollkommen erschöpft in der Bahn nach Hause und hatte so absolut keine Lust mehr, sich das Deutsche Requiem von Johannes Brahms in einem überfüllten Raum zu Gemüte zu führen.

Aber er hatte ja bereits zugesagt und ihm blieb als kleiner Trost auch glücklicherweise noch etwas Zeit zuhause, um etwas zu essen, endlich einen extrem verspäteten Kaffee zu trinken und sich noch etwas zurechtzumachen, bevor sein Vater ihn zum Konzert abholen würde.

Er hatte einen Fensterplatz erwischt und in der leicht spiegelnden Scheibe erhaschte er einen Blick auf sich selbst. Müde sah er aus, erschöpft. Zum Friseur musste er mal wieder und selbst seine Jacke hatte wirklich schon bessere Tage gesehen.

Es half alles nichts. Er würde nicht mehr jünger werden und mit den dunklen Schatten unter seinen Augen sah er schon längst aus wie ein alter Mann, obwohl er sich ja eigentlich in den besten Jahren befinden sollte.

Alfred wandte sich resigniert von seinem Anblick ab und sah auf die Uhr. Mit fast zwei Minuten Verspätung fuhr die Straßenbahn dann endlich vom Karlsplatz ab und er lehnte sich mit einem Seufzen im Sitz zurück.

Besser er ließ die ganze Chose um Orchester, Proben und Ottesen mit dem Verlassen der Bahn am Opernhaus bereitete sich schon mal mental auf das gesellschaftliche Großereignis vor, in das er sich für seinen Vater begeben würde.

„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, fragte eine wohlbekannte Stimme.

Die Bahn war um diese Uhrzeit immer erstaunlich leer und es waren sogar in der näheren Umgebung seines Platzes noch mehrere Sitze frei. Trotzdem wollte sich scheinbar jemand neben ihn setzen und der Geruch von Lavendel war unverkennbar.

„Selbstverständlich“, hörte Alfred seine eigene Stimme sagen, ehe er es sich überhaupt überlegen konnte.

Ottesen wirkte als wäre ihm noch immer etwas elend zumute.

Seinen Aktenkoffer stellte er achtlos auf den Boden und als er sich neben Alfred sinken ließ, traute er sich wohl nicht einmal, irgendetwas zu sagen.

Es war Alfred, der aus reiner Höflichkeit eine Unterhaltung begann, auch wenn ihm eigentlich nicht so recht danach war. Noch weniger fiel ihm irgendetwas Brauchbares ein, über das er reden konnte, aber vielleicht genügte es ja, überhaupt irgendetwas zu sagen.

„Sie hatten übrigens recht“, begann er und fühlte sich ein bisschen dämlich.

Ottesen sah ihn verwundert an. Natürlich konnte er nicht ahnen, welche Sache Alfred da plötzlich wieder aufgriff, nur weil sie ihm gerade in den Sinn kam.

„Viele haben gesagt, ich hätte die Musik aufgegeben, als ich aufhörte zu singen“, fuhr er fort und Ottesen schien aufmerksam zu lauschen.

„Die Kritiker und die Journalisten haben sich – ich bitte um Verzeihung – das Maul zerrissen und anstatt von Fragen wurden Vermutungen gestellt. Ich hatte nie Interesse daran, irgendwelche Urteile zu widerlegen oder Gerüchte zu bestätigen.“

Ottesen sah ihn nachdenklich an, sagte aber noch immer nichts.

„Ich hatte zugegeben das Glück, dass mich mein Vater immer zum Geige spielen verdonnert hat, auch wenn ich mich komplett auf die Gesangsausbildung konzentrieren wollte.“, Alfred musste schmunzeln, „So bin ich auch nicht aus der Übung gekommen, als ich mich für seinen rechtmäßigen Nachfolger auf dem Weg zum selben Ruhm hielt. Worauf ich aber eigentlich hinauswollte“-

Alfred schluckte und holte Luft, „Vorhin befürchtete ich für einen Augenblick, dass Sie nicht wiederkommen würden. Dass Sie aufgegeben hätten“-

Ottesen horchte auf und schnaufte amüsiert.

„Und – und ich bin froh, dass ich mich geirrt habe.“

Klasse, Alfred. Das klang ja mal wieder wahnsinnig professionell. Auf was genau wollte er noch einmal hinaus?

Alfred knetete nervös die Finger ineinander und konnte Ottesen nicht so recht ansehen.

„Lassen Sie sich von dem Gerede nicht den Mut nehmen. Lassen Sie sich von der Öffentlichkeit nicht die Leidenschaft für die Musik nehmen. Und-“

Alfred lachte kurz auf, „Lassen Sie sich am besten nicht von jemandem belehren, der nichts aus seinen eigenen Fehlern gelernt hat!“

Ottesen sah ihn prüfend an, dann blickte er nachdenklich auf seine Schuhe.

Er sagte mehrere Haltestellen lang überhaupt nichts und Alfred verfluchte sich selbst im Stillen. Da war er ja wirklich zur philosophischen Höchstleistung aufgelaufen – nein, nicht im Geringsten. Wenn Ottesen ihn jetzt nicht für komplett dämlich hielt, dann wusste er auch nicht weiter.

„Wenn“-

Alfred zuckte fast erschrocken zusammen, als Ottesen nach diesem rhetorischen Fiasko tatsächlich wieder mit ihm sprach.

„Wenn Sie erlauben, Herr Wunderlich“-

Alfred sah ihn etwas irritiert an, als Ottesen herumdruckste und sich vermutlich aus reiner Höflichkeit nicht getrauen wollte, Alfred darüber in Kenntnis zu setzen, was er von diesem Kauderwelsch eines Ratschlags hielt.

Dann schien er sich die Worte endlich zurechtgelegt zu haben und trotz all seiner Versuche, sich darauf vorzubereiten war Alfred nicht darauf gefasst, was er dann tatsächlich sagte:

„Heute Abend, da – ich meine, es ist recht kurzfristig, aber- aber wenn Sie vielleicht- wir könnten heute Abend- also Sie könnten- eventuell, wenn Sie“--

Alfred starrte ihn wohl so schockiert an, dass Ottesen es nicht für nötig hielt, überhaupt weiterzusprechen. Hatte er das richtig verstanden?

„Verzeihen Sie bitte“, sagte er stattdessen und schien sich in Luft auflösen zu wollen.

„Nein nein“, sagte Alfred schnell, „Kein Grund, sich zu entschuldigen!“

Ottesen sah ihn unsicher an

Nun war es Alfred, der nach Worten rang.

„Heute Abend habe ich bereits etwas vor“, sagte er dann wahrheitsgemäß.

Ottesen nickte hastig, aber er behielt die Fassung.

Mehrere Haltestellen lang verfluchte Alfred die gesamte Welt und ihre unendliche Einfältigkeit, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er diese Situation retten sollte, ohne sich komplett zum Idioten zu machen.

Kurz bevor sie Alfreds Haltestelle erreichten, erhob sich Ottesen unaufgefordert und bewies, dass er wohl auch mit Stöpseln in den Ohren mehr von seiner Umwelt mitbekommen hatte, als Alfred es das letzte Mal für möglich gehalten hatte.

Er fragte sich schon gar nicht mehr, was in diesem Kopf vor sich ging.

Stattdessen hob er den Koffer vom Boden und stellte ihn auf den nun ungebrauchten leeren Platz.

„Ich danke sehr“, sagte Ottesen kleinlaut.

Alfred lächelte hilflos, „Gern geschehen!“

„Auf Wiedersehen“, sagte Ottesen.

Alfred hatte Mühe, die Balance zu halten, als der Zug mit einem Ruck hielt und ihn daran erinnerte, dass er jetzt aussteigen musste.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“, sagte Alfred, als schon die Türen aufgingen, „Wir sehen uns morgen!“

Ottesen nickte mit zuckenden Mundwinkeln.

Hastig stieg Alfred aus der Bahn, die kurz darauf schon weiterfuhr, als wäre nie etwas gewesen. Ein paar Momente stand er noch nachdenklich an der Haltestelle und blickte auf die Schienen.

Dann machte er sich kopfschüttelnd auf den Heimweg.

Manche Menschen waren eben einfach unmöglich. Und ein bisschen machte es Alfred Angst, dass dieser Gedanke nun mit nicht einmal mehr einem Bruchteil der unbändigen Wut behaftet war wie noch vor drei Tagen.

Es gab fürwahr Menschen, von denen konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es sie wirklich gab.

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