Prolog
Ich schnupperte genießerisch. Er roch herrlich lecker. Zimt, etwas Kardamom und sein ganz eigener, herber Geruch ergaben eine Symphonie, die mich jedesmal schwach werden ließ. Niemals zuvor hatte ich jemand kennen gelernt, der so gut roch.
Ich schloss meine Augen und kuschelte mich an seinen warmen, festen Körper. Lag ich in seinen Armen, fühlte ich mich sicher, aufgehoben und so glücklich, dass ich niemals freiwillig diese Umarmung verlassen wollte. Ich konnte gar nicht genug von ihm bekommen. Er bedeutete alles für mich. Und er hatte mich gerettet. Mich und Mia.
Ich öffnete meine Augen wieder und stützte mich auf meinen Ellenbogen ab. Noch einmal wollte ich ihn genau betrachten. Sein Anblick ließ mein Herz überlaufen. Er war schön. Nicht hübsch, nicht gutaussehend, er war schön. Im Schlaf wirkten seine scharf umrissenen Gesichtszüge entspannt, seine Lippen voll und zart geschwungen, seine Wangenknochen wurden durch die leicht getönte Hautfarbe noch mehr hervorgehoben. Für die langen, geschwungenen Wimpern hätte so manche Frau viel Geld liegen lassen und die dichten, geraden Augenbrauen betonten seine hohe Stirn. Sein volles, leicht gewelltes dunkles Haar hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und lag wirr auf unserem Kopfkissen. Am faszinierendsten fand ich jedoch seine Augenfarbe, die ich jetzt leider nicht bewundern konnte. Ich konnte nie genau sagen, welches Blau es war. Die Farben veränderten sich je nach Anlass und Stimmung. Als wir uns vorher geliebt hatten, hatten sie definitiv ein strahlendes Capriblau, heute Nachmittag hatten sie mich zornig in einem tiefen Nachtblau angefunkelt.
Ich legte mich wieder neben ihn. Eigentlich sah er aus wie der junge James Dean. Vor allem in seinem Film „Die Giganten“. Mira und ich kannten die Filme mit James Dean auswendig. Wir schauten sie uns auf Netflix bei Liebeskummer, schlechten Noten oder depressiven Stimmungen an. Und schmolzen dahin.
Ich kuschelte mich so dicht wie möglich an ihn, zog tief seinen Duft ein und fuhr mit meiner Hand über seine herrliche stahlharte Brust. Seine Haut war samtweich, die Muskeln darunter gut ausgebildet. Er war einfach unglaublich. Aber er hatte einen riesengroßen Makel, er war ein Engel.
Mein Herz fühlte sich schwer und verletzt an. Er hatte mir von Anfang an gesagt, dass unsere Liebe keine Zukunft haben würde. Aber ich konnte nicht anders, meine Liebe ließ keinen anderen Weg zu. Jede Minute, jede Stunde, jeden Moment in seiner Gegenwart hatte ich aus vollen Zügen genossen. Jeden Gedanken daran, dass es unausweichlich enden würde, hatte ich beiseite geschoben. Und nun war es soweit. Die letzten Minuten hatten begonnen.
Wenn es hell werden würde, musste ich zurückkehren. Ich konnte und durfte nicht bei ihm bleiben. Tränen stahlen sich in meine Augen und liefen dann langsam über mein Gesicht. Unwirsch wischte ich sie mit einem Zipfel der weichen Decke weg. Wenn ich diesen Tränen nachgab, würde ich nie wieder aufhören können, zu weinen. Denn am liebsten würde ich mich zusammenkringeln und stöhnen, schreien und schluchzen. Doch nichts davon würde ich tun.
Ich würde meinen Engel nun so lange küssen, bis er aufwachte. Dann würden wir uns vielleicht noch einmal lieben oder uns nur in die Augen sehen und uns stumm unsere Liebe spüren lassen. Und dann würde ich mich wie ein erwachsenes Mädchen anziehen und ihn und damit alles, was mir hier etwas bedeutete, verlassen.
Ach Mia, wie konnte uns das alles passieren, warum war ich so dumm gewesen.
Als alles noch gut war
Singend stürmte ich die Treppe unseres Hauses hinunter. Heute war ein wichtiger Tag. Ich hatte meine Kurzgeschichte bei einem Wettbewerb der Bibliothek in unserer Stadt eingereicht. Zwar hatte ich nicht erwartet, dass ich gewinnen würde, aber innerlich hatte ich natürlich gehofft, einen vorderen Platz zu belegen. Und das war nun möglich geworden. Zumindest hatte ich eine Einladung bekommen, einige Seiten meiner Kurzgeschichte vorzulesen.
„Jill, warte, ich will mitgehen. Hast du das vergessen?“ Meine Zwillingsschwester hatte die Küchentür aufgerissen und schaute mir mit einem Glas Wasser in der Hand entgegen. Niemand würde auf die Idee kommen, dass wir Zwillingsschwestern sind. Mia hatte Modellmaße, sah unglaublich gut aus und war dazu noch wahnsinnig intelligent. Gut, intelligent war ich auch, doch von unglaublich gut aussehend war ich weit entfernt. Ich hatte lange, kastanienbraune Haare, die mir bis zur Hüfte reichten und so unpraktisch waren, dass ich sie immer irgendwie hochsteckte. Aber abschneiden wollte ich sie auch nicht lassen. Meine Haare waren wahrscheinlich das interessanteste an mir. Wenigstens hatte ich Jills Größe, aber leider nicht ihre Fähigkeit, alles essen zu können, ohne ein Gramm zuzunehmen.
Aber das war jetzt alles egal, ich musste dringend los, zu spät kommen, wollte ich auf keinen Fall.
„Wenn du mit willst, dann komm. Ich kann nicht warten.“ Atemlos rannte ich an ihr vorbei, nahm von der Garderobe meine Jeansjacke, zog meine Sneakers an und öffnete die Haustür.
„Jetzt warte doch!“, schrie Mia mir hinterher und wedelte mit Mamas Autoschlüssel. „Ich hab ihn ihr abgeluchst. Wir fahren!“
Abrupt blieb ich stehen. Wie hatte Mia das bloß hinbekommen. Mama rückte ihr Auto eigentlich nur im Notfall raus. Aber mir konnte das egal sein. Wir fuhren mit dem Auto und kamen deswegen pünktlich an der Bibliothek an. Wie immer, wenn ich das Gebäude sah, war ich irgendwie stolz, dass in meiner Stadt ein so imposantes Gebäude die Bibliothek beherbergte. Sie war quasi meine zweite Heimat. Seit wir vor einigen Jahren in Rom waren, sah ich eine Ähnlichkeit mit dem Palazzo Valentini. Natürlich nur die Hausfassade. Drinnen nahm einen die Atmosphäre der Bibliothek völlig gefangen, so dass das etwas marode Treppenhaus und die vergilbten Tapeten nicht mehr so auffielen. Wir fanden ganz in der Nähe einen Parkplatz und liefen mit eiligen Schritten in Richtung Eingang.
Vor der Bibliothek hatte sich eine lange Schlange gebildet. Die meisten trugen eine Mund-Nasen-Bedeckung, schließlich konnte man alte Gewohnheiten nur schlecht ablegen. Obwohl die Pandemie zumindest auf dem Papier zu Ende war, wollten viele das nicht wahrhaben. So scheinbar auch der Veranstalter des Kurzgeschichtenwettbewerbs, denn ein Schild am Eingang informierte darüber, dass sowohl Maskenpflicht im Gebäude sei als auch nur geimpfte Personen eintreten durften.
Mia und ich schauten uns ratlos an. Hatten wir es doch zwei Jahre lang geschafft, dieses Thema zu umgehen. Frau Gerber kam auf uns zu und winkte mit den Armen.
„Jill, beeil dich, du musst dich vorbereiten. Du kommst als Zweite dran!“
„Hallo Frau Gerber! Aber - ich darf das Gebäude nicht betreten.“ Ich zeigte empört auf das Schild vor dem Eingang.
Frau Gerber trete sich um, las das Schild und schaute uns dann an.
„Ihr seid noch nicht geimpft?“ Ein ratloser Ausdruck trat in ihr Gesicht.
Mia schüttelte den Kopf.
„Wir sind nicht geimpft. Aber für Jill ist es ungeheuer wichtig, heute teilzunehmen. Sie würde leichter einen Studienplatz bekommen, wenn sie unter die ersten drei Vorleser kommen würde.“
„Tja, was machen wir jetzt bloß?“
„Lassen Sie uns bitte so rein. Ich verspreche Ihnen, dass wir anschließend zum Impfen gehen werden“, erwiderte ich ohne zu zögern.
Mia schaute mich entsetzt von der Seite an.
„Dein Ernst?“ fragte sie mich fassungslos.
Ich nickte. „Mein Ernst.“
„Also gut. Ich werde das so dem Impfzentrum melden. Ihr lasst euch innerhalb der nächsten drei Tage impfen.“ Frau Gerber schaute uns eindringlich an, drehte sich um und winkte uns zu, mitzukommen.
Erleichtert betrat ich die Bibliothek, Mia schlurfte neben mir her.
„Spinnst du? Wir haben uns doch nicht zwei Jahre erfolgreich ums Impfen gedrückt, damit du jetzt innerhalb weniger Minuten dem Impfen zustimmst?“ Mia war ganz blass im Gesicht und schüttelte immer wieder den Kopf. „Das kannst du nicht machen.“
„Reg dich nicht auf. Hauptsache wir sind drin und ich kann meine Kurzgeschichte vorstellen. Und dann sehen wir weiter.“
Ich hastete die Stufen in das nächste Stockwerk hoch. Die Türen zum großen Saal wurden gerade geschlossen. Mia und ich quetschten uns geradeso noch durch und setzten uns in die hinterste Reihe.
Ich staunte. Der Saal war voll besetzt, eine Fernsehkamera war vor dem Podium aufgebaut und sogar einige Reporter mit Fotoapparaten hatten sich an der Seite positioniert. Mein Herz klopfte vor Aufregung, ich tastete nach Mias Hand. Sie drückte meine Hand leicht, tätschelte mit ihrer anderen meinen Handrücken und setzte sich mit geradem Rücken in ihrem Stuhl zurecht.
Misstrauisch blinzelte ich zur Seite, ich wollte prüfen, ob sie wegen der Impferei noch sauer auf mich war. Aber es war wie immer, wir konnten selten lange aufeinander böse sein. Sie lächelte mich beruhigend an. „Sei ganz du. Und lächle beim Vorlaufen. Du rockst das!“
Nun wurden auf der Bühne die Namen der Teilnehmer und die Titel ihrer Kurzgeschichten vorgelesen. Von knapp 250 Einsendungen waren 10 ausgewählt worden. Und wir hatten nun die Ehre, einen Teil unserer Geschichte vorzulesen.
Der erste Teilnehmer wurde auf die Bühne gerufen. „Tim Mahler, 20 Jahre alt. Er wird uns aus seiner Kurzgeschichte „Die ersten Tage im Herbst“ vorlesen.“ Tim erhob sich und marschierte selbstsicher zur Bühne. Kaum hatte er oben Platz genommen, wurde der Saal leicht abgedunkelt und Tim saß in einem helleren Lichtkegel. Ohne zu zögern begann er zu lesen. Es war mucksmäuschenstill geworden.
Ich rieb aufgeregt meine kalten Hände aneinander. Tims Stimme rauschte an mir vorbei. Ich bekam nichts von dem mit, was er las. In meinen Ohren rauschte es, mein Mund war staub trocken. Der donnernde Applaus ließ mich aufschrecken, anscheinend war Tim mit seiner Lesung fertig, denn er stand vor dem Pult auf der Bühne und verneigte sich mehrmals.
Die Moderatorin bedankte sich bei ihm und rief dann meinen Namen auf. „Als nächste Leserin darf ich Jill Behreiter zu mir auf die Bühne bitten. Jill ist 19 Jahre alt und liest aus ihrer Kurzgeschichte „Das Denkmal der anderen“ vor.“
Mia stupste mich in die Seite und raunte mir zu: „Los, zeig es allen, na mach schon.“ Grinsend drückte sie nochmals meine Hand und dann versuchte ich mit einem souveränen Lächeln im Gesicht auf dem Weg zur Bühne mich nicht ganz zum Affen zu machen.
Oben angekommen, nickte ich dem Publikum zu und setzte mich dann hinter das Pult. Die Gesichter der Menschen verschwammen zu einer grauen Maske. In meinen Ohren dröhnte es wieder, ich hatte das Gefühl, gleich von meinem Stuhl zu kippen. Mit zitternden Händen nahm ich die Seiten zur Hand und schlug die markierte Seite auf. Ich würde mittendrin beginnen, an einer Stelle, die mir besonders gut gefiel.
„Die Bergspringer scharten sich um Jean, versuchten ihm aufzuhelfen, aber er wehrte sie mit schmerzverzerrter Miene ab.“ Sobald ich den ersten Satz gelesen hatte, versank ich in meiner Geschichte und nahm um mich herum nichts mehr wahr. Erst als ich am Ende meiner Lesung angelangt war, tauchte ich wieder auf und schaute zum Publikum. Stille, keine Hand regte sich, Panik stieg in mir hoch. So schlecht war es doch auch wieder nicht gewesen.
Mit weichen Knien stand ich auf und trat an den Rand der Bühne, als donnernder Applaus aufbrandete. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Also doch nicht so schlecht. Grinsend verneigte ich mich und verließ mit schnellen Schritten die Bühne. Mia erwartete mich schon ungeduldig in unserer Stuhlreihe und fiel mir um den Hals. “Das war super! Ich bin so stolz auf dich, Jill!“ Sie drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange, dann mussten wir uns gedulden. Acht weitere Autoren gaben ihr Bestes, danach war Pause, denn die Jury würde noch am selben Tag abstimmen.
Nach der Pause, die sich endlos lang hingezogen hatte, saßen wir erwartungsvoll auf unseren Plätzen. Ich hatte meine zitternde Hand in Mias geschoben, die sie immer wieder beruhigend drückte. Mir war ganz schlecht vor Aufregung.
Es wäre für mich so wichtig, heute einen guten Platz zu belegen. Meine Wunschuni stand auf solche Meilensteine und je mehr Literaturerfolge ich nachweisen konnte, desto höher stiegen meine Chancen, einen dieser heißbegehrten Studienplätze zu ergattern.
Die Moderatorin betrat die Bühne, die Fotografen stellten sich wieder in Position, es ging los.
„Alle, die heute hier lesen durften, können stolz auf sich sein. Sie haben schon viel erreicht. Wir waren von allen Kurzgeschichten sehr begeistert. Daher fiel es uns sehr schwer, eine Gewichtung vorzunehmen. Wir haben es aber geschafft.“
Applaus brandete auf, die Moderatorin hob beschwichtigend eine Hand.
„Bevor die Spannung ins Unermessliche steigt, beginnen wir mit dem dritten Platz.“ Sie machte eine theatralische Pause und schaute zu den Zuschauern hinunter.
„Den dritten Platz belegt“, sie macht wieder eine kleine Pause, in der mein Herz zur absoluten Höchstform auflief. „Den dritten Platz belegt Manuela Kieninger.“ Tosender Applaus erklang, als die Aufgerufene zur Bühne hochging und ihre Urkunde und einen Buchpreis erhielt.
„Ich halt es gleich nicht mehr aus,“ stöhnte Mia und hibbelte auf ihrem Stuhl herum. „Du kannst jetzt Zweite oder Erste werden.“
Ich nickte nur stumm und schaute gebannt auf die Bühne.
„Den zweiten Platz belegt Timo Streicher.“
Ich kniff meine Augen zusammen. Ob jetzt noch mein Name kam? Oder ich ging leer aus und der ganze Aufwand und das Impfversprechen Frau Gerber gegenüber waren völlig umsonst gewesen.
„Jetzt darf ich um absolute Stille und höchste Aufmerksamkeit bitten: Den ersten Platz belegt ein Schreibtalent, dessen Weg wir seit einiger Zeit beobachten. Wir sind sehr stolz darauf, ihr den Preis einer zweiwöchigen Schreibwerkstatt bei einem namhaften Autor überreichen zu können. Bitte kommen Sie auf die Bühne, Jill Behreiter.“
Ich fasste es nicht, mir wurde schwarz vor Augen und dann brach der Jubel neben mir aus. Mia kreischte in mein Ohr, dass sie nichts anderes erwartet hätte, die Leute standen auf und klatschten und ich versuchte nach vorn auf die Bühne zu gelangen.
Mit zitternden Händen nahm ich einen kleinen Blumenstrauß und ein großes Kuvert entgegen, in dem die Unterlagen zur Schreibwerkstatt steckten. Ich hauchte ein „Dankeschön“ und ein „Mir fehlen die Worte“ ins Mikro und verließ eilig die Bühne.
Mia kam mir schon winkend entgegen, wir hakten uns unter und verließen mit den anderen Gästen den Saal. Vor der Tür wurden wir von Frau Gerber erwartet. Sie gratulierte mir beiläufig, teilte uns sofort ihr Hauptanliegen mit. „Ich habe eure Adresse an das mobile Impfteam weitergeleitet. Ihr bekommt in den nächsten drei Tagen Besuch zum Impfen.“
Mir wurde heiß, vor allem, als ich Mias Blick auf mir ruhen fühlte. Wir waren dieser Impfgeschichte seit gut zwei Jahren gekonnt ausgewichen. Wir gehörten nicht zur Risikogruppe dieser Krankheit, waren gesund, achteten auf unsere Ernährung und sahen deswegen keinen Grund für diese Impfung. Obwohl sicher schon 90% aller Einwohner unseres Landes geimpft waren, gab die Regierung keine Ruhe. Alle mussten in ihren Augen diesen Impfstoff erhalten.
Tatsächlich war dieser aber mit hohen Risiken verbunden. Es traten viele Nebenwirkungen auf, einige blieben den Geimpften ein Leben lang erhalten. Mama, als Krankenschwester, berichtete zum Teil gruselige Geschichten darüber. Deshalb hatten Mia und ich entschieden, dass wir davon die Hände lassen würden.
Und jetzt hatte ich uns verraten. Wegen dieser Kurzgeschichtensache. Meine Euphorie war wie weggeblasen. Augenblicklich stieg ein unangenehm brennendes Gefühl aus meinem Magen in Richtung Speiseröhre hoch.
Ich packte Mia am Oberarm, raunte Frau Gerber ein „Alles klar!“ zu und eilte mit meiner Schwester hinaus in die frische Luft.
„Mia, bitte, sei nicht böse. Wir kriegen das irgendwie hin. Ich wollte die Impfung nicht wirklich.“
Mia sah mich streng an. „Das kriegst du diesmal nicht hin. Wie auch? Das mobile Impfteam ist auf uns angesetzt, da kommen wir nicht mehr raus.“ Sie schüttelte traurig ihren Kopf. „Fast hätten wir es geschafft. Die Pandemie ist praktisch vorbei. Nur noch wenige Wochen, dann wäre auch das Impfen vorbei gewesen. Tja, jetzt sind wir halt auch dran.“
„Mia, bitte“, flehte ich.
Sie schaute mich aus wässrigen Augen an, dann lächelte sie und sagte: „Komm, wird schon gut gehen. Lass uns heimfahren, Mama ins Auto laden und dann gehen wir zum Italiener. Das müssen wir mit einer großen Pizza feiern.“
Und wie immer, wenn wir drei bei unserem Lieblingsitaliener saßen, prosteten wir uns mit einem Glas Prosecco zu und sagten immer denselben Trinkspruch: auf uns drei Frauen und auf Papa. Unser Papa war an solchen Abenden immer dabei. Mama hatte unseren Papa während eines USA-Aufenthaltes kennengelernt. Sie nahm dort an einen Kongress für Krankenschwestern teil, die an speziellen Beatmungsgeräten geschult waren. Papa besuchte damals einen Freund, der genauso wie er als US-Soldat gerade von einem Einsatz aus Afghanistan zurückgekommen war. Papa unverletzt, sein Freund schwersttraumatisiert. Papa und Mama trafen in der großen Eingangshalle des Mount Sinai Hospitals aufeinander und laut ihrer Erzählung konnte sie nicht anders, sie blieb in den USA, baute sich mit Papa ein schönes Leben auf und wir kamen dort zur Welt. Mama wollte für uns sowohl deutsche als auch amerikanische Namen, so wurde aus meiner Schwester Mia und aus mir Jill. Die ersten Jahre unserer Kindheit lebten wir völlig unbeschwert in einem riesigen, alten Holzhaus, waren eine glückliche kleine Familie, bis Papa von einem Einsatz nicht mehr zurückkam. Ein Rebellenüberfall in Afghanistan hinterließ 23 tote Us-Soldaten. Darunter Papa. Und Mama war so verzweifelt, dass wir innerhalb weniger Wochen zurück nach Deutschland gezogen sind. Seitdem leben wir 3 Frauen in unserem kleinen Haus, versuchen Mama, die noch immer als Krankenschwester auf der Traumastation arbeitet, so gut es geht zu unterstützen und ihr so wenig Ärger wie möglich zu machen.
Und heute war mir ein wichtiger Schritt in eine Zukunft gelungen, wie ich sie mir seit meiner Kindheit vorgestellt habe. Meine Freude darüber war überbordend, vor allem seit ich den Stolz darüber in Mamas Augen gesehen habe.
Das Unheil nimmt seinen Lauf
Drei Tage später schöpften wir Hoffnung. Das Impfteam hatte noch nicht geklingelt. Vielleicht kamen wir noch einmal davon. Ich hatte in den letzten Tagen meine Unibewerbungen fertig gemacht, Mia hatte die letzten Formalitäten erledigt, sie würde diesen Sommer nach Amrum gehen, um dort in der Tierrettungsstation mitzuarbeiten. Und wenn unser Wunsch in Erfüllung ging, würden wir beide im Herbst beginnen zu studieren, ich Literatur und Medien, Mia Design und Gestaltung.
Mama musste heute wieder eine Doppelschicht arbeiten. So hatten Mia und ich es uns auf unserer großen Couch im Wohnzimmer bequem gemacht, eine Schüssel Popcorn bereitgestellt und wollten mal wieder einen James Dean Film anschauen, als es klingelte. Sofort überzog sich mein Körper mit Gänsehaut, ich begann schneller zu atmen. Mia hatte sich neben mir versteift und starrte in Richtung Haustür.
Wir schauten uns an, beide waren wir wachsbleich. Ich stand auf, straffte meine Schultern und ging zur Haustür. Ich wollte sie gerade öffnen, als von außen dagegen gepocht wurde und eine Stimme laut rief: „Jill und Mia Behreiter, machen Sie die Tür auf. Wir wissen, dass Sie zu Hause sind.“
Wir kamen doch nicht davon, das hörte sich nicht gut an. Das Impfteam stand vor der Tür. Langsam öffnete ich sie einen spaltbreit und schaute hinaus. Der Anblick war wie aus einem ultragruseligen Sciencefiction. Zwei Menschen standen vor der Tür, beide in weiße Astronautenanzüge gehüllt, über den Kopf so etwas ähnliches wie Imker immer tragen. Auf dem Gehweg parkte das große Impfmobil.
Zögerlich machte ich die Tür weiter auf, die sofort von außen ganz aufgedrückt wurde. „Na endlich. Wir haben nicht ewig Zeit. Wo können wir impfen?“ Einer der beiden trug ein weiß-rotes Köfferchen und drängte sich an mir vorbei. Stumm zeigte ich ihm den Weg zum Wohnzimmer, in dessen Tür Mia mit verschränkten Armen lehnte.
Mit wenigen Handgriffen hatte einer der Beiden auf unserem Couchtisch Popcorn und Getränke zur Seite geschoben, Desinfektionstücher und Spritzen bereitgelegt und uns näher gewinkt.
„Bevor Sie anfangen müssen Sie uns aber über die Risiken dieser Impfung aufklären,“ sagte Mia ernst.
„Da gibt es nichts zum Aufklären, alles ist schon so oft gesagt worden, jeder weiß es.“
„Macht euern rechten Oberarm frei, wir haben noch mehr zu tun, als hier mit euch rumzustehen.“
„Jill, ich will das nicht. Es gibt so viele Nebenwirkungen, einige in unserem Alter sind ins Koma gefallen, manche gestorben.“
Mia schaute mich verzweifelt an. Einer der Männer packte Mias Oberarm und drehte ihn etwas nach hinten, der andere zog in einer rasenden Geschwindigkeit die Spritze auf und spritzte, ohne vorher die Stelle zu desinfizieren, das Mittel in Mias Oberarm.
Sie schluchzte auf, riss ihren Oberarm aus der Umklammerung und rannte aus dem Zimmer. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe, nach kurzer Zeit knallte ihre Zimmertür zu. Ein entsetzliches Gefühl des Ausgeliefertseins machte sich in mir breit, meine Augen füllten sich mit heißen Tränen.
Ich wehrte mich nicht, ließ alles klaglos über mich ergehen, schaute zu, wie die beiden ihren Koffer packten und grußlos aus unserem Haus verschwanden. Die einkehrende Stille legte sich dröhnend über mich, ein Gefühl nahenden Unheils umklammerte mein Herz. Ich räusperte mich, um die Stille zu durchbrechen. Dann stand ich auf, ich wollte nach Mia sehen.
3 Wochen später
Mein Kopf lag auf Mias Zudecke, meine rechte Hand umklammerte ihre linke. Ich war so müde, dass ich das Gefühl hatte, tonnenschwer zu sein. Ich verbrachte seit 2 Wochen praktisch Tag und Nacht bei Mia, nur die Stunden, die unsere Mama zwischen ihren Schichten im Krankenhaus bei Mia war, nutzte ich, um kurz heimzufahren, zu duschen und etwas Frisches anzuziehen.
Es war gekommen, wie Mia es geahnt hatte. Es ging ihr nach der Impfung nicht gut, eigentlich täglich schlechter, bis sie morgens bewusstlos in ihrem Bett lag. Mama hatte schnell reagiert und den Rettungsdienst geholt. Leider konnten sie für Mia nichts tun, genauso wenig wie für die anderen Impfopfer. Sie lag nun seit zwei Wochen unbeweglich im Koma. Und keiner konnte uns sagen, wie es weitergehen würde. Die Ärzte taten alles für sie, aber sie hatten keine Ursache gefunden, also konnten sie auch keine Therapie beginnen.
Mama und ich waren so hilflos, unser Leben war von einem Tag auf den anderen ein völlig anderes geworden. Und ich war schuld. Hätte ich nicht an diesem Kurzgeschichtenwettbewerb teilgenommen, wären wir niemals in dieser Situation gelandet.
Meine Augen brannten. So viel, wie ich in letzter Zeit geweint hatte, soviel hatte ich all die Jahre zusammen nicht geweint. Ich fühlte mich so schlecht, so furchtbar, so allein. Meine Zwillingsschwester, von der ich je kaum getrennt gewesen war, war nicht mehr an meiner Seite. Sie lag in diesem Krankenhausbett, weiß wie ihre Laken, völlig bewegungslos und ihre Seele war irgendwo.
Ich redete mit ihr, erzählte ihr Geschichten, beschwor sie, zu mir zurückzukommen, mich nicht alleine zu lassen. Ich brauchte meine Mia. Aber keine Reaktion. Sie lag da, ihr wunderschönes Gesicht wie eine Skulptur von Michelangelo, ihre schwarzen Haare standen verstrubbelt in alle Richtungen von ihrem Kopf ab.
Auf der Station wurde es langsam ruhiger, die Abendroutine ging ihrem Ende zu, die Lichter wurden gedimmt, Schlafenszeit. Aber meine Mia schlief doch schon seit Wochen, sie brauchte die Nacht nicht zum Schlafen.
Schon wieder kamen mir die Tränen. Ich richtete mich auf und nahm ein Taschentuch von ihrem Nachtschränkchen. Dabei kreiste ich leicht mit den Schultern, die von meiner unmöglichen Lage auf Mias Bett völlig verspannt waren.
Leise ging die Tür auf.
„Hallo Jill, ich wollte kurz nach euch schauen.“ Jens, mein Lieblingspfleger kam ins Zimmer. Er hatte Ähnlichkeit mit Pinocchio, aber mit einer normal langen Nase. Er war super nett zu uns. Und redete total normal mit Mia, die er immer „Herzchen“ nannte.
Jens kontrollierte die Mias Vitalfunktionen, stellte die Geschwindigkeit der Infusion nach, an der sie hing und schaute mich dann mit ernstem Gesicht an.
„Jill, so kannst du nicht weitermachen. Du lebst ja praktisch hier im Krankenhaus.“
Ich schaute ihn hoffnungslos an. „Was soll ich deiner Meinung nach machen? Heimgehen und mein Leben weiterführen? Während meine Mia hier zwischen Tod und Leben dahinvegetiert?“
Jens schaute Mia an. Er schwieg, schien ernsthaft über das, was ich gesagt hatte, nachzudenken.
„Ich komme am Ende meiner Schicht nochmal zu euch. Vielleicht können wir dann über etwas reden, das ich in letzter Zeit immer wieder gehört habe.“
Fragend zog ich meine Augenbrauen nach oben und kniff meine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Aber ich schwieg und ließ ihn ungefragt das Zimmer verlassen.
Erschöpft legte ich meinen Kopf wieder auf Mias Zudecke und schloss die Augen. Nie wieder konnte es so werden, wie früher. Wir beide ein Dreamteam. Wir hatten unser Leben gemeinsam gelebt, am Leben der anderen intensiv teilgenommen und keinerlei Geheimnisse voreinander gehabt. Mia war meine Seelenschwester.
„Bitte Mia, bitte bitte, komm zu mir zurück. Ich kann ohne dich an meiner Seite nicht leben. Du kannst nicht einfach irgendwohin verschwinden. Wo verdammt noch mal bist du?“
Tränen strömten aus meinen Augen. So leer, so hoffnungslos hatte ich mich noch nie gefühlt. Was sollte werden, wenn Mia tatsächlich nicht mehr zurückkam. Was sollten Mama und ich ohne Mia machen, ohne sie weiterleben, ohne sie ohne sie ohne sie?
Ich spürte, wie meine Augen immer schwerer wurden, wie ich langsam in den Schlaf hinüberglitt.
Mia
Es tut so weh, es zerreißt mich, meine geliebte Schwester so leiden zu sehen. So gerne würde ich ihr sagen, dass sie sich nicht sorgen soll, dass es mir gut geht, dass ich keine körperlichen Schmerzen habe, dass für mich gesorgt wird. Ich schwebe im lichten Grau des Morgens, bevor ich meine Augen öffne. Wie immer versuche ich diesen Moment festzuhalten, bevor ich in das Licht des Tages gehe und meine Wanderung fortsetze. Meine Tage, wie viele es jetzt wohl schon sind, sind hell, ruhig und irgendwie beruhigend. Ich fühle mich wohl, gehe meinen Weg und bin neugierig, was alles noch kommt. Vielleicht kann ich zurückgehen, wenn es mir hier nicht mehr gefällt und eine andere Tür öffnen.
Es waren so viele Türen, ich hatte mich entscheiden müssen. Und ich hatte mich entschieden, für eine Tür, die mit hellen, zarten Farben bemalt war, die mich anzogen und scheinbar wohlwollend willkommen geheißen hatte.
Seit meiner Entscheidung fühle ich mich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Vorher war alles schwer, dunkel, beängstigend. Jetzt fühle ich mich leicht, fast schwebend.
Außer Mia ruft mich, bittet mich, zerrt an mir. Dann zerreißt es mich innerlich.
Endgültig öffne ich meine Augen und blicke in den zartblauen Himmel über mir, der mit wunderschön geformten Wolken verziert ist. Die Luft, die ich einatme, ist frisch und duftet leicht nach Gras und Wildblumen. Bienen summen um mich herum und machen sich auf die Suche nach den schmackhaftesten Blüten. Neben mir hat sich heute Nacht ein kleines rotweiß gemustertes Kätzchen gekuschelt, das sich nun auch aufwachend räkelt.
Langsam setze ich mich auf, spüre diese herrliche Leichtigkeit in mir und lächle. Es ist so unbeschreiblich schön hier, so friedlich und ruhig, so paradiesisch.
Das Kätzchen hat es mir gleichgetan und sitzt nun neben mir, die Augen groß auf mich gerichtet.
„Na Kleine, magst du mit mir kommen?“ Sie kneift leicht ihr linkes Auge zusammen, als wolle sie über meine Worte nachdenken.
Ich streichle ihr zart über ihr flauschiges Köpfchen und sofort beginnt sie zu schnurren. Ich beschließe, ihr einen weiblichen Namen zu geben, so wie sie sich verhält, kann sie nur eine Sie sein. Ich werde sie Fleur nennen.
Gemeinsam machen wir uns nun auf den Weg. Erstaunt stelle ich fest, dass der Weg zwischen den Wiesen weich, fast gepolstert erscheint, die kleinen Bäumchen, die vereinzelt entlang des Weges stehen, tragen süße, saftige Äpfel, die sowohl mir als auch Fleur schmecken.
Jeder neue Tag, den ich hier erlebe, schenkt mir neue Früchte. Ich hungere hier nicht, die Früchte, die ich finde, reichen mir, um wohlig satt zu sein. Und sie schmecken aromatischer als alles, was ich jemals gegessen habe.
So gerne würde ich Jill sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Es ist schön hier. Hier könnte ich bleiben. Ich schaue den Weg entlang, der sich vor mir einen sanften Hügel hinauf schlängelt. Es ist ein Anblick wie gemalt. Das satte Grün der Wiesen, das durch die bunten Blüten der Wildblumen einen altmodischen Charme entwickelt, das helle Blau des Himmels, das durch die wie getupft wirkenden Wolken, eine ernste Tiefe erhält, der süße Duft der Blumen und Früchte, die wohlige Wärme der Luft, das beruhigende Geräusch der nach Nahrung suchenden Bienen und die kleine Fleur, das alles lässt ein Wohlbefinden in mir aufsteigen, das ich so noch nie empfunden habe.
Meine Schritte beschleunigen sich, ich gehe beschwingt den kleinen Hügel empor, neugierig, welcher Anblick sich mir dort oben auftun wird. Vielleicht werde ich andere Menschen treffen, waren doch meine Tage seltsam leer, jedoch hatte ich mich nie einsam gefühlt. Aber ein kleines Gespräch auf dem Weg wäre eine nette Abwechslung.
Oben angekommen, bleiben Fleur und ich stehen und schauen uns staunend um. Die Landschaft zeigt sich auf der anderen Seite des sanften Hügels völlig verändert. Überwogen bis jetzt die Landschaften, die wie ein Aquarellbild gewirkt haben, die wohligen Temperaturen und Düfte haben zu diesem Eindruck viel beigetragen, scheint hier eine Grenzlinie zu verlaufen, die mich innehalten lässt.
Intensive, pralle Farben, heißere Temperaturen, verschiedene Gerüche und Geräusche fallen über mich her. Ich brauche einige Zeit, um meine Sinnesorgane darauf einzustellen. Es kommt mir so vor, als würde ich aus einer softgezeichneten in eine kraftvolle überströmende Welt blicken.
Ich spüre, wie sich mein Inneres zusammenzieht und meine Augen sich kritisch verengen. Fleur neben mir schaut mich aus schmalen Augen an und miaut sorgenvoll. Unbewusst habe ich meine Hände ineinander verschränkt, mache mir das erste Mal, seit ich hier bin, ernsthafte Gedanken. Die Welt vor mir zieht mich an, strömt einen nicht zu leugnenden Reiz auf mich aus, mein Herz zieht sich sehnsuchtsvoll zusammen.
Ich drehe mich um und schaue den Hügel hinunter, den ich vor wenigen Minuten hochgelaufen bin. Der Anblick lässt mich ruhiger werden, meine Atmung wird langsamer, das Sehnen nimmt ab. Verwirrt drehe ich mich hin und her. Muss ich mich nun entscheiden? Bin ich bereit für diese fesselnde, pralle Version eines Lebens? Ich drehe mich wieder um, trete ganz dicht an die sichtbare Linie, die meine bisherigen Tage von dem Neuen, Aufwühlenden trennen.
Und da sehe ich es. War das Bild auch vorher schon so lebendig, oder fällt es mir jetzt erst auf, weil ich überlege, ob ich einen Schritt vor oder zurück gehe? Vor mir am Ende des Hügels ist ein Dorf, es wirkt wie aus einem Mittelalterroman, und die Straßen sind nicht leer. Menschen gehen entlang, manche scheinen dort zu leben und ihrem Alltag nachzugehen, andere wirken eher wie Touristen. Das Leben dort zieht mich magisch an.
Und ohne weiter darüber nachzudenken, überschreite ich die Trennlinie und bin sofort gefangen von diesem farbenfrohen, lauten und hektischem Leben.
Und nun?
Jemand rüttelte an meiner Schulter. Ich riss meine Augen auf, mein erster Blick fiel auf Mia, die jedoch reglos, wie seit Wochen, in ihrem Bett schlief. Ich drehte meinen Kopf und blickte Jens in die Augen, der über mich gebeugt, mich aufgeweckt hatte.
„Jill, wach auf, wir müssen miteinander reden.“
Müde setzte ich mich aufrecht hin, ließ meine Schultern kreisen und rieb meine pochenden Schläfen.
Jens schaute mir ernst zu und hielt mir dann eine Tasse mit heißem Kaffee vor die Nase.
„Hier, frisch aufgebrüht, aus dem Stationszimmer. Trink den, werde richtig wach, ich komme gleich wieder.“ Jens drückte mir die Tasse in die Hand und ging zur Tür.
Verwirrt versuchte ich meinen aufgelösten Pferdeschwanz mit einer Hand zu bändigen, was natürlich misslang. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und trank Schluck für Schluck den heißen bitteren Kaffee, der mich nach und nach munter werden ließ.
Leise ging die Tür wieder auf und Jens kam zurück mit einem unhandlichen Infusionsständer, an dem eine vorbereitete Infusion hing. Er ließ den Ständer neben meinem Stuhl stehen und setzte sich auf Mias Bett. Kritisch zog ich die Augenbrauen hoch.
„Seit wann setzt du dich auf Patientenbetten?“
Jens schaute mich ernst an, dann blickte er auf seine gefalteten Hände, die in seinem Schoß lagen.
„Jill, was ich dir jetzt sage, muss absolut unter uns bleiben. Seit Mia bei uns ist, bist du nur noch ein Schatten deiner selbst. Du lebst quasi auf diesem Besucherstuhl, du schläfst mit dem Kopf auf Mias Bett. Du kannst so nicht weitermachen und vor allem, du hilft Mia damit nicht.“
Gelangweilt schaute ich ihn an. Das hatte er mir in all den Wochen immer wieder gesagt. Das war nichts Neues.
Jens holte tief Luft.
„Ich betone es nochmal. Was ich dir jetzt sage, muss unbedingt unter uns bleiben. Egal wie du dich entscheiden wirst. Keiner darf davon erfahren.“
Jetzt war ich verwirrt. Was sollte ich entscheiden? Und worüber sollte ich unbedingt schweigen?
„Seit der Impfkampagne haben wir immer wieder mit jungen Menschen zu tun, die ohne vorherige Anzeichen ins Koma fallen. Manche kommen nach einigen Wochen zu uns zurück, einige aber nicht. Sie sterben.“
Ängstlich beobachtete ich Jens. Deutlich konnte ich sehen, wie das Thema ihm nahe ging. Aber was wollte er mir sagen?
„Natürlich haben wir auf der Station uns überlegt, woran es liegt, dass manche den Weg zurück nicht schaffen. Wir konnten bis heute darauf keine Antwort finden.“
Wollte Jens mich darauf vorbereiten, dass meine Mia es nicht zu mir zurückschaffen würde? Wollte er mir vorsichtig deutlich machen, dass Mia sterben würde?
Ich spürte, wie der Knoten in meinem Magen größer und größer wurde und ich Schwierigkeiten hatte, ausreichend Luft zu holen.
Jens blickte mich forschend an, nahm mir den Kaffeebecher aus der Hand und fuhr fort:
„Hör jetzt genau zu. Mia geht es seit einigen Stunden schlechter, ihre Vitalfunktionen zeigen noch keine Abweichung, aber andere Anzeichen deuten darauf hin. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, wird sie aufgeben.“
Ich sog laut die Luft ein, stieß dabei einen jämmerlichen Laut aus. Jens schaute wieder auf seine Hände, nickte leicht mit seinem Kopf und sprach weiter.
„Genau aus diesem Grund“, er deutete vage mit seiner Hand auf mich, „habe ich mich dazu entschieden, mit dir zu reden. Ich weiß, dass es eine Möglichkeit gibt, zu Mia zu gelangen. Es gibt für dich eine Möglichkeit, mit Mia zu sprechen und sie vielleicht zu überzeugen, wieder zu uns zurückzukommen.“
Schwarze Punkte erschienen vor meinen Augen, ich blinzelte mehrmals, um eine klarere Sicht zu erhalten, gleichzeitig spürte ich, wie einzelne Tränen sich aus meinen Augenwinkeln auf den Weg machten.
„Ich habe das schon einmal jemandem angeboten. Ich kann dabei helfen. Und es ist damals gut gegangen.“
Jens machte eine kurze Pause, in der meine hektischen Atemzüge laut durch den Raum zischten.
„Mia lebt. Sie ist in eine Zwischenwelt geraten. Dort hält sie etwas oder jemand fest. Sie glaubt, es geht ihr gut, sie fühlt sich wohl. Dabei wissen wir, dass die Menschen in der Zwischenwelt nicht lange überleben können. Entweder sie kommen aus eigenem Willen zurück oder sie überschreiten die nächste Linie und gehen ins Totenreich über. Das ist dann endgültig. Von dort kommt niemand zurück.“
Ruckartig entzog ich Jens meine Hand und sprang auf. Mehrmals schluckte ich trocken und flüsterte dann heiser:
„Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass Mia in dieser Zwischenwelt ist und ich irgendwie auch dahin kann. Sie dort treffe und dann überreden kann, mit mir in unser Leben zurückzukommen?“
Ich konnte gar nicht mehr aufhören, meinen Kopf fassungslos zu schütteln.
„Wer bist du Jens? Gott?“
Jetzt strömten heiße Tränen über mein Gesicht und wilde Schluchzer lösten sich aus meiner Brust.
„Jill, Jill, beruhig dich,“ Jens Stimme klang warm und leise an mein Ohr. „Jill, beruhig dich, dann reden wir weiter.“
Jens stand auf und wendete sich zur Tür.
„Bist du verrückt“, keuchte ich, „Du kannst doch jetzt nicht gehen. Mich so zurücklassen.“ Ich versuchte seinen Arm festzuhalten. „Bitte, bleib, bitte, bitte.“
Ich hasste diesen flehenden, weinerlichen Ton in meiner Stimme, konnte ihn aber nicht abstellen, denn genau so war mir zumute.
Jens packte mich an den Schultern und drückte mich wieder auf meinen Stuhl.
„Jill, ich bin nicht Gott.“ Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. „Aber ich kann dir helfen, ich kann vielleicht auch Mia helfen. Es hat schon einmal funktioniert.“
Er schaute mich stumm an. Es war nun völlig still im Raum. Mia lag weiterhin regungslos in ihrem Bett. Sie schien, unbeeindruckt von der realen Dramatik in ihrem Krankenhauszimmer, weiterzuschlafen. Ich tastete nach ihrer Hand, spürte ihre zarte Wärme, aber auch die fehlende Spannung in ihren Fingern, den möglichen Tod, der sich nur noch durch die Wärme in ihrem Körper abhalten ließ.
„Bitte, Jens, ich mach alles, was Mia retten kann, alles!“ Ich hatte es geschafft, meiner Stimme einen ernsten, sicheren Klang zu geben, meine Schluchzer zu unterdrücken und einigermaßen gefasst zu ihm zu schauen.
„Jill, wir machen jetzt folgendes. Ich muss meine letzte Runde auf der Station machen, dann habe ich Feierabend und geh nach Hause. Du gehst jetzt gleich nach Hause, schläfst dich richtig aus und wir treffen uns heute Abend bei Mia. Dann hattest du genügend Zeit, darüber nachzudenken.“
Er nahm den Infusionsständer und zog ihn mit sich zur Tür. „Wir schauen dann, wie es Mia geht und wenn du dich dafür entschieden hast, dann bekommst du von mir diese Infusion,“ er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Infusionsständer, „und hast die ganze Nacht Zeit, Mia zu finden und mit ihr zu reden.“
Ich fühlte mich wie eingefroren in diese Situation. Schon zu atmen war eine anstrengende Aufgabe, mich nur ein kleines bisschen zu bewegen, unmöglich.
Jens griff zur Türklinge.
„Du musst unbedingt über unser Gespräch schweigen, niemand darf etwas davon erfahren.“ Er lächelte mir noch knapp zu, verließ Mias Zimmer und ich blickte nur noch auf die grell weiß gestrichene Krankenzimmertür.
Mia
Fleur streicht an meinen Beinen entlang, miaut, schaut mit großen Augen zu mir hoch. Seit ich einen Schritt über die sichtbare Linie auf dem Hügel gemacht habe, ist Fleur wie ausgewechselt. Sie scheint aufgeregt, wie elektrisiert, miaut, läuft mir vor die Füße, bringt mich immer wieder zum Halten. Ich schreite jedoch unbeirrt weiter, das Leben unterhalb des Hügels zieht mich an. Erstaunlicherweise zieht sich der Weg dorthin, wir gehen gefühlt schon Stunden, nähern uns dem Dorf jedoch sehr langsam.
Mein Herz rast, ich bin aufgeregt, möchte viel schneller gehen, damit wir endlich ankommen, doch es gelingt mir nicht. Meine Ungeduld wächst, mein Sehnen wird größer. Ich schwitze sehr, die Temperaturen sind viel höher als auf der anderen Seite. Wenn ich zum Himmel schaue, hat sich auch hier das Bild geändert. Der Himmel wirkt tiefblau, fast schon zu dunkel, wie eine alles verschluckende Fläche, da auch keinerlei Wolken von der unendlichen Fläche ablenken. Die Sonne leuchtet goldgelb auf uns herunter, sie scheint direkt über uns zu stehen, da weder Fleur noch ich einen Schatten werfen.
Obwohl wir uns nur langsam diesem Dorf nähern, sind die Geräusche und vor allem die Gerüche unglaublich intensiv. Mein Magen reagiert empört, das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Der warme Duft von frischgebackenem Brot, würzige Gerüche von gegrilltem Fleisch und der alles umhüllende Duft von verschiedenen Kräutern machen mir bewusst, dass ich seit langer Zeit nur Obst gegessen habe.
Wieder versuche ich meine Schritte zu beschleunigen, und wieder stelle ich fest, dass Fleur und ich im immer gleichen Tempo langsam den gewundenen Weg vom Hügel herunter gehen. Trotzig schüttele ich den Kopf. Ich kann das hier nicht erklären, aber ich weiß, dass ich auf jeden Fall in dieses wunderbare Dorf kommen werde.
Plötzlich krampft sich mein Herz zusammen, Bilder tauchen vor meinen Augen auf.
„Mia, mein über alles geliebtes Kind. Ich vermisse dich so. Wenn du mich hörst, bitte komm zu Jill und mir zurück.“ Mama beugt sich dicht über mich. Ich spüre, wie ihre Hand meine Haare glätten, sie zärtlich über meine Stirn streicht und die Bettdecke glattzieht. Alles in mir sträubt sich dagegen. Ich möchte nicht berührt werden und ich will diese Bilder nicht sehen, will ihre traurigen, sehnsuchtsvollen Gedanken nicht spüren. Alles in mir schmerzt, Tränen laufen über mein Gesicht. Unwillig streife ich sie mit einer Hand von meinen Wangen und konzentriere mich auf das Dorf, das vor mir liegt. Ich will nicht zurück, mir geht es hier gut, Mama, und auch Jill soll mich in Ruhe lassen.
Und plötzlich sind wir ein großes Stück den Häusern nähergekommen. Ich kann auf einmal unendlich viele Details erkennen, sehe die Gesichter der Menschen, die Unebenheit der Straße, die feinen oder grobgewobenen Stoffe der Kleidung. Mamas Bild vor mir verblasst, mein verkrampftes Herz schlägt wieder in einem ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus, ich atme dankbar auf.
Fleur miaut herzzerreißend, schaut anklagend zu mir hoch. Unwille macht sich in mir breit. Was will sie von mir? Wenn sie nicht hier sein will, dann kann sie umkehren und auf dem sanft ansteigenden Weg nach oben in die Aquarellwelt zurückkehren.
Ich schubse sie vorsichtig mit einem Bein zur Seite, so dass ich ungehindert weiter gehen kann. Der Weg unter meinen Füßen fühlt sich weich und doch fest an, die Wiesen links und rechts sind von einem saftigen Grün, die Kornblumen dazwischen von einem intensiven Blau. Die Wiese rechts neben mir ist von einem dicken Holzzaun eingesäumt, dahinter stehen wohlgenährte, gesund aussehende schwarz-weiße Kühe, die genüsslich das hochstehende Gras zupfen und mit immer gleichen Bewegungen zermahlen. Der Wind weht sanften Grasgeruch zu mir, ich ziehe tief die Luft ein.
Auf einmal bemerke ich eine Bewegung auf dem Weg vor uns. Erstaunt sehe ich genauer hin. Seit wir diesen Weg abwärts gehen, war er immer menschenleer. Jetzt scheint jemand uns entgegenzukommen. Ich bleibe irritiert stehen, Fleur neben mir brummt leise, ihr Schwanz wird bedrohlich buschig. Der Mensch auf unserem Weg kommt schnell näher, es scheint ein groß gewachsener Mann zu sein. Er ist ganz in schwarz gekleidet, was hier in dieser farbigen Umgebung fast bedrohlich wirkt.
Mir stockt der Atem. Ich staune ihn an, schlucke trocken und schüttle über mich innerlich den Kopf.
Langsam gehe ich in Fleurs Begleitung näher, jetzt kann ich auch sein Gesicht sehen. Mein Blick bleibt an einer langen Narbe hängen, die vom rechten Mundwinkel, über den markanten Wangenknochen bis zu seiner dunklen Augenbraue eine breite rosa Linie in sein Gesicht zeichnet. Ich bemühe mich, meinen Blick davon abzuwenden, ich will ihn nicht anstarren. Aber nicht nur die Narbe zieht meinen Blick an, seine ganze Erscheinung, vor allem sein trotzdem schönes Gesicht beeindrucken mich sehr und lassen in mir ein Verlangen erwachen, das ich so nicht kenne.
Wir bleiben voreinander stehen und schauen uns in die Augen. Mein Magen macht einen Salto und kribbelnde Gänsehaut überzieht meinen Körper. Die Situation ist für mich unangenehm und ich spüre, wie mein Körper von diesem Mann sowohl weg als auch näher zu ihm hin will. Seine schwarzen Augen blicken mich interessiert und leicht amüsiert an.
„Dich habe ich ja hier noch nie gesehen. Wo gehst du hin?“ Seine Stimme hat einen leicht nasalen, jedoch tiefen Klang.
Ich räuspere mich und versuche, einen einigermaßen intelligenten Satz herauszubringen.
„Ähm, hallo. Ich gehe hinunter zu dem Dorf dort.“ Ich zeige mit meiner rechten Hand auf das Dorf, das auf einmal ganz nahe vor uns liegt.
Er nickt bedeutsam, grinst leicht und geht dann an Fleur und mir vorbei.
„Dann sehen wir uns bestimmt in den nächsten Tagen wieder.“
Ich bleibe staunend stehen, drehe mich leicht um und schaue ihm nach, wie er mit gleichmäßigen Schritten und leicht wiegender Hüfte weiter geht. Dann dreht er sich noch einmal um und schaut mich mit einem warmen Gesichtsausdruck an.
„Vielleicht möchtest du mich begleiten. Ich gehe den Weg hier entlang,“ er zeigt den Weg entlang, der zu unserem Hügel hoch führt. „Dort oben gehe ich aber nicht weiter, sondern biege nach links ab. Ich lade dich ein mit mir zu kommen. Von dort aus kommen wir zu meinem Schloss.“
Unsicher schaue ich auf das Dorf, das vor uns liegt, nehme nochmal die Eindrücke auf, die mich auf unserem Weg vom Hügel herunter so beeindruckt haben. Ich schwanke, spüre, wie mein Herz zustimmen will. Zögerlich gehe ich einige Schritte auf ihn zu, er wendet sich wieder dem Hügel zu und wir gehen nebeneinander den Weg entlang. Fleur faucht und zischt und bleibt auf der Stelle sitzen, bewegt sich nicht weiter. Bedauern steigt in mir hoch, doch der Wunsch, mit diesem Mann mitzugehen, ist zu groß.
Wir gehen weiter. Schritt für Schritt. Aus meinem anfänglichen Wohlbefinden wird nach und nach ein körperliches Unbehagen. Mir geht es auf einmal nicht gut, ich sehe verschwommen, Übelkeit steigt in mir hoch, das Bedürfnis, mich sofort hinzusetzen, wird übergroß.
Ich lasse mich in die Wiese neben mir fallen, schließe die Augen und spüre, wie sich drückender Nebel auf mich legt. Gleichzeitig spüre ich, wie der Mann sich neben mich setzt und meine Hand nimmt. Sein Daumen streicht beruhigend über meinen Handrücken.
„Mia, mach die Augen auf und schau mich an.“
Verwirrt überlege ich, wann ich ihm meinen Namen gesagt habe. Doch ich kann darüber nicht nachdenken, viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, meine Übelkeit im Zaum zu halten.
„Mia, mach deine Augen auf und schau mich an“, wiederholt er und streichelt nun sanft mein Gesicht.
Ich kämpfe mich durch den schweren Nebel, der mein Gesicht umgibt und schaffe es, meine Augen zu öffnen. Mein Blick wird sofort von seinen Augen eingefangen, festgehalten und beruhigt.
„Schau mich an, dir geht es gleich besser.“ Er streichelt weiter mein Gesicht.
Ein vages Gefühl baut sich in mir auf. Ich will ihn jetzt nicht anschauen, er soll mich in Ruhe lassen. Einfach in Ruhe. Ich versuche mein Gesicht von ihm abzuwenden, aber er hält es zärtlich aber bestimmt fest.
„Mia, wende deinen Blick nicht ab. Du gehörst mir.“
Mein Herzschlag stockt, ich spüre es deutlich. Wie kann er so etwas sagen. Ich gehöre niemandem. Wer ist er, dass er das behaupten kann. Auf einmal durchströmt mich neue Energie, die Übelkeit verschwindet, mein Kopf ist völlig klar. Ich richte mich energisch auf, streife seine Hände von mir ab und blicke ihn nun ernst an. Auf einmal spüre ich Fleur neben mir, die mich aufmunternd mit ihrem kleinen Köpfchen anstupst und zart miaut.
„Ich gehöre dir nicht. Wer bist du eigentlich, dass du so etwas glaubst.“
Der Mann schaut mich durchdringend an, steht auf und klopft seine Kleidung sauber.
„Wer ich bin, werde ich dir ein anderes Mal erklären. Wir werden uns wieder sehen und dann wirst du nur noch eines spüren, dass du mir gehörst. Dann wirst du es nicht mehr anzweifeln.“
Er lächelt mich liebevoll an, streicht mir zärtlich über meine Haare und geht auf den Weg zurück. Er nickt mir noch einmal zu und macht sich erneut auf den Weg nach oben. Er schreitet aus, als hätte er einen Sieg errungen, als würde ihm hier die ganze Welt gehören.
Mein Herzschlag beruhigt sich nur langsam. Ich wende meinen Blick von ihm ab und schaue wieder auf das Dorf, das ich so gerne heute erreicht hätte. Es zieht mich wieder magisch an, wie schon die ganze Zeit, bis ich diesen Mann getroffen habe. Was war das für eine Begegnung?
Zögernd setzen wir uns wieder in Bewegung, Fleur mit hoch erhobenem Schwanz und leicht missmutigem Gesichtsausdruck und ich mit vielen Fragen beschäftigt, deren Antwort ich mir selbst nicht geben kann.
Und nun??
Ich lag auf dem Rücken in meinem Bett und starrte zur Decke hoch. Mama hatte vor vielen Jahren dort oben leuchtende kleine Sterne geklebt, die mich beruhigen sollten, wenn ich nachts aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte. Das hatte mir als kleines Mädchen oft geholfen. Und als ich älter wurde, habe ich viele Stunden damit verbracht, dort hochzustarren und die Sterne zu zählen. Auch das beruhigte mich.
Nur heute half es nichts. Ich zählte schon zum zweiten Mal, war bei 47 angekommen und stellte fest, dass ich ratloser denn je war. Ich wollte Jens Vorschlag gerne befolgen, bin sofort in mein Bett gegangen und wollte schlafen, wollte ausgeschlafen sein für heute Abende. Aber kaum lag ich im Bett, fühlte ich mich wach und aufgedreht, wie nach einigen Tassen Kaffee. Also hatte ich zu zählen begonnen.
Was sollte ich nur machen? Mama konnte ich nicht einweihen. Zum einen hatte ich Jens versprochen, wirklich niemanden etwas zu erzählen. Und zum anderen konnte ich Mama nichts sagen, sie hätte diesem Plan niemals zugestimmt, ihre Sorge um eine weitere Tochter würde für sie unerträglich werden. Ich musste seit Mia im Krankenhaus lag, mit ansehen, wie Mama sich zwischen ihrem Job, ihren Krankenhausbesuchen und ihren Alltagsaufgaben zerrieb, vor Sorge kaum mehr schlafen konnte und doch vor mir nicht zusammenbrechen wollte. Niemals könnte ich ihr Jens Plan erklärbar machen.
Aber konnte ich seinen Plan mir erklären, konnte ich wirklich verstehen, was Jens mir versucht hatte, deutlich zu machen. Dass Menschen ins Koma fielen und daraus nicht mehr erwachten, war auch mir bekannt gewesen, obwohl ich mich seit eh und je geweigert hatte, Serien wie Emergency Room oder Good doctor oder ähnliches anzusehen. Zuviel Krankheit, zu viele grässliche Szenen, zu viel Schmerz und Ängste.
Aber dass diese Menschen sich in einer Zwischenwelt aufhalten konnten, dort irgendwie lebten und sich dann entschieden, wieder in ihre Leben zurückzukommen oder ins Totenreich überzugehen, das musste ich erstmal irgendwie verdauen.
Ich schnappte mir mein iPad und begann zu googeln. Zu meinem Erstaunen fand ich eine riesige Menge an Einträgen zu diesem Thema, auch namhafte Wissenschaftler, die versuchten, die Zwischenwelt zu erforschen. Also gab es sie wohl wirklich und war kein Hirngespinst von Jens.
Aber sollte ich mich tatsächlich in die Hände eines Krankenpflegers begeben und mich auf Gedeih und Verderben ausliefern? Nichts anderes war es. Denn er würde mir helfen, in die Zwischenwelt zu gelangen, ihn würde ich dann auch brauchen, um von dort wieder zurück zu gelangen. Und wie musste ich mir das vorstellen? Ging ich mit meinem Körper dahin, suchte nur meine Seele nach Mia oder gab es dort irgendeine genormte Hülle?
Ich schloss entnervt die Augen. Wie sollte ich das entscheiden? Wenn ich seine Hilfe nicht annahm, würde Jill mit großer Wahrscheinlichkeit sterben. Zumindest habe ich diese Information in seine Aussagen hineininterpretiert. Würde ich in die Zwischenwelt gehen, bestünde ja scheinbar eine gewisse Chance, Mia zu finden und mit ihr zu sprechen. Und sie zu überzeugen, mit in die reale Welt zu kommen.
Ich schüttelte den Kopf, auf einmal war es ganz klar. Wenn es auch nur eine kleine Chance gab, Mia zu helfen, zu uns zurückzukommen, dann musste ich sie ergreifen. Dann durfte ich nicht zweifeln, ängstlich sein oder zögern. Zitternd klickte ich einen Beitrag von Adrian Owen, einem bekannten Neurowissenschaftler an und versuchte aus seinem wissenschaftlichen Beitrag so viel Informationen zu verstehen, wie möglich.
Der laute Soundtrack aus „die Giganten“ riss mich aus meiner Lektüre. Als James Dean Begeisterte hatte ich die Filmmusik als Klingelton auf meinem Handy. Erschrocken tastete ich mit fahrigen Bewegungen auf meinem Bett herum, bis ich mein Handy endlich in der Hand hielt und auf das erleuchtete Display schauen konnte. Als ich sah, wer mich anrief, wurde mein Mund staubtrocken, ich konnte nur noch flüstern: „ja, hallo.“
Zuerst dachte ich, ich wäre zu langsam gewesen, aber da hörte ich die Stimme von Jens.
„Jill, du musst kommen, Mias Vitalfunktionen werden schwächer. Wenn du auf meinen Vorschlag eingehen willst, dann müssen wir schnell handeln. Sonst ist es womöglich zu spät.“
Mein Körper reagierte sofort. Mir wurde schwindelig, mein Herzschlag raste, meine Hände wurden eiskalt und feucht, in meinem Brustkorb baute sich ein unglaublicher Druck auf, ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
„Jill, hast du verstanden? Jill, antworte“, hörte ich Jens Stimme, die von weit her an mein Ohr dröhnte.
Ich ballte meine linke Hand zu einer festen Faust, entspannte sie und drückte nochmal so fest zu, dass meine Fingernägel sich schmerzhaft in meine Handinnenfläche bohrten.
„Ja“, krächzte ich, „ja, ich hab dich verstanden.“
„Dann komm her. Wenn du willst, bereite ich alles vor.“ Jens Stimme drängte mich, bedrängte mich, in mir verkrampfte sich alles. Ich wollte dieses Drängen nicht hören, ich wollte mein altes Leben zurück, meine Mia, lebenslustig, fröhlich, immer an meiner Seite, meine Seelenschwester. Ich krümmte mich auf meinem Bett zusammen, presste mit meiner rechten Hand das Handy an mein Ohr und flüsterte: „Ja, ich komme.“ Dann warf ich es auf den Flokati vor meinem Bett, nahm meine Haare und zog sie über mich, verbarg darin mein Gesicht, hüllte mich in sie ein. Meine oft geübte Rettung in völlig aussichtlosen Situationen. Doch mir war klar, dass ich hier nicht liegen bleiben konnte. Ich musst raus hier, musste zu Mia, musste mich auf die Suche nach meiner geliebten Zwillingsschwester begeben, die nur wegen mir, meinem Ego in dieser Situation feststeckte. Nur wegen mir. Ich war an allem schuld. Und ich musste sie da rausholen.
Ich schob meine Haare zurück, band sie mit einem Haarband zu einem losen Pferdeschwanz zusammen und stand langsam aus meinem Bett auf. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so überfordert, so allein gefühlt. Ich bückte mich, um mein Handy aufzuheben, als ich unter meinem Bett etwas glitzern sah. Nach zwei erfolglosen Versuchen hielt ich es in der Hand. Es war Mias silberne Kette, die ich ihr zum Schulabschluss geschenkt hatte. Der kleine Katzenanhänger lag warm in meiner Hand. Wie war die Kette unter mein Bett gekommen? Seit wann lag die dort?
Ich starrte die Kette ungläubig an, entschloss mich, sie mir um den Hals zu hängen. Wenn ich Mia treffen würde, würde ich sie ihr geben und beide wieder mit hierherbringen.
Ich schlüpfte in meine alten Chucks, setzte mich auf mein Fahrrad und raste durch die einbrechende Dämmerung zum Krankenhaus. Dort stellte ich mein Fahrrad achtlos neben einen Stromkasten und rannte zum Fahrstuhl.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis die Türen sich öffneten und ich eintreten konnte. Die sieben leuchtete auf und nach kurzer Zeit konnte ich Mias Station betreten. Am liebsten wäre ich gerannt, konnte mich aber gerade so beherrschen und ging mit quietschenden Sohlen den Gang entlang.
„Warte hier, du kannst nicht rein, Mia geht es schlecht. Lass die Ärzte arbeiten.“
Fassungslos starrte ich ihn an. „Zu spät, ich bin zu spät“, in einer Endlosschleife rasten diese Worte durch meinen Kopf. Ich schlug meine Hände vors Gesicht und rutschte an der Wand gegenüber Mias Zimmer auf den Boden. Die Hektik, die lauten Stimmen, die Geräte, die zu Mia geschoben wurden und die Worte „ich bin zu spät“ ließen mich in eine tröstliche Dunkelheit versinken.