Mustafa Najem wanderte rastlos durch die belebten Flure des ukrainischen Parlaments. Ihm dröhnte der Kopf von dem Gebrülle der ukrainischen Oppositionellen.
»Hanba!! Hanba!!« – Schande, Schande – skandierten sie immer wieder und versuchten die Botschaft, die ihnen gerade übermittelt wurde, niederzuschreien. Najem beobachtete seine Reporterkollegen, die nach draußen hetzten, um die Nachricht sofort weiterzugeben. Einige versuchten, schon auf dem Flur ein Statement zu erhalten, zu der Bombe, die der ukrainische Ministerpräsident Asarow gerade hat platzen lassen.
Najem versuchte, das Gehörte zu verdauen, und war in Gedanken versunken, als er mit jemanden zusammenstieß. Er blickte auf und sah in das mit Bartstoppeln bedeckte Gesicht von Arsenij Jazenjuk, der ihn durch seine trapezförmige Brille irritiert ansah. Er kannte den ehemaligen Parlamentspräsidenten und derzeitigen Vorsitzenden der Vaterlandspartei durch viele persönliche Gespräche sehr gut und sie duzten sich mittlerweile.
Jazenjuks Gesichtsausdruck wechselte von irritiert zu milde. »Mustafa. Tut mir leid. Alles in Ordnung bei dir?«
Najem schüttelte den Kopf, als ob er einen bösen Tagtraum verscheuchen wollte. War das alles gerade wirklich passiert? Er starrte Jazenjuk fassungslos an. »Wir müssen doch etwas tun. Die können das doch nicht einfach so stoppen.«
Arsenij Jazenjuk zuckte resignierend mit den Schultern und nestelte an seiner Brille.
»Geh nach Hause, Mustafa. Hier gibt es nichts mehr zu tun. Wenn wir morgen aufwachen, leben wir in einer Ukraine, die sich weit, weit weg von Europa entfernt hat.«
Najem packte Jazenjuk am Arm und hielt ihn fest.
»Wir können doch jetzt nicht einfach nach Hause gehen und all unsere Träume aufgeben, nur weil eine Bande Verbrecher nicht in der Lage ist, vernünftige Politik für die Menschen in der Ukraine zu machen.«
Jazenjuk schaute müde in die dunklen Augen des aufgebrachten Reporters und runzelte die Stirn.
»Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Asarow hat lediglich gesagt, dass man die Unterzeichnung des Vertrages aussetzen will. Janukowytsch fliegt nächste Woche zum Gipfel nach Vilnius. Dort soll er den Vertrag eigentlich unterschreiben. Bis jetzt hat er noch nichts anderes behauptet.«
»Du meinst, Asarow hat eine andere Meinung als Janukowytsch? Das ist doch Unsinn. Die beiden sind doch wie siamesische Zwillinge. Janukowytsch wird nach Vilnius fliegen, dort der EU die kalte Schulter zeigen und sich anschließend Putin an den Hals werfen.«
»Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Lass uns doch abwarten, was Janukowytsch sagt, wenn er aus Österreich zurück ist.«
»Das ist Bullshit«, sagte Najem zornig. »Arsenij, ihr müsst die Leute auf die Straße rufen.«
Der kahle Jazenjuk fuhr sich mit der flachen Hand über seinen Hinterkopf und kratze sich an den seitlich verlaufenden Stoppeln.
»Die Leute? Welche Leute? Falls es dir nicht aufgefallen ist, befindet sich unser Land in einem Winterschlaf. Die Menschen sind demoralisiert, träge, lethargisch. Sie schleppen sich von Job zu Job, fallen todmüde ins Bett und bezahlen ihre Rechnungen sowie Bestechungsgelder, um über die Runden zu kommen. Sie hassen uns alle, weil wir vor Jahren ihre Gunst verloren haben. Egal ob Julija an der Macht war oder einer der Wiktors. Es ging immer nur darum, den kleinen Mann auf der Straße bis auf sein letztes Hemd auszuziehen. Wenn ich mich jetzt vor die Kameras stelle und DIE LEUTE dazu aufrufe, auf die Straße zu gehen, haben die schon auf einen anderen Kanal geschaltet, bevor ich etwas von der Straße sagen kann. So ein Aufruf kann nur nach hinten losgehen und in einer Katastrophe enden.«
Najem ließ Jazenjuk los und begann wütend hin und her zu laufen.
»Ich werde doch nicht tatenlos zusehen, wie das hier alles den Bach runtergeht. Du musst etwas tun.«
»Geh nach Hause, Mustafa und schlaf eine Nacht darüber. Morgen fängt das Spiel wieder von vorne an.«
Najem blieb stehen und starrte den Politiker an.
»Nein! Wenn wir heute keine Reaktion zeigen, dass uns das nicht egal ist, was die da oben veranstalten, dann werden sie nie auf uns hören. Ich lasse es nicht zu.«
»Was willst du denn machen?«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe das Ganze nicht. Dieser Mistkerl Janukowytsch ist eine verfluchte Hydra. Ist mit verschiedenen Köpfen an drei Stellen gleichzeitig und jeder Kopf erzählt etwas anderes. In Österreich schmeichelt er den Europäern und erzählt, dass er das Abkommen unterzeichnen wird. Uns hält er hin und sagt, dass er noch etwas Zeit braucht und er wird schon unterschreiben. Aber der Kopf, der sich gerade zum Kraulen auf Putin Schoß legt, erwähnt Europa mit keinem Wort.«
»Dann geh doch hin und schlage der Hydra alle Köpfe ab, bis nur der europäische übrig bleibt«, witzelte Jazenjuk.
»Dir ist aber schon das Konzept der Hydra bekannt, oder?«
»Leider ja. Die einzige Option ist, den einen Kopf, der nicht nachwächst, zu überzeugen, was richtig ist.«
»Oder die Hydra zu töten.«
Jazenjuk lachte laut auf. »Ich muss jetzt wieder. Wir sehen uns, Mustafa.«
»Ja, bis später«, murmelte der 32-jährige in Kabul geborene Najem geistesabwesend. Als Sohn des Vize-Bildungsministers von Afghanistan hatte er gelernt, dass Politik nicht eindimensional war und dass man sich nicht mit dem Status quo abgeben durfte, wenn man unzufrieden war.
Wenn man die Welt verändern wollte, musste man dafür aufstehen, kämpfen und zur Not auch sterben. Nach Hause gehen und auf morgen warten war keine Option. Najem hatte diese Devise immer beherzigt.
Als er 2004 für den ukrainischen Ableger der russischen Tageszeitung Kommersant anfing, als Journalist zu arbeiten, waren seine Berichterstattung immer darauf ausgerichtet, der grassierenden Korruption in der Ukraine das Handwerk zu legen. Sich mit denen da oben anzulegen und sie im Fernsehen bloßzustellen, war zu seiner Lebensaufgabe geworden. Landesweit bekannt wurde er 2011, als er in einer Pressekonferenz Janukowytsch provozierend fragte:
«Warum geht es dem Land schlecht und bei Ihnen ist alles gut?«
Die Hydra überzeugen, das Richtige zu tun.
Najem torkelte aus dem Parlamentsgebäude und fuhr mit der Metro nach Hause in seine schlecht beheizte und spartanisch eingerichtete Junggesellenwohnung. Er schaltete den Fernseher an und klappten seinen Laptop auf. Während dieser hochfuhr, holte er sich aus dem Kühlschrank ein Bier.Sein Kopf dröhnte vor lauter Gedanken und eine eiskalte Ohnmacht breitete sich in ihm aus. Sie lähmte und paralysierte ihn. Jazenjuks Worte klangen noch in seinen Ohren.
Wir sind lethargisch. In einem Winterschlaf. Wenn ich sie auf die Straße rufe, wird alles schiefgehen.
»DU kannst sie nicht rufen«, murmelte er vor sich hin, während er sich bei Facebook einloggte. »Aber ich kann es.«
Er scrollte stumpf durch seine Timeline. Überall dieselbe Ohnmacht. Dieselbe Leere. Dieselbe lähmende Kälte.
Ich darf mich ihr nicht hingeben.
Je weiter er sich durch die Posts der sozialen Netzwerke über die Nachricht von Asarow wühlte, merkte er, dass trotz aller Verzweiflung und Agonie eine aufkeimende Wut und unbändiger Hass in den Menschen aufkeimte.
Draußen wurde es dunkel und die bleierne Leere breitete sich weiter aus. Es war kurz nach acht. Auf dem weißen Hintergrund klagte ihn das leere Schreibfeld von Facebook dumpf an.
»Was machst du gerade?«.
Er begann zu tippen.
»Ich gehe auf den Majdan. Wer kommt mit?
Die Antworten und Likes kamen schneller, als er gedacht hatte. Najem schrieb:
»Kommt schon Leute, lasst uns ernst sein. Wenn ihr etwas bewegen wollt, hört auf, diesen Post zu liken. Sagt, ob ihr bereit seid, und wir starten etwas.«
Nach einer Stunde hatte er knapp sechshundert Zusagen. Eine ungeheure Euphorie erfasste ihn. Lethargie oder nicht. Auch wenn nur sechshundert Leute kommen würden, wären es sechshundert mehr, mit denen sich Janukowytsch auseinandersetzen musste. Er schrieb:
»Lasst uns um 22:30 Uhr beim Freiheitsmonument treffen. Zieht euch warm an, bringt Regenschirme, Tee, Kaffee und eine positive Einstellung mit. Weiterleitung der Nachricht wird herzlich gerne gesehen.«
Najem trat hinaus in die eisige Kälte, die den Unabhängigkeitsplatz fest im Griff hielt. Der Platz wurde von den umliegenden Regierungsgebäuden und vom Musikalischen Konservatorium in ein warmes Licht gehüllt. Das Hotel Ukraina mit seinem blauen Schriftzug erhob sich im Hintergrund. Die braune Fassade wurde von Reflektoren sanft angestrahlt, sodass man das Gefühl hatte, auf ein Hotel in der Toskana zu schauen. Hinter den meisten Fenstern des Hotels begaben sich Reisende zu Bett. Der Verkehr rollte auf dem Chreschtschatyk, der Hauptverkehrsader Kiews, unaufhörlich weiter. Auf den Stufen unter dem 63 Meter hohen Unabhängigkeitsdenkmal stand eine kleine Menschentraube. Einige hielten die blaue europäische Fahne mit den zwölf Sternen hoch, andere hatten sich die ukrainische Nationalflagge um die Schulter gebunden. Es waren vorwiegend junge Leute, Studenten und einige Mittdreißiger. Vorbeifahrende Autos hupten aufmunternd und wurden von der Masse frenetisch mit Gejohle und anspornenden Pfiffen gefeiert.
Najem entdeckte seinen guten Freund Sergej Andruschko, der sich eine kleine, ukrainische Fahne in die Tasche seiner dicken Jacke gesteckt hatte und winkte ihm zu. Andruschko winkte zurück. Najem war froh, dass er hier war. Sein Freund hatte bis April als Parlamentskorrespondent für den kritischen Fernsehsender TVi gearbeitet. Nach der Übernahme des Senders durch Alexander Altman, einen ukrainisch-amerikanischen Investor, der vorhatte, die kritische Linie des Senders zu unterbinden, kündigte Andruschko mit weiteren dreißig Mitarbeitern.
Jetzt gehörte er wie auch Najem zum neugegründeten Team von Hromadske.TV. Andruschko und weitere Kollegen aus dem Sender, die Najem im Gewühl erspähte, waren bereits mit ihrer Hauptaufgabe beschäftigt. Sie versuchten, ein paar Interviews einzufangen und filmisch zu dokumentieren.
Die Szenerie wirkte auf Najem zunächst ernüchternd und trostlos. Er hatte mit 700 Leuten gerechnet. Die knapp sechzig, die hier standen, versuchten, sich die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Das leere Gerüst auf der rechten Seite des Platzes, auf dem im Laufe des Dezembers der riesige Tannenbaum aufgestellt werden sollte, verstärkte die trostlose Stimmung.
»Was ist das für ein Quatsch? Warum sind nur so wenige hier?«, fragte ihn ein Mann in einem Kapuzenpulli. Seine ausdrucksstarken, braunen Augen schauten ihn enttäuscht an. Sein Gesicht war unter einem buschigen »Henriquatre«-Bart versteckt, was ihn Najem sofort sympathisch machte. Er trug selber einen ähnlich Barttyp.
»In einer Stadt mit fünf Millionen Einwohner trauen sich gerade 50 Menschen hierher«, schimpfte der Mann weiter. Es fing an, leicht zu nieseln.
»Hab' Geduld«, sagte Najem, holte sein Handy heraus und begann damit, die umherstehenden Leute zu interviewen.
»Als wir vor 15 Minuten hier ankamen, da waren gerade mal 20 Leute hier«, sagte ein junger Mann mit einem glattrasierten Gesicht, einer grünen modischen Mütze und einer Nerdbrille zu ihm. »Jetzt wird es immer voller. Ich würde sagen ... einhundert.«
Najem blickte sich um. Es stimmte. Der Platz füllte sich langsam. Die Türen zu der sich unter dem Unabhängigkeitsplatz befindenden Metro gingen immer wieder auf und spuckten Menschen mit Fahnen und Plakaten aus, die sich zielstrebig zum Denkmal bewegten.
Zwei Polizisten schauten sich die Versammlung an, gingen auf Najem zu, passierten ihn wortlos, um sich zu einer höher gelegenen Stelle zu begeben. Wahrscheinlich, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Mehrere Busse hielten in der Nähe des Platzes. Milizen in Camouflageuniformen stiegen aus. Sie stellten sich neben den Bussen auf, lachten, rauchten und unterhielten sich leise untereinander.
Na das konnte ja heiter werden.
Je weiter Najem herumging und Leute ansprach, um sie zu interviewen, desto mehr merkte er, dass die Stimmung gar nicht so trostlos war, wie es ihm zunächst erschien. Er blickte in lachende Gesichter, fröhliche Augen, Pärchen, die sich innig umarmten und sich leidenschaftlich küssten. Irgendjemand begrüßte einen Freund mit einem herzlichen Schulterklopfen, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Als Zeichen ihrer Verbundenheit überreichte der Neuankömmling dem anderen die Europafahne, die beide sofort aufspannten und breit grinsend in die Höhe hielten. Aus jeder Ecke hörte man aufgeregte Gespräche und ständig lachte jemand. Alles vermischten sich zu einer harmonischen Melodie, die ein Lied vom Aufbruch sang. Najem erspähte einen weiteren Mitarbeiter von Hromadske.TV und umarmte ihn heftig. Jehor Sobolew, ein bekannter investigativer Journalist, der im Juni dieses Jahres die Partei Volia ins Leben gerufen hatte, trat auf ihn zu, drückte ihm kräftig die Hand und sagte:
»Gut gemacht. Das war wichtig, dass du heute den Post geschrieben hast.«
Er richtete seine Hafenarbeitermütze, unter der dichte schwarze Haare hervorquollen.
»Mustafa?«, rief jemand.
Najem drehte sich um und blickte in das fröhliche Gesicht von Juri Luzenko, den im April aus der Haft entlassenem ehemaligen Innenminister der Tymoschenko-Regierung. Als Janukowytsch nach seinem Amtsantritt im Jahre 2010 mit seiner Säuberungswelle anfing, gehörte Luzenko zu den ersten Politikern, die in die Mühlen der regierungstreuen Justiz gerieten. Man verurteilte Luzenko zu vier Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs. Angeblich hatte er seinem Chauffeur eine höhere Pension zugeschanzt und eine kostengünstige Dienstwohnung beschafft. Najem wusste, dass der gesamte Prozess eine Farce und politisch motiviert war. Luzenko Entlassung aus der Haft wurde mindestens so vehement von der EU gefordert wie die Freilassung von Julija Tymoschenko. Luzenkos vorzeitige Begnadigung deuteten viele als Janukowytschs Zugeständnis an die Europäische Union.
»Sieht gut aus«, meinte Luzenko, nahm seine nasse Brille ab, fing an, diese zu putzen, und nickte anerkennend, während er in die Runde schaute.
»Es wird langsam. Vor einer halben Stunde standen hier gerade mal fünfzig Leute«, antworte Najem.
»Mach dir mal keine Sorgen. Deine Nachricht geht gerade durch die Decke.«
Najem nickte und wandte sich an Luzenko:
»Darf ich dich interviewen?«
»Klar. Keine Frage, mein Freund«, entgegnete dieser und Najem begann, mit seinem Handy zu filmen.
»Warum bist du heute hier?«
»Ich bin aus demselben Grund hier wie alle anderen«, antwortete Luzenko mit fester Stimme. »Ich kann nicht zu Hause sitzen und mit anschauen, wie Janukowytsch den Deal mit den Europäern, seine Präsidentschaft und unsere Nation verrät. Wenn ich zu Hause bleiben würde, müsste ich vor Wut alles kurz und klein schlagen. Der Präsident und seine Anhänger müssen verstehen, dass wir ein normales Land sein wollen. Ein Land wie Portugal, Deutschland oder Frankreich, wo ich nicht Angst haben muss, von der Polizei angehalten zu werden, und nur weiterfahren darf, wenn ich die Polizisten geschmiert habe. Ein Land, das für uns normale Bürger funktioniert und nicht für eine kleine Gruppe an der Macht, die es geschafft hat, sich den Reichtum des Landes unter den Nagel zu reißen. Ich will nicht in einer Stadt leben, die sich im Winter wie ein Thermalheilbad anfühlt, weil aus geplatzten Wasserrohren heißer Dampf aufsteigt, während zu Hause Eiszapfen von der Decke hängen, weil die Heizung nicht funktioniert. Überraschenderweise würde ich auch im Sommer gerne unter einer heißen Dusche stehen.«
Luzenko redete sich in Rage. »Aber unsere Regierung ist der Ansicht, dass man im Sommer für drei bis vier Wochen das Heizsystem abschalten kann. DAS ist nicht normal. Und wenn dieser Donetzker uns nicht an Europa heranführt, werden wir im tiefsten Mittelalter als Vasallen Russlands enden. Und das will ich unbedingt verhindern.«
»Nicht nur du, mein Freund, nicht nur du«, pflichtete Najem ihm bei, während er weiterfilmte. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter.
»Hallo, Mustafa«, sagte eine freundliche, warme weibliche Stimme. Najem erkannte eine Reporterin vom Fernsehsender 1+1.
»Darf ich dir ein paar Fragen stellen zu dieser Versammlung hier?«, fragte sie und schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln. »Wir würden gerne ein Statement von dir im nächsten Nachrichtenblock platzieren.«
»Klar.«
Die Reporterin nickte ihrem Fernsehteam zu, das sofort seine Kamera einschaltete und Najem perfekt mit dezentem Scheinwerferlicht in Szene setzte. Die Reporterin machte sich bereit und nickte Najem zu, der signalisierte, dass er ebenfalls bereit sei.
»Wie ist deine Meinung zu der heutigen Ankündigung von Ministerpräsident Asarow?«
»Für mich ist das ein falsches Signal«, antworte Najem entschlossen. »Und viele meiner Journalistenkollegen, die heute hier sind, sehen es genauso.«
»Hast du deswegen zu einer Demo auf dem Majdan aufgerufen?«
»Ich habe zunächst bei Facebook einen Post geschrieben, um zu sehen, ob andere Menschen genauso fühlen wie ich. Ich bin der Ansicht, dass wir aktiv in die Politik unseres Landes eingreifen müssen und uns nicht nur in den sozialen Medien gegenseitig Likes zuschicken sollten. Es ist schön, all diese Menschen, die scheinbar genauso fühlen wie ich, hier zu treffen. Es sind jetzt vielleicht zweihundert Menschen hier, aber vielleicht werden es Tausend bis Mitternacht. Wenn alle, die mir per Facebook zugesagt haben, kommen, wird das eine Veranstaltung, die die Regierung nicht einfach ignorieren kann.«
»Glauben Sie, dass sich das hier zu etwas Größerem entwickeln kann?«
Najem schaute in den schwarzen Himmel.
Wenn du etwas ändern willst, darfst du nicht zu Hause bleiben.
»Wenn die Regierung nicht ihren versprochenen Kurs ändert und sich nicht an ihre eigenen Zusagen hält, wird das hier nicht bei einer friedlichen Versammlung bleiben, die nur lustig Nationalfahnen hin und her schwenkt.«
»Da ist Klitschko«, rief einer aus dem Fernsehteam.
»Danke, Mustafa«, sagte die Reporterin hastig, nickte Najem zu und eilte mit ihrem Team in Richtung des ukrainischen Politikers, der gemächlichen Schrittes über den Platz schlenderte.
Klitschko trug ein schwarzes Sakko, Jeans und der oberste Knopf seines weißen Hemdes war aufgeknöpft. Trotz der Kälte und des Regens wirkte er absolut entspannt und nickte freundlich den Menschen zu, die ihn jedoch misstrauisch beäugten. Von der anderen Seite des Platzes kam der Vorsitzende der rechtspopulistischen Swoboda-Partei, Oleh Tjahnybok, auf die immer größer werdende Menschengruppe zu, schüttelte ein paar Hände und blieb unweit von Najem stehen, der das Handy in seine Richtung drehte und auf den Aufnahmeknopf drückte.
»Wir alle sind aus einem bestimmten Grund hier«, polterte der Rechtspopulist in die Menge. »Um den Präsidenten zum Umdenken zu bewegen. Aber darum wird es in den nächsten Tagen nicht gehen. Es wird um eine Umwälzung des gesamten Landes gehen.«
Aus dem Hintergrund ertönte plötzlich eine durch ein Megafon verzerrte Stimme. Najem drehte sich um, und versuchte zu erkennen, wer da sprach. Es war ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren und einer dicken Daunenjacke.
»Ich denke, dass das der Beginn des Krieges für die ukrainische Unabhängigkeit ist. Unser Land sollte ein Teil von Europa werden. Niemand, nicht einmal ein Präsident, sollte sich dem Wunsch der Mehrheit unseres Volkes in den Weg stellen.«
Es gab spontanen Beifall und aufmunternde Pfiffe. Der Mann übergab das Megaphon an eine rothaarige Frau in einer beigen Winterjacke, die sich eine Kapuze über ihren Kopf gezogen hatte. Die ukrainische Fahne hing von ihrem obersten Knopfloch herab.
»Als ich vor einer halben Stunde hier ankam, standen hier gerade mal fünfzig Leute. Und jetzt schaut euch um, wie viele wir sind«, sie streckte ihren Arm aus mit der flachen Handfläche nach oben. »Schaut, wer neben euch steht. Er wird morgen auch da sein und ich weiß, dass das erst der Beginn ist. Vielleicht sind wir heute nur einige wenige Hundert. Morgen werden wir Tausende sein. Und ich glaube daran, dass hier irgendwann eine Million Menschen stehen werden. Wir müssen jetzt unsere Chance ergreifen und uns unser Land zurückholen. Wir sind alle frustriert und enttäuscht von der Politik. Wir sollten alle aufstehen und gegen diese Ungerechtigkeit vorgehen. Das ist unsere Zeit. Das sind Tage unseres Lebens, von denen wir unseren Enkeln später erzählen können.«