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Ein feines Leben

Ein feines Leben · Romane

Der Roman ist eine Geschichte über Verantwortung, Mitgefühl und den persönlichen Mut, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Die inneren Antriebe eines Menschen zu ergründen und zu verstehen.

Über den/die Autor:in

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Ich bin Autorin und Malerin. Mein künstlerischer Werdegang und meine literarischen Veröffentlichungen sind auf meiner Homepage "claudia-muehlhans.de" einzusehen.

 Claudia Mühlhans

 

 Ein feines Leben

  

Roman

 

  

1.     Kapitel

 

An diesem Morgen war die Welt in Ordnung. Soweit man von Ordnung sprechen konnte, wenn es an allen möglichen Ecken und Punkten der Weltkugel von Kriegsfeuern loderte und aus Amerika ein geistig haltloser Präsident haltlose Behauptungen über alles und jeden in die Welt twitterte.

Bei uns am Frühstückstisch war alles fein.

Es gab frische Brötchen und die üblichem Diskussionen über schokoladigen Brotaufstrich.

Mein damaliger Lebensgefährte beteiligte sich nicht daran.

Er fühlte sich nicht für die Ernährung meines Sohnes zuständig.

Es stellte sich heraus, dass er sich überhaupt nicht für ihn zuständig fühlte, was dann relativ schnell zu einer, von meiner Seite aus schmerzfreien, Trennung von ihm führte.

 

Eric, ein Klassenkamerad meines Sohnes, der bei ihm übernachtet hatte, beteiligte sich auch nicht an der Auseinandersetzung.

Er aß wortlos, mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit, eine schokoladenbestrichene Brötchenhälfte nach der anderen in sich hinein.

Mein Sohn signalisierte mir mit weitoffenen Augen seine Verblüffung darüber, dass der das durfte.

Ich deutete ihm durch hochgezogene Augenbrauen an, dass dies nur elfjährigen Gästen erlaubt sei.

Empört gurgelte er zur Antwort laut seinen Kakao durch den Strohhalm hoch.

Unser Gast trank Wasser. Auf seinen Wunsch aus der Wasserleitung.

„Warum magst Du eigentlich keinen Kakao?“ wandte sich mein Sohn an Eric.

„Zucker ist des Teufels!“ antwortete dieser.

Ich sah ihn an.

Er hatte schöne klare, hellgrüne Augen mit dunkelgrauen Wimpern. Sie blickten ernst und sahen mich fest an.

Ricky kicherte. Er hielt die Antwort für frech.

Später hörte ich die Beiden im Kinderzimmer lachen. Sie schienen sich gut zu verstehen.

Dann war es eine Zeitlang ganz still. Das war gut für meine Arbeit.

Ich entwarf die Vorzeichnung für eine Auftragsarbeit zu einer Kommunion.

Ein reizendes, gelocktes Mädchenportrait, umgeben von Engelsköpfen war gewünscht. Vielleicht könnte man auch noch ein Einhorn hineinarbeiten, aber bloß nicht zu kitschig, hatte man zu verstehen gegeben.

Als freie Illustratorin war ich dankbar über jeden Auftrag und versuchte, ihn so zu erfüllen, dass ich damit zufrieden war. Das war mir ein Anliegen.

Alle Menschen, egal ob privat oder beruflich mit mir verbunden, konnte ich nicht zufrieden stellen.

Plötzlich stand mein Sohn in der Tür.

„Ricky, was ist?“ fragte ich abgelenkt.

Er antwortete nicht.

Das fiel in meine Gedankenversunkenheit.

„Was ist denn los, mein Schneckchen?“ fragte ich nach und sah ihm in die Augen. Aus deren Tiefen stiegen Fragen, erhellten und verdunkelten das ansonsten so muntere Augenblau.

Das Kind war zutiefst verwirrt.

Es nahm mich immer noch wortlos bei der Hand und führte mich in sein Zimmer.

Eric saß auf dem Boden, vor ihm lag das Monopoly-Spielbrett. In seinem Schoß befand sich ein großer Haufen Spielgeld.

Als ich mit Ricky an der Hand das Zimmer betrat, sprang Eric höflich auf, Spielscheine umflatterten ihn und lagerten sich dann sanft auf den Boden.

Keiner beachtete sie.

Spannung lag in der Luft, ein Windstoß ließ die Gardine um das halboffene Fenster flattern.

„Würden Sie mich adoptieren?“ fragte Eric.

„Warum?“ fragte ich dumm zurück.

„Meine Eltern haben mich nicht lieb“, Erics Mund verzog sich zu dem Hauch eines Lächelns, „ich wäre lieber hier, “sein Blick fing meinen, „bei Ihnen und Ricky.“

Ricky neben mir wurde wieder lebendig. „Das geht doch gar nicht, nicht wahr, Mami?“ fragte er besorgt.

„Moment mal“, versuchte ich zu verstehen, „Du hast also Eltern?“

„Ja“, bekräftigte Eric dies kopfnickend, „Vater, Mutter und Großmutter. Sie ist böse.“

„Wer? Deine Großmutter?“

„Ja, wenn Vater freundlich zu mir ist, schimpft sie mit ihm. Vater macht alles, was sie sagt.“

„Und Deine Mutter?“

„Frauen müssen tun, was die Brüder sagen.“

„Aber Du hast doch eben gesagt, dass Deine Großmutter alles bestimmt.“

„Ja, weil sie schon so lange bei den Brüdern ist. Sie weiß, was der Herr will.“

Diese Ungeheuerlichkeit kam ihm routiniert von den Lippen.

Aber sie fingen an zu zittern, diese zarten Kinderlippen.

„Ich will in die Schule gehen, ich möchte alles lernen und wissen, und ich möchte auch so viele Bücher haben wie Ricky.“

„Du kannst sie Dir alle ausleihen“, versuchte Ricky den Teil des Problems, das er verstand, zu lösen.

„Ich kann sie ja nicht mit nachhause nehmen“, murmelte Eric, „Großmutter erlaubt es nicht, dass ich solche Bücher lese.“

Das ging über Rickys Erfahrungshorizont.

Ich versuchte weiter, Erics Äußerungen einzuordnen.

„Du gehst doch in die Schule?“

„Ja, sonst muss Vater ins Gefängnis. Da wo wir vorher gewohnt haben, wurden wir Kinder von der Polizei in die Schule gebracht und Großmutter wurde es verboten, uns zuhause zu unterrichten.“

„Und dann seid ihr hierher gezogen?“

„Ja, im Dorf haben sie uns „Säckeschisser“ hinterher gerufen.“

„Säckeschisser?“ wiederholte ich verständnislos.

„Sektenschisser“, betonte Eric, „weil wir doch nie etwas mitmachen durften.

Bei genauem Hinhören schwäbelte er leicht.

 

Inzwischen saßen wir Drei nebeneinander auf Rickys Bett.

„Und jetzt?“ fragte dieser, gemütlich an mich herangekuschelt.

Der Himmel antwortete mit einem Donnerschlag.

„Gleich regnet es“, sagte ich zerstreut, meine Überlegungen sausten hin und her, knabberten wie kleine Zicklein an Gedankenfetzen.

„Wieso durftest Du eigentlich bei uns übernachten?“                                                           

„Weil Großmutter im Krankenhaus ist. Sie darf es aber nicht erfahren, hat Vater gesagt.“

Inzwischen regnete es in Strömen.

Ein würziger Erdgeruch drang durch das Fenster.

„Und jetzt willst Du von uns adoptiert werden“, kehrte ich zum Ausgangspunkt dieses Gesprächs zurück.

„Sie wirft meine Biologie-Arbeitsblätter weg. Sie reißt die Seiten aus meinen Schulbüchern.“

Seine Jungshände ballten und öffneten sich.

„Großmutter?“ riet ich.

Eric nickte und sah mich auffordernd an, als ob es nach dieser Eröffnung keinerlei Zweifel mehr in Bezug auf meine Entscheidung zu seiner künftigen Adoption geben könne.

„Ich könnte ja mal mit Deinen Eltern reden“, tastete ich mich vorsichtiger an eine Hilfsmöglichkeit heran.

„Sie hören nur auf Großmutter“, Erics Stimme transportierte diese feste Überzeugung.

Ich zögerte.

Warum sollte ich mich einmischen?

Offensichtlich war diese Familie den Behörden bekannt und

stand unter Beobachtung. Wollte ich mich mit einer

starrsinnigen alten Frau auseinandersetzen?

Ich kannte Eric doch kaum, vielleicht hatte er seine häuslichen Verhältnisse mit kindlicher Fantasie dramatisiert, oder sogar erfunden?

Ricky saß in meinen Arm gekuschelt, er versenkte seinen jetzt wieder klaren, blauen Blick in meinen. Es lag unendliches Vertrauen darin.

 

2. Kapitel

 

Zwei Wochen später saß ich in einer ungemütlichen Wohnküche und trank dünnen Kaffee.

Die Großmutter und Erics Vater aßen dazu mit Margarine bestrichene Rosinenbrotscheiben.

Ich lehnte dankend ab.

Die Großmutter musterte mich mit farblosen, unbewimperten Augen.

„Völlerei ist einer der Pflastersteine auf dem Weg in die Hölle“, erklärte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Ich schluckte den Kaffee, es galt, diplomatisch zu sein.

Vorsichtig sah ich mich unter dem misstrauischen Blick der Großmutter um.

Warum wirkte diese Einrichtung so trostlos auf mich?

Die hölzerne Eckbank war doch recht hübsch, die Sitzkissen geblümt, die Tischdecke gehäkelt, das Kaffeegeschirr bunt gemustert.

Über dem Kühlschrank hing der gemarterte Jesus.

Es lag ein abgestandener, säuerlicher Essensgeruch im Raum, als ob hier niemals etwas Leckeres gekocht werden würde.

Hier wurden keine duftenden Brote aus dem Ofen gezogen und

noch warm, weiß bestäubt, auf den Tisch gestellt.

Hier trieben keine würzigen Suppenaromen die Familienmitglieder aus den Zimmern erwartungsfroh schwätzend zusammen.

Hier wurden auch nicht rote, reife, saftige Tomaten mit

knackend grünen Gurken, sonnengelben Paprika und würzigen

Brocken von milchweißem Schafskäse gemischt.

Aber vielleicht gab es sonntags mal zuckrig duftenden Streußelkuchen mit einem darüber schwebenden Zimthauch?

„Niemals, nur an hohen Tagen das Herrn!“ glubschte mich Großmutter an.

Ich fuhr zusammen. Hatte ich mich wirklich getraut, nach Kindergeburtstagen zu fragen?

„Wer Kinder verwöhnt, entfernt sie von der Gnade des Herrn.“

Ich riss mich zusammen und trug demütig die Bitte vor, meinem Sohn Ricardo durch seinen Sohn Eric Unterstützungshilfe in Mathematik zu geben.

Ich wandte mich dabei an den Vater.

„Ricardo ist ein ausländischer Name“, blökte die Großmutter dazwischen.

„Nicht ausländischer als der Name Eric. Außerdem ist die Namenswurzel die gleiche“, dachte ich, während ich äußerlich friedlich, Auskunft über Rickys Vater erteilte.

 

Ja, er war Italiener. Ja, wir waren verheiratet.

Wir sind verheiratet“, verbesserte ich mich hastig.

Im Moment lebte und arbeitete er im Ausland, des beruflichen Aufstiegs wegen.

Ich log, was das Zeug hielt, wir waren nie verheiratet gewesen.

Aber seine italienischen Großeltern liebten Ricky

rückhaltlos. Sie waren gläubige Katholiken, aber lebten und liebten mit dem Herzen.

Wie könnte ich diese Lebenseinstellung hier vermitteln?

„Sie sind Malerin? Malen Sie so moderne Sachen?“ fragte mich die Großmutter offen misstrauisch.

Ihre Art, mich auszufragen, hatte etwas fast rührend Naives.

Es kam nur auf den Blickwinkel an. Ich fühlte mich in ein herablassendes Mitgefühl hineingleiten. Doch es war mir damals in der Situation nicht bewusst, ich genoss nur meine mitmenschliche Toleranz.

„ich bin Illustratorin“, sagte ich und wies das I-phone mit meiner zuletzt dokumentierten Auftragsarbeit vor.

Es war die mit den Engelsköpfen.

Sogar Erics Mutter, die bis jetzt kein Wort gesagt hatte, zeigte Interesse und beugte sich darüber.

„Da ist ein heidnisches Tier dabei“, fand Großmutter das Haar in der Suppe.

„Sie haben recht“, stimmte ich ihr aus anderen Gründen bei, „das Einhorn passt nicht dazu.“

„ich finde es hübsch“, sagte Erics Mutter, „unsere Gemeindehefte sind doch auch immer bebildert.“

Sie hatte eine weiche, hübsche Stimme. Ich wusste von Eric, dass sie in der Stadtverwaltung arbeitete.

Sie warf mir einen verstohlenen Blick zu, zog sich aber gleich wieder zurück.

Mein Kaffee war ausgetrunken, es wurde mir nicht angeboten, die Tasse neu zu füllen.

Schweigend saßen wir vier Erwachsenen am Küchentisch. Keine

Augen hoben sich, keine Hand zupfte an der gehäkelten Decke, kein Fuß schurrte über den blanken Boden.

Das Weinen eines Kleinkindes durchbrach die Stille.

Niemand außer mir regte sich.

Das Weinen wurde lauter, ging in durchgehendes Schreien über. Ich wusste gar nicht, dass Eric ein Geschwisterchen hatte.

„Nun geh schon!“ sagte Großmutter unwillig. Sofort erhob sich Erics Mutter und verließ den Raum, zog die Tür zu.

Wir drei übrig gebliebenen Marionetten fingen auch an, unsere Glieder zu bewegen, Tassen zu verschieben.

Erics Großmutter befingerte ihren mageren Haarknoten.

„Tja, Mutter“, meldete sich Erics Vater mit seiner sonoren Bassstimme zu Wort, „wenn ein Menschenkind bedürftig ist, ist es unsere Christenpflicht zu helfen.“

Seine Stimme dröhnte durch die wieder vorhandene Stille.

Ich wusste von Eric, dass er als Prediger bei den verschiedenen Brudergemeinden fungierte.

Meinen Ricky hier als bedürftig bezeichnet zu sehen, empörte mich.

Also sprach ich die Frage der Entlohnung an.

„Christenpflicht ist Dienst am Herrn. Lassen Sie sich das gesagt sein“, zischte die Großmutter. Inhaltlich konnte sie ihrem Sohn wohl nicht widersprechen.

Wir einigten uns darauf, dass Eric zweimal wöchentlich Ricky in Mathematik behilflich sein würde und gegebenenfalls, wenn er im Dunkeln nachhause radeln müsste, bei uns Verpflegung und Übernachtung bekäme.

„Das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann“,

wiederholte ich mehrmals heuchlerisch und erleichtert, mein Vorhaben durchgesetzt zu haben.

„Lassen Sie sich mal in unsrer Bibelstunde sehen“, tönte die Großmutter und schob ihren Zeigefinger vor meinem Gesicht hin und her.

„Du hast es nötig!“ hing unausgesprochen im Raum.

Meine Geduld war jetzt endgültig verbraucht und ich erhob mich.

Ich wollte hier nur weg, ja, ich konnte Eric gut verstehen.

Die Küchentür klinkte und herein trat Erics Mutter mit einem etwa zweijährigen Kind auf dem Arm.

Es war bildhübsch, mit einem wilden, schwarzen Lockenköpfchen und großen dunklen, schwarzbewimperten Augen. Tränenspuren verteilten sich über sein rundes Gesicht. Es rieb mit bandagierten Fäustchen darin herum.

Erics Mutter versuchte die Hände sanft von seinem Gesicht fernzuhalten.

„Lass das!“ fauchte die Großmutter, wobei mir nicht klar war, ob sie ihre Schwiegertochter oder das Kind meinte.

„Der Arzt hat gesagt, er darf sich nicht kratzen“, Erics Mutter versuchte weiterhin das Kind ruhig zu halten.

„Warum bringst Du es überhaupt hierher? Wenn es sich nicht zusammenreißen kann, muss es im Bett bleiben.“

Jetzt standen wir alle unter dem kalten Lichtkreis der Lampe unter dem Küchentisch herum.

„Er hat so geweint“, sagte die sanfte Stimme von Erics Mutter. Der singende Bass ihres Gatten schwieg.

„Das ist die Brut des Teufels“, verkündete Großmutter.

 

3.Kapitel

 

Eric kam jetzt seit zwei Monaten regelmäßig zu uns. Wir gingen zu Dritt ins Kino, ins Theater, besuchten Museen, Ausstellungen.

Eine Ausstellung zur Geschichte der frühen Menschheit begeisterte beide Kinder.

Eric besorgte sich mit meinem städtischen Bibliotheksausweis Bücher aller Genres zu diesem Thema. Es handelte sich dabei sowohl um kindgerecht gestaltete Bildbände, als auch um wissenschaftliche Literatur der trockenen Art.

Ich bremste ihn nicht. Das Kind hatte Hunger.

Während Eric in Rickys Zimmer las, lag Ricky im Schlafanzug in meinem Arm gekuschelt und sah mit mir seine abendlichen Serien auf DVD.

So passte es gut für uns alle Drei.

Ricky akzeptierte, dass Eric ihm nichts von meiner Zuneigung wegnahm und ich dachte damals zu verstehen, was Eric bei uns suchte.

Er hatte übrigens vehement abgestritten, einen kleinen Bruder zu besitzen. „Nein, das ist nicht mein Bruder“, beteuerte er unter Tränen. „Niemals ist der mein Bruder. Das ist ein fremdes Kind. Vater und Mutter haben es aufgenommen. Es gehört zu den Brüdern.“

Er stritt sogar ab, den Namen des Kindes zu kennen, aber ich fand doch heraus, dass es Bernhard hieß.

In meiner eingebildeten Sorglosigkeit fand ich mich friedvoll in der selbstgebastelten Erklärung zurecht, dass in dieser Brüdergemeinde Kinder von verstorbenen Eltern von anderen Familien aufgenommen wurden.

Daher stammte sicher auch die Idee der gewünschten Adoption von Eric.

Ich wusste von ihm, dass das Jugendamt der Familie einen Besuch abgestattet hatte, und der kleine, unter Neurodermitis leidende, Bernhard war ja auch regelmäßig bei einem Arzt vorstellig.

Ich konnte mich ja schließlich nicht um alle Kinder dieser Welt kümmern.

Ricky stand mir am nächsten und mein gutes Herz hatte mich zu Eric getragen.

So verlebte ich selbstgefällig und näher an Erics Großmutters Gefühlswelt angelehnt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte, eine feine Zeit.

Wir feierten Erics zwölften Geburtstag, der bei ihm zuhause völlig übergangen wurde, mit Torte und Luftschlangen. Und sonst nichts.

Ja, Ricky und Eric übten auch wirklich Mathematik und Physik.

Ricky war eigentlich in allen Fächern gut, aber Eric liebte

Zahlen und wandte sich immer mehr der Computertechnik und dem Programmieren zu.

Er belegt Extrakurse und fand Gleichgesinnte in anderen Schülern.

So endete Rickys und Erics geneinsame Zeit.

 

4.Kapitel

 

Trotzdem kam er weiterhin zweimal in der Woche zu uns.

Ricky scherte sich nicht darum, denn Eric übernachtete niemals mehr bei uns.

Wir unternahmen auch nichts mehr zu Dritt, wir unternahmen überhaupt nichts Gemeinsames mehr.

Ich saß an meinem Arbeitstisch, an einer lohnenden Arbeit. Lohnend im doppelten Sinne. Sie erfreute mich und garantierte zwei Monatsmieten.

Ich entwarf die Webeplakate für das im folgenden Jahr in der Stadt stattfindende Bluesfestival und hörte die entsprechend Musik dazu.

Trotzdem bekam ich mit, dass die Wohnungstür geöffnet und zugeworfen wurde.

„Hi, Ricky“, rief ich fröhlich und klackte mit meinem Stift auf den Schreibtisch.

Die Abendsonne schien so warm, die Pizza backte im Ofen, es war noch Sommer.

So überblubbernd vor Lebensglück stapfte ich barfuß in Rickys Zimmer und wurde mit Erics abweisenden Rücken an Rickys Computer auf dem Schreibtisch konfrontiert.

„Oh, Eric …“

„Hallo“, er wandte sich nicht um, tippte auf der Tastatur.

Ich riss mich zusammen.

„Hallo, Eric“, sagte ich mit sanfter Stimme und legte ihm meine Hand mit dem Stift auf die rechte Schulter.

„Du klingst wie meine Mutter.“ Der Rücken war unerbittlich.

In mir stieg Wut hoch. Musste ich mich in meiner eigenen Wohnung so behandeln lassen?

„Iss ein Stück Pizza mit mir“, versuchte ich mich einzufangen, „später kommt Ricky noch dazu.“

„Der ist mir scheißegal“, Erics Rücken war gar nicht mehr so kindlich.

Es war noch Sommer, aber die Sonne sank, die Schatten stahlen sich in Rickys Zimmer, Bäume wisperten im Abendwind.

Erics Hände glitten, rasten, tippten über die Computertastatur. Wider Willen musste ich das bewundern.

Vögel durchkreuzten den abendlichen Himmel, wohin auch immer sie fliegen mochten.

Der Dachfirst des gegenüberliegenden Gebäudes stand einen Moment wie in Gold getaucht, versank dieser Augenblick für immer?

Ich brach plötzlich in Tränen aus.

Wider Willen, gegen meinen permanenten trotzigen Widerstand erreichte die Einsamkeit dieses Kindes mein Herz und knackte es in Sekundenschnelle, was all diese Jahre in fröhlicher Betriebsamkeit nicht erreicht hatten.

„Lass mich nicht alleine“, flehte ich Eric innerlich an, „lass mich mit dieser Einsicht nicht alleine zurück …“

Das Computerlicht flackerte über sein noch kindliches Profil, in dem man aber schon die markante Einbuchtung zwischen Stirn und Nase erkennen konnte.

„Eric“, ich kniete mich vor ihn hin und sah von unten in sein Gesicht, über das die Wellen des künstlichen Computerlichts flirrten, „Eric, wie geht es Deinem Bruder?“

Eric ließ die Hände sinken.

„Oh, Gott, ich hatte ihn erreicht“, jubelte ich innerlich. Ich fühlte mich wie ausgewrungen.

„Er ist wirklich nicht mein Bruder“, sagte Eric, „er ist mein Cousin.“

„Dein Cousin?“ staunte ich.

„Er ist das Kind von der jüngeren Schwester meiner Mutter …“

„Das hast Du immer gewusst?“

„Ja, ich wusste es“, gab er zu. Ich schwieg.

Ich hockte auf dem Boden in meiner eigenen Wohnung vor diesem mir fremden Kind.

Dann schwang ich mich innerlich auf, das war ich mir schuldig, sonst taugte ich nichts.

„Warum lebt es dann nicht bei Deiner Tante?“

„Weil sie tot ist.“

„Sie ist gestorben?“

Schweigen. – Dumme Frage. –

Ich ging weiter auf dem Weg. „Woran ist sie gestorben? Bei der Geburt?“ mutmaßte ich.

„Sie hat sich umgebracht. Großmutter sagt, sie ist eine große Sünderin.“

Ich heulte schon wieder. „Denkst Du das auch?“ fragte ich.

Dabei schluchzte und schluchzte ich.

Ich weinte um diese mir unbekannte Frau und um dieses Kind, als ginge es um mein Leben.

„Nein“, sagte Eric kurz und ruhig, „ich habe sie geliebt.“

Ich erhob mich, denn jetzt weinte auch er, seine rechte

Hand tastete nach meiner, sein Kopf lehnte sich an meine Hüfte.

„Sie war immer so fröhlich. Alle liebten sie, sie war diejenige, die mit mir gelacht und gespielt hat, sie war wie eine Schwester für mich, elf Jahre jünger als meine Mutter“, jetzt bekam seine Stimme einen verächtlichen Ton, „die niemals meiner Großmutter zu widersprechen wagte. Wer mich in Schutz nahm, obwohl sie selber noch ein Kind war, war Thea.“

Er malte das Unendlichkeitszeichen in die Luft, die liegende Acht.

„Wir sind miteinander für immer verbunden, sie war acht Jahre alt, als ich geboren wurde, ich war acht, als sie starb.“

„Wer hat Dir das gezeigt?“

„Niemand, damit habe ich mich selber getröstet, wenn ich das

Bild nicht mehr aushalten konnte.“

Ich flüsterte, „das Bild?“

„Ich habe sie gefunden. Sie hatte sich erhängt. In der Scheune. Den Fußtritt hatte sie weggestoßen und da baumelte sie am Haken.“

Er erzählte dies so sachlich, als läse er einen Einkaufszettel vor. „Manchmal konnte ich es vergessen, dieses Bild …“, er schluckte, „aber jetzt wird es immer stärker, ich werde es nicht los …“.

Rickys Zimmer versank im Dunkeln, die Bäume hatten aufgehört zu sprechen.

Eric heulte laut, trieb seine Jungsfäuste in die Augenhöhlen und ich flüsterte tröstende Worte, versprach ihm, dass man das Bild nicht löschen könnte, aber dass man lernen könnte, es zu ertragen.

Das war kein billiger Trost, mit Bildern kannte ich mich aus.

 

5.Kapitel

 

Ich sprach mit Ricky darüber. Er reagierte warmherzig.

Nicht das Grauen aus Erics Bildern sprach ihn an, sondern Erics Not ließ ihn nicht kalt.

Darin ähnelte er seinem Vater.

Ich wollte Medizin studieren, als Ärztin ohne Grenzen arbeiten, das war ein Kindheitstraum von mir gewesen. Als ich siebzehn war, erkrankte mein Vater an Krebs und starb nach kurzem Kampf.

Um meinen medizinischen Studienplatz einzunehmen, hätte ich weit von meiner Mutter entfernt leben müssen. Das wollte ich nicht und begann eine kaufmännische Ausbildung, um den Malereifachbetrieb meiner Eltern weiterführen zu können.

Meine Mutter verlangte dies nicht von mir. Sie verlangte überhaupt nichts mehr vom Leben.

Sie starb ebenfalls an Krebs, als ich neunzehn Jahre alt war.

Geschwister hatte ich keine.

Ich verkaufte die kleine Firma meiner Eltern, brach die kaufmännische Ausbildung ab und begann, Kunst und Design zu studieren.

Jahrelang konnte ich das Wort „Krebs“, egal in welchem Zusammenhang, nicht hören, ohne an den Krebsgang zu denken, mit dem alles, ohne Ausnahme, sich rückwärts entwickelt und endet.

Das hatte nichts mit Logik zu tun, das war ein Bild, das ich mit geschlossenen Augen malen konnte.

Rickys Vater hatte andere Bilder im Kopf.

Enzo und ich verliebten uns tief ineinander.

Als ich schwanger wurde, wollte er mich sofort heiraten. Er freute sich unglaublich auf das Kind und stellte mich seinen Eltern vor.

Sie besaßen ein kleines Hotel in Ravello an der Amalfinischen Küste in Italien. Alfonso und Teresa, so durfte ich sie sofort nennen, nahmen mich ohne Misstrauen in die Arme.

Im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Auch sie wollten, dass wir heirateten.

Nur ich wollte nicht.

Liebe ja, aber keine lebenslange Bindung.

Enzo liebte meine Schwangerschaft, aber er war enttäuscht von mir.

Ich konnte und wollte das nicht ändern.

Heute weiß ich, ich wollte nur nicht die Frage nach dem Krebsgang stellen.

Ich wollte keinen Schmerz mehr aushalten müssen.

Ich war jung, gesund und Ricky entwickelte sich zu einem reizenden, komplikationslosen Kind. Ich hielt dies für mein Verdienst und beteuerte permanent meine Unabhängigkeit von Enzo.

Dabei war er ein liebevoller, körperbetonter Vater. Er nahm das Kind auf, tröstete es, wenn es weinte.

Als ich nicht mehr stillte, kochte er ihm kleine Gemüsebreie, die er mit Teelöffelchen Olivenöl würzte.

Ricky gedieh, unsere Liebe verdorrte.

Zu dem Hotel von Enzos Eltern gehörte ein kleiner Weinberg. Der Anbau und die Kelterei wurden von Enzos Vater als Hobby betrieben.

Enzo hingegen hatte sich nie für den Hotelbetrieb interessiert, er wollte immer Winzer werden.

Er absolvierte sein Önologiestudium erst in meiner Nähe, so hatte ich ihn kennengelernt. Um ein erfolgreicher Winzer zu werden, wollte und musste er bei verschiedenen Winzern arbeiten und deren Methoden kennenlernen.

Es trieb ihn fort, ich trieb ihn mit meiner eingefrorenen Herzenskälte fort, und Ricky wurde von mir eifersüchtig bewacht.

 Enzo schwang sich über die halbe Erdkugel und landete in Neuseeland. Dort lebt er noch heute, in einer Ehe und mit dem aus dieser Ehe entstandenen Halbbruder von Ricky.

Dieser hieß Brian und hatte rote Haare. Ich fand, dass er weder Enzo noch Ricardo ähnlich sah.

Ricky hingegen ähnelte seinem Vater sehr.

Seine italienischen Großeltern kannte er gut, wir besuchten sie regelmäßig. Sie liebten und verzogen ihn.

Seinen Vater hingegen hatte er seit acht Jahren nicht in natura gesehen. Sie skypten natürlich ganz häufig.

Enzo liebte seinen ältesten Sohn. Ich hatte ihn auch niemals um Geld bitten müssen.

Bevor er seine zweite Familie hatte, überwies er uns immer die Hälfte seines Verdienstes.

In den Jahren, in denen ich um meine Existenz als Illustratorin kämpfen musste, konnte ich mit Ricky bescheiden davon leben.

Immer noch ließ er Ricky finanziell weit mehr als den gesetzlich vorgeschriebenen Unterhaltssatz zukommen.

Ich war sehr glücklich darüber, in Ricky alle Herzlichkeiten seines Vaters sich so positiv, trotz Pubertät, entwickelt zu sehen.

Meine neurotische Kleinkrämerei, die ich inzwischen registrieren und benennen konnte, kämpfte schon längere Zeit mit dem Wunsch, nicht alles vermeiden zu wollen, was ich als Krebsgang bezeichnete.

Und seien es Flusskrebse im Salat. Oder in Dillsoße.

Ein Krebs bewegt sich nicht rückwärts, sondern seitwärts.

Wer Bilder entstehen lassen möchte, muss schonungslos

ehrlich mit sich sein, das Bild zwingt ihn dazu, denn sonst taugt das Ergebnis nichts.

Das hatte mich meine Arbeit gelehrt.

 

6.Kapitel

 

 

Meine beiden Jungs, so nannte ich sie inzwischen, fanden wieder zu ihrem ursprünglichen herzlichen Verhältnis zueinander zurück. Ihre persönlichen Vorlieben hatten zwar wenig gemeinsame Schnittstellen, Ricky spielte Saxophon in der Schulband, begeisterte sich für Leichtathletik und Eric bewegte sich computertechnisch und im Internet in Bereichen, zu denen wir keinen Zugang hatten.

Doch sie waren beide gute Schüler und hangelten sich auch ganz erfolgreich durch soziale Klippen, an denen es im Schulalltag nicht mangelte.

Ich erinnerte mich aus meiner Schulzeit an ein stockend agierendes Mädchen, deren starker Schweißgeruch eine Zeitlang Bosheit so aktivierte, dass sie auf ihrem Sitzplatz Seifenstücke mit der Aufforderung, sich zu waschen, vorfand.

Ich beteiligte mich nicht daran, aber ich verhinderte diese Aktionen auch nicht aktiv.

Ich wollte in meine Beliebtheit nicht störend eingreifen.

Mangel an Zivilcourage, sagte ich mir heute.

Ich verabscheute ihre Art, den Lehrern hinterher zu laufen und deren Bewertungsergebnisse für sich verbessern zu wollen.

Das erlaubte mir, meine innere Unbeteiligtheit an ihrer

Behandlung durch andere zu rechtfertigen.

Doch später lehrte mich die kurze, schwere Krankheit meines Vaters soziale Isolation kennenzulernen. Denn auch meine zwei besten Freundinnen wollten mich in der hoffnungslosen Verfallssituation unserer Familie nicht mehr aufsuchen.

Es machte mir nicht einmal etwas aus, redete ich mir ein.

Eric hatte für sich die schmerzhafte Erkenntnis einer seelischen Verletzung zugelassen und mir dadurch meine Grenzen gezeigt. Das hatte uns einander nahegebracht. In mir entstand der Wunsch, meine selbstgesteckten seelischen Grenzen auszuloten.

Waren sie starr? Konnte ich sie zerschlagen? Waren sie elastisch?

Rannte ich dagegen an und wurde wieder zurückgeschleudert? Könnte ich sie verrücken?

Waren sie überhaupt vorhanden?

Ich entschloss mich zu handeln und ihre Reaktion zu spüren.

Natürlich hatte ich niemals die Bibelstunden, zu deren Besuch mich Erics Großmutter aufgefordert hatte, aufgesucht.

Ebenso wenig hatte ich mich um Erics Familiensituation gekümmert.

Es hatte mir gereicht, Eric mein Familienleben angeboten zu haben.

Aber für ihn war das nicht ausreichend gewesen.

Ich machte mich auf den Weg und hatte einen Plan und einen Vorschlag, den ich Erics Angehörigen vorstellen wollte.

Von Eric wusste ich, an welchen Nachmittagen seine Mutter zuhause war und Bernhard betreute.

So kritisch er seiner Mutter auch gegenüberstand,

versicherte er mir doch, dass sie liebevoll mit dem kleinen,

durch seine Krankheit geplagten Jungen umging.

Sie widersprach zwar nie der Großmutter, aber sie tat, was sie konnte, um die Ratschläge des Kinderarztes umzusetzen.

Wenn Erics Mutter ihrer Berufstätigkeit nachging, war der Kleine in der Betreuungsgruppe der in der Stadt ansässigen Brüdergemeinde, also auch nicht alleine mit der Großmutter Martha.

Erics Vater hieß Johannes.

Eric war sehr erstaunt, als ich mich nach den Vornamen seiner Familie erkundigte.

„Sie heißen Großmutter, Vater, Mutter. In der Brüdergemeinde nennen sie sich Bruder Johannes und Schwester Martha.“

„Und Deine Mutter?“

„Die zählt nicht.“

Aber sie hatte trotzdem einen Namen: Veronika.

Ihr saß ich nun gegenüber.

Ihr und dem inzwischen über vierjährigen, verschorften Bernhard. „Berndl“, nannte Erics Mutter ihn zärtlich.

Er hatte erfreut nach dem Puzzlespiel gegriffen, das ich ihm mitgebracht hatte und beschäftigte sich eifrig damit, Tierkörper zusammenzulegen.

Wieder saß ich in der schal und säuerlich riechenden Wohnküche der Familie Häberlein.

Hier hatte sich nichts verändert. Die Häkeldecke des Küchentischs war dieselbe und Christus litt weiter über dem Kühlschrank.

Erics Mutter war eigentlich eine gutaussehende Frau.

Sie hatte eine klare Haut, von ihr hatte Eric die hellen

grünen Augen. Sie war schlank und hatte zierliche, gepflegte Hände.

Ihr Haar war glatt aus dem Gesicht zurückgestrichen, sie sah

mir nie in die Augen. Entweder sah sie an mir vorbei, oder ihre Augenlider waren gesenkt.

Ihre Wimpernsäume waren leicht rötlich, als hätte sie geweint.

Berndl patschte ihr ins Gesicht. Sie nahm seine Hand und küsste ihn in die Handinnenfläche. „Du Bursche“, sagte sie lieb.

Da streckte ich meine Hand aus und legte sie auf ihre Mädchenhand.

„Ich habe eine Bitte“, sagte ich herzlich, „ich würde gerne Eric für zwei Wochen mit nach Italien zu meinen Schwiegereltern nehmen. Es würde sie nichts außer dem Flug kosten“, fügte ich hastig hinzu.

Veronika schob versonnen Berndls zusammengelegte Puzzleteile auseinander. Er protestierte lauthals.

„Pscht, pscht“, strich sie ihm über den Kopf.

„Das kann ich nicht entscheiden“, sagte sie mit gesenkten Augenlidern.

Da mochte ich sie plötzlich nicht mehr.

Wie sie da saß, die Augen fast geschlossen, wollte sie das Leben, ihr Leben, nicht sehen?

Bernhard schrie inzwischen laut plärrend, mit zurückgeworfenem Oberkörper. Er bäumte sich auf, ein kräftiger, fast fünfjähriger Bursche.

Veronika hatte Mühe, ihn im Arm zu halten.

„Lassen Sie ihn doch los“, wollte ich sagen, oder hatte es sogar gesagt, da wurde die Tür so derb aufgestoßen, dass sie mehrmals ungebremst gegen die Küchenwand schwang.

Die Gläser im Schrank klirrten warnend.

„Macht nichts“, dachte ich frech, „das Ganze hier muss sowieso mal anständig aufgemischt werden.“

Von der demütigen Haltung meines ersten Besuches war ich weit entfernt.

Ich war mir selbst so sicher, ich war so siegessicher. Ich wusste nicht, was noch vor uns allen lag.

Das weiß man doch nie.

Großmutter Martha geiferte herein.

Sie war noch hässlicher und fahlgelber, als ich sie in Erinnerung hatte.

Heute weiß ich, dass ich sie nicht real wahrnahm. Ich trug ein Bild von ihr in mir.

Damals sah ich in ihr eine Hexe, wie ich sie aus dem Märchenbuch meines Sohnes Ricardo kannte. „Mama, lies mir von der bösen Hexe vor. Aber die Kinder werden gerettet. Sag mir, dass sie gerettet werden, dann kannst Du es vorlesen.“ Und ich las es vor, das Märchen von Hänsel und Gretel und der bösen Hexe und alles ging gut aus.

Ich wollte nicht sehen, dass sie ein Mensch war.

Ein böser Mensch, wie Eric mir am Anfang unseres Kennenlernens mitteilte. Ich dachte, es gäbe keine bösen Menschen.

Nur Hexen. Wie im Märchen.

Ich war so siegessicher.

Mit dieser Haltung erhob ich mich und streckte meine Hand zur Begrüßung von Großmutter Martha aus.

Sie warf mir einen Blick zu, der aus den wimpernlosen, kleinen Augen über mich hinwegsprang.

„Bring das Balg weg“, blaffte sie ihre Schwiegertochter an.

Bernhard hörte bei Marthas Anblick auf zu schreien und

strebte von Veronikas Schoß fort. Er rannte zur offenen Tür hinaus.

Es sah aus wie Flucht aus einem Kriegsgebiet, totale Kapitulation. Veronika erhob sich und wollte dem Kind folgen.

„Du bleibst hier“, sagte Großmutter Martha scharf, „und erklärst mir, was Du für seltsame Besuche hast.“

Veronika setzte sich gehorsam auf eine ihrer Hinterbacken. Sie wollte aus verschiedenen Gründen nicht in der Situation bleiben, traute sich aber nicht, mich und Martha zu verlassen. So hockte sie schräg und unglücklich vor sich hin.

„Na?“ blaffte Hexe Martha.

„Tja“, sagte ich munter, ich hatte wie gesagt, immer noch nichts kapiert, „“ich wollte Erics Mutter nur fragen …“

„Die hat hier gar nix zu sagen“, Großmutters übler Atem näherte sich meinem, „was wollen Sie?“

„Sie ist die Mutter und hat das Sorgerecht“, entgegnete ich ihr, wobei ich mir mutig und im Recht vorkam, „und deshalb wollte ich sie fragen …“

Martha unterbrach mich. „Sie heidnische Person, Sie, machen

Sie, dass Sie wegkommen, lassen Sie sich bloß hier nicht

mehr blicken, sonst …“

„Ja, was sonst?“ sagte ich in die plötzliche Stille hinein.

Denn Veronika hatte sich erhoben, wollte sich wohl hinausschleichen und wurde an der Tür von ihrem hereinkommenden Mann eingefangen, der seiner Mutter einen Blick zuwarf und warnend den Zeigefinger an den Mund hob.

„Was kann ich für Sie tun?“ kam er dann auf mich zu, sich die Hände reibend, ganz Bruder Johannes.

Ich wiederholte mein Anliegen, trug allerdings meinen Vorschlag unsicherer vor, bis mir bewusst wurde, dass bei unserem Handschlag die Hände von Erics Vater schweißfeucht gewesen waren.

Dieses Körpersignal war auch zuerst von meinem Körper registriert worden und kam erst Sekundenbruchteile später in meinem Denken an, gab mir aber sofort gestische Überlegenheit. Ich sah Erics Vater klar in die Augen.

Er blickte nach oben.

Er hatte große weiße Augäpfel.

In die Stille hörte ich eine Uhr laut ticken, die hatte ich vordem überhaupt nicht registriert.

Dann räusperte sich Bruder Johannes. „Warum denn so streng, Mutter? Das ist doch ein freundlicher Vorschlag von der Dame. Wir werden ihn uns durch den Kopf gehen lassen. Aber jetzt entschuldigen Sie uns, ich muss eine Predigt vorbereiten.“

Er rieb sich wieder die Hände. Hingesetzt hatte er sich nicht.

Vor dem Fenster wirkte er wie eine kompakte, dunkle Wand, die vor mir stand.

„Na gut“, ich erhob mich, hatte mich noch nicht ganz gefangen, „dann sagen Sie mir Bescheid? Ich müsste ja auch meine Schwiegereltern informieren …“

„Diese Heiden“, keuchte Großmutter Martha, „diese Heiden …“

„Ach, Mutter, was redest Du da, Italien ist ein

gottesfürchtiges Land. Es gibt dort so wunderbare Kirchen.“

Seine Augäpfel wanderten wieder himmelwärts.

„Ja, so ist es, meine Schwiegereltern gehen jeden Tag in die Kirche“, trumpfte ich auf.

Das stimmte sogar, zumindest traf es auf meine Schwiegermutter zu. Sie huschte jeden Tag einmal in die Kirche. Zwar war diese auch nicht mehr, wie früher, den ganzen Tag geöffnet, es gab zu viele Kirchendiebstähle, „Dio mio“, aber sie kannte genau die Öffnungszeiten.

Diese Besuche halfen ihr, die Trennung von ihrer Familie zu ertragen. Das eine Kind, die Tochter, war in Mailand verheiratet, das andere, geliebter Enzo, lebte am anderen Ende der Welt in Neuseeland. Und den ältesten Enkel, Ricky, sah sie auch viel zu selten.

 

 

7.Kapitel

 

Doch bald würden wir sie besuchen und Eric war sich sicher, mitfahren zu dürfen. „Warum glaubst Du so fest daran?“ zweifelte ich.

Ricky lag längelang auf dem Boden unseres Wohnzimmers auf der sogenannten Hundedecke.

Wir hatten nie einen Hund besessen, waren uns aber immer einig gewesen, dass ein Hund gut darauf aussehen würde. Ein Golden Retriever mit würdevollem Kopf.

Ricky grinste und sah Eric an. Ich wandte mich Eric zu, der neben mir saß und seinen Löffel in einen großen Eisbehälter grub. 450 ml Vanilleeis konnte er ohne Probleme vertilgen.

Ricky war lang und mager wie ein junger Jagdhund, Eric kleiner und vom Körperbau her gedrungener, dabei fest und

muskulös angelegt.

Beide Jungs tauschten zufriedene Blicke. Sie wussten etwas, das mir noch nicht bekannt war.

„Also“, forderte ich sie auf.

Ricky und Eric sahen sich wieder an. Eric legte den Eislöffel beiseite. „Ich glaube, wir können es ihr sagen“, meinte Ricky lässig.

In den letzten Monaten war der Druck auf Eric seitens seiner Familie und der Brüdergemeinde, die Besuche in unserer Familie aufzugeben, erhöht worden.

Wir waren Heiden, lebten nicht dem Herrn gefällig, und Eric war in Gefahr, dem Satan anheimzufallen.

Er hatte sich dies ohne Widerspruch angehört und dann mit gesenktem Kopf mit den Gemeindemitgliedern um seine Errettung gebetet.

Er hatte dieses auch so empfunden.

Es war ihm ganz klar, intellektuell und seelisch eine Gewissheit, dass er sich von der Brüdergemeinde gelöst hatte und niemals zu deren Inhalten zurückkehren würde.

Ebenso klarsichtig wusste er, wie mit abtrünnigen, noch nicht mündigen Gemeindemitgliedern verfahren wurde.

Ganz offenen Widerstand wollte und konnte er sich noch nicht leisten, denn er fühlte sich auch dem kleinen Bernhard verpflichtet.

„Wenn ich nicht mehr da bin, hat Mutter keinen Stand mehr Großmutter gegenüber. Die würde das ausnutzen und ihre Lehren gewaltsam durchsetzen. Ich kenne sie“, setzte er kopfnickend hinzu.

Er hatte doch Zuneigung zu dem kleinen Bernhard entwickelt.

„Er ist das Kind von Thea. Sie hat mich beschützt und sie wäre grausam enttäuscht, wenn ich ihren Sohn im Stich lassen würde.“

Ernst trug er seine Geschichte vor, plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht. „Ich habe Großmutter mit ihren eigenen Waffen geschlagen.“ Der ruhige Eric zappelte mit Kopf, Armen und Beinen.

Sein Eislöffel flog auf die Hundedecke.

Mit seinen Computerfreaks hatte er den Account der Brüdergemeinde gehackt.

„Der war überhaupt nicht geschützt, die haben echt keine Ahnung“, brummte er plötzlich stimmbruchtief, dann stieg seine Kinderstimme wieder krähend auf.

„Wir schrieben ganz gezielt an Großmutter Nachrichten, in denen sie jedes Mal, wenn sie etwas verhindern wollte, vom Satan für ihr Vorhaben gelobt wurde. Das brachte sie in einen Gewissenskonflikt. Wenn etwas, das sie durchsetzen wollte, von Satan gutgeheißen wurde, konnte es ja nicht richtig sein.“

Eric lachte laut auf.

„Das hat am Anfang fantastisch funktioniert. Wir haben sie richtig durcheinandergebracht“, Ricky nickte begeistert dazu.

„Du hättest sie in einen Wahn hineintreiben können“, formulierte ich vorsichtig.

„In dem lebt sie doch schon, verstehst Du das denn nicht? Ich musste Schlimmeres verhindern, denn sie hat Macht über andere Menschen und keine Hemmungen, diese auch anzuwenden.“

In was für Gedankenwelten wurde ich hier hineingezogen?

Warum fühlte sich Eric zu solchen Schutzmaßnahmen gezwungen? Er handelte bewusst illegal, weil er keine andere Hilfsmöglichkeit für sich sah.

Ich hatte ja selber miterlebt, wie schwach sich erwachsene Menschen in der Gegenwart dieser Frau verhielten.

Worin bestand denn diese Macht, woraus entwickelte sich diese absolute Überzeugung, dass ausschließlich die eigene Denkweise die einzig richtige wäre und dies dem Träger dieses Glaubens die Berechtigung gäbe, alle Rechte des anders denkenden Menschen dadurch auszulöschen? Sogar sein Leben? Sei es physisch oder psychisch.

In welch prahlerischer Verirrung befand sich solch ein Geist?

Tief in meine Grübeleien versunken, bemerkte ich plötzlich, dass zwei Kinder mich erwartungsvoll ansahen.

Sollte und konnte ich Eric für sein Vorgehen loben? Anerkennende Worte dafür finden? War es nicht bewundernswert, wie klar Eric erkannt und formuliert hatte, dass religiöser fundamentaler Fanatismus wahnhafte Verirrung war?

Um Zeit zu gewinnen, knipste ich die Stehlampe an, strich mir durchs Haar, zog meine Socken glatt.

„Na, Mami?“ fragte Ricky mit einem mitleidigen Unterton.

Da brach es aus mir heraus.

Mein unterdrücktes Lachen schob sich hoch, ließ mich kichernd explodieren und Schadenfreude nahm in mir Raum.

Ich ließ es zu, gönnte der Alten alles nur möglich Schlechte und zuletzt lagen wir Drei japsend vor Lachen und Luftnot hechelnd auf der Hundedecke.

 

 

8.Kapitel

 

Die Luft in Ravello war, ich konnte es nicht anders beschreiben, wie die Luft in Ravello. Sie war beileibe nicht wie der chemische Mix in Neapel oder auf Capri. Sie umfächelte einen je nach Wunsch zärtlich warm, morgendlich frisch oder glühend heiß, zum Bad im Meer animierend. Sie war einfach perfekt und passte zum blauen Himmel und zum blauen Meer.

Das Meer war immer blau, es wurde nicht grau, nicht grün, nicht weiß, es war und blieb über unseren gesamten Aufenthalt blau.

Azzurro, azzurro …

Einmal am Tag lief ich mit Eric und Ricky durch die in die Felsen gehauenen Treppen zum Strand hinunter, meine Beine wurden fest und braun.

Ich kochte jeden Tag mit meiner Schwiegermutter ein wunderbares Abendmahl.

Morgens gab es süßes Gebäck, Kaffee und für die Kinder Latte Macchiato, mittags Obst, Käse und Brot. Nachmittags ein Eis am Strand.

Und abends …

Mir kam die Idee, ein Kochbuch mit den Rezepten meiner Schwiegermutter zu schreiben und zu illustrieren. Violette Auberginen, noch nicht zubereitet, hatten so einen Spiegelglanz, wenn sie frisch waren und das waren sie hier natürlich.

Tomaten aller Farben, Größen und Formen konnte ich nicht widerstehen.

Rosenfarbiges Kalbfleisch und dessen Geschmack ließ mich die Tierkinder vergessen.

Ricky und Eric aßen Artischocken und tunkten bereitwillig die Blätter in Knoblauchmayonnaise. Meine Schwiegermutter stellte ihre Pasta selber her. Früher war ihre Hotelküche dafür berühmt gewesen.

Als sie älter wurden und es sich herausstellte, dass keines ihrer Kinder es weiterführen würde, verpachteten sie das Hotel zuerst an befreundete Nachbarn, deren Kinder für das Hotelgewerbe ausgebildet waren.

Ravello war ein reizender Ort, 300 m über dem Meer gelegen, mit vielen der Gegend gemäßen Anziehungspunkten für Besucher.

Das jährlich stattfindende Ravello-Festival bot auch, abseits des durchschleusenden Tagestourismus, Kulturprojekte an, die den Ort für  viele Investoren attraktiv machte.

So verkauften sie letztendlich ihr kleines Familienhotel und konnten sich nach Jahren der Plackerei an ihrem Wohlstand erfreuen. Den der Familie gehörenden Weinberg behielten sie und mein Schwiegervater lebte mir jeden Tag mit seiner Freude an seiner, nicht auf den Ertrag angewiesenen Arbeit, die Grundlage für Enzos Begeisterung und Entscheidung für seinen Winzerberuf vor.

Am frühen Abend, wenn die Grillen ihr Konzert zum ohrenbetäubenden Gesäge verstärkten, trugen Teresa und ich Antipasti, Primo Piatto, Secondo Piatto und Dolci auf.

Wir tranken dazu den selbstgekelterten Familienwein.

Die Erwachsenen dosierten die Menge nach Wunsch, die beiden Kinder bekamen jeweils ein kleines Glas, begleitet von einem großen Tonkrug mit Quellwasser.

Den ersten Schluck Wein prüfte Alfonso, den Kopf weit zurückgelegt, so dass man seine prächtigen Nasenhaare sah, schlürfte, schmatzte und lobte dann dieses wunderbare Produkt seiner Erde und Arbeit.

Dann entfaltete sich die Nacht um uns, fächelte mit samtigen

Windstößen unsere erhitzten Körper, die noch die Kraft der Sonne in sich trugen.

Geflügelte Kleinwesen, die mir manchmal auch richtig groß vorkamen, umschwirrten uns unaufhörlich. Sie wollten auch ihr Abendessen.

Wir aßen, schwatzten, tranken und lachten.

Das Leuchten der Sterne verführte mich zu erhabenen Gedanken. Oder war es der Wein?

So tief zufrieden hatte ich mich lange nicht mehr in, an diesem Ort, lavendelduftende, Kissen und Decken gekuschelt.

Manchmal, wenn Teresa einfachere Gerichte vorbereitete und meine Hilfe in der Küche nicht benötigte, begaben Ricky, Eric und ich uns zur Piazza und drehten dort mehrere Runden.

Touristen, die wir ja auch waren, stolperten und holperten durch die Gässchen, die sich verengten und dann immer wieder überraschend zu weiten Ausblicken auf das Meer öffneten.

Touristen waren leicht zu erkennen, sie trugen durchwegs hässliches Schuhwerk, das klobig an ihren Füßen hing. Sie wollten sich sicher leichtfüßig bewegen, aber das gelang den graziös stöckelnden Italienerinnen weitaus besser.

Meine Schultern waren sonnengeküsst, das Kleidchen flatterig und mein Haar fiel mir sommerblond offen auf die Schultern.

So zischelten und schnalzten italienische Männer jeden Alters mir anerkennend zu, wenn ich die erste, zweite, dritte Runde drehte.

Ricky nahm es gleichmütig zur Kenntnis, er kannte das, diese Reaktion gehörte zur italienischen Lebensart und hatte nichts mit seiner Mutter zu tun.

Eric genierte sich.

Alles, was mit einer sexuellen Andeutung zusammenhing, schien in ihm eine Abwehrreaktion hervorzurufen.

Mir fiel nicht auf, dass ich ihn überforderte.

Ich fühlte mich wohl und wollte weiter Unbeschwertheit genießen. Ich registrierte sein Verhalten, schrieb ein Etikett darauf und schickte es als Gedankenpaket nach Deutschland, mit dem Vermerk, es später zu öffnen.

Während unseres Fluges nach Neapel hatte sich zwischen Eric und mir ein kleines, erhellendes Gespräch ergeben.

Er wolle am liebsten aus dem Flieger steigen, sich in die Wolken werfen und dabei laut singen, hatte er der Begeisterung über seinen Jungfernflug Ausdruck verliehen. Ricky und ich konnten ihn gut verstehen, wir gehörten zu den Glücklichen, die diese Reiseform vorbehaltslos genießen konnten. Ricky war ja auch schon in meinem Bauch geflogen und dann als kleiner, sabbernder Fratz von zwei Monaten.

„Ich wundere mich eigentlich jetzt noch, dass Dir Deine Familie diesen Urlaub gestattet hat. Ich glaubte nicht, dass es so einfach wäre“, sinnierte ich über mein letztes Treffen mit Erics Eltern und Großmutter Martha nach.

Eric warf mir einen klugen Blick zu. Seine helle, grüne Iris lag in einem klaren Augenweiß.

„Sie planen etwas“, sagte er eigentlich nur zu sich selbst, „Vater war ganz froh, mich los zu sein und hielt Großmutter an der kurzen Leine.“

Er sah aus dem Fenster, sah aber nichts, was mit der Flugsituation zu tun hatte, das konnte ich deutlich spüren.

Deswegen erwiderte ich nichts, wartete ab.

„Sie haben das Passwort geändert, ganz blöde sind die ja

auch nicht. Im Moment kommen wir nicht in ihren Account rein. Sie sind auch besser geschützt. Aber das knacken wir noch“, setzte er aufatmend hinzu.

Tja, auch ich war inzwischen auch etwas schlauer geworden. Diese Brüdergemeinde, in die Eric hineingeboren war, existierte keineswegs als eine dröge Betschwesterngemeinschaft, sondern war eine mehrere Kontinente umspannende, straff geführte Organisation. Es ging dort um Macht und um Geld.

Erics Vater, Bruder Johannes, hatte in Deutschland als einer der Prediger eine führende Position inne.

Warum hatte er meinem Wunsch nachgegeben? Ich verschob alles Grübeln auf später, nach unserem Urlaub.

 

9.Kapitel

 

Wieder zurück in Deutschland wollte ich weiter vor mich hin träumen, Muschelchen sortieren, Gläser mit von meiner Schwiegermutter selbst eingemachten Tomaten in der Speisekammer platzieren, meine Sonnenbräune pflegen, Akquise für einen Verlag zum Kochbuchprojekt betreiben.

In Ravello hatte ich mir angewöhnt, in der nachmittäglichen Ruhephase meiner Schwiegereltern mit meinem kleinen Reiseaquarellfarbkasten durch die kargen Wiesen mit den duftenden Kräuterbüscheln zu streifen.

In dem Deckel konnte ich eine Pipette mit Wasser unterbringen.

Den so intensiv duftenden Rosmarin vor einem alten Gemäuer mit huschenden Sonnenflecken, diese Impression galt es einzufangen.

Auf der anderen Kochbuchseite würde ich das Rezept

platzieren, garniert von einem rosigen Lammkotelett mit

Rosmarin und Knoblauch parfümiert. Der Betrachter sollte es fast riechen können und Lust verspüren, diese Mahlzeit zu essen.

Mir schwebte die Vision eines heiteren, farbenfrohen Genussabbildes vor, das die Sinne ansprach. Auch durch das Rascheln des Umwendens der Seiten. Es durfte nicht zu schwer sein, rein haptisch und auch inhaltlich.

Es sollte das Gegenteil der pompösen Bildbände mit von Foodstylisten komponierten, perfekt fotografierten Sterneküche werden.

Ich blätterte meine Aquarellskizzen durch. Auf einer hatte ich ein Zitronenbäumchen abgebildet.

Diese Kübelpflanze stand auf der Terrasse meiner Schwiegermutter. Es war anmutig gewachsen, trug gleichzeitig Blüten und Früchte.

Daneben könnte das Rezept vom Couscoussalat stehen, dazu eine Zeichnung, in der eine Hand Saft aus einer Zitrone darüber presst.

Ich hörte gemischten Italo-Pop und summte zufrieden mit mir vor mich hin.

Im Backofen garte eine selbsthergestellte Lasagne, allerdings hatte ich die Nudelblätter nicht selber fabriziert.

Aber das Teigrezept dazu würde ich trotzdem in das Kochbuch aufnehmen. Ich machte mir eine Notiz und sog den köstlichen Duft ein.

Die Menge der Lasagne war für mich und Ricky viel zu üppig, selbst wenn Eric eventuell zum Essen kommen würde. Ich beschloss, einen Teil unseren Nachbarn zu bringen.

Diese freundliche Sitte hatte ich von unserer früheren, türkischen Nachbarin gelernt. Frau Alci, so hieß sie, war eine kleine, immer schwarz gekleidete Frau mit Kopftuch. Sie erinnerte mich an eine rundliche Amsel.

Zuerst lebte Frau Alci mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in der Nachbarwohnung. Dann verschwand ihr Mann, dies blieb eigentlich von mir völlig unbemerkt, bis ich von einer anderen Nachbarin erfuhr, dass Herr Alci zu einer deutschen Frau gezogen sei.

Seiner Frau schien dies nicht viel auszumachen, ich zumindest sah keinen Unterschied in ihrem gleichmütigen Gesichtsausdruck.

Und sie kochte weiterhin fantastisch. Wegen mangelnder Kochkünste konnte ihr Mann sie nicht verlassen haben. Unsere Nachbarschaft entwickelte sich nicht so, dass ich sie kennenlernte, sie sprach kaum deutsch und ich überhaupt kein türkisch, aber sie machte sich auf eine angenehme Art mit mir bekannt.

Sie wohnten vielleicht einen Monat in der Nachbarwohnung, als es eines Abends klingelte. Es war um die Zeit, als ich mit dem damals noch kleinen Ricky das „Sandmännchen“ im Fernsehen schaute.

Draußen stand Frau Alci mit einem großen Teller in der Hand, auf dem wohl der Querschnitt ihrer familiären Abendmahlzeit appetitlich nebeneinander angeordnet lag.

Sie sah mir in die Augen, drückte mir den Teller in die Hand, sagte etwas auf türkisch und watschelte dann über den Treppenflur in ihre Wohnung zurück.

Ich aß alles auf. Es war bunt und wohlschmeckend.

Neben länglichen Rinderhackfrikadellen lagen eine Portion

Petersiliensalat, geschmorte rote und grüne Paprika

garnierten würzige gehackte Tomaten, mit Minze angemachter Joghurt und lange, knusprige Teigzigarren, in denen würziger Schafskäse steckte, komplettierten den Essgenuss.

Ricky war damals zu klein, um dieses Essen zu würdigen, aber nach und nach lernte er die türkische Küche schätzen und freute sich genau wie ich, wenn Frau Alci uns in unregelmäßigen Abständen verwöhnte.

Ihre Söhne verhielten sich weniger freundlich. Mit ihren schönen, hochmütigen Gesichtern gingen sie an uns vorbei, erwiderten entweder gar nicht oder kaum hörbar unsere Grüße.

Nur der Jüngste war freundlich und aufgeschlossen. Er sprach gut deutsch und zeigte mir oft voller Stolz seine gut bewerteten Schularbeiten.

Er erklärte mir auch auf meine Frage nach dem „Warum“ den Hintergrund der guten Gaben seiner Mutter.

„Wir Türken sind gastfreundlich“, sagte er voller Stolz und seine dunklen Augen blitzten, „wir geben unseren Nachbarn ab, wenn wir etwas Gutes zu essen haben, das ist eine alte türkische Sitte.“

Ich beteuerte ihm, dass ich dieses Verhalten sehr zu schätzen wisse und froh über solche Nachbarn sei.

Danach brachte ich der Familie ab und zu ein Stück frischgebackenen Blechkuchen und auch die älteren Söhne reagierten freundlich und bedankten sich.

Selbstgekochte Mahlzeiten hinüberzubringen kam nicht in Frage, dazu kochte ich nicht gut genug. Außerdem durfte der jüngste Sohn, Deniz, nur süße Esswaren bei uns zu sich nehmen, alles andere war ihm verboten worden anzunehmen.

„Es könnte Schweinefleisch enthalten“, erklärte er und seine großen, dunklen, langbewimperten Augen blickten ernst.

Ausgerechnet dieser liebenswürdige Junge bereitete seiner Mutter großen Kummer. Als Halbwüchsiger schloss er sich einer kleinkriminellen Clique an, schwänzte die Schule und brachte seine Mutter zum Weinen.

Die älteren Söhne waren inzwischen verheiratet und wohnten nicht mehr zuhause. Wenn sie in unser Haus kamen, um ihrem jüngsten Bruder den Kopf zurechtzurücken, brachten sie ihre Frauen mit, beide sehr hübsch und mit Kopftüchern geschmückt.

Aber ihre Vorhaltungen schienen nichts bewirkt u haben, denn eines schönen Vormittags klingelte Frau Alci an meiner Tür, ich öffnete, lächelte sie an und sie drückte mir ihren Wohnungsschlüssel in die Hand, bat mich, nach der Post und nach den Blumen zu sehen, denn sie müsse mit Deniz überraschend verreisen. Sie hoffe, bald wieder da zu sein. Sie sagte dies alles auf türkisch, aber ich verstand überraschenderweise alles, was sie mir gestenreich mitteilte.

In der Wohnung sah es chaotisch aus.

Dokumente, Bankauszüge und amtlich aussehende Briefe lagen auf dem Couchtisch auf der gehäkelten Decke und am Boden. Ich rührte nichts an, warf keinen Blick darauf, versorgte die Blumen und die Post.

Nach ca. sechs Wochen kehrten sie, von wo auch immer, zurück.

Deniz sah gleichzeitig bleich und gebräunt aus.

Wenige Jahre später bekam seine deutsche Freundin ein Kind

von ihm, er war noch nicht achtzehn. Er zog zu ihr und Frau

Alci gab die für sie zu große Wohnung auf und zog zu einem ihrer Söhne.

So verloren wir uns aus den Augen.

Einmal noch begegnete ich Deniz auf der Straße, er zeigte mir stolz seine Tochter, die er in einem Kinderwagen schob.

 

Zurzeit wohnte ein junges Studentenpaar in unserer Nachbarwohnung.

Sie, Ella, kam aus dem östlichen Europa, studierte Theaterwissenschaften und Franz, der angehende Kunsthistoriker, stammte aus Wien. Sie waren ein eher ernsthaftes, stilles Pärchen, wenn ich sie traf, wisperten sie leise vor sich hin, scharrten mit den Füßen. Nur, wenn Ella ihr hüftlanges, dunkles Haar um sich warf, umhüllte sie ein schwirrendes Flügelschlagen der Jugend.

Der österreichische Franz schien einen Hang zur Extravaganz zu besitzen, er trug öfter verschiedenfarbige Socken in seinen Trekkingsandalen. Ich glaubte aber, dass dies ihm einfach gleichgültig war.

Allerdings war das in einer konformen Gesellschaft einfach natürlich gelebte Extravaganz, ganz ohne Absicht, sie demonstrieren zu wollen.

Ihre Wohnung war eigentlich nicht eingerichtet, verschiedene Bücherstapel dienten als Ablage und Möbelersatz für alles Mögliche, unter anderem mit einem drüber gelegten Tablett als Esstisch.

An den Wänden hingen bunte Pareos und Fototapeten von fernen Stränden. Ich hatte den Eindruck, dass sie miteinander in ihrer Wunschwelt friedlich und glücklich lebten.

Ricky ging manchmal zu ihnen auf ihre Einladung hinüber, um

dort mit Ella und Franz Actionfilme auf DVD zu konsumieren, die er auf Grund seines Alters noch nicht im Kino sehen konnte und die ich ablehnte, mit ihm zu schauen.

Diese rasante, auf mich zurasende Zerstörung von Fahrzeugen, Flugkörpern, Menschen und Umgebung konnte ich nicht als Unterhaltung wahrnehmen. Ich reagierte nicht zischend aktiv darauf, sondern musste mir abwechselnd Augen und Ohren zuhalten, außerdem hinterfragte ich ständig den Sinn des Drehbuchs, eine erzählte Geschichte wünschte ich mir sinnvoller.

Ricky verzweifelte darüber an mir. „Mensch Mami, das macht doch einfach nur Spaß!“

Ich brachte Ella und Franz von mir gekochtes Essen, um ihnen zu zeigen, dass ich mich über die Nachbarschaft mit ihnen freute.

Sie nahmen dies dankend an und boten Ricky, nach Absprache mit mir, eine Form der Unterhaltung, die ich, … nicht ablehnte, das war einfach nicht die richtige Bezeichnung dafür. Ich mochte diese Actionfilme nicht, sie entsprachen nicht meiner Gefühlswelt, ebenso wenig wie Träume in Form von Tapeten.

Ich glaubte auch nicht, dass Ricky nach so etwas suchte, doch wenn er es wollte, sollte er dieses ausprobieren können. Ich musste nicht immer an seiner Seite sein, er sollte aber die Möglichkeit haben zu wissen, dass er immer zu mir zurückkommen könne. Und, bevor ich mich jetzt total zur inneren Glorie aufschwang, machte ich mir bewusst, dass

ich mit Ella und Franz vorher absprach, was sie mit Ricky sehen durften.

Das Leben ist voller Fallstricke, gerade in Bezug auf die Wahrnehmung von sich selbst.

Ich wusste heute, dass ich eine solche Liebe, wie ich sie von Enzo erfahren hatte, nicht mehr aufgeben würde.Leseprobe (max. 60 000 Zeichen)

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