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Die Urgroßmutter - Mädchenträume

Die Urgroßmutter - Mädchenträume · Romane

Ein Mädchen ohne Ausbildung wird Unternehmerin, obwohl sie gegen Widerstände ankämpfen muss und kurz vor dem Ziel alles verliert.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Es war eine Schachtel voller Dokumente, die mir meine Mutter vererbte. Unter all den Papieren fand ich den Entwurf zu einem Brief, den mir meine Mutter hatte schreiben wollen, aber nie abgeschickt hat. Er enthielt die folgende Passage: "Aber nun, wohin damit? Ich meine, nur zur Unterhaltung will ich diese kostbaren Dokumente niemandem geben. Bei dir, bin ich sicher, dass sie gewürdigt werden und du Verständnis hast. Ich wünsche mir, dass du damit etwas Sinnvolles machst." Ich empfand dies als Aufforderung, mich mit meinen Ahnen zu beschäftigen. Am meisten interessierte mich meine Urgroßmutter mütterlicherseits. Wie kam es, dass diese Frau im 19. Jahrhundert in Flüelen ein Hotel führte, in einer Zeit, als es in Uri keine weiterführenden Schulen für Mädchen gab? Ich möchte den Blick auf die so genannt „einfachen Frauen” richten, die Unglaubliches geleistet haben, ohne dass sie deswegen Eingang in die Geschichtsbücher fanden. Unsägliches Leid mussten sie ertragen, wenn sie ihre Kinder verloren, körperliche Schwerstarbeit leisteten, oft in Abgeschiedenheit allein die Herausforderungen durchstehen mussten. Ihre „Bedeutungslosigkeit” zeigt sich darin, dass sie teilweise nicht einmal im Stammbaum vermerkt wurden. Josis Geschichte soll stellvertretend für diejenige von zahllosen Frauen jener Zeit stehen, die nie ausreichend gewürdigt wurden. Vielleicht erleichtert sie auch die Umstände von Frauen zu verstehen, die heute in anderen Kulturen mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfen.

Über den/die Autor:in

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Dr. Eva-Maria Müller hat ihre Wurzeln in Uri. Ihre Vorfahren mütterlicherseits wanderten von Isenthal nach Flüelen aus, wo sie mit Holz handelten und eine Säge betrieben. Dort wuchs ihre Urgroßmutter ...

Prolog

Am 5. Januar 1853 erblickte in einem einfachen Blockhaus in einem kleinen Dorf am Urnersee ein Mädchen das Licht der Welt. Es war das zweite Kind nach einem Sohn, dem Stammhalter Niklaus, benannt nach seinem Vater. Das zweite Kind hätte ebenfalls ein Junge werden und nach dem Großvater Josef heißen sollen. Nun lag da zur Enttäuschung des Vaters ein Mädchen. Was blieb anderes übrig, als es Josefa zu nennen?

Diesen Namen schrieb der Pfarrer wenig später ins Taufbuch. Jedoch hielt ihn niemand im Stammbaum der Familie fest. Nur die männlichen Nachkommen fanden Aufnahme in die Ahnentafel. Mädchen waren nicht wichtig, weil sie den Familiennamen nicht vererbten. Mädchen wurden geheiratet und gehörten dann zu einer anderen Familie. Ein Mädchen zählte viel weniger als ein Junge.

Die Umstände in jener Familie zu jener Zeit ließen in dem Kind einen Widerspruchsgeist wachsen, weil es sich schon sehr früh ungerecht behandelt fühlte. Was konnte es dafür, als Mädchen geboren zu sein? Warum war es seinen Brüdern nicht ebenbürtig?

Josefa wollte nicht heiraten und sich einem Mann unterordnen, wie es für ein Mädchen vorgesehen war. Sie wollte eigenständig sein, wollte beweisen, dass sie genauso gut wie die Brüder war. Sie lernte mit Eifer und entwickelte einen starken Überlebenswillen. Allen Hürden zum Trotz, eignete sie sich die nötigen Kenntnisse an, um unabhängig zu werden.

Josefa wurde in eine Zeit geboren, in der die Schweizerische Eidgenossenschaft eben erst entstanden war. Es war eine Zeit des Umbruchs. Ganz Europa wurde neu geordnet. Herzogtümer und Königreiche verwandelten sich in moderne Staaten. Sie bauten Verkehrswege von der Nordsee bis nach Afrika. Städte wuchsen, zahllose Fabriken entstanden, Universitäten, Banken und Krankenhäuser gab es bald in jedem Land. Eine Erfindung jagte die nächste. Nichts blieb so, wie es zuvor war.

Fortschrittsgläubige Männer regierten das junge Land. Sie planten neue Verkehrswege quer durch die Schweiz, kühne, kunstvolle Alpenstraßen sowie ein visionäres Eisenbahnprojekt durch wildes, unberechenbares Gelände mit enormen Höhenunterschieden und dem längsten Eisenbahntunnel der Welt. Beseelt vom Glauben an eine erfolgreiche Zukunft, kümmerten sie sich nicht um die Opfer, die ihre Vorhaben fordern würden. Die Menschen am Fuß des Gotthards hatten ihre Pläne mitzutragen, ob sie wollten oder nicht.

Die Männer im fernen Bern entschieden über das Schicksal der Leute im kleinen Dorf auf dem Weg zum Gotthard. Sie ließen Häuser niederreißen, dem See Land abtrotzen und elegante Promenaden bauen. Sie ließen Felsen durchbohren, Brücken über Schluchten schlagen und Wunden in Bergflanken reißen. Sie zerstörten damit jahrhundertealte Erwerbszweige und schufen neuartige Arbeitsplätze.

Niemand konnte damals erahnen, wie sehr diese Projekte Josefas Familie betreffen würden. Das schlafende Mädchen wusste nicht, was kommen würde. Es wusste nichts von den Kämpfen mit seinem Bruder, es ahnte nicht, dass es für Mädchen keine Ausbildung gab und dass Mächte ihr Schicksal lenken würden, die nicht zu beeinflussen waren. Das Mädchen schlief selig in jener Januarnacht und träumte von einem schönen Leben.

1858 – 5 Jahre alt

Flüelen, Juni 1858

Josi gähnte und rieb sich die Augen. Mit der rechten Hand tastete sie nach einem ihrer langen, dicken Zöpfe und wickelte ihn um den Zeigefinger. Sie liebte das Gefühl des Haarbündels in ihrer Hand. Wie ein Seil schien es ihr Halt und Sicherheit zu geben. Vorsichtig setzte sich die Fünfjährige auf. Sie wollte einen Blick aus dem weit geöffneten Fenster erhaschen, ohne ihre Geschwister aufzuwecken. Die Sonne ließ erst die obersten Spitzen des Gitschen und der Bauenstöcke aufleuchten, den imposantesten Gipfeln der gegenüberliegenden Bergkette. Sie schienen umso mächtiger, als der Urnersee zu deren Füssen noch im Dämmerlicht des anbrechenden Tages lag.

Die Traurigkeit, die Josi unvermittelt überfiel, war wie ein plötzlicher Regenschauer, der den Tag trübte. Obwohl sie mit vier Geschwistern das Bett teilte, breitete sich eine plötzliche Kälte aus. Die drei Brüder, die sich ihr gegenüber aneinander kuschelten, waren seltsam fern, als ob sie Nebel verschluckt hätte. Und Maria, die erst seit Elisas Geburt vor drei Monaten neben Josi ebenfalls im großen Bett schlief, vermochte keine Geborgenheit zu vermitteln. Sie war mit ihren zwei Jahren noch so klein, dass sie kaum spürbar war.

Mit der Ankunft der jüngsten Schwester wurde es eng, nicht nur im Bett, sondern auch in Mutters Herzen. Mit jedem Neuankömmling schien Josi ein Stück weiter an den Rand gedrängt zu werden, weiter weg von ihrer Wärme und Fürsorge. Jeder Schrei des Säuglings verlangte nach deren vollen Aufmerksamkeit, drängte sie zur Eile, ließ alles andere unwichtig erscheinen. Unwichtig, so fühlte sich Josi seither. Das Neugeborene benötigte die Mutter dringender als sie. Die vielen Kinder verursachten mehr und mehr Arbeit und Sorgen, sogen die mütterliche Liebe restlos auf, sodass für Josi nichts mehr blieb. Als zweitgeborene zählte Josi bereits zu den Großen. Sie musste verstehen, sie musste vernünftig sein. Und sie musste sich mehr und mehr um die Kleinen kümmern. Half sie der Mutter, war sie ihr nahe und war wichtig.

Leise schlüpfte sie aus dem Bett und trat ans Fenster. Der Sommer kündigte sich an. Die würzige Luft einatmend, in der bereits der süße Duft der Linden herüberwehte, schaute sie von der Schlafkammer im oberen Stock in die Ferne zur stolzen Pyramide des Bristen, die den Weg zum Gotthard markierte. Von dort wandte sie ihren Blick zum Garten mit den rankenden Bohnen, weiter zum Hühnerhof bis zur Ziegenweide, die bis weit zum Waldrand hinaufreichte und noch ein Stück weiter bis zum weitläufigen Obstgarten. Es war so schön hier, dass sie die düsteren Schatten in ihrem Kopf zu vertreiben versuchte. Sie lauschte eine kurze Weile dem Lied der Amsel auf dem höchsten Punkt des Nussbaumes, in dessen Schutz sich das Heimwesen der Familie Gisler befand. Das Plätschern des Brunnens vor dem Haus wurde vom gleichmäßigen Rauschen des Gruonbachs untermalt, der sich unweit des Hauses in den Urnersee ergoss. Noch war alles still, die Hühner und die Ziegen im Stall. Nur die ersten Insekten schwirrten im Sonnenlicht.

Josi liebte den frühen Morgen. Ein paar Augenblicke nur für sich bedeuteten ihr ganzes Glück. Sie träumte davon, mit der Amsel in den Himmel fliegen zu können, weit weg, sich unbeschwert und leicht zu fühlen. Wie es wohl war, die Welt von oben zu betrachten? Sie träumte davon frei zu sein, die Dinge zu tun, die sie erfreuten. Sie träumte davon geliebt zu werden, oder wenigstens bemerkt untern den vielen Kindern.

Die Schatten am gegenüberliegenden Ufer zogen sich langsam zurück, um der Sonne Platz zu machen. Mit einem Mal spürte Josi eine ungewohnte Angst in sich aufsteigen. Etwas lag drohend in der Luft. Irgendetwas stimmte nicht, ohne dass sie wusste, woher dieses dumpfe Gefühl stammte. Hatte sie etwas Schlechtes geträumt? Durch die Ritzen des Fußbodens drangen die vertrauten morgendlichen Geräusche. Alles schien wie immer. Nichts deutete auf ein Unglück hin. Josi hörte ihre Mutter in der Küche das Frühstück zubereiten. Sie machte Feuer, hantierte mit Töpfen und bald lockte der Duft von Haferbrei und Kaffee.

Innerlich aufgewühlt, zog das Mädchen ihr Sommerkleid über, griff nach einem Wolltuch, um die Frische des jungen Tages abzuhalten. Josi hörte ihre Mutter durch die Stube in die Schlafkammer der Eltern gehen, um das neugeborene Schwesterlein zu holen. Auf Zehenspitzen, schlich das Mädchen zur Zimmertür, als ein gellender Schrei die morgendliche Idylle durchschnitt. Es war ein Schrei, so spitz und durchdringend, wie sie noch keinen gehört hatte. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging  ̶  und er stammte von ihrer Mutter. Josi erschrak fürchterlich, ihr Atem setzte für einen Augenblick aus, ihr Herz klopfte bis zum Hals, Schweiß trat aus allen Poren.

Nun waren auch ihre Geschwister aufgewacht. Ihre Brüder drängten zur Tür, stießen sie grob zur Seite. Im Bett begann Maria zu weinen. Josi war hin- und hergerissen. Am liebsten wäre sie auch losgelaufen, um zu erfahren, was der Mutter zugestoßen war. Doch Maria konnte die Treppe noch nicht sicher alleine hinuntergehen. Gewohnt, auf ihre jüngeren Geschwister aufzupassen, ging Josi zurück, hob Maria aus dem Bett und stellte sie auf die kleinen Füßchen. An der Hand führte sie das immer noch weinende Kind Stufe um Stufe hinunter. Wie lähmend langsam die Kleine war! Was hätte Josi dafür gegeben, selbst loszurennen. Die Buben brauchten sich nicht um die Schwester zu kümmern. Weitere Schreie ertönten von unten. Ungeduldig zog Josi an Marias Hand: „Jetzt mach schon!”  Ein herzerweichendes Schluchzen der Mutter und ein lautes „Nein!” vermischte sich mit den aufgeregten Stimmen der Brüder.

Die beiden Mädchen traten als letzte in die Küche, wo die Mutter auf einem Stuhl am Tisch saß, schluchzend und in sich zusammengesunken. Wirre Haare hingen um das verweinte Gesicht. Was war bloß los? Josi wagte kaum zu atmen. So aufgewühlt hatte sie die Mutter noch nie gesehen, so verzweifelt und wie von Sinnen. Sie drückte das Händchen der Schwester fester. Die weinte jetzt lauter. Die Mutter presste ihr jüngstes Mädchen an die Brust. Immer wieder schrie die Mutter dessen Namen: „Elisa, nein! Jesses Maria und Sankt Josef, Elisa! Heilige Mutter Gottes, nein, Elisa!” Sie heulte und weinte und jammerte wieder und wieder „Elisa!”

Nun trat der Vater von draußen in den Raum. Im angebauten Ziegenstall hatte er den Lärm gehört. Er ließ seinen Blick über die befremdliche Szene schweifen, während er den Kessel mit der frischen Ziegenmilch auf den Küchentisch stellte.

„Was ist denn hier los?” Er blickte auf seine Frau, auf den Säugling in ihren Armen, die Schar Kinder, die mit weitaufgerissenen Augen in einiger Entfernung auf ihre Mutter starrten, und fragte: „Was ist? Ist etwas mit Elisa?”

Die Mutter drückte das Kind fester an sich und wurde von einer neuen Welle Tränen erfasst: „Elisa”, stieß sie nur kläglich hervor. Allmählich begriff der Vater, was geschehen sein musste. Er fasste an das reglose, kalte Köpfchen seiner Jüngsten, hielt seine Hand unter das Näschen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht mehr atmete. Erschrocken zog er seine Hand zurück. Was hatte dies zu bedeuten? Unschlüssig druckste er ein wenig herum und meinte schließlich: „Wie konnte das passieren? Was hast du getan?”

Die Mutter schaute ihn erschrocken an. Diese Frage war ein Stich in ihr Herz. War es nicht genug, dass ihr Kind tot war? Trug sie tatsächlich Schuld? Hatte sie zu wenig aufgepasst? Sie beugte sich beschützend über ihr Kind, ohne zu antworten, noch immer völlig aufgelöst.

„Was ist passiert? Warum ist das Kind tot?”, doppelte der Vater nach. Er klang unsicher, auch wenn er versuchte, bestimmt zu wirken.

Seine Frau seufzte. Sie wollte ein wenig Festigkeit in ihre Stimme bringen. Doch es gelang ihr nicht. Schließlich stieß sie unter Schluchzern hervor: „Ich weiß es nicht. In der Nacht war sie unruhig. Sie war ziemlich blass und schwitzte. Das ist nichts Ungewöhnliches. Ich stillte sie und sie entspannte sich. Eben schlief sie noch friedlich in ihrem Bettchen. Ich zog mich an, bereitete das Frühstück. Wie jeden Morgen. Als ich sie zum Stillen holen wollte, war sie nicht mehr.”  Die Mutter zitterte am ganzen Leib. „Es hat sie geholt. Einfach so. Ich habe nichts getan. Jesses Maria, was wird denn jetzt? Gott sei uns gnädig. Vergib uns unsere Sünden. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für uns”, schluchzte sie mit ersterbender Stimme.

Die Mutter hatte am Morgen geglaubt, der kleine Engel schlafe friedlich, als sie aus dem Zimmer ging. Sie hatte nicht bemerkt, dass Lisa tot und der Körper bereits erkaltet war. Darum saß der Schock so tief, als sie den Leichnam in ihre Arme schloss.

Der Vater war genauso ratlos wie der Rest der Familie. Dieser Tod kam völlig unerwartet. Wie konnte ein Kind einfach so sterben? Elisa war nicht krank gewesen. Im Gegenteil, ein ruhiges Kind, das bereits ein wenig Speck angesetzt hatte. Die Geburt war problemlos verlaufen. Alle hatten sich über das wonnige Bebe gefreut, auch wenn es wieder nur ein Mädchen war. Und nun dies. Er spürte Unmut aufsteigen. Das Jammern seiner Frau und Marias Weinen zerrten an seinen Nerven. Er hasste es, wenn die Dinge nicht nach Plan liefen. Er hasste Gefühlsausbrüche. Er hasste es, nicht Herr der Lage zu sein. Heute hatte er eine wichtige Besprechung mit einem Kunden. Er hatte keine Zeit für ein totes Kind.

„So haben wir halt ein Wohlgängerli im Himmel. Elisa wird sicher ein guter Schutzengel für uns alle sein”, brummte er verlegen. Niedergeschlagen strich er seiner verzagten Frau über den Kopf, wusste nicht, was er sonst tun oder sagen sollte. Eine Weile lang stand er unruhig von einem Bein aufs andere. Als sich seine Frau nicht beruhigte, zeichnete er schließlich ein Kreuz auf Elisas Stirne.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes”, murmelte er.

„Amen”, antworteten die Kinder mechanisch. Die Mutter schluchzte erneut auf.

„Und jetzt hör auf zu jammern. Beruhige dich. Weinen und Klagen machen sie auch nicht mehr lebendig”, murrte der Vater ungeduldig. Doch die Mutter saß in Tränen aufgelöst da und klammerte sich an den Säugling.

Schließlich räusperte er sich und meinte: „Wir wissen nicht, warum der Herrgott sie so schnell wiederhaben wollte. Legen wir unser Schicksal in seine Hände.” Zu seiner Frau gewandt fügte er an: „Es kommt sicher bald ein Neues. Elisa war noch klein. Sie hat kaum gelebt. Was heulst du denn so? Immer mal wieder stirbt so ein Würmchen, das weißt du doch.” Ein wenig ungehaltener fügte er noch hinzu: „Es bleiben dir ja noch fünf andere Kinder. Reiß‘ dich gefälligst zusammen. Die brauchen dich.” Das Schluchzen der Mutter übertönte seine Worte.

„Du weißt doch, dass ich heute den Lusser treffe, um mit ihm einen neuen Vertrag auszuhandeln. Das ist mein wichtigster Kunde. Da kann ich nicht zu spät kommen. Ihr Weiber könnt nur heulen und jammern. Schluss jetzt.”

Hatte die Mutter richtig gehört? Bedeuteten dem Vater seine Kinder denn gar nichts? Die Geschwister blieben reglos, wie angewurzelt stehen. Sie verstanden nicht, was vorgefallen war, und wussten nicht, was sie tun sollten. Es war über die Familie hereingebrochen, hatte einfach so die gewohnte Ordnung zerstört. Von diesem Augenblick an, war nichts mehr so, wie es zuvor gewesen war.

Maria zappelte und wimmerte, sodass Josi ihre Schwester endlich losließ. Schnurstracks watschelte die Kleine zur Mutter, wollte auf ihren Schoss klettern, doch diese bemerkte gar nicht, dass ein weiterer Spross an ihrem Rock zerrte. Immer noch beugte sie sich über ihr Jüngstes und weinte verzweifelt. Maria setzte sich auf den Boden und stimmte mit Gebrüll in deren Klagelied ein. Niemand beachtete sie.

Schließlich schob der Vater die Kinder zur Seite, schritt durch die Stube in die Schlafkammer der Eltern. Er legte die Stallkleider ab und zog seinen besten Anzug an. Sorgsam flocht er die Kette der Taschenuhr durch ein Knopfloch seiner Weste, vergewisserte sich, dass er die Pfeife und etwas Tabak eingesteckt hatte und fuhr sich mit einem Blick in den Spiegel über der Kommode durch die Haare und über den Schnurrbart. Er hob die Schublade unter dem Bett, die während der Nacht als Kinderbettchen diente, auf die Kommode, entfernte das Bettzeug und kehrte in die Küche zurück.

„Gib mir das Kind. Wir müssen es aufbahren. Wenn ich den Lusser treffe, gehe ich gleich zum Pfarrer. Er soll herkommen, Elisa segnen und mit dir die Beerdigung besprechen. Ein Glück war sie getauft. Ich sage dann auch dem Leichenhuhn sowie deinen Eltern Bescheid.”

Noch immer umklammerte die Mutter das Kleine mit festem Griff und wollte es nicht hergeben. Sie wollte nicht wahrhaben, dass es gestorben war, dass keine Liebe der ganzen Welt es je zurückbringen würde. Sie wollte es liebkosen, ihm die Brust geben, damit neuer Lebenssaft es endlich aufweckte. Elisa schlief doch sicherlich nur. Das hier war nur ein Alptraum. Es konnte nicht wahr sein. Vermochte ihre Mutterliebe ihr Kind nicht zu retten? War sie nicht stark genug?

Der Vater hatte keine Geduld. Ihm war das Geschehen unheimlich. Er musste dem ein Ende setzen, damit das Leben weitergehen konnte. Mit sanftem Druck löste er das Kind aus der mütterlichen Umarmung, trug es in die Kammer. Er legte es in das leere Kinderbettchen, öffnete das Fenster und zündete anschließend zwei Kerzen an. Er tauchte seine Fingerspitzen ins Weihwassergeschirr und zeichnete damit ein großes Kreuz über dem Körper des Kindleins.

Die Mutter setzte sich voller Kummer an den Stubentisch, hatte keinen Blick für die wartende Kinderschar in der Küche. Der Vater blickte unruhig auf seine Taschenuhr und schloss die Türe hinter sich. Zurück in der Küche, goss er jedem Kind etwas Ziegenmilch ein und verteilte den Haferbrei, damit sie frühstücken konnten. Zögerlich und schweigend löffelten sie. Niemand wagte zu fragen, was los sei. Niemand verstand, was Es angerichtet hatte. Mit der kurzen Anweisung, während seiner Abwesenheit brav zu sein, verließ der Vater das Haus. 

Die Mutter saß derweil mit gefalteten Händen in der Stube. Den Blick starr auf den Herrgottswinkel gerichtet, ihren Rosenkranz als Rettungsanker haltend, bewegte sie lautlos die Lippen im Gebet. Sie erflehte Erbarmen vom Gekreuzigten, ihr die Sünden zu vergeben und ihre Kinder zu verschonen. Sie bat die Muttergottes um Beistand, um Kraft sowie um Sicherheit. Sie beschwor die himmlischen Heerscharen und sämtliche Heiligen, den Allmächtigen gnädig zu stimmen. Schließlich bat sie ihr verstorbenes Töchterlein, als Engel in Zukunft die Familie zu beschützen.

Das Gebet vermochte sie allmählich zu beruhigen. Ein Ruck lief durch ihren Körper, als sie in ihrem Herzen eine Kammer öffnete. Dort sperrte sie ihren Schmerz und ihre Trauer ein. Fest verschloss sie den Raum, sodass sie ihren Kummer nicht mehr spürte. Ihr Mann hatte recht. Nebenan warteten fünf Kinder, um die sie sich kümmern musste. Da gab es keinen Platz, keine Zeit für Herzweh.

In der Küche spürte Josi Mutters Qualen, als ob es ihre eigenen wären. Sie kniete auf die Holzbank, sammelte die Löffel ein, stellte die Schüsseln und Becher zusammen. Wie ein Stein drückte der Schmerz in ihrer Brust, erschwerte das Atmen. Elisa war tot. Josi spürte Mutters innere Leere, ihre Verzweiflung, ihre Hilflosigkeit, sie spürte den Abgrund, der sich eben geöffnet hatte. Viel hätte sie darum gegeben, der Mutter beistehen zu können, doch sie wusste nicht wie. Sie trug das Geschirr zum Brunnen und spülte es ab. Maria hatte sich beruhigt. Sie saß nun auf dem Küchenboden und klopfte mit einem Holzstück auf den harten Stein. Josi traten Tränen in die Augen.

Nach einer langen Weile seufzte die Mutter tief. Sie richtete sich auf, strich ihren Rock gerade und legte den Rosenkranz zurück zum Gekreuzigten neben den vertrockneten Stechpalmenzweig. Mit geübtem Griff löste sie die Kämme, um ihre Haare neu zu richten. Auch sie ging hinüber in die Schlafkammer, um ihr totes Kind mit Weihwasser zu segnen. Kerzengerade betrat sie schließlich die Küche, wo sie sich schweigend am Herd zu schaffen machte. Als Josi das saubere Geschirr hereintrug, strich sie ihr wortlos über den Kopf. Josi wusste, von jetzt an würde sie die Mutter noch mehr brauchen als bisher. Sie war die einzige, die ihr helfen konnte. Von jetzt an, würde sie einen Teil ihrer Last tragen müssen.

Inzwischen war der Vater hinüber zur Sägerei gegangen. Er gab den beiden Gesellen Anweisungen, bevor er mit kräftigen Schlägen gegen Flüelen ruderte. Thomas, der ältere Geselle, öffnete die Schleuse des Kanals, der weiter oben vom Gruonbach abgezweigt war. Bald setzte sich das mächtige Wasserrad ächzend in Bewegung. Wenig später dröhnte die Umgebung des Hauses wie jeden Tag. Josi mochte den Lärm nicht. Er war metallisch hart und furchteinflößend. Es war ein unentwegtes Poltern und Schlagen, ein Rauschen und Klirren, ein Hämmern und Klopfen, das durch Mark und Bein ging. Der Lärm begleitete sie schon ihr Leben lang, von früh bis spät. Er zeugte von einer unbändigen Kraft, die ein fünfjähriges Mädchen im Nu hätte zermalmen können. Lärm bedeutete Gefahr.

In Josis kindlicher Fantasie war das Sägewerk ein Monster, vor dem sie sich in Acht nehmen musste. Es bestand aus Stangen und Zahnrädern, aus meterlangen Riemen und gewaltigen Ketten, aus Drähten und Seilen, die alle geheimnisvoll miteinander verbunden waren. Die einzelnen Teile bewegten sich gegenseitig und vermochten die drehende Bewegung des Rades in das Auf-und-Ab des Sägeblattes zu übersetzten. Mit tausend spitzen Zähnen fraß es sich unerbittlich durch die dicken Stämme, rauf-runter-rauf-runter, und nach jedem Runter verschob sich der Baum mit einem Ruck um ein kleines Stück, damit das Sägeblatt neues Futter fand. Kaum war ein Brett fertig abgeschnitten, wurde der Stamm auf einem Schlitten, der sich auf Schienen bewegte, zurückgezogen, von wo sich das Blatt erneut durch das Holz fraß.

Der Vater hatte das Haus sowie die Sägemühle vor der Heirat selbst gebaut. Das Anwesen lag weit außerhalb des Dorfes und war nur über den See erreichbar. Einzig ein schmaler Holzsteg führte über den Gruonbach, danach ein holperiger Fußpfad ins Zentrum von Flüelen. Die Abgeschiedenheit bedeutete für die Familie eine gewisse Freiheit, weil keine Nachbarn jeden Schritt beobachteten. Sie bedeutete aber auch Einsamkeit. Für jeden Austausch mit anderen Menschen brauchte es eine Anstrengung und nur selten fand jemand den Weg hierher.

Gerade jetzt dehnte sich für die Mutter die Strecke ins Dorf ins Unermessliche, keine dreißig minütige Ruderfahrt, nein, sieben Ozeane trennten sie von ihren Verwandten dort. Niemand hatte sie vor der Hochzeit darauf vorbereitet, was es hieß, so weit entfernt zu wohnen. Sie war in Flüelen im Gasthaus Adler aufgewachsen, stets umgeben von vielen Menschen. Sie sah fremde Reisende und hörte, was sich in der Welt ereignete. Keine Minute war sie allein gewesen.

Hier war sie allein, seit sieben Jahren schon. Die nächsten Nachbarn lebten am anderen Bachufer, etwa fünfzehn Minuten entfernt. Es waren die Witwe Arnold und ihr unverheirateter Sohn Toni, die einen kargen Hof bewirtschafteten. Er war zu klein zum Leben und zu groß zum Sterben. Kränklich und schwach wie beide waren, hätte sich die Mutter in ihrer Not nicht an sie wenden können. Sonst gab es hier nur die Stimmen des Waldes, die schroffen Felswände und das pausenlose Lied des Baches. Es würde noch lange dauern, bis der Pfarrer endlich hier war.

Nun taumelte die Mutter in einen bodenlosen Abgrund, ohne Aussicht auf eine rettende Hand. Ihr Mann war weg, die Säge lärmte. Die Kammer in ihrem Inneren, die den Schmerz und die Trauer einschloss, leckte. Quälend zerfraß der Verlust ihr Herz. Ihre Seele schrie, ohne von irgendjemandem gehört zu werden. Am liebsten hätte ihr trockener Mund ihr Leid ausgespuckt, um es loszuwerden. Doch es klebte hartnäckig in ihrem Inneren. Trotz des sonnigen Tages befand sie sich in einem tosenden Sturm. Sie hätte sich sogar gewünscht, er trüge sie mit sich fort, irgendwohin, wo es Linderung gab.

Allein musste sie einen Weg finden, keine Stütze weit und breit. Nur ihre verstörten Kinder. Für die musste sie sorgen, weil sie noch lebten. Sie musste eine Stärke zeigen, die sie nicht fühlte. Ein toter Säugling durfte sie nicht in Gefahr bringen. Sie musste sich dem Leben widmen, musste das Wetter nutzen, um für den langen Winter vorzusorgen. Jeder Tag zählte.

Nochmals gab sich die Mutter einen Ruck. Sie musste das durchstehen. Sie nahm Maria auf den Arm, befahl den beiden Buben und Josi, sie in den Garten zu begleiten, damit sie die Kinder im Auge behalten konnte. Klaus hatte bereits die Ziegen aus dem Stall gelassen und trieb sie zur Weide, ganz oben am Waldrand. Die Mutter setzte Maria auf den Boden und schloss sorgsam die Gartentüre hinter sich. Das war für sie sehr wichtig. Der Zaun umschloss das Eigen, wie die Urner ihr Grundstück nannten.

Um sich abzulenken, wollte die Mutter den schönen Tag nutzen. Es gab gerade alle Hände voll zu tun, damit die Ernte später reichlich ausfiel. Karotten und Krautstiel aussäen, das Bohnenbeet jäten und wässern, den Kartoffelacker aufhäufeln. Für Totengebete war jetzt keine Zeit. Die mussten warten. Die Lebenden waren wichtiger. Wenn schon ein Kind hatte sterben müssen, so sollten die übrigen wenigstens im Winter nicht hungern.

Etwas von der Mutter entfernt, lockerte Josi kniend den Boden zwischen den Gemüsen und zupfte Unkraut, während die Kleinen mit Steinen ein Spiel spielten, das nur sie verstanden. Die Mutter konnte sich nicht richtig auf ihre Arbeit konzentrieren. Ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe. Sie blickte hinüber zu ihrem zweistöckigen Blockhaus, das seit sieben Jahren ihr Heim war. Es wirkte freundlich und einladend. Mit Steinen beschwerte Schindeln schützten vor der Witterung. Bergseits war ein kleiner Stall für die Ziegen, den Bock und für die Hühner angebaut. Seit sieben Jahren hatte sie es zu einem wohnlichen Heim gemacht, in dem sich alle geborgen fühlten. Seit sieben Jahren hatte sie die Familie beschützt, für sie gekocht und sie gepflegt, und auch gebetet. Sieben Jahre lang hatte sie ein bescheidenes Glück gekannt. Und nun war Es unvermittelt über sie gekommen und hatte ihr ein Kind geraubt. Warum nur? War dieses bescheidene Glück zu viel verlangt? Sie wollte nicht hadern, auch wenn sie gerade von einer neuerlichen Welle von Trauer gepackt wurde. Sie hätte sich gewünscht, ihr Mann wäre hier, würde sie begleiten nach dem schrecklichen Verlust. Sie musste, nein sie wollte trotzdem zufrieden sein.

Mit einem Ruck richtete sich die Mutter auf, legte das Gerät säuberlich beiseite.

„Kommt, Kinder, wir sollten etwas essen. Der Pfarrer kommt sicher bald. Dann wollen wir alle gemeinsam für Elisa beten, damit sie in den Himmel kommt.”

Sie hob Maria auf, ließ die Kinder durch die Gartentür treten und schloss sie gewissenhaft hinter sich.

Flüelen, August 1858

Seit Elisas Tod war alles anders. So klein sie bei ihrem Tod noch gewesen war, noch kaum eine eigene Spur hinterlassen hatte, sie hinterließ eine gewaltige Lücke. Etwas fehlte, ohne dass es irgendjemand hätte benennen können. Vielleicht war es Mutters seliges Lächeln, nachdem sie das Jüngste gestillt hatte? Vielleicht war es der Puls des werdenden Lebens? Vielleicht war es die Sorglosigkeit der jungen Eltern, die mit diesem Schicksalsschlag aus dem Haus verschwunden war. Auch wenn niemand darüber redete, trübte das Ereignis die Lebensfreude im Haus. Ungeweinte Tränen fraßen sich in das Gleichgewicht der Familie, höhlten es aus, öffneten nach und nach Abgründe. Unmerklich veränderten sich einzelne Familienmitglieder.

Die Mutter hatte sich noch nicht von ihrem Schrecken, ihrem Schmerz und ihrem quälenden Schuldgefühl erholt. Nicht nur ihre Seele, auch ihr Körper schmerzte. Sie fühlte sich ständig müde, vermochte ihre vielen Pflichten kaum zu erfüllen. Sie war schweigsamer, unduldsamer, wies die Kinder häufiger in harschem Ton zurecht. Seit einigen Tagen kämpfte sie außerdem mit Unwohlsein und Übelkeit. Hundeelend war ihr zumute, doch sie konnte sich keine Pause gönnen. Unwillig scheuchte sie die Kinder weg, solange es nichts ganz Dringendes war.

Kaum eine Minute konnte sie sich hinsetzen, weil immer eines der Kinder etwas brauchte, weil immer etwas zu tun war. Die sonntägliche Christenpflicht vernachlässigte sie fast immer. Ihre Verwandten sah sie kaum. Sie hatte zu viele kleine Kinder, die sie nicht ins Dorf tragen konnte. Wer hätte sie an ihrer Stelle hüten sollen? Neben der Arbeit in Haus und Garten verarbeitete die Mutter die Milch zu Käse und Butter und sammelte die Eier ein. Etwas vom Haus entfernt war ein gemauerter Kühlraum in den Hang eingelassen. Ein Rinnsal, das vom Bach abgezweigt worden war, durchfloss ihn. Dieser Keller hielt Milch, Butter und Käse auch im Sommer angenehm frisch. Die Eier legte die Mutter in einem Steinzeugtopf in Wasserglas ein, um das ganze Jahr über einen Vorrat davon zu haben, auch wenn die Hühner nicht legten.

Die Kinder hielten sich, so gut sie konnten, von ihr fern. Noch immer verstanden sie nicht wirklich, was vorgefallen war. Sie sehnten sich nach der mütterlichen Liebe, die mit ihnen gesprochen und ihnen versichert hätte, dass alles in Ordnung war. Stattdessen war nichts in Ordnung.

Franz und Willi zogen sich in ihre eigene Welt zurück. Knaben weinen nicht. Knaben sind stark, Knaben zeigen keine Gefühle. Sie begnügten sich mit einigen Holzstücken, mit Tannzapfen, Steinen oder mit etwas Moos, bauten daraus ihre eigene Welt. Es waren kleine Häuschen oder Ställe, die sie sorgsam ausstatteten, während Maria in Josis Obhut öfter weinte und quengelte.

Klaus wurde allmählich zum Tyrannen für seine Geschwister. Er kommandierte sie herum, ließ seine Unzufriedenheit an ihnen aus. Als Erstgeborener war er gewohnt gewesen, die ungeteilte Aufmerksamkeit von allen zu erhalten. Der Vater hatte ihn jeweils mit vor Stolz geblähter Brust vor seinen Geschäftsfreunden gerühmt, die ab und zu das abgelegene Heimwesen besuchten. Nun war auch der Vater schweigsamer und Klaus blieb unbeachtet.

Klaus wählte Josi, um an ihr seine Launen auszulassen, und ließ keine Gelegenheit aus, sie zu ärgern. „Du dumme Ziege, verzieh‘ dich.“ Er verhunzte ihren Namen: „Josi – Grosi“, „Josi – Hosi“ oder, schlimmer noch, „Josi – Scheiße“. Sobald er bemerkte, dass er mit seinem Hohn eine Spitze in Josis Herz treiben konnte, wiederholte er den Spitznamen, sooft er sie sah. Spielte er mit Franz, wies er sie herrisch weg: „Dich können wir hier nicht brauchen, das ist nichts für Weiber. Weiber sind dumm.“ Sie durfte nicht mehr mitmachen und fühlte sich von ihren Brüdern zur Seite gedrängt, allein, weit und breit niemand, der ihr zu Hilfe kommen würde.

Je länger der Sommer dauerte, desto gemeiner wurde Klaus. Ging er an Josi vorbei, verpasste er ihr hinterrücks einen Fausthieb. Josi wusste nicht, womit sie seinen Zorn auf sich zog, wie sie ihn hätte vermeiden können. Sie wusste nicht, wie sie sich wehren sollte. Klaus war viel stärker als sie und durch nichts zu besänftigen. War Josi besonders nett zu ihm, boxte er sie und knurrte: „Glotz‘ nicht so blöde. Das hält ja niemand aus.“ Versuchte sie sich zu wehren und bat die Mutter um Hilfe, hörte sie von der: „Ein gutes Christen-Mädchen wird nicht zornig. Es verzeiht seinen Feinden. Unser Heiland hat uns gelehrt, wenn dich jemand auf die Wange schlägt, halte ihm die andere hin.”

Josi hütete sich, das auszuprobieren. Sie wusste, Klaus würde erbarmungslos ein zweites Mal zuschlagen, heftiger als beim ersten Mal. Auf jeden Fall grinste er überlegen, wenn die Mutter nicht eingriff. Versuchte sich Josi mit Worten zu wehren, und Argumente zu finden, weshalb Klaus im Unrecht sei, entgegnete die: „Lasst mich in Ruhe. Ich habe keine Zeit für eure Kindereien. Es braucht immer zwei zum Streiten!” Jedes Mal nahm Klaus eine herablassende Siegerpose ein und flüsterte eine weitere Beleidigung: „Siehst du, dumme Kuh, Mutter findet auch, dass man dich einfach hauen muss.”

Josi hätte sich gewünscht, der Vater nähme mehr Anteil am Familienleben. Er war groß und kräftig, mit Händen wie Tatzen. Er hätte sie beschützen können, aber er tat es nicht, weil er sie nicht sah. Er hätte ihr die Welt erklären können, aber er tat es nicht, weil er zu viele Dinge zu erledigen hatte. Josi verstand nicht wirklich, warum er so beschäftigt war. Während des Tages war er meist drüben in der Sägerei. Am Abend traf er sich mit seinen Freunden im Dorf am Stammtisch.

Zuhause sprach er manchmal von der Politik, wie wichtig die sei. Bei solchen Gelegenheiten erzählte er von den tapferen Eidgenossen, die sich gegen die Habsburger gewehrt und auf dem Rütli einen Eid geschworen hatten. Fast konnte man diese Wiege der Eidgenossenschaft auf der anderen Seeseite vom Haus aus erkennen. Die Wiese war der Stolz der Urner, weil sie das Herz der Schweiz war, und dieses Herz lag in ihrem Kanton.

Er sprach davon, wie sehr sich alles veränderte und sich enorme Möglichkeiten für den Tüchtigen böten. Er wollte dazugehören, Teil von etwas Größerem sein, die Zukunft mitgestalten und davon auch profitieren. Das alles war für ihn wichtiger als die tägliche Sorge um die Kinderschar, die Hausarbeit, die Tiere oder der Garten. So sah und hörte er nicht, was sich in seinem Haus ereignete.

Klaus nutzte dies hemmungslos aus. Jeden Tag ging er ein Stücklein weiter. Jeden Tag wurde er dreister. Eines Morgens schubste er seine Schwester so sehr, dass sie mehrere Stufen die Treppe hinunterfiel. Niemand bemerkte etwas. Niemand kümmerte sich um sie. Mühsam rappelte sie sich auf, während Klaus drohend zischte: „Wehe, du sagst jemandem etwas!”

Erst als er sich verdrückt hatte, bemerkte Josi das Blut an Bein und Ellenbogen. Sie stillte es mit kaltem Wasser am Brunnen. Am Knie klaffte eine Wunde, die lange nicht zu bluten aufhörte. Sie ließ ihr Kleid darüber hängen, sodass niemand etwas bemerkte, außer sie selbst. Jeder Schritt erinnerte sie an ihren Sturz. Auch der sanfte Druck des Kleides ließ sie manchmal aufstöhnen. Doch sie wollte die Wunde verbergen. Jede Frage der Mutter hätte womöglich den Zorn ihres Bruders weiter angestachelt. Josi wollte nur eins, in Ruhe gelassen werden.

Für gewöhnlich litt Josi nur innerlich. Sie fühlte sich wie ein wundes Tier, alleingelassen und den Angriffen ihres Bruders schutzlos ausgeliefert. Manchmal versuchte sie sich einzureden, dass alles nur halb so schlimm und sie wehleidig sei, so wie Klaus es ihr vorwarf, wenn er bei den Eltern Lieb Kind spielte. Er verstand es, ihnen weis zu machen, Josi habe ihn provoziert und er habe sich bloß ein wenig gewehrt. Josi übertreibe und es sei gar nichts vorgefallen. Gemeinheiten mit Worten ließen sich nicht beweisen. Doch dieses Mal rieb sich Josi die blauen Flecken an Arm und Schienbein. Vorsichtig betastete sie ihr Knie. Der Schmerz war noch immer heiß und pochend, nicht nur im Bein, auch im Herzen. Dieser Stoß ihres Bruders hatte eine tiefe Wunde hinterlassen. Er hatte sie einfach liegenlassen, kümmerte sich lieber um seine Ziegen als um sie. Dieses Mal war es schlimm gewesen. Daran zweifelte Josi an diesem Morgen nicht. Trotzdem fraß sie ihren Schmerz in sich hinein. Wem hätte sie sich anvertrauen sollen, so weit außerhalb des Dorfes, so ganz allein in der Familie?

Sie träumte davon Mutters Liebe wiederzuerlangen. Wenn sie nur recht brav war, dann würde sicher bald alles besser werden. Wenn sie die Gemeinheiten ihres Bruders einfach hinnahm und so tat, als ob nichts wäre, würde er bestimmt von ihr ablassen. Darum suchte Josi Mutters Nähe und half im Haushalt fleißig mit. Alle Kinder spürten die dunkle Wolke, die das Leben der Familie überschattete, doch Josi trug am meisten daran. Sie wollte die Mutter entlasten. Sie kehrte Kammern und Treppen, leerte Nachttöpfe und half im Garten. Auch beim Trocknen von Obst und Gemüse oder beim Einlegen von Kohl zu Sauerkraut war sie der Mutter eine Stütze.

„Wenn ich deine Grübchen sehe, wird mir leicht ums Herz”, pflegte die Mutter zu sagen. Josi freute sich darüber und verschwieg ihren eigenen Kummer. Er war weit weniger wichtig als die Sorgen der Mutter.

1859 – 6 Jahre alt

Flüelen, März 1859

Die Aufregung im Dorf war groß. Jemand hatte die Frechheit, ein Hotel auf dem Rütli bauen zu wollen. Das Baugespann war ausgesteckt. So etwas war unerhört. Es erhitzte die Gemüter, war im Empfinden der Bevölkerung ein Frevel erster Güte. Das Rütli, diese Wiese an den Gestaden des Urnersees, hatte Friedrich Schiller besungen und in ganz Europa berühmt gemacht, weil hier die drei ersten Eidgenossen den ewigen Schwur geleistet hatten. Das Rütli, die Wiege der Schweiz, sollte durch das Getriebe einer modernen Wirtschaft entweiht werden. So etwas durfte nicht geschehen! Darin waren sich alle einig und alle waren bereit, einen Beitrag dafür zu leisten.

Für einmal diskutierten beide Eltern die Nachricht im Amtsblatt. Es war ein Aufruf an das Schweizervolk für eine Geldspende: Das Rütli, die Geburtsstätte unserer Eidgenossenschaft, für die schweizerische Nation zu erwerben und die erforderlichen Mittel durch eine freiwillige Nationalsteuer aufzubringen.

„55'000 Fr., das ist eine Menge Geld”, sinnierte der Vater.

„Aber, wenn jeder nur eine ganz kleine Summe beiträgt, kann der Betrag zusammenkommen. Es sind dann nur ein paar Rappen pro Einwohner”, wagte die Mutter einzuwenden.

„Also Kinder, hört, was hier steht.” Der Vater richtete sich an seine drei Ältesten, Klaus, Josi und Franz. „Es ist die Jugend, an die wir uns wenden. Auch wenn ihr die Schule noch nicht besucht, sollt ihr einen Beitrag leisten. Hier geht es darum, den Geist unseres Vaterlandes für eure Zukunft zu erhalten, gerade jetzt, wo wir nicht wissen, wie sich die Lage im Süden und im restlichen Europa entwickeln wird. Wir brauchen diesen Ort, der für unsere Heimat steht, dringender als je. Er hilft uns, den Geist des Widerstandes gegen fremde Mächte zu stärken. Wir brauchen ihn, wenn wir frei bleiben wollen.”

Die Kinder schauten sich ratlos an. Wie sollten sie einen Beitrag leisten, da sie ja kein Geld hatten?

„Ihr könnt mir helfen, etwas mehr als üblich zu verdienen”, schlug die Mutter vor. „Du Josi, kannst mir beim Einkochen von Butter helfen. Ihr zwei Buben werdet Holzabschnitte bündeln, die wir zum Anfeuern verkaufen können. So lassen sich ein paar Rappen verdienen, die wir beitragen können.”

Der Vater brachte dem Lehrer schließlich einen ganzen Franken als Beitrag seiner Familie. Tausende taten es ihm gleich. Der benötigte Betrag wurde bei weitem übertroffen. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft konnte schließlich das Rütli erwerben und hatte noch Geld übrig für weitere Projekte zur Stärkung des Vaterlandes.

Flüelen, April 1859

„Krieg!” Dieses eine Wort ließ die Kinder erstarren, die gerade beim Abendessen saßen. Der Vater hatte es von Altdorf mit nach Hause gebracht, wo er geschäftlich unterwegs gewesen war. Für gewöhnlich aß die Familie nach dem Tischgebet schweigend, doch an diesem Abend waren die Neuigkeiten zu aufregend, als dass sie der Vater hätte für sich behalten können. Von der Stirnseite überblickte er den Tisch, an dem seine Kinder wie die Orgelpfeifen aufgereiht saßen. Jedes Jahr, wenn die Familie erneut wuchs, rückte die Mutter etwas weiter weg von ihm. Die Tafel war lang. Sie würde Platz für viele Nachkommen bieten.

„Dein Bruder Karl hat den Marschbefehl erhalten. Ein halbes Bataillon muss an die Grenze im Tessin. Als Offizier geht er mit”, ließ er die Mutter wissen.

„Um Himmels Willen. Wer kämpft gegen wen? Der Krieg wird doch nicht auch zu uns kommen? Gott steh’ uns bei”, seufzte sie.

„Österreich hat Sardinien angegriffen. Frankreich unterstützt die Italiener. Damit steckt halb Europa in einem Krieg. Wir Eidgenossen müssen unsere Grenzen verteidigen. Wir wollen verhindern, dass wir auch in die Kämpfe verwickelt oder gar besetzt werden. Unsere Nachbarn sind unersättlich, wenn es um ihr Territorium geht.”

„Muss Onkel Karl jetzt sterben?” Josi vergaß zu kauen. Sie versuchte zu begreifen, was sie eben gehört hatte. Mutters Bruder war etwas jünger als sie und war stets gut gelaunt. Karl war Josis Taufpate und ihr Lieblingsonkel. Er hatte seinerseits einen Narren an ihr gefressen, freute sich an ihrer Aufgewecktheit und ihrer Wissbegier. Anders als Vaters Brüder, interessierte er sich für sie. Er fragte immer, was sie gerade beschäftigte, brachte ihr eine Kleinigkeit mit oder wusste spannende Geschichten zu erzählen. Manchmal schrieb er auch etwas in sein Notizbuch, während er mit ihr sprach, so wichtig war ihm, was sie sagte. Darauf war Josi mächtig stolz. Auch wenn sie ihn nur selten sah, gehörte er zu den wichtigsten Menschen in ihrem jungen Leben, war ihr einziger Lichtblick. Sie könnte es nicht ertragen, wenn er nicht mehr wäre.

„Aber nein. Vorläufig geht es nur darum, die Grenzen zu schützen. Wir müssen auch verhindern, dass Umstürzler in die Schweiz fliehen und von hier aus Anschläge planen. Der Krieg ist zum Glück weit weg. Es bedeutet jedoch, dass viele junge Männer einrücken müssen. Morgen heißt es, ab in die Kaserne, wo die Soldaten ihre Ausrüstung fassen. Schon übermorgen soll die Kolonne losmarschieren. Sie muss so schnell als möglich ins Tessin. Wir müssen verhindern, dass uns die Habsburger oder die Sarden erneut unterjochen.”

„So wie damals, als Tell den Gessler erschoss?”, wollte Klaus wissen.

„Ganz genau. Wie hat es der große deutsche Dichter Schiller so treffend formuliert?” Der Vater richtete sich hoch auf, hob die Hand zum Schwur und, als ob seine Füße zu Wurzeln würden, die Vaterlandsliebe aus dem Boden sogen, rezitierte er feierlich:

„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,

in keiner Not uns trennen und Gefahr.

Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,

Eher den Tod! Als in der Knechtschaft leben.”

Alle Kinder blickten staunend auf den Vater, ließen sich mitreißen von seiner Inbrunst. Auch wenn die Kleinen nicht verstanden, was er sagte, spürten sie, dass ihm diese Worte alles bedeuteten. Sie stammten direkt aus seinem Innersten, waren Teil seines Wesens. Der Vater liebte seine Heimat, mehr noch, er liebte den Gedanken einer unabhängigen Schweiz, für die er sich einsetzen wollte.

Den Rücken reibend erhob sich die Mutter und begann das Geschirr abzuräumen. Ihr Bauch war schon wieder ganz dick. Von Monat zu Monat bewegte sie sich langsamer, stöhnte öfter oder fühlte sich häufiger unwohl. Je grösser der Bauch wurde, desto ungelenker war sie, desto mehr brauchte sie Josis Hilfe. Die ahnte, dass der dicke Bauch erneuten Nachwuchs bedeutete, wusste es aber nicht mit Sicherheit. Es war ein Geheimnis, das niemand verriet.

Besorgt meinte die Mutter: „Wenn Karl bloß nichts passiert. Die können doch jetzt nicht losmarschieren. Hier gießt es seit Tagen. Die Straßen sind aufgeweicht. Und in den Bergen fällt Schnee. Das ist lebensgefährlich. Der Gotthard könnte unpassierbar sein.”

„Ein Krieg richtet sich nun mal nicht nach dem Wetter. Ein tapferer Soldat lässt sich von etwas Schnee nicht aufhalten, wenn das Vaterland ruft. Österreich ist stark gewachsen seit Gesslers Zeiten. Ein einzelner vermag diese Armee nicht mehr zu stoppen. Wir müssen alle zusammenstehen, um unsere Freiheit zu verteidigen. Im Tessin treffen unsere Männer auf Truppen aus weiteren Kantonen. Auch die Schweiz ist gewachsen, seit Wilhelm Tell gelebt hat. Wir sind jetzt auch sehr viele, um gegen unsere Feinde zu kämpfen. Wir werden es nicht zulassen.”

„Dass ihr Männer auch immer nur Krieg im Kopf habt! Möge Gott verhüten, dass die Schweiz da reingezogen wird. Zum Glück musst du nicht gehen. Es reicht, wenn Karl seinen Kopf riskiert.” Sie seufzte tief.

„Das versteht ihr Weiber nicht. Hier geht es um unsere Freiheit. Die Eidgenossenschaft ist umgeben von Herzogtümern, König- und Kaiserreichen. Wir sind die einzig Freien. Wir sind die einzig Unabhängigen. Wir müssen unsere Freiheit verteidigen.”

„Was nützt uns diese Freiheit, wenn unsere Männer getötet werden? Der Herrgott möge uns beschützen.” Sie bekreuzigte sich.

Sie zeigte den Kleinen, dass es Zeit fürs Bett war, hob Maria auf den Arm und ging nach oben.

–

In den kommenden Tagen marschierten Hunderte Soldaten durch Flüelen. Sie kamen mit dem Schiff aus anderen Kantonen, um die Truppen an der Grenze zu verstärken. Scharfschützen aus Luzern zogen siegesgewiss gegen den Gotthard, der noch immer tief verschneit war. Nicht der Kampf gegen den Feind, sondern gegen die Naturgewalten ermüdete sie, wenn sie ihre Ausrüstung zwischen meterhohen Schneemassen gegen Süden zogen.

Die nächsten Wochen waren für die Familie Gisler schwierig, geprägt von Ungewissheit und von der Sorge um die Männer an der Grenze. Wie es Onkel Karl wohl erging? Und den anderen, den Verwandten oder Bekannten aus dem Dorf? Die drohende Lage drückte auf die Gemüter, noch mehr, als es Elisas plötzlicher Tod vor einem Dreivierteljahr eh schon tat.

Onkel Karls Brief, der vier Wochen später eintraf, vermochte Mutters Ängste nur wenig zu lindern. Er berichtete vom strapazierenden, tagelangen Marsch über den Pass im Schnee, vom sonnigen, heißen Wetter im Süden und vom anstrengenden, zermürbenden Dienst. Alle paar Tage wurden die Männer verlegt, mussten sich an einem anderen Standort neu organisieren. Zum Glück gab es keine Kämpfe nahe der Grenze. Ihm ging es gut, obwohl sich unter den Truppen eine Durchfallerkrankung ausgebreitet hatte. Onkel Karl rechnete damit, dass sein Bataillon Anfang Juli nachhause zurückkehren könne, obwohl die letzte Schlacht in diesem unsinnigen Krieg noch lange nicht geschlagen sei.

Alle hofften, die Kriegsmächte würden sich bald einigen. Die Nachrichten von blutigen Schlachten im Norden Italiens trafen nur spärlich ein. Sie waren umso schrecklicher. Beide Seiten kämpften mit äußerster Entschlossenheit. Die Frontlinie zog von einem Ort zum nächsten, hinterließ zahllose Tote, abgebrannte Dörfer, zerstörte Felder, verzweifelte Menschen. Nach mehreren Wochen zeichnete sich ab, dass Österreich unterliegen würde. Das stolze, mächtige Kaiserreich musste Land an Sardinien abtreten und sich aus der Lombardei zurückziehen.

Flüelen, Juni 1859

Inzwischen ging das Leben in Josis Familie weiter. Die Mutter wurde dicker und dicker, bis der Vater im Juni eines Tages den Kindern erklärte: „Die Mutter ist krank. Ihr müsst für ein paar Tage zur Großmutter ins Dorf.”

Erstaunt kletterten sie ins Boot. Doch weil das Gesicht des Vaters nicht besonders ernst war, sorgten sich auch die Kinder nicht. Während er Richtung Flüelen ruderte, sahen sie die Hebamme mit dem Gebärstuhl auf dem Rücken, die sich langsam dem Haus näherte. In der Hand trug sie eine seltsame, gebauchte Tasche. Die Geschwister rätselten, was sie wohl darin verborgen habe.

„Sie bringt darin der Mutter ein neues Kind. Das weiß ich ganz bestimmt. Ich habe genau gehört, wie die größeren Buben in der Schule darüber gesprochen haben. Ihr werdet schon sehen, dass ich Recht habe.” Klaus erzählte diese Nachricht mit dem Ton der Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete, und fühlte sich sehr überlegen. Er glaubte, das Rätsel um die stetig wachsende Familie gelöst zu haben. Der Vater lächelte und schwieg, sog die Unbekümmertheit seiner Kinderschar in sich auf.

 Wenige Tage später schlief tatsächlich ein winziges Schwesterlein in der Schlafkammer der Eltern. Sie lag in der Schublade, die nun wieder als Bettchen diente und während der Nacht neben der Mutter stand. Deren Bauch war wieder dünner, sie war entspannter. Ab und zu spielte sogar ein Lächeln auf ihrem müden Gesicht. Die Eltern gaben dem Neugeborenen erneut den Namen Elisa, um die Mutter über den Verlust ihres Kindes vor einem Jahr hinwegzutrösten. Die neue Elisa sollte die Lücke füllen. Sie sollte den Schicksalsschlag vergessen lassen, und so war es bald auch.

Das neue Kind beeindruckte Josi jedoch nicht besonders. Der Säugling bedeutete lediglich, dass Mutters volle Aufmerksamkeit erneut auf den Neuankömmling gerichtet war. Es bedeutete, dass Josi jetzt auch noch beim Waschen der Windeln half, den ekligen Brei auskratzte und die Tücher im kalten Brunnenwasser auswusch, bis ihre Finger wund wurden. Mehr als einmal hob Klaus eine saubere Windel in die Höhe, beäugte sie kritisch und sagte: „Schön hast du das gemacht.”

Anschließend ließ er sie aus Versehen in den Eimer mit dem Ausgekratzten fallen mit der Bemerkung: „Oh, das tut mir jetzt aber leid”, sodass sie Josi erneut schruppen musste.

Nicht auf solche Gemeinheiten zu reagieren, so tun als ob nichts vorgefallen wäre, schien Josi die beste Strategie. Sie hatte sich angewöhnt, die aufsteigende Wut runterzuschlucken und mitzuspielen, als ob es tatsächlich ein Versehen gewesen sei. Es braucht immer zwei zum Streiten. Sie beachtete Klaus so wenig als möglich, nahm wortlos die schmutzige Windel, um sie erneut zu waschen. Sie ging ihm einfach aus dem Weg, was nicht ganz einfach war. Klaus fand immer eine Gelegenheit, sie zu ärgern. Es war Josis einzige Hoffnung, dass er irgendwann von seinen Schikanen ablassen würde.

Doch die zahllosen Demütigungen und Bosheiten nagten an ihr. Die Tage schienen grauer, die Luft garstiger, auch wenn die Sonne schien. Wie ein gehetztes Reh suchte das Mädchen Schutz in dunklen Ecken, versuchte sich unsichtbar zu machen, dem drohenden nächsten Schmerz irgendwie auszuweichen. Auch wenn Josi von Menschen umgeben war, fühlte sie sich einsam. Es gab niemanden, mit dem sie ihren Kummer hätte besprechen können. Die Mutter hatte dringendere Sorgen, der Vater sah sie nicht und Onkel Karl weilte irgendwo an der Grenze zu Italien. Sonst gab es weit und breit keinen, dem sie sich hätte anvertrauen können. So öffnete sie in ihrem Inneren eine Kammer und sperrte ihre Einsamkeit hinein. Sie wollte so tun, als ob es nichts Böses gebe. Sie wollte es nicht mehr fühlen. Sie hoffte, dass der innere Tumult von alleine verschwinden würde, wenn sie nicht mehr darüber nachdachte. Irgendwie musste dies ein Ende nehmen und wenn sie es nicht mehr spürte, würde es bestimmt viel schneller gehen. Nachdem sie die Türe zu dieser Kammer verschlossen hatte, fühlte sie sich schwerer. Sie trug nun ein eingesperrtes Tier in ihrem Herzen, das pausenlos an ihrer Freude nagte.

Für Josi war dies nicht so wichtig. Viel wichtiger war, dass die Mutter seit Elisas Ankunft wieder fröhlicher war, dass sie den Säugling koste und herzte und sie manchmal wieder ein Lied summte. Wichtiger war, dass ein Strahlen auf ihr Gesicht zurückkehrte, das sich über die Kinderschar ausbreitete und etwas von der früheren Unbeschwertheit zurückbrachte. Wichtiger war, dass die ganze Familie wieder aufatmete und die dunkle Wolke weggezogen war.

Flüelen, Juli 1859

Im Juli kehrten die Urner Truppen tatsächlich aus dem Tessin zurück. Wenig später besuchte Onkel Karl seine Schwester und deren Familie. Josi lief ihm über den Gruonbach entgegen. Er hob sie hoch und drehte sich mit ihr einmal um seine Achse, bevor er sie behutsam wieder auf die Erde stellte.

„Na, was kannst du mir Neues in deinem Garten zeigen?”

Josi fühlte sich mächtig stolz, dass der Onkel von ihrem Garten sprach, auch wenn sie der Mutter nur beim Jäten oder beim Hacken half.

„Schau mal, wie herrlich die Sonnenblumen dieses Jahr sind. Sie wachsen viel höher als ich selbst bin. Und hier haben wir Krautstiel angesät. Den mag ich gerne.”

„Da freue ich mich auch schon darauf! Und was sehe ich denn dort hinten? Was sind denn das für Kräuter?”

„Das sind Kamillen und daneben Ringelblumen”, antwortete Josi selbstbewusst. „Aus den Kamillenblüten stellen wir Tee her.”

„Ganz richtig. Die Kamille ist eine sehr gute Medizin. Du tust gut daran, immer einen Vorrat davon im Haus zu haben! Das ist sehr wichtig.” Er stellte sich aufrecht hin und rezitierte übertrieben feierlich: „Für Schnupfen, Schlaf und Magenweh, trinkt die Frau Kamillentee.” Onkel Karl lachte fröhlich und Josi stimmte ein. Unvermittelt machte er ein ernstes Gesicht und sagte: „Oh, Entschuldigung. Ich habe mich geirrt. Ich glaube es heißt: Es dröhnt der Kopf, der Zahn tut weh, da hilft nur noch Kamillentee.” Wieder lachten beide. „Nein warte, es war glaube ich: und zwickt und zwackt die große Zeh, dann trinkt man halt Kamillentee.” Josi klatschte vor Freude in die Hände.

„Wie man aus Ringelblumen Salbe herstellt, zeige ich dir, wenn du etwas grösser bist.”

„Oh ja, bitte!”

„Jetzt muss ich aber auch die anderen begrüßen. Sonst essen die den ganzen Kuchen alleine auf. Und das wäre zu schade. Meine Schwester beehrt mich schließlich nicht jeden Tag mit solchen Leckereien.”

Da es ein sonniger Tag war, saßen alle draußen im Schatten des mächtigen Walnussbaums. Zur Feier der glücklichen Heimkehr hatte die Mutter einen Zwetschgenkuchen gebacken, der im Nu verspeist war. Danach passte Josi auf Willi und Maria auf, die am Boden mit Holztieren spielten, während die kleine Elisa schlief. Sie setzte sich so, dass sie gut hören konnte, was der Onkel erzählte. Klaus und Franz drängten sich nahe an ihn. Sie waren Männer, die nichts von den Abenteuern eines Soldaten verpassen wollten, auch wenn sie noch so klein waren.

Eigentlich waren Karls Erinnerungen nicht für Kinderohren gedacht. Dieser Krieg war einer der blutigsten und grausamsten der jüngsten Vergangenheit. So versuchte er seine Erzählung abzumildern. Er hatte die Schlacht nicht selbst erlebt, sondern kannte sie nur aus Berichten von Flüchtlingen.

Unter den Schweizern waren keine Toten zu beklagen, wohl aber unter den kriegführenden Parteien. Die Schlachtfelder in Norditalien, in Palestro, Magenta, Solferino, und wie die Orte heißen mochten, sie waren voller Toter. Zehntausende waren gefallen, zehntausende waren verstümmelt oder wurden vermisst. Vor allem die Schlacht in Solferino war an Grausamkeit nicht zu überbieten. Stundenlang kämpften die Österreicher und die Alliierten um jeden Meter Boden. Waren Männer gefallen, drängten von hinten immer neue nach. Sie kämpften auf den toten Körpern ihrer Kameraden. Noch schlimmer wurde es, als die Kavallerie nachrückte und die Pferde die am Boden liegenden Verletzten zertrampelten.

Die Schlacht endete erst, als sich nach einer tagelangen, mörderischen Hitze ein heftiges Gewitter entlud. Es ließ den Tag zur Nacht werden. In der plötzlichen Dunkelheit war an einen Kampf nicht mehr zu denken. Wo vorher dichte Staubwolken die Sicht behindert hatten, verwandelten die Wassermassen den Boden in kürzester Zeit in einen sumpfigen Morast. Knöcheltief versanken Menschen und Tiere.

Bei den Österreichischen Truppen wurde der Rückzug zu einer wilden Flucht. Die Verzweiflung des jungen Kaisers, Franz Josef von Österreich, war unbeschreiblich. Er, der wie ein Held Kugeln und Geschosse jeder Art neben sich hatte einschlagen sehen, er weinte über diese Niederlage. Von Schmerz erfüllt warf er sich den Fliehenden entgegen, ihnen ihre Feigheit vorwerfend.

Doch es half nichts. Die Schlacht war verloren und damit der Krieg. Die Bewohner der Orte trauten sich lange nicht aus ihren Kellern, wo sie ohne Wasser und Nahrung ausgeharrt hatten. Während der ganzen Nacht hörten sie das Schreien und Wimmern der Sterbenden auf ihren Feldern.

Was der kommende Tag preisgab, war entsetzlich. Tote und Verletzte, soweit das Auge reichte, und kaum Krankenwärter. Die Verwundeten wurden in Spitäler, Kirchen und Klöster gebracht. Kaum jemand verstand sich auf die Pflege, wusste, wie Wunden gesäubert oder Glieder amputiert werden mussten. Es fehlte an Verbandsmaterial und Medikamenten, nichts, was die unerträglichen Schmerzen linderte. Es fehlte an Betten und Nahrung. Kurz, es fehlte an allem, was das Leiden der endlos vielen Männer in Not etwas erträglicher hätte machen können.

Es waren Frauen, unzählige Frauen, die sich freiwillig in den Dienst der gequälten Männer stellten. Sie nahmen es auf sich, den Schrecken des Krieges zu begegnen und den Verwundeten beizustehen, das ungeschönte Leid der hilflosen Kämpfer zu ertragen. Sie scheuten sich nicht, sich dem Gestank des faulenden Fleisches, der ungewaschenen Körper, der verkrusteten Exkremente auszusetzen. Sie packten zu. Sie halfen, so gut sie mit den einfachen Mitteln helfen konnten.

Dann geschah etwas, was es so noch nie gegeben hatte. Die Frauen dienten den Soldaten unter einem einzigen Leitgedanken. Daraus entwickelte sich in kurzer Zeit ein Motto, ein Motto, das sich in Windeseile auf alle Spitäler, Kirchen und Klöster in der ganzen Region ausbreitete, wo Verletzte gepflegt wurden. Tutti fratelli, alle sind Brüder.

Die Frauen mochten nicht unterscheiden, ob der Leidende auf seiner armseligen Pritsche Franzose oder Österreicher war. Sie standen jedem bei, versuchten die Schmerzen zu lindern, so gut sie es eben vermochten. Tutti fratelli. Oft genug mussten sie einen jungen Burschen alleine sterben lassen. Sie mussten ihre eigene Hilflosigkeit hinnehmen und trotzdem weitermachen. Es waren ihrer zu viele.

Josi lauschte gebannt der schaurigen Geschichte. Sie hörte dieses Motto, tutti fratelli - alle sind Brüder. Sie verstand, dass nur Brüder in den Krieg zogen, nur Brüder mussten in schrecklichen Schlachten kämpfen, nur Brüder starben im Feld. Zum ersten Mal war sie froh, ein Mädchen zu sein. Sie würde nie in einen Krieg ziehen müssen. Tutti fratelli.

Onkel Karl bemerkte Josis ernstes Gesicht. Er wollte sie aufheitern. Diese Kriegsgeschichten waren nichts für ein kleines Mädchen. Mit einem spitzbübischen Lächeln wandte er sich an sie.

„Und, Josi, weißt du auch, dass unser Wilhelm Tell dem italienischen König Vittorio Emanuele das Leben gerettet hat?”

Josi blickte verwundert auf. „Wie soll das gehen? Wilhelm Tell ist doch schon lange tot”, protestierte sie.

„Ich habe trotzdem folgende Geschichte gehört. Pass nur gut auf. Der italienische König soll gut Deutsch können und er liest auch gerne die Werke deutscher Dichter, besonders die von Friedrich Schiller. Dessen Wilhelm Tell nahm er sogar mit in die Schlacht. Einmal fühlte er plötzlich, dass er einen Schuss erhalten hatte. Sein Waffenrock war auf der Brust zerfetzt, er selbst blieb jedoch unversehrt. Der dicke Band von Wilhelm Tell hatte die Kugel aufgefangen. Ist das nicht bemerkenswert? Wilhelm Tell hat dem italienischen König das Leben gerettet! Können wir nicht stolz auf unseren Helden sein?”

Alle lachten. An die Buben gewandt fuhr er fort: „Und ihr, merkt euch, Literatur ist wichtig! Sie kann Leben retten. Darum geht fleißig zur Schule und achtet später darauf, immer ein gutes Buch mit euch zu führen. Wer weiß, vielleicht wird es auch euch einmal das Leben retten.”

Flüelen, Herbst 1859

Im Herbst wendete sich Josis Leben plötzlich, mehr als sie je vermutet hätte. Das war ein Lichtblick. Nun gab es auf einmal viel Neues und Aufregendes. Die Eintönigkeit ihres Alltags gewann an Abwechslung, unerwartet zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. Den erfreulichen Umstand verdankte sie der Tatsache, dass Klaus seit Anfang Oktober zur Schule ging. Das veränderte ihren Alltag gewaltig.

Es hatte weniger damit zu tun, dass ihr Bruder nun täglich einige Stunden außer Haus war und sie während dieser Zeit nicht drangsalieren konnte. Es war etwas völlig Anderes, etwas Überraschendes. Durch den Schulbesuch brachte er nämlich jeden Tag etwas Unbekanntes und Spannendes nach Hause, um das ihn Josi beneidete. Sie hätte alles dafür gegeben, ebenfalls die Schule besuchen zu dürfen, das Lesen zu lernen, um mehr von der Welt zu erfahren. Doch sie musste noch ein ganzes Jahr warten. Durch die Schule öffnete sich für Klaus eine neue Welt. Er erzählte von Buchstaben und Wörtern, die er lesen lernte. Er erzählte von Geschichten, die der Lehrer vortrug. Er erzählte von anderen Kindern. Dadurch öffnete sich eine Tür, raus aus dem engen Kreis zuhause, die zuvor verschlossen war.

Im Haus der Familie Gisler gab es kaum Lesestoff. Neben der dicken Hausbibel lag nur ein Andachtsbuch auf Mutters Nachtkästchen. Außerdem erwarb der Vater jedes Jahr die Brattig, Der hinkende Bot, einen Kalender, in dem die Mutter Tag für Tag nachschaute, für welche Arbeiten in Haus und Garten der Mond gerade günstig stand. Für den Vater waren die Daten sämtlicher Märkte in der Schweiz erwähnt. Außerdem berichtete der Kalender über die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres.

Da Josis Neugier geweckt war, bat sie die Mutter, ihr die verschiedenen Zeichen zu erklären. So lernte das Mädchen die Wochentage und die Monate kennen. Sie eignete sich die zwölf Tierkreiszeichen, die Namen der Heiligen und die Bauernregeln an. Ohne dass sie es richtig bemerkte, prägte sich Josi ein, wie die Wörter geschrieben wurden, bis sie nach und nach den Kalenderteil lesen konnte. Jeden Tag lernte sie zudem eine neue Zahl, die sie mit einem Stöckchen so lange in den Sand zeichnete, bis sie diese fehlerfrei schreiben konnte. Nach kurzer Zeit kannte sie die Ziffern von eins bis 31.

Gleichzeitig begann Josi zu zählen: Elisa war das siebte Kind, das die Mutter geboren hatte, aber nur sechs lebten noch. 14 Ziegen, ein Ziegenbock, 18 Hühner und ein Hahn lebten mit ihnen. Sie fand elf Eier in den Nestern. Acht Erbsen waren in einer Schote, in der nächsten nur sechs. Zwanzigmal musste sie schrubben, bis der Fleck weg war. Sieben Knöpfe waren an Vaters Jacke. Überall in Haus und Garten gab es unzählige Dinge, die sie nutzte, um sich mit den Zahlen zu beschäftigen und so dem eintönigen Alltag etwas Reizvolles abzugewinnen.

Auf der Rückseite des Kalenders war das große Einmal-Eins abgedruckt. Die Zahlen waren in einer Pyramide angeordnet, zuoberst die Eins. In der zweiten Linie war links eine Zwei groß gedruckt, daneben in zwei Linien Ziffern, oben eins und zwei, darunter zwei und vier. In der dritten Linie waren neben der Drei oben eins, zwei und drei und darunter die Ziffern drei, sechs und neun. Es dauerte nicht lange, bis Josi die Logik dahinter entschlüsselt hatte, indem sie diese Darstellung immer wieder betrachtete. Nach nur wenigen Wochen hatte sie das Einmal-Eins verstanden. Es machte ihr großen Spaß, die Zahlenreihen im Kopf aufzuzählen, während sie ihre Hausarbeiten verrichtete: vier – acht – zwölf – sechzehn, fünf – zehn – fünfzehn – zwanzig – fünfundzwanzig.

Josi nahm den Kalender so oft als möglich zur Hand. Mit ein wenig Gruseln studierte sie das Titelbild, auf dem drei Krieger standen, die Hand zum Schwur erhoben. Daneben war ein anderer abgebildet, der anstelle eines Beines eine Prothese aus Holz trug. Auf dem Boden bemerkte Josi gar eine kleine Schnecke, die wohl andeuten sollte, dass dieser verstümmelte Bote nur langsam vorankam. Das Bild erklärte derart den Namen der Brattig, Der hinkende Bot. Im Inneren des Kalenders gab es noch mehr Bilder, die Josi mit Inbrunst betrachtete, aber nicht immer verstand. Nur zu gerne hätte sie die Geschichten gelesen, die dazu gehörten.

Mit Klaus’ Schulbesuch veränderte sich auch das Familienleben. Während die jüngeren Geschwister am Abend bereits schliefen, setzte sich der Vater nun öfters mit seinem Ältesten in die Stube. Josi half der Mutter beim Spinnen, und hörte genau zu, wie der Vater zuerst eine Weile mit Klaus das Lesen übte. Doch der fand es zu anstrengend und übte bald lieber wie der Vater an der Pfeife zu ziehen. Die Mutter war etwas ungehalten, schalt ihren Sohn faul und brachte ihm die Kaffeemühle, damit er wenigstens genügend Pulver für den nächsten Tag vorbereitete. Der Vater las nun selbst vor. Das war spannend. Josi konnte ihre Neugier kaum zähmen.

Weil die Texte nicht für Kinder geschrieben waren, erklärte der Vater, worum es sich in den Geschichten handelte. In diesen Stunden war er wie ausgewechselt. Er genoss es zu erzählen, er genoss es, wenn ihm alle bewundernd zuhörten. Er fühlte sich wohl in seiner Rolle als Redner. Und für einmal störte es ihn gar nicht, dass Josi nur ein Mädchen war.

 

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