Etwas ist schiefgelaufen

Du kannst versuchen die Seite erneut hochzuladen. Wenn der Fehler weiterhin besteht, bitten wir dich mit uns Kontakt aufzunehmen auf kontakt@boldbooks.de.

Fehlercode 418

Kopfgefickt

Kopfgefickt · Romane

Die erste Liebe - doch die Vergangenheit zieht ihn in die Tiefe und an eine Zukunft glaubt er nicht. Kann sein Freund ihn am Leben halten?

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Ich möchte einerseits Stereotypen entgegenwirken und die echte Welt in einem fiktionalen Werk so gut es geht aufzeigen. Außerdem möchte ich auf psychische Erkrankungen aufmerksam machen, ohne sie zu romantisieren und der Welt eine weitere (schwule) Liebesgeschichte bieten, die Leser zum lachen, weinen und mitfiebern bringt.

Über den/die Autor:in

undefined undefined

Hehe

Notiz: "Riot" ist die Stimme in Linus' Kopf, die die Posttraumatische Belastungsstörung widerspiegelt.

-32-

 

Linus setzte die Stiftspitze auf seiner Haut an. Schwarze Farbe füllte jegliche kleinen Hautfalten. Er hob den Stift, drückte ihn wieder auf die Haut, zog ihn darüber. Es kitzelte. Die Chemikalien des Eddings brannten in seiner Nase. Seine Sicht verschwamm, sein Blick klebte auf der Zeichnung. Er malte ein Herz. Ins Innere schrieb er ein „R“, ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er fokussierte den Blick, strich den Buchstaben durch, malte das Herz schwarz aus. Das schlechte Gewissen bewies, dass er ein Mensch war, der Gefühle hatte. Dank Ruben, der die Taubheit in seinem Körper bekämpfte. Er warf einen Blick aufs Handy. Blaue Haken im Chat mit Ruben verrieten ihm, dass sein Freund ihn ignorierte. Seit drei Tagen.

 

Tut mir leid. Ich konnte sie nicht wegschicken. Ich will dich sehen.

 

Ein Haken. Blockiert? Flugmodus? Kein Internet? Sein Herz machte einen Satz, als eine Nachricht eintraf, gefolgt von Enttäuschung. Nur irgendeine Nummer, nicht einmal eingespeichert, unwichtig.

 

Unbekannt: Morgen 22 Uhr?

Jo. Bis dann.

 

Er sprang auf, schnappte sich Kippen und Feuerzeug und machte sich auf den Weg nach draußen. Ich muss mit Ruben reden. Aber was soll ich sagen? Er sank auf den Stuhl bei seiner Raucherecke. Ich muss es endlich beenden, dachte er und seufzte. Das schiebe ich schon viel zu lange vor mir her. Er drückte die Zigarette aus und stand auf. Das ist niemandem gegenüber fair. Sein altes Fahrrad quietschte, als er das Grundstück verließ. Rasend schnell und doch zu spät kam er vor Chanelles Haus zum Stehen. Überrascht empfing sie ihn mit einem Kuss und einer langen Umarmung. Er zog sie noch fester an sich. Es tut mir leid, dachte er und legte sein Kinn auf ihrer Schulter ab. Fick sie endlich, sagte Riot. Sei endlich normal. Linus schüttelte den Kopf.

Er folgte Chanelle in ihr Zimmer. Die Tür schloss sich, gab ihnen Privatsphäre, die er nicht ertrug, Enge, die ihm die Luft zum Atmen raubte. Chanelle küsste ihn, doch er ging zum Fenster, öffnete es und rang nach Luft. Chanelle umarmte ihn von hinten, er drehte sich zu ihr, öffnete den Mund, doch ihre Lippen verschluckten seine Worte. Sie drängte ihn zum Bett. Seine Kniekehlen trafen den Bettrahmen. Sie schubste ihn, sein Körper sank in die Matratze. Sie setzte sich auf seinen Schoß, küsste ihn sehnsüchtig und fummelte an seinem Hoodie herum. Er löste sich.

„Chanelle, ich muss-"

„Ich liebe dich."

Ein Stich in seinem Herzen. Drei Worte, die diese Aufgabe von schwer zu schier unmöglich anhoben. Sie drückte ihm einen kurzen Kuss auf. Er war wie eingefroren. Keinen Muskel bewegte er, den Atem hielt er an. Sein Kopf war leer.

„Liebst … du mich auch?"

Sein Kinn bewegte sich nach oben, dann wieder hinunter. Die Bewegung konnte er nicht kontrollieren. Eine weitere Lüge auf der seitenlangen Liste. Sie strahlte ihm entgegen, schlüpfte aus ihrem Top, zog ihm seins über den Kopf. Sein Herz raste.

„Du hast mich so lange warten lassen", sagte sie und griff nach seiner Hand. „Es muss nicht perfekt sein, okay?"

Sie entledigte sich ihrer Hose, BH, der Unterhose. Ungeduldig knöpfte sie seine Jeans auf. Ratternd zog sie den Reißverschluss hinunter und ließ ihre Hand unter den Stoff gleiten. Ihre Kalten Finger auf seiner Haut, seine leitete sie zu ihrem Intimbereich. Die Berührung katapultiere ihn zurück in die Realität.

„Ich bin schwul.“

Sie stoppte in ihrer Bewegung. Mit Kulleraugen starrte sie ihn an, die Schultern sanken, der offene Mund enthüllte den Schock.

„Tut mir leid“, stieß er aus und atmete tief durch. Er zog seine Hand zurück, vermied jeglichen Blickkontakt. Er drückte sie zur Seite und stand auf.

„Linus-“ Chanelle stand auf, trat einen Schritt auf ihn zu, er einen zurück und stolperte. Sein Blick klebte an dem Meerbild an der Wand und er wünschte sich, dort zu sein. Er riss seine Hose nach oben.

„Ich bin so richtig scheiß-schwul und du warst ein Cover-Up und eigentlich habe ich einen Freund und ich hatte Angst, dass jemand herausfindet, dass ich schwul bin, und meine Freunde haben dich angeschrieben, weil sie mir helfen wollten, hetero zu sein, aber man kann seine Sexualität nicht ändern und …“ Er unterbrach seinen Redefluss, schloss die Augen und atmete tief durch. Sein Blick traf ihren. „Du hast etwas Besseres verdient. Es tut mir leid.“

Sie senkte den Kopf und spielte mit den Fingern. Eine Geste, die seine Gedanken sofort zu Ruben brachten. Er stürmte aus dem Haus.

Noch während er die Treppe hinunter rannte, tippte er auf dem Handy herum. Tränen kullerten seine Wangen hinunter, das Herz klopfte wie verrückt. Er drückte sich das Telefon ans Ohr. Es klingelte, doch Ruben hob nicht ab. Er versuchte es drei Mal, bevor er aufgab und eine Nachricht schrieb. Zwei Haken bewiesen, dass die Nachricht diesmal ankam.

 

Linus: Melde dich bitte. Wir müssen reden. Es ist wirklich dringend.

 

Auf dem Nachhauseweg legte er sich Sätze zurecht, versuchte, sein Inneres in Worte zu fassen. Bei seinem Haus angekommen stoppte er. Soll ich zu ihm? Er schüttelte den Kopf und wollte das Gartentor öffnen, doch es stand sperrangelweit offen. Ich sollte ihm Zeit geben. Er lehnte das Fahrrad gegen den Zaun. Fünf normal große Schritte auf dem Steinweg, dann ein großer. Er schaute seinen Füßen bei der Arbeit zu. Bis zerfledderte Sneakers in seinem Sichtfeld auftauchten. Sein Blick wanderte nach oben. Graue Jogginghose, schwarzes Shirt, Pflaster auf dem Handgelenk. Grüne Augen trafen seine, dunkle Augenringe zierten das Gesicht, Wangen und Augen waren gerötet.

„Du bist dämlich“, murmelte Ruben und lachte traurig. Linus‘ Herz sank. Er streckte seine Hand aus, Ruben wich zurück. Also drückte er sich an dem Jüngeren vorbei und schloss wortlos die Tür auf. Im Flur begrüßte Melissa sie, während sie schwungvoll den Besen über die Fliesen schob.

„Darf ich dich umarmen?“

Ruben nickte und starrte auf die dreckigen Schuhe seines Gegenübers. Linus legte die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. „Kannst du mir verzeihen?“

Ruben zuckte mit den Schultern, drückte ihn weg und starrte an die Wand.

„Manchmal gibst du mir das Gefühl, dass ich nur ein Spielzeug bin.“ Er stopfte seine Hände in die Hosentaschen. „So eins, für das du dich schämst.“ Seine Stimme drang kaum hörbar durch den Flur. Er warf einen Blick hinter sich, um sicherzugehen, dass Linus‘ Mutter sie nicht hörte. Als sie ihn bemerkte, lächelte sie.

„Ich hab mit Chanelle Schluss gemacht“, sagte Linus.

Rubens Kopf schoss in seine Richtung. Mit riesigen Augen starrte er seinen Freund an, seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Linus senkte den Blick und lächelte verlegen. Die Anspannung fiel von ihm ab, er entspannte sein Kiefer und merkte erst jetzt, wie geladen sein Körper gewesen war. Er schielte in den Gang, packte seinen Freund an der Hüfte und drückte ihn gegen die Wand. Rubens Mund stand offen, sein Blick huschte abermals zur Mutter. Linus‘ Hand landete seinem Nacken, die andere umfasste das Gesicht. Er drückte ihm einen federleichten Kuss auf, versuchte, all seine Gefühle mitzuteilen. Deine arme Mutter. Schämst du dich nicht? Linus reagierte nicht auf Riots Worte, trotzdem spürte er einen Stich in seinem Herzen. Er spürte den Blick seiner Mutter auf sich und löste sich. Sein Kopf drehte sich in ihre Richtung. Sie senkte den Blick. Der Besen glitt energische über die Fliesen, ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie begann zu summen. Ein Lied aus Linus‘ Kindheit. Sein Kopf kramte nach der Erinnerung, nach dem Liednamen, nach dem Klang des Originals, doch er fand nichts. Trotz allem erfüllte das Gefühl der Sicherheit seinen Körper. Strahlend griff er nach Rubens Hand und zog ihn mit nach draußen.

„Ich will dir mein Baumhaus zeigen“, sagte er.

Ruben übte Druck auf seine Hand aus und folgte ihm zu dem alten Apfelbaum in der Ecke des Gartens. Sie erklommen die morsche Leiter, die lediglich aus an den Stamm genagelten Brettern bestand. Oben angekommen schlug ihnen der modrige Geruch von verwittertem Holz entgegen. Spinnenweben zogen sich durch jede Ecke, Insekten hatten es sich an den Wänden bequem gemacht und Hinterlassenschaften von irgendwelchen Tieren verpesteten die Luft. Ich hätte vorher nachsehen sollen, wie schlimm es hier aussieht.

„Sollen wir wieder …“ Er brach ab, als Ruben sich auf den staubigen Boden fallen ließ und einige Spinnenweben zerstörte. Mit den Füßen kickte er eine vergammelte Puppe weg, aus dessen Mund einige Käfer purzelten. In Sekundenschnelle versteckten sie sich wieder unter der Puppe. Vorsichtig setzte Linus sich neben seinen Freund. Dabei knarzte das stellenweise grün verfärbte Holz, weshalb er sich noch zwei weitere Male versicherte, dass es sie auch wirklich halten würde. Ruben zog die Knie an und legte seine Ellenbogen darauf ab. Der traurige Gesichtsausdruck von vorher war verschwunden, ersetzt durch einen zufriedenen. Er griff nach Linus‘ Hand. Die Vögel sangen ein Lied, das nur sie kannten, während in der Nachbarschaft ein Rasenmäher aufschrie.

„Was hat es damit auf sich?“, fragte er und zeigte auf eine mit Beleidigungen vollgekritzelte Puppe, die mit einem Stock aufgespießt an der Wand lehnte. Die Erinnerungen schlugen ihm ins Gesicht. Linus prustete los. Er erzählte die Geschichte zu der Puppe, zu dem Kleinkrieg, den er mit seiner Schwester geführt hatte und allem, was ihm noch einfiel. Rubens Lachen hallte durch das kleine Häuschen, er wischte sich eine Lachträne weg.

„Hannah wollte das schon vor Monaten abbauen.“ Er lachte auf.

„Aber?“ Ruben legte seinen Kopf auf seinen Knien ab.

Linus zuckte mit den Schultern. „Wir haben‘s immer aufgeschoben.“

Ihm stach ein alter, mit Namen übersäter Fußball ins Auge. Die Wörter sprudelten aus ihm heraus. Ruben nickte immer wieder, fragte weiter nach oder machte einen Witz. Stundenlang saßen sie da, redeten, inspizierten das Baumhaus, verabschiedeten sich davon.

Irgendwann schloss Ruben die Augen und fragte nach Chanelle, also schilderte Linus auch diese Geschichte. Ruben schlang seine Arme um ihn und presste sich an ihn. Die untergehende Sonne blendete den Blonden, also schloss er die Augen, trotzdem sah er das Licht. Die Sonne wärmte ihn, trotzdem fror er. Er starrte den Ball an. Ohne Luft lag er da, unbrauchbar, mit Staub und Matsch überzogen. Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Bauch breit. Der Rückblick brachte ihn fast zum Kotzen, als hätte jemand ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Dad hat den mir geschenkt. Ihm wurde schlecht. Hättest du mal besser auf ihn gehört, sagte Riot. Linus presste die Augenlider aufeinander und biss sich auf die Lippe, so fest er konnte. Der würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn er wüsste, was du hier treibst. Zischend öffnete Riot eine Bierdose. Der dunkle Raum war voll von leeren Flaschen, der Sessel, auf dem er lungerte, war alt und fleckig. Halt die Klappe, schrie Linus innerlich. Tränen bildeten sich in seinen Augen und ließen seine Schrift verschwimmen. Bitte. Lass mich einfach in Ruhe, flehte er. Was ist so falsch daran, zu lieben? Ich kann doch nichts dafür… Sein Herz raste, die Finger eiskalt, Gänsehaut überzog seinen jeden Millimeter seines Körpers. Warum kannst du dich nicht einfach verpissen? fragte er. Riot grinste. Warum kannst du es nicht lassen, Ruben anzutatschen?

Linus atmete zitternd ein. Weil ich ihn liebe. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Riot lachte. Linus‘ Lunge brannte. Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss-

Nässe befreite ihn von der Stimme in seinem Schädel. Kaltes Wasser bahnte sich seinen Weg von seinen Haaren über die Stirn hinunter zu seinen Händen. Es durchnässte seine Wangen, lief an den Fingern entlang seinen Arm herunter. Als Algengeruch in seine Nase stieg, wischte er sich übers Gesicht. Ruben starrte ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck an, stellte den uralten Plastikbecher ab und sammelte Algenreste von den blonden Strähnen. Linus‘ Blick fiel auf den Becher, der seit Jahren das Regenwasser gesammelt hatte, das ihn aus dem Kreislauf gerissen hatte, der ihn sonst nur nachts einholte.

„Tut mir leid, aber-“

Linus drückte seine Lippen auf Rubens. Er drehte sich, sein Knie landete zwischen den Beinen seines Freundes. Riot war verschwunden, sein Kopf war still. Er brachte ein wenig Abstand zwischen ihre Lippen.

„Danke“, hauchte er dagegen. Und küsste ihn erneut.

 

 

 

 

 

 

-33-

 

Die stickige Luft im Heubodenversteck störte Ruben kaum, während Linus sich bereits mehrmals über die Hitze beschwert hatte. Avanti lag in seiner Mulde und döste vor sich hin. Die Jungs hatten eine gemeinsame Kule gebildet. Rubens Herz schlug so langsam, dass er fürchtete, nicht mehr aufzuwachen, wenn er jetzt einschlief. Denn Linus‘ Finger glitten durch seine Locken, seine Lippen verteilten Küsse auf seinem Gesicht. Ruben seufzte zufrieden. Er war drauf und dran, in den Schlaf zu driften. Sein Herz machte einen Satz, als Linus‘ Finger seinen Oberkörper berührten. Er schob den Stoff hoch und strich über die nackte Haut. Scheiße, dachte Ruben, als ein Ziehen in seiner Lendengegend verriet, dass die Berührung etwas in ihm auslöste. Jegliche Müdigkeit war wie weggeblasen. Er griff nach einem Haufen losem Heu und legte es über seinen Hüftbereich. Fällt gar nicht auf. Er rollte mit den Augen und schielte zu seinem Freund. Der starrte gedankenverloren auf Rubens Bauch. Die Fingerspitzen umrundeten den Bauchnabel, folgten dem Bauchstreifen und stoppten beim Gürtel, seine Lippen berührten die heiße Haut. Rubens Finger fanden ihren Weg in die blonden Strähnen. Sein Kopf landete im Nacken, die Augen schloss er und atmete zitternd ein. Nervosität floss durch seine Venen, wurde aber von positiver Anspannung verdrängt.

Linus zupfte an den dunklen Bauchhaaren. Ruben schreckte quiekend auf, seine Hände fanden die des anderen. Der grinste und begann, seinen Freund zu kitzeln. Ruben versuchte schreiend, den Stärkeren von sich herunterzubekommen. Strampelnd warf er mit Heu um sich, doch sein Freund gab nicht auf. Stattdessen setzte er sich auf Rubens Beine, nachdem der ihn zwei Mal versehentlich getreten hatte. Rubens Herz klopfte wie verrückt, ein Schweißfilm bedeckte seine Handflächen. Heu kitzelte seine Nase, allein bei dem Gedanken, jeden einzelnen Halm aus seinen Haaren glauben zu müssen, bekam er Gänsehaut und sein ganzer Körper juckte. Selbst schuld, dachte er und warf abermals mit dem getrockneten Gras. Auch das brachte ihm keinen Frieden. Es gab nur noch eine Lösung: Mitleid erregen.

„Hör auf“, bettelte er lachend. Linus hörte nicht darauf.

„Stopp“, forderte er mit ernstem Ausdruck und wechselte schnell zu seinem Hundeblick. „Bitte.“ Er griff nach den Händen seines Freundes, um ihn endgültig zu stoppen. Endlich herrschte Frieden.

Der Wind trieb die Äste umher. Lautstark peitschten sie gegen die Scheune. Durch die Schlitze zwischen den Brettern drang erfrischend kühle Luft. Sie starrten sich entgegen, Linus‘ Blick huschte nach unten und wieder zurück. Er ließ von ihm ab und machte seinen Oberkörper frei. Das Shirt ließ er achtlos fallen. In Rubens Kopf herrschte Stille. Linus Rippen stachen heraus, die Brustwarzen waren in dem sachten Licht lediglich dunkle Kreise. Der Bauchstreifen zog sich über den süßen Hügel aus Speck, der komplett verschwand, als Linus sich streckte. Sein Schlucken erfüllte den ganzen Raum. Ihr Schweiß vermischte sich und kreierte einen Duft, dem Ruben nicht widerstehen konnte. Linus musterte die Körpermitte seines Gegenübers und vernahm ein weiteres Ziehen in seiner. Er ließ sich neben ihm fallen und räusperte sich.

„So habe ich das nicht gemeint.“

„Sorry“, murmelte er und räusperte sich ebenfalls. Er setzte sich auf und starrte Avanti an. Seine Finger fummelten an seiner Arbeitshose. Als das nichts half, überdeckte er sich abermals mit Heu. Das ist so peinlich.

„Ganz schön heiß hier“, sagte Linus. „Also du. Du bist heiß.“

Rubens Kopf schoss in seine Richtung. Ein Grinsen lag auf Linus‘ Lippen. Er drückte ihm einen Kuss auf, seine Hand landete auf der Innenseite von Rubens Oberschenkel, während er den Knutschfleck am Hals inspizierte.

„Ich bin noch nicht so weit. Ich hoffe, du verzeihst mir.“

Ich klatsch ihm eine, dachte Ruben. Genau wie vorhin. Die Erinnerung spielte sich in seinem Kopf ab wie ein Film. Ständig hat er sich entschuldigt, weil er nicht weiß, wie man Tiere versorgt. Belustigt schüttelte er den Kopf und setzte sich auf. Dank der Bewegung streifte Linus‘ Hand seinen Schritt, das Heu rutschte von seinem Körper.

„Da gibt es nichts zu verzeihen“, sagte er, packte die Hand des anderen und liebkoste die Haut. „Ich dränge dich zu nichts.“

Linus starrte nach unten, als er antwortete. „Aber der da.“ Er zeigte auf die Beule in dem gespannten Stoff. Ein Grinsen zierte seine Lippen, als er zurück in die grünen Augen schaute. „Er starrt so.“

Grummelnd fummelte Ruben an der Hose herum und schaltete Sekunden später kurzerhand das Licht aus. Linus protestierte.

„Ich will dich sehen“, sagte er. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnten. Lichtkegel, die zwischen den Brettern auftauchten, stellten die einzige Lichtquelle dar.

„Du kannst mich ja spüren.“ Mit einem Klatschen schlug er sich die Hand vor den Mund. Als Linus in leises Gelächter ausbrach, konnte auch er sich nicht mehr zurückhalten. Einige Minuten dauerte es, bis sie sich wieder beruhigten. Er denkt also genauso zweideutig, dachte er. Sein Herzschlag normalisierte sich und die Hitze in seinem Körper ließ langsam nach. Ein seltsames Gefühl holte ihn ein. Es ist scheiß-peinlich, aber irgendwie finde ich es nicht schlimm. Die Erkenntnis brachte ihn zum Lächeln. Ist es, weil ich mich bei ihm sicher fühle? Weil er mich nie verurteilt? Weil es sofort Klick gemacht hat, als wir uns kennengelernt haben?

„Falls du dich dann besser fühlst“, sagte Linus und rutschte näher an ihn. „Ich hab auch ’nen Ständer.“

Ruben behielt seine Gedanken für sich, verbannte seine Fantasien in die hinterste Ecke seines Gehirns und widerstand dem Drang, diese Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Stattdessen legte er sich auf die Seite, wollte an Linus heranrutschen, stoppte dann jedoch und legte sich auf den Rücken. Augenverdrehend rutschte der Blonde näher, seine Körpermitte berührte Rubens Oberschenkel. Er griff nach dem mit Pflastern bedeckten Arm.

„Darüber wollte ich mit dir noch reden.“ Behutsam strich er über die Haut. „Ist jetzt ein guter Zeitpunkt?“

Hauptsache, ich muss nicht mehr an Sex denken, sagte er innerlich und nickte.

„Warum hast du dich nicht gemeldet, als du den Drang dazu hattest?“

„Du warst bei deiner Freundin.“

„Ex Freundin“, verbesserte Linus, ein langgezogener Seufzer entwich seiner Kehle. „Du hast es wegen mir gemacht.“

Ruben blieb stumm.

„Weil ich dir wehgetan habe, hast du dich selbst verletzt? Weil du das Gefühl hattest, dass ich dich nicht … dass du mir egal bist?“

Rubens Lippen blieben versiegelt. Ein Kuss diente als Schlüssel.

„Es tut mir leid“, flüsterte er, als Linus Abstand zwischen ihre Lippen brachte. „Ich wollte dich nicht enttäuschen.“

Er schüttelte den Kopf. „Du wolltest wieder mit T-Shirt rausgehen, schon vergessen?“

Er findet es ekelig, dachte Ruben. Wegen mir ist er traurig. Ich habe ihm versprochen, aufzuhören. Das schlechte Gewissen verschwand, als Schmerz seine Haut durchzuckte. Ein rotes Gummiband baumelte an seinem Handgelenk.

„Ich habe gelesen, dass das hilft“, sagte Linus. Er legte seinen Kopf auf Rubens Brust ab und lächelte schief. Seine Lider schlossen sich, er atmete tief ein. „Wenn das nicht hilft, habe ich noch ein paar andere Methoden gefunden.“

Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so viele Gedanken macht, schoss es Ruben durch den Kopf. Sein Instinkt sagte ihm, das Thema zu wechseln.

„Hat deine Mom etwas gesagt wegen gestern?“, fragte er deshalb.

Abgelenkt schüttelte Linus den Kopf. Und verteilte Küsse auf den blassen Strichen – einen pro Narbe.

Ruben schaute auf die Uhr. Stöhnend entfernte er sich, überreichte Linus das Shirt und setzte sich auf.

„Ich muss jetzt in den Stall.“

„Ich helfe dir“, rief der Blonde begeistert. „Wenn ich darf.“

 

Linus half ihm bis zum Abend bei seiner Stallarbeit – zumindest versuchte er sein bestes. Gemeinsam kämpften sie sich durch die brühende Hitze, vor der es kein Entkommen gab. Das einzig erfrischende war der Wind, der jedoch so stark war, dass selbst das keine Erlösung darstellte. Außerdem glich Rubens Haar einem Vogelnest. Ihre Wege trennten sich vor seinem Haus. Gestank nach Bier und Kippen begrüßte ihn. Er hielt den Atem an, wollte in seinem Zimmer verschwinden und sich ausruhen. Sein knurrender Magen machte ihm einen Strich durch die Rechnung und schickte ihn auf Nahrungssuche.

Es war dunkel in der Küche, trotzdem zögerte er. Er schlich durch den Gang. Wenn Papa mich erwischt, bin ich tot. Ich verstehe nicht, was er dagegen hat, wenn man spät abends etwas isst. Es ist doch erst kurz vor zehn. Er horchte in die Küche, bevor er eintrat. Der Kühlschrank summte, während der Toaster in altbekanntem Rhythmus ein elektrisches Knacken von sich gab, das Ruben bereits vor Jahren analysiert hatte. Eine Maus raste unter dem Tisch durch und schlüpfte in eine Lücke zwischen den Leisten. Als er merkte, dass er noch immer den Atem anhielt, schnappte er nach Luft. Der Gestank von Alkohol kroch intensiver in seine Nase. Raues Atmen, ausgelöst durch die vergiftete Lunge, kroch von hinten in seine Ohren und bescherte ihm Gänsehaut am ganzen Körper. Fauliger Geruch kam dazu. Rubens Herz raste, als hätte er einen Sprint hingelegt. Brummen, das nicht vom Kühlschrank kam, ließ seinen Körper einfrieren. Eine schwere Pranke landete auf seiner Schulter und drückte ihn runter. Panik stieg in ihm auf und er wusste, dass es falsch war. Er wusste, dass es nicht so sein sollte. Dass ein Sohn keine Angst vor seinem Vater haben sollte und dass sein Vater ein guter Mann war, der zu viel trank und sich zu wenig für ihn interessierte. Aber er wusste auch, dass der Sommertag vor drei Jahren ihn verändert hatte, genau wie es ihn selbst verändert hatte.

„Wo hast du dich den ganzen Tag rumgetrieben?“ Der Alte stemmte die Hände in die Hüften. „Du bist nur noch unterwegs.“ Klickend legte er den Lichtschalter um. Ein Surren ertönte, es dauerte fast eine halbe Minute, bis der Raum erleuchtet wurde.

„Bei einem Freund“, sagte Ruben, öffnete zögerlich den Kühlschrank und lugte hinein. Lass mich in Ruhe, betete er.

„Welchem?“ Mit einem Klicken zündete er eine Zigarette an und lachte spöttisch. „Du hast doch gar keine Freunde.“ Eine Erinnerung an Linus schoss durch seinen Schädel. Ein Funken Freude huschte durch seinen Körper, denn das Klicken des Feuerzeugs erinnerte ihn an jemanden, den er mochte, statt, wie zuvor, an den Kettenraucher, der sich sein Vater nannte.

„Jemand aus der Schule. Kennst du nicht.“

„Warum hast du von dem

nichts erzählt?“, fragte der Alte. Ruben schloss den Kühlschrank und atmete tief durch. Er ist nicht sauer. Kein Grund, Panik zu schieben. Er ist nur neugierig und interessiert sich für dein Leben. Er verdrehte die Augen. Das glaubst du doch selbst nicht, oder?

„Du hast ihn nie erwähnt“, stellte der Vater fest.

Ruben zuckte mit den Schultern. Er hasst es, wenn ich ihn ignoriere. Er suchte nach einer Antwort, die weder besserwisserisch noch frech war.

„Du hast nie gefragt.“

Laut seufzte der Alte und kratzte sich am Kinn. Das Reiben der Hand auf dem Bart brachte Ruben dazu, sich zu schütteln.

„Wo warst du wirklich? Du bekommst keinen Ärger.“ Er dränge ihn zur Seite und schaltete den Wasserkocher an. „Ich möchte nur wissen, bei wem du warst." Er lächelte, doch es sah aus wie eine Grimasse, eine Fassade, eine Maske, die ein Clown vor seiner Show auftrug.

„Bei dem Freund aus der Schule“, beharrte Ruben.

„Warum lügst du?" Er griff nach der Zeitung. Ruben zuckte zusammen, fing sich jedoch schnell wieder und lehnte sich gegen die Küchenzeile.

„Ich war wirklich bei ihm", sagte er mit genervtem Unterton. Sein Herz raste. Er verschränkte die Arme vor der Brust. 

„Und wer war noch da?“

„Nur er und ich.“

Der Vater deutete ihm, eine Tasse aus dem Schrank zu holen. Ruben tat wie ihm befohlen. Er holte einen Stuhl, vermied, ihn am Boden schleifen zu lassen und stieg darauf, um an die Tassen zu kommen.

„Und woher kommen die Knutschflecken?“

Scheiße. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Der Alte trat einen Schritt auf ihn zu und musterte seinen Hals. Ruben starrte auf die Tasse, überreichte sie und ging zum Tisch. Langsam, aber sicher begann sein Blut zu kochen. Er lehnte sich dagegen, verschränkte die Arme vor der Brust und verdrehte genervt die Augen.

„Ist es so schwer zu kapieren, dass die von einem Typen sind?“ Er stieß sich von der Tischkante ab und stürmte zur Tür, als er merkte, dass er sich im Ton vergriffen hatte.

„Jetzt habe ich auch noch einen schwulen Sohn …“

Die Panik verflog, sein Blut kochte. Er wirbelte herum.

„Ich bin nicht schwul", brüllte er. Scheiß egal, was er tut. An Liebe ist nichts falsch, dachte er und sah Linus vor sich, beschämt wegen seiner Sexualität mit einer Freundin, um die Wahrheit zu verstecken. Ich liebe einen Jungen und das fühlt sich schön an und keiner auf der Welt wird mir das kaputt machen.

Ein stutziger Ausdruck zierte das Gesicht des Alten.

„Ich hasse Labels. Ist doch scheiß-egal, ob Mädchen, Junge, beides oder keins.“ Er lehnte sich gegen den Türrahmen. Der Alte starrte wortlos in seine Richtung, aber an ihm vorbei, in die Ferne, an die Wand, sonst wohin. Ein ungutes Gefühl kroch in Rubens Körper empor. Er wollte abhauen und nie wiederkommen. So, wie Linus immer sagte.

„Okay“, sagte der Vater in einem Ton, den Ruben nicht definieren konnte. Er trat abermals auf ihn zu, drückte die Zigarette auf der Küchenzeile aus, obwohl ein Aschenbecher danebenstand, und zerrte ihn in eine Umarmung. Sie währte nicht lange, doch seine Pranken klopften Rubens Rücken mit solch einer Wucht, dass ihm die Luft wegblieb.

„Weiß deine Mom davon?“, wollte er neugierig wissen und löste sich grinsend. Als Rubens nickte, setzte er eine ernste Miene auf und Ruben fragte sich, was er nun wieder falsch gemacht hatte. Der Alte hob die Hand.

„Mist. Nie bin ich der erste“, sagte er, dann kam das Grinsen zurück. „Ach ja, geh duschen. Du stinkst nach Kuhscheiße.“

Schnell weg. Eine Sekunde mehr bedeutet eine Sekunde mehr Zeit, in der ich einen Fehler begehen kann. Er nickte, wünschte eine gute Nacht und verschwand in den Gang.

„Lost du deine Partner aus oder wie suchst du dir das Geschlecht aus?“, rief der Vater ihm hinterher.

Ruben zwang sich zu einem Lachen. „Ja“, murmelte er, nur, um etwas gesagt zu haben, und ließ die Tür leise ins Schloss fallen. Erleichtert atmete er auf. Das kam … unerwartet, dachte er, holte sein Handy raus und erzählte Linus in einer Nachricht von dem Geschehnis. Aber insgesamt ein Erfolg … glaube ich. Erst jetzt fiel ihm die originalverpackte Leine auf. Er ließ sich aufs Bett fallen, schmiss sein Handy neben sich und inspizierte sie. Wo kommt die denn her? fragte er sich. Bis Linus‘ Worte in seinem Kopf widerhallten und nun endlich Sinn ergaben. Deshalb hat er gefragt, wo ich meine Leinen kaufe. Er lächelte, dann seufzte er gedehnt.

Avanti sprang aufs Bett und verlangte Streicheleinheiten. Ruben gab nach und vergrub seine Hände im Fell. Seine freie Hand landete auf der Matratze und schob das Mobiltelefon zu sich. Er öffnete den Chat mit Linus.

 

Ruben: Ich habe keine Lust zu duschen

 

Linus: Dann lass es.

 

Ruben: Ich stinke nach Stall.

 

Linus: Na und?

 

Ruben: Meine Eltern mögen das nicht.

 

Linus: Ich finde, du riechst gut.

 

Ruben: Du bist ja auch komisch. Ich geh jetzt duschen.

 

Linus: Viel Spaß ;)

 

Ruben: Ich habe keine Lust zu duschen.

 

Linus: Du wiederholst dich.

Linus: Komm zu mir, ich ertrage auch deinen Stinkekörper.

 

Ruben: Ich dachte, ich rieche gut? Außerdem bin ich erst seit zehn Minuten Zuhause.

 

Als Antwort bekam er ein Selfie. Linus‘ Haare waren genauso zerzaust wie seine, dunkle Augenringe ließen das Braun in seinen Augen noch dunkler wirken. Die Augen waren weit aufgerissen, ein Lächeln auf den Lippen. Die Hand angehoben, zwischen den Fingern eine halbabgebrannte Zigarette.

 

Linus: Noch da? Oder hat dich meine Schönheit umgehauen?

 

Ruben schickte ein Selfie zurück, schrieb einen Kusssmiley dazu und legte sein Handy weg. Trotz seines Unmutes wusch er sich den Tag vom Körper. Auch danach wurde er das unwohle Gefühl in seinem Inneren nicht los.

 

 

 

-34-

 

Linus ahnte nichts Gutes, als seine Mutter sich neben ihm auf der Couch niederließ.

„Können wir reden?“, fragte sie und drehte ihren Oberkörper in seine Richtung.

Sein Puls stieg an, trotzdem nickte er.

Melissa bombardierte ihn mit Fragen bezüglich seiner Beziehung mit Ruben. Angespannt erzählte er und atmete erleichtert auf, als ihr Lächeln mit jedem Satz breiter wurde.

„Ich weiß, eine Schwangerschaft ist ausgeschlossen, aber …“

Linus protestierte lautstark gegen ein Aufklärungsgespräch und drückte ein Kissen gegen sein Gesicht. Seine Wangen standen in Flammen. Melissa gab kichernd nach. Gemeinsam lachten sie. Allmählich fiel die Anspannung von ihm ab. Das Lachen verklang. Zurück blieb die Stimme im Fernsehen, die das Wetter verkündete.

„Ich bin froh, dass du endlich zu dir stehst“, sagte Melissa.

Er umarmte das Kissen, suchte nach einer Antwort, doch fand keine, also zog er die Knie an, legte den Kopf darauf ab und schaute seine Mutter an. Sie lächelten einander an und Linus hörte das Lied seiner Kindheit im Kopf. Das fühlt sich seltsam an.

„Hannah hat mich ausgequetscht, warum du plötzlich eine Freundin hast“, sagte sie und positionierte sich um, sodass sie wie ein Teenager im Schneidersitz auf dem Sofa hockte. „Und ob du auf einmal bisexuell bist.“

„Trotzdem hat sie es geschafft, die Klappe zu halten?“, fragte er ungläubig und beugte sich vor. Sie nickte grinsend und schaute zum Fernseher, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich zu einer ernsten Miene.

„Du bleibst morgen bitte Zuhause.“

Linus folgte ihrem Blick zum Bildschirm. Die Karte war voll von Rot und Lila, hohe Windgeschwindigkeiten und Gewitter wurden vorausgesagt.

„Darf Ruben hier übernachten? Dann können wir zusammen zuhause bleiben.“

„Sonst fragst du doch auch nicht“, sagte sie lachend und schnappte sich eine Wolldecke.

„Aber jetzt weißt du es.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Wen du liebst ändert nichts“, sagte sie mit festem Ton und schlang die Arme um ihren Sohn. Prompt erwiderte er die Umarmung und seufzte zufrieden. Für einen Moment verharrten sie so. Traurigkeit erfüllte seinen Körper. Ich werde Mama vermissen, wenn ich weg bin. Riot redete ihm ein schlechtes Gewissen ein. Die werden dich schnell vergessen, sagte er.

„Habt ihr schon miteinander geschlafen?“

„Mama!“ Er drückte seine Mutter weg und presste abermals sein Gesicht in das Kissen. Er erwiderte den Blick und war sich dessen bewusst, dass seine Wangen wohl die Farbe einer Tomate angenommen hatten.

„Wir haben‘s noch nicht getan“, nuschelte er. Sein Handy vibrierte.

„Du weißt ja-“

„Ja-Ja, ich weiß.“ Er sprang auf und wedelte mit seinem Telefon herum. „Leo ruft an.“

Mit diesen Worten sprintete er die Treppen hinauf in sein Zimmer. Als er ankam, hatte das Vibrieren bereits aufgehört. Er holte seinen Laptop und rief seinen Kumpel kurz darauf per Videochat an.

Leo lehnte sich im Stuhl zurück. Sie begrüßten sich und warfen Smalltalk-Fragen hin und her. Danach erzählte Leo vom Praktikum und dem Studienstart im Oktober.

„Machst du auch ein freiwilliges soziales Jahr?“, wollte er wissen. Linus zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“ Sein Hintern traf die Matratze, er lehnte sich an das Bettgestell. Warum soll ich mir Gedanken über die Zukunft machen?

„Wo ist Timo?“ Mit den Augen suchte er den Bildschirm ab.

„Der wurde abserviert.“ Leo zuckte mit den Schultern.

„Schon wieder?“ Linus nahm eine Wasserflasche und schmiss sie in seinen Schoß. „Das hat er doch morgen schon vergessen.“

Leo grinste. „Wahrscheinlich. Er hat gestern von irgendeiner Jasmin geredet.“

Linus spielte mit seinen Haaren und glotzte auf den Handybildschirm, das ein Selfie von Ruben und ihm. Die geröteten Narben stachen heraus, sein Arm angehoben, die Finger formten ein V. Ein strahlendes Lächeln zierte ihre Lippen, als sie vor einer Kuh posierten. Avantis Ohr lugte im Eck des Bildes herein. Rubens Locken hingen ihm in die Stirn und verdeckten die buschigen Augenbrauen.

„Was soll die emotionale Gesichtsexplosion?“

Er hob den Kopf, Leo grinste ihm entgegen. Linus zeigte das Bild in die Laptop Kamera. Er verzog sein Gesicht zu einer traurigen Grimasse, als Leos Lächeln verschwand, seine Augen zusammenkniff und sich vorbeugte.

„Er verletzt sich selbst?“, fragte er zögerlich.

„Ich weiß nicht, warum er es macht“, sagte Linus und wischte sich übers Gesicht. „Aber er hat mir versprochen aufzuhören.“ Er stoppte sich selbst. Ein schlechtes Gewissen verschlang ihn. Ruben hat es immer versteckt und du Idiot zeigst es allen, lachte Riot. Linus schloss die Augen und atmete tief durch.

„Wie geht’s dir?“ Als er die Augen öffnete, schaute Leo besorgt drein. „Wenn du ehrlich bist.“ Seine Finger wischten über die Kamera seines Computers.

„Keine Ahnung.“ Er lächelte, um dem Mitleid zu entgehen und atmete lautstark aus. „Man lebt halt. Und wenn‘s doch nicht geht, dann …“ Grinsend legte er Daumen- und Zeigefingerspitze zusammen und führte sie symbolisch zum Mund. Er legte den Laptop in seinen Schoß. Ding, machte das Handy und verlangte abermals seine Aufmerksamkeit – besser gesagt: Ruben. Ohne zu zögern, öffnete er den Chat, in welchem ihn ein Selfie zum Lächeln brachte. Die Unterschrift brachte sein Herz zum Höherschlagen. Sie lautete: Danke, dass du mir heute bei der Arbeit geholfen hast. Hat echt Spaß gemacht, mit dir und Avanti im Stroh rumzutoben. Das Bild zeigte ihn oberkörperfrei. Er grinste in die Kamera. Die pitschnassen Haare und der Hintergrund verrieten, dass das Bild im Badezimmer nach dem Duschen aufgenommen wurde.

 

Linus: Du hast es geschafft!

Linus: Gibt es aus dieser Serie mehr Bilder? ;)

 

Ruben: Nicht für dich ;)

 

Linus: Willst du bei mir schlafen? Morgen wird es stürmisch. Mama will, dass ich Zuhause bleibe.

 

Er ignorierte Riot, als sein Blut Richtung Körpermitte schoss. Zwei blaue Haken, aber keine Antwort. Vielleicht-

„Hallo?“ Leo wedelte mit der Hand herum. Er zuckte mit den Schultern, schnappte sich ein Bier und öffnete es zischend. Er trank einen Schluck und kippelte mit dem Stuhl, sodass er fast nach hinten umkippte.

Linus‘ Wangen flammten auf. Ich hoffe, ich habe nicht wieder laut gedacht. Er suchte nach einer Reaktion seines Kumpels und fand keine. Puh. Glück gehabt.

„Sorry. Was hast du gesagt?“

Leo senkte den Kopf und seufzte tief. „Tut mir leid, dass wir dir das eingebrockt haben.“

„Was?“ Er nahm die Wasserflasche aus dem Schoß und trank einen großen Schluck.

„Chanelle. Ich hatte die ganze Zeit bedenken.“

„Wie kommst du da jetzt drauf?“ Ding. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit bei Leo zu lassen.

„Hast genug Knutschflecken.“ Seine Mundwinkel zogen sich für einen Moment nach oben, dann kehrte die Trauermiene zurück. „Aber du kannst mir nicht erzählen, dass du sie liebst.“ Soll ich es ihm sagen? Er schaute aufs Handy, um Zeit zu schinden. Sein Herz machte einen riesengroßen Satz.

 

Ruben: Kannst du die Tür aufmachen?

 

Den Laptop stellte er achtlos auf der Matratze ab. Er sprang auf, die Flasche landete auf dem Boden und kullerte unters Bett. Die Tür knallte gegen den Schrank. Um ein Haar fiel er die Treppe hinunter, fing sich aber und riss die Haustür auf. Voller Freude machte er einen kleinen Hüpfer und es war ihm peinlich, doch er schüttelte das Gefühl ab. Avanti trottete ins Haus und ließ einen Stock im Flur fallen.

„Warum hast du nicht geklingelt?“

Ruben fuhr sich verlegen durchs Haar. „Du kennst mich doch.“

Linus umarmte seinen Freund, nahm ihn – nach kurzer Diskussion – Huckepack und drehte mit ihm Kreise um die Couch. Nach der dritten Runde trug er ihn nach oben. Im Gang stoppte er in seiner Bewegung, als ihm ein neues Bild auffiel. Ruben klammerte sich fest, da der plötzliche Halt ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Linus deutete auf das Bild neben dem, auf dem Hannah mit ihrem Freund zu sehen war. Das neue zeigte Ruben und ihn. Der Lockenkopf klammerte seine Arme fester um Linus‘ Schultern und gab ihm einen Kuss auf die Haare. Deshalb hat sie nach einem Bild gefragt,dachte er und lachte, als Ruben einen Freudenlaut ausstieß.

„Das ist echt süß“, sagte er, während sie das Zimmer betraten. Er sprang ab, drückte den Raucher gegen die Wand und zupfte an dessen Shirt. Verwirrt schlüpfte Linus hinaus und legte es in Rubens bereits ausgestreckte Hand. Er hat gesagt, er drängt mich zu nichts, dachte er mit klopfendem Herzen. Oder denkt er, dass ich ihn deshalb eingeladen habe? Ich meine, es ist schon nach zehn …

Ruben entledigte sich seines Oberteils und zog Linus‘ an.

„Ich will in deinem schlafen“, sagte er und drückte ihm einen kurzen Kuss auf. „Das riecht gut.“

Linus lehnte sich vor und vereinte ihre Lippen abermals. Er ließ sich fallen, akzeptierte seine Erektion, blendete Riot aus und zog seinen Freund näher zu sich.

„Was machen wir eigentlich an deinem Geburtstag?“, fragte er. Ruben zuckte mit den Schultern.

Der Laptop sprang Linus ins Auge. Sanft schubste er den Jüngeren weg und hastete zum Bett. Anruf beendet, zeigte der Computer. Verbindung weg? Habe ich aufgelegt? Oder er? Er checkte sein Handy. Eine Nachricht bestätigte seinen Verdacht. Sein Herz rutschte ihm in die Hose und er war sich sicher, dass es sich so anfühlte, einen Herzinfarkt zu haben.

 

Leo: Ihr passt gut zusammen. Viel Spaß euch noch ;)

 

„Ich habe uns gerade geoutet“, stieß er aus und spürte keine Sekunde später Rubens Präsenz neben sich. Er zeigte ihm die Nachricht und erklärte die Situation.

„Wie fühlst du dich jetzt?“

Linus zuckte mit den Schultern, sein Rücken sank in die Matratze. Warum fragt mich das heute jeder?

„Keine Ahnung.“ Er atmete tief ein, starrte an die Decke, erwiderte den besorgten Blick seines Freundes und atmete langgezogen aus. Die Müdigkeit saß in seinen Knochen und zerrte ihn in die Tiefe. Das Gefühl der Taubheit holte ihn ein, wie jede Nacht, und Rubens Dasein konnte ihm diesmal nicht helfen. Alles ist so verdammt anstrengend. Er zwang sich zu einem Lächeln.

„Mir geht’s gut.“

 

 

 

 

 

 

-35-

Ich vermisse dich, dachte Ruben. Eine Figur saß einige Hundert Meter weiter unter der Baumgruppe und zerrupfte Grashalme. Blonde Strähnen lugten aus der Kapuze hervor. Ruben hockte auf der Bank neben Avanti und beobachtete nachdenklich.

„Ist das Linus?“

Er zuckte zusammen und fuhr herum. Chanelle entschuldigte sich und wiederholte die Frage. Brummend nickte er.

„Seid ihr verabredet? Ich muss mit ihm reden.“

Ruben machte eine Geste zu dem Blonden und schüttelte den Kopf.

„Geh ruhig.“ Was will sie von ihm? Er starrte geradeaus auf den Grabstein vor sich. Gespräch beendet, hieß das für ihn. Sie verstand und verschwand. Das Knirschen des Kieses wurde leiser. Hat er sich doch nicht von ihr getrennt? fragte die hinterlistige Stimme, von der er sich ausmalte, dass jeder sie hatte. Er hörte nicht auf sie. Der Wind wirbelte seine Locken auf und seine Hände wanderten zur Kapuze. Er griff ins Leere, denn er trug nur ein graues T-Shirt, obwohl der kühle Wind seine Haut, zu der einer Gans verwandelte. Ich bin stolz auf dich, hallte Linus‘ Stimme in seinem Kopf wider. Endlich kannst du mit T-Shirt rumlaufen.

Dreck und Moos bedeckten die eingravierten Buchstaben des Grabsteins und färbten ihn grünlich. Was glaubst du, warum er keinen Sex mit mir will? fragte er den Stein – diesmal nur in seinem Schädel, denn es wäre seltsam, wenn jemand ihn hören würde. Er hat nie gesagt, dass es an mir liegt. Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihm breit.

„Ich hab ihn angelogen“, sagte er. „Wegen dir. Hab ihm gesagt, dass ich heute in den Stall muss.“ Seine Augen huschten von links nach rechts. Niemand in Sicht. Er zupfte an dem Gummiband. Wie ein Stromschlag durchfuhr der Schmerz ihn – nur für einen Moment. Ein weiteres Mal zog er daran und ließ es zurückschnalzen.

„Wie oft habe ich dich nicht besucht, weil ich mit ihm unterwegs war? Ist das okay für dich? Wie hast du mal gesagt?“ Er grinste. „Sobald du verknallt bist, lässt du mich bestimmt linksliegen.“ Seine Lider schlossen sich, er genoss den Klang der Stimme, die in seinem Kopf widerhallte und sah das Lächeln vor sich.

„Aber ich gehe dir bestimmt auf den Sack, wenn ich hier ständig rumhänge, oder?“ Die Realität holte ihn ein, als er auf eine Antwort wartete, aber keine bekam. Eine Biene schwirrte vor seinem Gesicht. Er wedelte mit der Hand und scheuchte sie davon und schaute zu, wie sie immer kleiner wurde, bis ihr kleiner Körper mit dem dunklen Baum im Hintergrund verschmolz. Er konnte nicht anders, als neugierig zur Wiese zu glotzen. Chanelle und Linus nahmen sich in den Arm. Aus Sekunden wurde eine Minute. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, die Arme fest um sie geschlungen. Ein Funken Eifersucht befeuerte Rubens Inneres. Er schüttelte es ab, kein Platz dafür, zu viele andere Gefühle. Es gibt keinen Grund dafür. Linus ist schwul. Er strich über seine Haut. Jede einzelne Narbe stach ein wenig heraus. Gerade genug, um sie spüren zu können.

 

Linus: Ich hab dich angelogen. Muss heute nicht arbeiten. Kommst du zum Friedhof, wenn ihr fertig seid?

 

Das Gummiband schnappte gegen sein Handgelenk. Sein Handy glitt zurück in die Hosentasche.

„Ich habe ihm noch nicht von dir erzählt. Einmal hab ich‘s versucht, aber Chanelle kam dazwischen.“

Linus marschierte über die Wiese Richtung Straße. Rubens Herz machte einen Satz.

„Keine Ahnung, wie ich es ihm sagen soll.“ Seine Augen fixierten den Stein, als glaubte er, die Überreste darunter würden ihm Rede und Antwort stehen. Seine Hand berührte Avantis Fell, das Gesicht folgte. Das Tier dämpfte den Seufzer ab. Kies knirschte unter schnellen Schritten. In der Nähe summten Bienen und inspizierten die Rosen, die Ruben mitgebracht hatte. Avanti hob den Kopf, wedelte mit dem Schwanz und sprang von der Bank. Schweiß tränkte seine Handflächen. Er spürte eine Präsenz neben sich und schielte dorthin. Linus stand neben der Bank und betrachtete den Stein. Die Schultern sanken, der Mund stand offen, der Kiefer verspannte sich.

„Scheiße“, stieß er aus ­– in diesem merkwürdigen Ton, den seine Stimme stets annahm, wenn er laut dachte. Für eine Sekunde schmunzelte Ruben, dann kehrte die Trauermiene zurück. Das Gefühl, in ein tiefes Loch zu fallen, war zurück, so wie vor fast genau drei Jahren. Tränen schwollen in seinen Augen auf. Linus ließ sich auf der Bank nieder, legte den Arm um seine Schultern und zog ihn zu sich. Ruben suchte Halt, indem er seine Finger in den Stoff krallte und sein Gesicht gegen die Brust des anderen presste. Tränen sprudelten, kannten keinen Halt und durchnässten Linus‘ Shirt. Dunkle Flecken auf dem Stoff und Rubens gerötete Wangen bewiesen, dass er sie vergossen hatte. Wie die Grabsteine, die neben Erinnerungen und materiellen Gegenständen das einzige Zeichen für die Existenz der Verstorbenen waren.

„Es tut mir leid“, flüsterte Linus und gab ihm einen Kuss auf den Haaransatz.

Vier Worte, die sein Herz herausrissen und ihn zum Tag der Beerdigung katapultierten. Leere Worte, die ihn nervten, die er damals tausend Mal gehört hatte. Auch Linus hatte sie bereits mehrmals ausgesprochen und auch von ihm wollte Ruben sie nicht hören, doch etwas an der Tonlage beruhigte ihn. Etwas brachte ihn dazu, die Worte zu glauben. Warum?fragte er sich und zerbrach sich darüber den Kopf, denn es lenkte ihn ab. Seine Finger krallte er in Linus‘ Rücken und er wusste, dass es vermutlich wehtat, aber sein Freund beschwerte sich nicht. Seine Stimme, fiel Ruben ein. Sie klang wieder so. Er hat laut gedacht. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Du würdest ihn für gut befinden, stellte er fest und hob den Kopf. Statt in den Himmel zu starren, schaute er in die braunen Augen.

„Ich hab dich angelogen“, sagte er.

„Macht nichts.“ Linus‘ Finger glitten durch die Locken. Ruben schloss die Augen, atmete zitternd ein und begrüßte die Trauer. Er harkte den Finger um den Gummi. Keine Sekunde später erfüllte ihn der Schmerz. Linus‘ Lippen deuteten ein Lächeln an. Ruben zog die Mundwinkel nach oben. Es war alles, was sein Körper zuließ. Ja, es hilft, bestätigte er, ohne den Mund zu öffnen.

 

Das Summen der Bienen leistete ihnen Gesellschaft, bis die Sonne sich verabschiedete. Der Gesang der Vögel begleitete sie, bis der Mond sie begrüßte und wurde abgelöst von Lockmelodien der Grillen.

„Möchtest du ihm noch etwas näher sein?“, hauchte Linus, als hätte er Angst vor seiner eigenen Stimme. Was meint er?fragte sich Ruben, nickte aber trotzdem. Hand in Hand wanderten sie den Berg hinauf. Hier waren sie den Sternen näher, aber nicht nah genug. Nie wieder würde Ruben ihm nochmal so nah sein, dass er ihn umarmen oder dessen Stimme hören konnte. Aber für diesen Moment war etwas näher nah genug. Er streckte die Hände in die Luft. Noch ein Stück näher, bat er. Arme schlangen sich um seinen Oberkörper, Linus‘ Kinn drückte gegen seinen Rücken. Vielleicht hat er meine Gedanken gehört. Vielleicht sind wir füreinander bestimmt, Seelenverwandte, würdest du jetzt sagen, und Seelenverwandte verstehen sich ohne Worte. Seine Füße verließen den Boden und er reckte seine Finger so gut er konnte und er starrte den hellsten Stern an. Guck mal, Jan, ich fliege! lachte er innerlich. So wie du. Er ließ die Erinnerungen wie einen Film abspielen und versank in der Melancholie.

Irgendwann entschied er, die Vergangenheit zu verlassen und zum Hier und Jetzt zurückzukehren. Seine Hände sanken und landeten auf Linus‘ Armen. Er verstand und ließ ihn hinunter, Ruben drehte sich in seinen Armen, seine Wange presste er gegen die Brust, seine Hände wanderten zu seinen Haaren. Er sog den Geruch seines Freundes ein, das ungewaschene Haar hinterließ einen Fettfilm auf seinen Händen. Sie setzten sich auf die Bank, ihre Hände fanden einander. Unsere Hände sind wie füreinander geschaffen. Als wäre meine nur dafür gemacht, seine zu halten.

„Ich würde Jan gerne kennenlernen“, sagte Linus und drückte Rubens Hand. „Darf ich ihn so nennen? Erzählst du mir von ihm?“

„Klar darfst du.“ Lächelnd erwiderte er den Druck. „Er war der beste Bruder der Welt.“

Und dann erzählte er. Von der ersten Erinnerung bis hin zur letzten und Linus nickte und fragte und gemeinsam lachten und weinten sie.

„Wenn wir ein Stückchen gehen, kommen wir noch höher“, sagte Linus.

Also gingen sie weiter. Der Mond leuchtete ihnen mit seinem Strahlen den Weg. Die Bäume raubten das meiste davon. Sie mussten erraten, wo Stolperfallen und Pfützen auf sie lauerten, aber sie hielten einander und stolperten und lachten gemeinsam. So bahnten sie sich ihren Weg durch die Nacht, einen Schritt nach dem anderen, bis zur nächsten Aussichtsplattform. So nah war ich dir lange nicht mehr, dachte Ruben. Linus hob ihn hoch, noch höher und Ruben streckte sich noch weiter. Noch ein kleines Stückchen näher.

 

 

 

-36-

Linus atmete tief durch. Es ist bestimmt nicht so schwer, wie es aussieht, dachte er und fummelte an seinem Shirt herum. Und es ist ihm offensichtlich sehr wichtig. Sonst würde er nicht ständig davon reden. Er dachte zurück an gestern, als er Rubens Instagram-Feed gesehen hatte, welcher lediglich aus Skatevideos und Hundefotografie bestanden hatte.

„Bringst du mir Skateboard fahren bei?“

„Was?“, fragte Ruben. Seine Mundwinkel zogen sich in die Vertikale. „Ach so. Jaaaa!“ Er sprang im Zimmer herum und faselte von Dingen, von denen Linus keine Ahnung hatte.

Bist du ein Pädophiler, oder was? Warum stehst du auf so etwas kindliches? fragte Riot. Linus verdrehte die Augen. In seinem Kopf wollte er antworten, ließ es jedoch und schob die negativen Gedanken beiseite. Die Müdigkeit war heute prominenter als sonst und die Hitze, die im Zimmer lungerte, bescherte ihm den Drang, eine Wasserschlacht zu veranstalten. Aber dann sehe ich ihn halb nackt … Ein kribbelndes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus. Er schüttelte sich. Zeit für einen Themenwechsel.

„Da…“ Er zeigte an die Wand, wo ein altes Skateboard angebracht war. „…würde perfekt ein Straßenschild hinpassen. Die Jungs und ich haben vor ein paar Jahren eins geklaut, als wir besoffen heim sind.“ Er erzählte die Geschichte – zumindest den Teil, an den er sich erinnerte. Avanti sprang aufs Bett und Ruben legte sich zu ihm und streichelte ihn ausgiebig.

„Du hast so viele coole Geschichten. Ich würde so etwas auch gerne machen, aber ich hatte nie Freunde.“

„Jetzt hast du Freunde“, sagte er und versuchte dabei, sich nichts von der Traurigkeit anmerken zu lassen. Er ließ sich neben den Schüchternen fallen, seine Hand landete auf dessen Wade. Ich hoffe, die Jungs kümmern sich gut um ihn, wenn ich weg bin.

„Ich habe dich.“ Ruben zeigte auf ihn. „Timo und Leo sind deine Freunde, nicht meine. Die mögen mich nicht einmal.“

Linus verdrehte die Augen und stieß lautstark die Luft aus. Er zog das Handy raus und scrollte durch den Gruppenchat.

„Du hast Recht“, sagte er und zeigte Nachrichten. „Sie mögen dich nicht.“ Er grinste breit. „Sie lieben dich.“

Ruben starrte auf den Bildschirm und lächelte verlegen, seine Wangen bekamen Farbe. Sein Blick fiel auf den Vierbeiner.

„Komm, gehen wir Skateboard Fahren. Wir müssen aber nochmal mit dem Hund raus.“

Ich meinte doch nicht heute, jammerte er innerlich, nickte aber trotzdem und rappelte sich mühsam auf. Können wir nicht hierbleiben und schlafen?

„Feini“, flüsterte Ruben seinem Hund zu, bevor auch er aufstand. Linus‘ Venen transportierten ein warmes Gefühl durch seinen Körper. Er hat gesagt, das bedeutet „Ich liebe dich.“

„Was wollte Chanelle gestern von dir?“

„Nur kurz reden. Ich hab mich bei ihr entschuldigt und sie hat gesagt, dass sie mir verzeiht, nachdem sie mir eine gepfeffert hat.“ Er rieb sich symbolisch die Wange.

„Verdient.“ Kichernd zog er eine Leine vom Haufen.

„Du hast doch die neue Leine.“ Fuck. „Also … habe ich gehört.“

Ruben wuschelte ihm lachend durch die Haare und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich wusste, dass sie von dir ist. Aber ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt.“ Ihre Lippen trafen sich, dann löste er sich und holte die Leine aus dem Schrank.

Linus umfasste die schlaksigen Finger und zog den Schüchternen zu sich. Er öffnete seinen Hosenstall und deutete ihm, auf die Knie zu gehen.

„Ich warte“, sagte er grinsend.

Ruben fiel wortlos auf die Knie und schielte nach oben. Hastig trat Linus einen Schritt zurück, schnürte die Hose zu und kratzte sich verlegen im Nacken. Hitze durchflutete seinen Körper.

„Nur ein Scherz“, stieß er aus und öffnete die Tür. „Würdest du wirklich …?“

„Natürlich. Hier und jetzt.“ Er warf ihm einen Blick zu, der sagte Kein Stress, ich lasse dir Zeit.

Wie soll ich mich da nicht unter Druck gesetzt fühlen? fragte sich Linus. Da fragst du noch? erwiderte Riot mit spöttischem Ton. Du hast angefangen. Zupfen an seinem Shirt, ein jämmerlicher Versuch, seinen Körper abzukühlen.

Ruben schnappte sein Skateboard aus dem Eck und holte das alte von der Wand.

Linus griff an seine Hosentasche und schlug seine flache Hand gegen die Stirn, als sie vor dem Haus standen.

„Scheiße. Ich hab mein Handy vergessen.“ War das glaubwürdig? Er warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und huschte durch die Tür.

„Ich weiß nicht. Davon halte ich nichts“, drang eine tiefe Stimme aus der Küche.

„Versuch es doch wenigstens.“

Er klopfte an die offene Tür und trat dann vorsichtig in die Küche.

„Entschuldigung, ich hab da mal ‘ne Frage.“ Unschuldig lächelte er, wissend, dass er das Gespräch unterbrochen hatte.

Neugierig schauten die Eltern ihn an. Der Vater verschränkte die Arme vor der Brust, während die Mutter breit lächelte.

„Ich wollte Ruben zu seinem Geburtstag mit einem Ausflug ans Meer überraschen“, sagte er. Das Lächeln der Frau verschwand mit jedem weiteren Wort. Nachdenklich starrte sie ihn an.

„Er muss nächste Woche nicht auf dem Hof arbeiten und wir wären nur ein paar Tage unterwegs.“

„Nein“, sagte der Vater und zog den Blick seiner Ehegattin auf sich. Hoffnungsvoll schielte Linus zu ihr. Bitte, stimm‘ ihn um.

Ein entschuldigender Ausdruck bildete sich auf ihrem Gesicht. Scheiße. Er wendete sich zum Gehen und machte zwei Schritte später kehrt. So leicht gebe ich nicht auf.

„Warum nicht?“ Er machte den Alten nach und verschränkte seine Arme.

„Wir kennen dich kaum.“ Der Vater begann mit seiner Aufzählung. „Ruben ist noch keine Achtzehn.“ Ernsthaft?

„Und ihr könntet da ja sonst was treiben“, fügte die Mutter hinzu, als dem Vater keine Argumente mehr einfielen. Sex zum Beispiel? dachte Linus, wagte es jedoch nicht, es auszusprechen.

„Okay. Dann fahren wir nächste Woche nach seinem achtzehnten“, sagte er und verwendete all seine Kräfte, das Grinsen zu unterdrücken.

„Solange er unter meinem Dach wohnt, tut er, was ich sage", sagte der Griesgram. Zischend öffnete er ein Bier, wofür er einen Seitenblick der Mutter kassierte. Linus verdrehte die Augen. Er war zu müde, um zu diskutieren. Deshalb nimmt Ruben mich kaum mit zu sich. Schnellen Schrittes bewegte er sich auf die Haustür zu. Seine Eltern sind unerträglich. Sein Blut begann zu kochen und er verspürte den Drang, seinen nächsten Gedanken auszusprechen.

Er stoppte, drehte um und stand Sekunden später wieder in der Küche.

„Sind wir mal ehrlich: Wäre ich ein Mädchen, würden Sie es erlauben, oder?“

Der Alte lachte und verschüttete Bier auf sein bereits fleckiges Shirt. Die Mutter stotterte vor sich hin. Wir werden Sex haben, nur, damit sie sich aufregen können, dachte Linus und machte sich erneut auf den Weg.

„Wie bitte?“, schrie die Alte hysterisch und redete auf ihren Mann ein. Hab ich schon wieder laut gedacht? Linus verschwand aus der Tür. Zum Glück hat er nichts mitbekommen, dachte er und winkte seinem Freund zu, der mit Avanti im Garten tollte. Er lächelte, als sei nichts gewesen, sie brachten den Hund ins Haus und machten sich auf den Weg.

„Wie geht das überhaupt?“, wollte er wissen, als Ruben ihm während des Gehens beibrachte, wie man das Holz mit Rädern trug.

„Zeig ich dir gleich“, sagte der Jüngere und strahlte bis über beide Ohren. Das ist ihm echt scheiß-wichtig. Ich darf es nicht verkacken. Linus ignorierte die Nervosität, die in ihm aufkam. Andererseits …

„Bekomme ich dann eine Teilnehmerurkunde?“

„Nein“, gluckste Ruben und gab seiner Schulter einen leichten Stoß. „Du kriegst eine Siegerurkunde.“

Ich darf also wirklich nicht verkacken. Er gab seinem Freund einen skeptischen Seitenblick und versuchte herauszufinden, ob er es ernst meinte. Sie bogen um eine Hausecke und landeten in einem verwachsenen Trampelpfad, den kein Bewohner zu kennen schien. Er ergriff Rubens Hand, blieb stehen und drängte ihn gegen den Teil der Hauswand, der nicht verwachsen war. Das Skateboard lehnte er gegen die Wand, Ruben ließ seins achtlos fallen. Ihre Lippen trafen sich. Linus‘ Hände fanden ihren Weg unter das Oberteil des anderen und erkundeten den Oberkörper, bevor sie an der Taille zum Liegen kamen. Der Schüchterne rührte sich nicht. Männer denken nur mit dem Schwanz, schossen Linus die Worte seiner Schwester durch den Kopf. Vor einigen Jahren hatte er das Gespräch zwischen seiner Mutter und Hannah zufällig mitgehört und die junge Dame hatte verheult über ihren Ex Freund gesprochen. Ich habe mir geschworen, nie so zu sein, dachte er und zog die Hände zurück. Er löste sich. Rubens Blick wanderte zur Körpermitte seines Gegenübers, Linus‘ folgte. Scheiße. Er wich zurück, zupfte an seiner Hose herum und drehte sich weg. Er räusperte sich lautstark und kramte in seiner Hosentasche. Ruben stand mit knallroten Wangen reglos herum, seine Finger rangelten miteinander, die Augen suchten den Boden ab.

„Kaugummi?“, fragte Linus und streckte seine Hand aus. Der Schüchterne hob den Kopf, ein Grinsen nahm sein Gesicht ein. Er trat einen Schritt auf seinen Freund zu und nahm das Angebot an. Ihre Hände fanden einander, die Finger verhakten sich und verschmolzen zu einer schwitzigen Kugel. Sie schnappten sich die Skateboards und liefen weiter. Der Weg war so eng, dass sie im Gänsemarsch hintereinander her trotten mussten.

Ein unwohles Gefühl lauerte Linus auf, als sie am Ende des Pfads ins Freie traten. Seine Augen huschten von links nach rechts. Er wollte sich die Strähnen aus der Stirn wischen, fand jedoch keine freie Hand. Er kniff die Augen zusammen und starrte der Sonne entgegen. Seine langen Haare sind nicht nur süß, sondern auch praktisch, schoss es ihm durch den Kopf. Rubens Locken waren so lang und voluminös, dass sie dem halben Gesicht Schatten spendeten. Linus ignorierte das Ziehen in seiner Lendengegend. Was ist denn los mit mir? wunderte er sich und schnaubte. Rubens verwirrter Blick verriet ihm, dass er dieses Mal nicht laut gedacht hatte. Er befreite seine Hand aus dem Schweißbündel.

„Sorry.“ Seine Schultern zogen sich nach oben, bevor sie in die Ausgangsposition zurück sanken. „Zu heiß.“

„Ich?“ Ruben grinste unschuldig. „Ich weiß.“

Hat er gerade gezwinkert? Seine eigenen Füße brachten ihn ins Wanken. Sein Freund packte ihn prompt und gab ihm Stabilität, bevor er kurz darauf losließ. Geht es ihm genauso wie mir? Er musterte seinen Nebenmann, doch fand nichts Auffälliges.

 

Im Skatepark angekommen legten sie sofort los.

„So stellst du dich hin … Nein, der Fuß muss weiter hinter… nicht so weit. Ja, so.“

Ängstlich griff Linus die Hände seines Freundes und ließ sich ziehen. Ruben hielt ihn fest, als er das erste Mal selbst anschob und dabei fast stürzte.

Eine Stunde später schoss das Rollbrett über den Beton, die Rampe hinauf und wieder hinab. Linus‘ Hintern landete unsanft auf dem Boden und fluchte lautstark. Ruben bewahrte ihm vor Kontakt mit dem Board, das auf ihn zugeschossen kam und half ihm hoch – im Gegensatz zu den bisherigen Malen, konnte er sich ein Lachen nun nicht mehr verdrücken. Linus wischte sich den Staub von den Klamotten, sein Freund half ihm dabei. Er widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen, als er die Hände seines Freunds auf seinem Körper spürte. Denk an Frauen, denk an Frauen … was machst du? Nicht hart werden … verdammt.  Genervt stieß er die Luft aus, sein Körper hörte nicht auf ihn. Er packte Rubens Hand, zog ihn mit sich und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn.

„Komm, jetzt machen wir das, was ich will.“

Abonniere unseren Newsletter!

BoldBooks Logo
ALLi Partner Member
Symbol
Symbol
© BoldBooks 2024