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Frau Marchawski ist nicht müde

Frau Marchawski ist nicht müde · Krimi und Spannung

Wenn das Alterungsgen abgeschaltet wird, bestimmt ein Gesellschaftsvertrag die Lebensdauer Vertragsbrecher werden aufgespürt + eliminiert

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

In unserer Welt wird das Altern wie eine Krankheit angesehen. Wir wollen alle lange leben, aber keiner will alt werden. Ich möchte den Leser auf unterhaltsame und spannende Weise dazu anregen, sich mit den möglichen Konsequenzen auseinander zu setzen, wenn das Alterungsgen tatsächlich abgeschaltet werden kann und wir alle viel länger leben dürfen.

Über den/die Autor:in

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Bisher sind von Jürgen Kinghorst ein Gedichtband (Kornblume), eine Sammlung mit Kurzgeschichten (Reisende und Bleibende) und ein Roman (Bronski Beats, Jeder muss ins Fegefeuer) bei Amazon erschienen. ...

Leseprobe (max. 60 000 Zeichen)

Dieser Roman spielt in der nahen Zukunft, in der es den Menschen gelungen ist, das Alterungsgen auszuschalten.

Die Menschen werden alt, aber sie altern nicht.


Karl hatte sich krank gemeldet. War von der Leiter gefallen, als er versucht hatte, die Lampenschale einer Straßenlaterne orange anzumalen. Sollte ein Geburtstagsgeschenk für seine derzeitige Frau werden, die sich durch das grelle Neonlicht, das ins Schlafzimmer drang, schon jahrelang gestört gefühlt hatte. Natürlich kannte nur Hunter die wahre Geschichte, weil sie im Laufe der Jahre nicht nur Kollegen, sondern Freunde geworden waren. Nichts verbindet so sehr, wie eine gemeinsame Aufgabe.

Dem Chef hatte Karl eine andere Version erzählt. Irgendetwas von Reparaturen am Dach oder der Dachrinne. Der Mann, den sie hinter seinem Rücken Obermufti nannten, war ausgeflippt, hatte rumgebrüllt, ob sich der Kerl bei dem Gehalt denn keinen Dachdecker leisten könne. So viel Geld könne doch kein normaler Mensch ausgeben, wie Karl für diesen Job bekäme. Schließlich hatte diese Abteilung bei Weitem noch nicht ihr Soll erfüllt. Im Gegenteil: Sie waren im Rückstand. Und das nicht einmal unerheblich.

Die Einstellung zusätzlichen Personals war zwar genehmigt worden, das Geld war vorhanden, aber es war schwer willige und vor allen Dingen geeignete Männer und Frauen zu finden. Man muss clever sein, wortgewandt und gebildet, auf jeden Fall unbestechlich, einfühlsam und trotzdem kaltblütig, oft sogar skrupellos, aber nur im äußersten Notfall gewalttätig. Und man muss hoch motiviert sein.

Prämie heißt das Zauberwort. Der Gedanke an die Prämie war es dann auch, der Hunter dazu brachte, den Job an diesem Tag alleine zu erledigen. Obwohl es gegen die oberste Grundregel verstieß, die nicht nur für Bergsteiger oder Taucher gilt: Mach es nie allein. Ist einfach zu gefährlich.

Nun gut. So stand Hunter denn, bekleidet mit dem schwarzen Anzug eines Kaminkehrers, das Gesicht und die Hände mit Ruß befleckt, eine Aktentasche mit seiner Ausrüstung in der linken Hand, vor der Haustür seines Delinquenten und klingelte. Eine Postkarte hatte sein Kommen avisiert, der Termin war mit dem tatsächlich zuständigen Schornsteinfeger abgestimmt.

Nur wenige Augenblicke später öffnete eine Frau die Tür und stand freundlich lächelnd vor ihm. Er war durch die Videoaufnahmen und Fotos, welche die Fahndungs-Abteilung von ihr gemacht hatte, vorbereitet. Sie war noch immer außerordentlich attraktiv. Langes kupferrotes Haar, ein fast faltenloses Gesicht mit grünen Augen, einer kleinen Nase, um die herum sich eine Herde Sommersprossen tummelte, ein voller Mund und makellos glatte, weiße Haut, die sogar durch ihre Bluse schimmerte, hätten in jedem durchschnittlichen Mann einen Hormonschub ausgelöst. Hunter versuchte dem ein paar kühle Gedanken und sehr viel Selbstdisziplin entgegenzusetzen.

So zu tun, als ließen ihn ihre Reize völlig kalt, hätte vielleicht ihr Misstrauen erregt. Deshalb ließ er seine Blicke zuerst anerkennend über ihren Körper gleiten, ehe er ihr Lächeln erwiderte und sich vorstellte: „Guten Tag Frau Maier, ich bin der Schornsteinfeger. Sie haben doch meine Karte erhalten? Ich muss die Abgase Ihrer Heizungsanlage kontrollieren.“

Mit einer einladenden Geste trat sie zurück, um ihn zur Tür hereinzulassen und sagte dabei: „Dann muss das ja heute ein Glückstag werden, wenn der Schornsteinfeger vorbeikommt.“

„So sagt man“, erwiderte er. „Aber vergessen sie nicht, meinen Arm zu berühren, sonst hilft der Zauber nicht.“

Tatsächlich strich sie mit ihrer Hand über seine Jacke, ehe sie die Kellertreppe hinunterwies. „Da unten ist der Heizungskeller, hinter der grauen Feuertür. Das wird ja in jedem Haus so ähnlich sein. Da brauche ich doch nicht mitzukommen, oder?“

Ruhig blickte Hunter in ihre Augen. „Wir können uns auch in der Küche unterhalten. Unabhängig davon, wo unser kleines Interview stattfinden wird, muss ich Sie darauf hinweisen, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird und zu Schulungszwecken und zur Qualitätskontrolle und Verbesserung genutzt werden darf. Alle Informationen werden natürlich vertraulich und entsprechend den gültigen Datenschutzrichtlinien behandelt.“

Mit so einem Einleitungssatz für ein kleines Pläuschchen hat noch nie jemals einer seiner Delinquenten gerechnet. Das hat bisher noch jeden von ihnen irritiert. Hunter machte eine kleine Kunstpause, nicht mehr als einen Atemzug lang, ehe er fortfuhr. „Liebe Frau Marchawski“, sagte er.

Als sie ihren richtigen Namen hörte, wich die Farbe aus ihrem Gesicht. Sie schwankte ein wenig, fing sich dann aber wieder.

„Wie haben Sie mich genannt?“

„Sind Sie nicht Frau Marchawski?“

„Sie verwechseln mich.“

Hunter blieb gelassen, schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen“, sagte er. „Obwohl – Sie haben es uns schwer gemacht, Sie zu finden. Sehr schwer. Alle sechs Monate einen neuen Namen, eine neue Adresse. Und das seit zehn Jahren. Sind Sie nicht müde Frau Marchawski?“

Ihre Augen irrten umher, suchten nach einem Fluchtweg, ihre Muskeln waren angespannt, ihr Atem ging schnell. Aber er wusste, dass sie nicht fortlaufen würde. Wohin denn auch? Und sie war es nicht mehr gewohnt zu rennen. Sie würde einen anderen Ausweg suchen. Zuerst würde sie verhandeln. Hunter hatte da seine Erfahrungen. Und schon hatte sie sich wieder im Griff, atmete ganz bewusst ein und aus und schaute ihn direkt an. Da waren Trotz und Aufbegehren in ihrem Blick.

„Wieso sollte ich müde sein?“, fragte sie. „Ich bin topfit.“

„Dass Sie körperlich und geistig in Bestform sind für Ihr

hohes Alter, war zu erwarten“, erwiderte er, „Aber wir wissen doch beide, dass Sie das nicht nur dem Sport und einer ausgewogenen Ernährung zu verdanken haben. Damit hätten Sie es nicht einmal bis zu Ihrem Siebzigsten geschafft. Sie haben es der Gesellschaft und deren Errungenschaften zu verdanken. Und mit ihr haben Sie einen Vertrag abgeschlossen, dessen Bedingungen Sie anscheinend nicht zu erfüllen bereit sind.“

„Ich“, schnaufte sie, „habe alle Bedingungen erfüllt. Ich war zehn Jahre beim Militär. Ich habe drei Kinder großgezogen, und ich habe bis zu meinem fünfundachtzigsten Lebensjahr gearbeitet, meistens zwölf Stunden am Tag. Mehr als fünfundsechzig Jahre Arbeit für diesen Gesellschaftsvertrag. Mir steht ein langer Lebensabend zu.“

Hunters Antwort bestand zunächst nur aus einem verständnisvollem Nicken. Sie sollte ihm aufmerksam zuhören, deshalb schwieg er für einen Augenblick, ehe er ihr antwortete. „Die Länge ihres Lebensabends ist vertraglich festgesetzt. Sie ergibt sich aus der Dauer ihres Militärdienstes, der Anzahl der Kinder, die sie geboren und versorgt haben und der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden. Demnach standen ihnen fünfundzwanzig Jahre zu. Und vergessen Sie bitte nicht die Qualität dieses Lebensabends. Dank unserer medizinischen Errungenschaften, unserer ernormen Leistungen in Forschung und Entwicklung kann man von einem ´Abend´ kaum sprechen. Die Gesellschaft hat ihren Teil des Vertrages erfüllt. Wir halten ihre Arterien und Ihr Gehirn frei von Ablagerungen, liefern die Cremes für Ihre faltenfreie makellose Haut, haben den Krebs mit Hilfe von Impfstoffen besiegt und das Alterungsgen abgeschaltet. Das alles kostet. Noch mehr aber wird die Zukunft kosten. Sie werden zum Schmarotzer. Und irgendwann ist auch ihr Verfallsdatum überschritten. Jede Maschine, und der Körper ist nicht viel mehr als eine hochentwickelte Maschine, nutzt sich einmal ab. Dann werden Sie doch krank und hinfällig und teuer, sehr teuer für die Gesellschaft. Mehr als fünfundzwanzig Jahre unproduktives Dasein kann sich die nicht leisten. Deshalb und aus noch weiteren zu erläuternden Gründen, der Vertrag.“

Mit einer ruckartigen, herausfordernden Bewegung hob sie den Kopf. „Wer behauptet denn, dass ich unproduktiv bin? Ich bin kreativ tätig. Ich schreibe: Gedichte, Kurzgeschichten, ganze Romane...“

Sein Lächeln war nachsichtig als er sie unterbrach. „Für welchen Verlag?“

„Ja.... Schon gut. Geld! Geld! Geld! Alles zählt nur, wenn es Geld bringt.“

Ein Schulterzucken sollte sein Bedauern unterstreichen. „Es ist nicht das Geld.“ sagte er. „Vincent van Gogh hat sein ganzes Leben nur ein einziges Bild verkauft und die Gesellschaft hätte ihn heutzutage bis ins hohe Alter malen lassen. Wir wissen auch Ihre Poesie zu schätzen. Aber es reicht nicht dafür, die vertraglichen Vereinbarungen abzuändern.“

Sie schaute auf einmal weg. Jetzt würde die Tränennummer kommen. Er hatte recht. Sie fing tatsächlich an zu weinen. Der Sabber lief in Strömen. „Ich bin noch nicht bereit zu sterben. Es gibt immer noch so viel zu tun für mich, so viel zu hören, zu sehen, zu erleben.“

Sein Job ist vielseitig. Jetzt musste er ein Priester sein. „Frau Marchawski“, sagte er und ließ Eindringlichkeit in seiner Stimme mitschwingen, „Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Der Energieerhaltungssatz gilt auch für uns. Eine Seele geht nicht verloren. Sie sind für einen anderen, neuen Körper bestimmt.“

Die Feuchtigkeit, die ihre Wangen hinunterlief, zerstörte ihr Make-up. „Ach ja?“, antwortete sie. „Und in welchen Körper? In den eines verhungernden Kindes in Afrika? In den eines Mädchens, dem im fünften Lebensjahr die Klitoris und die Schamlippen beschnitten werden? Oder werde ich in einem dieser Krisengebiete groß werden, bis mich eine Miene oder eine Granate verstümmelt? Alles habt ihr unter Kontrolle bekommen. Aber die wahren Probleme...“

„Ich weiß, ich weiß Frau Marchawski. Aber was haben denn Sie in ihrem Leben getan, um die zu lösen?“

„Ich brauche Zeit. Ich kann jetzt gleich damit beginnen. Ich kann es!“

Hunter schüttelte den Kopf und legte sehr viel Bedauern in seine Stimme. „Es tut mir so leid.“ sagte er „Aber letztendlich läuft das Ganze doch auf eine Mathematikaufgabe hinaus, die jedes Schulkind schon in der ersten Klasse lösen kann, und damit müssen Sie es doch einsehen: Stellen Sie sich vor, dass unser Planet wie ein Einmachglas ist und die Menschen sind wie Murmeln. In dieses Einmachglas, das zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist, passen 100 Murmeln, wenn das Wasser nicht überlaufen soll. Wenn ich sechs neue Murmeln hineintun will, wieviele alte Murmeln gleicher Größe muss ich dann vorher herausnehmen?“

Sie schaute ihn zornig an. „Der Vergleich hinkt.“ zischte Sie.

„Wie fast jeder Vergleich.“ antwortete er.

„Ich bin eine neu glänzende, bunte und hellleuchtende Murmel. Da gibt es andere. Ha!“

„Das kann schon sein, aber die drücken sich nicht vor ihrer Verpflichtung. Die haben ein Verfallsdatum akzeptiert. Die sind bereit, Platz zu machen für die Neuen, die Jungen, die da kommen, mit all ihrer Neugier, Leidenschaft und Lebenslust und all ihren neuen Ideen und Idealen.“

„Aber das bin ich ja auch“ rief Frau Marchawski aus, „voller Leidenschaft und Lebenslust. Ich kann es Ihnen beweisen.“

Sie fingerte an ihrer Bluse herum und begann sie mit einer Hand aufzuknöpfen. Mit der anderen hob sie ihren Rock. „Komm schon“, gurrte sie und versuchte dabei die Schluchzer zu unterdrücken, die wie Luftblasen in einem Glasbecken aufstiegen. Noch einmal holte sie tief Luft, spannte dann ihren Körper an und bekam sich so unter Kontrolle. Sie senkte ihre Stimme und gab ihr eine rauchige Note. „Ich zeige dir gleich, wie frisch ich noch bin. Ich bin nicht feucht. Ich bin nass und glitschig. Es gibt Sachen, die dir nur eine wirklich erfahrene Frau zeigen kann...“

Sie hatte eine seiner größten Schwäche entdeckt, mit der er immer wieder zu kämpfen hatte: Er war auch nur ein Mann. Und obwohl er weiß, dass der Teufel immer wieder gerne als schöne sinnliche Frau auftrittt, fällt es ihm sehr schwer, einer solchen Versuchung zu widerstehen.

Es sind nicht nur die erotischen Reize, die ihn immer wieder von seiner Aufgabe ablenken und an seiner Willenskraft nagen, wie Ratten an der Tür zur Speisekammer. Die weichen Rundungen, der Duft ihrer Haut, das Zittern ihres Körpers, wenn er mit den Fingerspitzen vom Knie die Oberschenkel hinauf ins Bermudadreieck hinaufgleitet, die sich steigernde Atemfrequenz wenn seine Hand den Schamhügel begrüßt und streichelt wie einen alten Bekannten und dann in langsamen massierenden Bewegungen an den Hüften entlang zum Rücken wandert, um von dort die Hügellandschaft abzusuchen nach den angespannt und sich erregt aufreckenden Wachtürmchen, all das geniesst er gerne, lässt ihn aber nicht so widerstandslos werden, dass er in Versuchung gerät, sich von seinen Verpflichtungen zu verabschieden.

Nein, es ist nicht dieses brodelnde Verlangen, das er genießt, aber dem er widerstehen kann. Es ist das Trachten nach etwas, dass er verdrängen muss, das aus seinem tiefsten Inneren kommt, und das ihn schwach macht wie ein kleines Kind. Diese Sehnsucht ist auch der Grund dafür, dass er niemals grob oder gar gewalttätig wird. Nein, er ist zärtlich und einfühlsam, wie es sich für einen Gentleman gehört, oft zur Verblüffung seiner Delinquenten, die sich davon in Sicherheit wiegen lassen.

Frau Marchawski schaute ihm in die Augen, forschend und auf einmal wissend und damit auch selbstsicher. Sie hatte sich wieder gefangen. Ein Lächeln umspielte ihren leicht geöffneten Mund. Ihre Gesichter näherten sich langsam, und ihre Hände berührten sich leicht wie Federn, ehe ihre Lippen aufeinander trafen.

Sie sanken in die Knie und streichelten einander nach dem Kuss Wange an Wange und den Mund in der Nähe des Ohres, sodass jeder dem Atem des anderen lauschen konnte.

„Komm schon“, hauchte sie und lehnte sich nach hinten, um auf den Boden zu liegen zu kommen.

„Gleich hier auf dem Teppich?“, fragte er. „Ist das nicht zu hart?“

Sie schüttelte den Kopf. Doch der Boden war ihm wirklich zu hart. Er hatte es ein bisschen in den Knien. Vor allen Dingen in der rechten Kniescheibe. Die war einmal gebrochen. Ein Sportunfall. Sie rief ihm mit Hilfe eines kurzen stechenden Schmerzes ins Bewusstsein, wozu er hergekommen war. Er richtete sich auf und reichte seiner Verführerin die Hand, um sie hoch zu ziehen.

Gut für ihn, dass sie noch in der ersten Etage waren. Das kam seinem Vorhaben entgegen.

„Du hast doch sicher ein Schlafzimmer?“, raunte er.

„Dann gerne im Schlafzimmer“, bestätigte sie, wies mit dem Kopf nach oben, und brachte erneut ein Lächeln zustande. Er folgte ihr die Treppe hinauf.

Hunter war erleichtert. Das machte es wesentlich einfacher für ihn.

Die Hüften schwingend ging sie vor ihm her. Als sie auf der vierten Stufe war, stieß er die Spritze, die schon aufgezogen und griffbereit in seiner Tasche gelegen hatte, in ihr Gesäß. Der Impfstoff schaltet das Alterungsgen wieder ein. Was dann in den Zellen geschieht, ist wie ein Dammbruch, und je überfälliger der Delinquent ist, umso schneller geht der Prozess von statten. Auf den oberen Stufen, fast im ersten Stockwerk angekommen, war ihr Keuchen schon heftiger geworden.

Sie zog sich am Treppengeländer hoch. „Du elender Scheißkerl.“ keuchte sie. „Ich verfluche dich. Ich verfluche dich.“ Die Ausläufer von Falten begannen über ihr Gesicht zu wandern wie Risse einer Glasscheibe in die ein Stein geworfen worden war. Sie liess sich kraftlos auf der obersten Stufe nieder, schaute ihn jetzt hasserfüllt an und spuckte ihm einen der sich lockernden Zähne ins Gesicht, als er ihr langsam entgegen kam. Ihr Haar behielt seine Farbe, weil es nicht schneller weiter wuchs, aber ganze Büschel davon fielen aus. Ihre Haut und das Fleisch darunter wurden immer schlaffer.

„Mörder!“ krächzte sie. „Du bist ein Mörder. Ein Auftragskiller. Wer schickt dich? Ich zeig dich an.“

Ihn als Mörder zu bezeichnen, empfand Hunter als Beleidigung, aber bei ihrem letzten Satz hatte er Schwierigkeiten, ein Auflachen zu unterdrücken.

Sie griff nach einer schweren Vase, um diese auf ihn zu werfen. Doch ihr fehlte die Kraft dazu, und sie brach weinend zusammen.

In gebührendem Abstand wartete er ab, bis er sich sicher war, dass sie sich nicht mehr wehren konnte. Dann ging er zu ihr, hob sie auf seinen Armen, trug sie ins Schlafzimmer, legte sie auf ihr Bett und deckte sie behutsam zu.

Sie konnte jetzt nur noch flüstern. „Ich will nicht sterben“, hauchte sie.

„Das müssen Sie auch nicht.“ antwortete er.

Sie schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Erstaunen war grenzenlos.

„Unter einer Bedingung“, fuhr er fort.

Ihre Augen wurden schmal. Misstrauen zeichnete ihr Gesicht. Er versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln zu zerstreuen, kam aber wohl nicht dagegen an.

„Welche Bedingung?“

„Naja, eigentlich sind es zwei.“

„Die da wären?“

„Erstens: Sie müssen mir sagen, von wem Sie den Impfstoff bekommen haben, der den Alterungsprozess ausschaltet.“

„Niemals. Nur über meine Leiche.“

„Daran arbeiten wir gerade.“

„Arschloch.“, war ihr Kommentar dazu.

„Sie haben nicht mehr lange Zeit, sich das zu überlegen. Also, heraus mit der Sprache: Wer hat Ihnen den Impfstoff gegeben?“

Sie schüttelte nur den Kopf. Die Alte blieb stur. Demonstrativ schaute er auf seine Armbanduhr. Nach einer sehr stillen Schweigeminute, in der man nur das Rasseln ihres Atems vernahm, ließ sie sich doch noch zu einer Erläuterung ihrer Entscheidung hinreißen. „Wenn ich das tue, lande ich in der Hölle.“

Auf einmal erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Und weißt du, was das Schlimmste daran wäre?“

Er gab sein Unwissen mit einem Schulterzucken zu verstehen.

„Dass ich dir dort früher oder später Gesellschaft leisten müsste.“

„Ich tue nur, was getan werden muss.“, gab er zu bedenken, war sich aber darüber im klaren, dass sie auch dann noch, wenn sie stundenlang darüber diskutiert hätten, zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen wären.

„Was“, fragte sie, „wäre denn die zweite Bedingung gewesen?“

„Können Sie sich hinsetzen?“

Müde schüttelte sie den Kopf.

„Darf ich Ihnen helfen?“

„Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient.“

Er griff ihr unter die Arme und richtete sie auf. Hinter ihren Rücken legte er ein zweites Kissen als Stütze.

„Schauen Sie in den Schlafzimmerspiegel.“ forderte er sie auf.

Sie drehte den Kopf etwas zur Seite und kniff die Augen zusammen, wie es Kurzsichtige tun, um besser sehen zu können.

„Was glotzt die Alte mich so an?“, fragte sie ihr Konterfei mit leiser Stimme. Dann fing sie an zu weinen.

„Wollen Sie so weiterleben?“, fragte er ruhig und fuhr dann fort: „Und das ist noch nicht alles. Arthrose setzt ein. Sie werden nicht mehr ohne Schmerzen gehen können. Ihre Nieren werden versagen, die Lunge wird nicht genug Sauerstoff produzieren können und das Gehirn wird verkalken. Sie werden sich selbst vergessen. Das ist die zweite Bedingung: dass Sie so weiterleben wollen.“

Sie schloss die Augen und schüttelte wieder stumm den Kopf. Er nahm das Kissen hinter ihrem Rücken weg und legte sie behutsam zurück.

„Habe ich noch Zeit,“ fragte sie ihn mit schwacher kaum hörbarer Stimme, „mich bei denen zu entschuldigen, denen ich Unrecht getan habe?“

„Ich fürchte, dass das zu lange dauern würde. Aber ich bin auch eine Art Priester, und Sie können bei mir beichten.“

„Den Teufel werde ich tun“, ächzte sie.

„Deo te absolvo“, antwortete er. Das schuldete er seiner Kindheit und Jugend als katholischer Messdiener.

Sie konnte nur noch flüstern. Mit dem gekrümmten rechten Zeigefinger bedeutete sie ihm, näher zu kommen. Er beugte sich zu ihr herab, um sie besser verstehen zu können.

„Dich kriegen sie auch noch“, krächzte sie leise keuchend und ließ endlich los. Dieser letzte Satz von ihr trübte ihm ein wenig die Stimmung. Ansonsten machte sich Erleichterung in ihm breit, denn eigentlich war alles sehr einfach gewesen und gut gelaufen. Bei den meisten Frauen ist es einfacher, wenn ein männlicher Kollege geschickt wird.

Er hatte der Versuchung widerstanden, sich dieser verführerischen Frau hinzugeben. Es war kein Band, ja nicht einmal ein dünner Faden zwischen ihnen entstanden, den er ansonsten hätte zerreißen müssen, was auch ihm weh getan hätte.

Gerade als Anfänger war er einige Male doch schwach geworden und die Deliquentin hatte es mit ihm zusammen bis ins Bett geschafft. Beim ersten Mal hatte er die Spritze sogar angesetzt, bevor sie den Gipfel der Lust erreichten. Sie war so erregt gewesen, dass sie den Stich garnicht gespürt hatte. Das war ein Alptraum, wie er ihrem Verfall zusehen musste, während sie auf ihm ritt und dann nicht absteigen wollte. Sie schaute ihn verständnislos an. Tränen rannen über ihr Gesicht und fielen auf seinen Brustkorb und sie fragte immer wieder: „Was passiert da? Was passiert da?“ Hunter konnte ihr keine Antwort geben, streichelte ihr Gesicht, bis sie zur Seite fiel.

Wirklich ein Alptraum. Da hatte es ihm Frau Marchawski doch wesentlich leichter gemacht.

Das meiste, was das danach kommt, ist Routine.

Es hatte keinen Kampf gegeben, deshalb gab es nichts zu säubern oder aufzuräumen. Die Todesart war ohne Zweifel natürlich. Herzinfarkt durch Alterungsprozess. Keine Gewalteinwirkung erkennbar. Die Frau sah aus, als wäre sie eingeschlafen. Ja, sie trug sogar ein Lächeln auf ihrem Antlitz, das man als friedlich bezeichnen konnte. Wenn nur nicht dieser letzte Satz von ihr gewesen wäre.

Er hätte ihr gerne dafür ins Gesicht geschlagen, aber das hätte Spuren hinterlassen. Außerdem würde sie das eh nicht stören. Sie spürte ja nichts mehr, und ihre Seele war wahrscheinlich gerade schwer damit beschäftigt, ihren Körper zu verlassen. Zuerst lösen sich die Seelenhände und Füße von den absterbenden Gliedmaßen, dann der restliche Astralkörper.

Vielleicht schaute sie ihm zu, wie er durch die Wohnung schritt und die Einrichtung begutachtete. Heutzutage besteht ja immer die Gefahr, dass irgendwo versteckt eine Kamera aufnimmt, was passiert ist. Er suchte alles sehr gründlich ab, nahm Bilder von den Wänden, schaute hinter Vorhänge und Gardinen, in Schränke und in Vasen. Da war kein Kameraobjektiv, kein Aufnahmegerät in der Nähe. Der Tag fing garnicht mal so schlecht an.

Hunters Soll liegt bei zwei Deliquenten am Tag. Es gibt auch Tage, da schafft er locker drei, und dann wieder hat er einen so schweren Fall, dass es ihm für den ganzen Tag reicht. Das sind dann diejenigen, die sich auf seine Ankunft vorbereitet haben, die bereit sind zu kämpfen. Meistens sind das die Männer, und meistens erkennt man diejenigen, die Schwierigkeiten machen, schon am Profil, das in ihrer Akte angelegt ist. Dann gehen sie aber auch zu zweit los, sein Bürokollege Karl und er. Sie haben dann einen Plan für die Vorgehensweise, auf den sie sich geeinigt haben. Einen Fall wie den von Frau Marchawski konnte man auch schon mal mit etwas Improvisation und alleine angehen. Vorausgesetzt, man hatte genug Berufserfahrung.

Aber jetzt musste er erst einmal die Akte Frau Marchawski zum Abschluss bringen.

Er ging zur Schlafzimmertür und legte gerade seine Hand auf die Türklinke, als jemand von unten heraufrief, nur ein kurzes „Hallo“ mit einem kleinen unsicheren Fragezeichen hintendran. Was sollte er tun? Sich verstecken? Keine Chance. Er ging zur Treppe und schaute hinunter. Unten stand Frau Marchawski, wie sie bis vor weniger als einer Stunde geleibt und gelebt hatte und sah ihn befremdet an. Erschrocken und verwirrt wich er zurück. Sie wiederholte ihr fragendes „Hallo?“ und fuhr dann fort: „Wer sind Sie?“

Die Antwort hätte er im nächsten Augenblick am liebsten wieder zurückgenommen: „Aber das wissen Sie doch“, entfuhr es ihm.

Er schaute nach hinten zurück ins Schlafzimmer. Da lag noch immer das mittlerweile vollkommen verhutzelte Weiblein, bis zum Hals sorgfältig, beinahe hätte er gesagt: liebevoll, zugedeckt und schlief den sogenannten ewigen Schlaf. Von der ersten Stufe die Treppe hinauf schaute ihn das jüngere Ebenbild dabei zu, wie er seinen Kopf gleich einem Spielzeug-Wackeldackel einige Sekunden hin- und her bewegte, ehe er begriff, was gerade passiert war. Im selben Moment, in dem bei ihm der Groschen fiel, fuhr der Neuankömmling fort und fragte: „Ist meine Mutter dort oben?“

„Das glaube ich nicht. Ich suche sie auch gerade. Ich bin der Schornsteinfeger. Die Haustür stand offen. Wahrscheinlich hat Ihre Mutter vergessen, abzuschließen.“

„Und da kommen Sie einfach so da rein?“

„Die Leute hier in der Siedlung kennen mich. Die sagen mir sogar, wo sie immer ihren zweiten Haustürschlüssel versteckt halten, für den Fall, dass ich den Kamin kehren will und sie nicht zu Hause sind.

Sie wissen doch, was alles passieren kann, wenn der Kamin nicht richtig zieht. Das geht bis zur Kohlenmonoxyd-Vergiftung. Der Schornsteinfeger soll ja schließlich Glück bringen und nicht den Tod.“

Die Tochter von Frau Marchawski erwiderte sein Lächeln. Er ließ sich dazu hinreißen, ein paar Zeilen aus dem Musical Mary Poppins zu brummen: „Chim-Chimerie, Chim-Chimerie, Chim-Chim-Chimeru. Er bringt Ihnen Glück und die Liebe dazu.“

„Und da oben ist der Zugang zum Kamin?“

„Da oben ist der Zugang zum Dachboden und von dort aus geht es durch das Dachfenster zum Kamin.“

„Ach ja.“ Sie starrte einige Sekunden vor sich hin. Gedanken schienen in ihrem Kopf hin- und herzujagen, die immer wieder einen Anflug von Misstrauen in ihr weckten.

Ein schwaches Klopfen an der Schlafzimmertür ließ beide zusammenschrecken. Das konnte doch nicht sein. Frau Marchawski hatte doch keinen Puls mehr gehabt. Ihre Seele sollte sich doch schon von ihrem Körper gelöst haben und sehnsuchtsvoll zum weißen Licht streben. Jetzt war da ein Kratzen an der Tür. Die Klinke bewegte sich zögernd und leise nach unten und die Tür schwenkte auf.

Hunter hätte am liebsten laut geflucht. So etwas passierte sehr selten, aber er hätte es in Erwägung ziehen müssen. Es war keine Auferstehung, wie sie nur alle zwei bis dreitausend Jahre einmal vorkam. Seine Delinquentin hatte einfach noch nicht ihren allerletzten Atemzug getan. Da war noch ein winziger Rest von Leben in ihr geblieben, Kraft genug für ein letztes Aufbäumen von Körper und Seele.

Auf allen Vieren kriechend schleppte sich Frau Marchawski zur Treppe. Am liebsten hätte er sie weggetreten, so wie man einen räudigen Hund wegtritt, der sich an einem Bein zu schaffen machen will. Aber er hasste Gewalt, war in seinen sehr jungen Jahren sogar offiziell anerkannter Kriegsdienstverweigerer gewesen, und deshalb gab er diesem ersten Impuls nicht nach, wusste in diesem Augenblick aber auch nicht, was er stattdessen unternehmen könnte. Er erstarrte, und das erlaubte diesem alten Schreckgespenst einen kleinen Satz nach vorne zu tun und sein Bein zu umklammern.

Sie schaute die Treppe hinunter nach unten, wo ihre Tochter mit offenem Mund hinauf starrte.

„Lauf weg!“ hauchte sie, aber so kraftlos und leise, dass nur er sie verstehen konnte.

Ihre Tochter war ein einziges Fragezeichen. „Wer ist das?“ fragte sie.

Er hob die Schultern bis zu den Ohren und zeigte ihr seine offenen Handflächen. „Ich weiß es nicht. Ich bin doch gerade erst gekommen. Ich bin doch nur der Schornsteinfeger.“

„Was ist da los mit der alten Frau?“

„Die kam jetzt gerade aus dem Zimmer dort.“

Er beugte sich hinab zu dem gekrümmten Häufchen Elend und tat so, als wollte er etwas untersuchen.

„Ich glaube es geht ihr nicht gut. Wir sollten einen Arzt anrufen.“

Die jüngere Ausgabe der Frau Marchawski wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy, wischte mit den Fingern über das Display und hielt abrupt inne.

„Was soll ich denn sagen?“, fragte sie.

„Notfall in der Heidestraße 8. Eine alte Dame ist zusammengebrochen. Im Augenblick keine Lebenszeichen. Verdacht auf Herzinfarkt.“

„Und Sie?“ fragte sie ihn. „Bleiben Sie hier?“

„Keine Frage. Obwohl ich noch einen Kunden habe. Aber der wird mir nicht böse sein, wenn ich den Termin verschiebe.“

„Das ist nett von Ihnen. Ich komme gleich hoch und kümmere mich. Meine Mutter wird auch bald kommen. Die ist sicher nur einkaufen gegangen.“

Sie tippte auf ihrem Smartphone herum, und er befreite sich derweil von den in seinem Bein verkrallten Händen der alten Frau, legte sie in die stabile Seitenlage und suchte nach ihrem Puls und anderen Lebenszeichen. Sie schien nicht mehr zu atmen, aber das war ja offensichtlich kein hinreichendes Kriterium, um ihren Tod festzustellen. Er war immer wieder beeindruckt, wie sehr sich Menschen bis zum letzten Augenblick an ihr Leben klammern, auch dann noch, wenn sie überhaupt nichts mehr damit anfangen können.

Früher war alles viel einfacher. Sein Großvater hatte das kurz vor seinem Ableben so kommentiert: „Maschin kaputt. Muss ausgetauscht werden. Da kannste nix machen.“ Unser Problem heute ist, dass die Maschin eben nicht mehr oder besser: lange nicht mehr kaputt zu kriegen ist.

Früher hatten die Menschen viele Jahre Zeit, sich von ihrem Körper zu verabschieden, auch wenn sie das nicht wollten. Der Körper bereitete sie schon darauf vor. Er verweigerte immer wieder mal die Mitarbeit. Die Haut wurde faltiger, die Haare fielen aus, Wehwechen setzten ein, manche Dinge, die man früher so genossen hatte, funktionierten einfach nicht mehr oder nur noch mit Hilfe von bunten Pillen. Der Geschmack ließ nach. Es lief einfach nicht mehr so geschmiert, wurde mühselig. Aber jetzt, wo der Alterungsprozeß aufgehalten wurde? Warum sollten die Menschen ins weiße Licht gehen? Hier ist es doch auch schön, und wer weiß wie es drüben ist.

Solche Gedanken schossen Hunter durch den Kopf, als die jüngere Frau Marchawski mit dem Handy am Ohr die Treppe hinaufkam. Es glitt ihr aus den Händen, als sie auf Augenhöhe mit der auf dem Boden liegenden Frau gelangte. Sie stieß einen Schrei aus und sank auf die Treppenstufen herab. Er reicht ihr seine Hand um zu vermeiden, dass sie rückwärts die Treppe herunterfiel. Dann hätte er womöglich noch eine Tote hier gehabt, und das Chaos wäre perfekt gewesen.

Sie ergriff sie wie in Trance, konnte ihren Blick aber nicht von der alten Frau lösen und schüttelte immer wieder den Kopf. „Das ist meine Mutter.“ murmelte sie und wiederholte dann mit festerer Stimme. „Das ist meine Mutter.“

Äußerlich blieb er gelassen. „Ich hätte sie für jünger eingeschätzt. Ihre Mutter.“

„Was haben Sie mit ihr gemacht?“

„Was soll ich mit ihr gemacht haben? Sie haben doch selber gesehen, wie sie aus dem Zimmer gekommen ist.“

„Aber sie sieht jetzt so anders aus. So – alt.“

„Wie alt ist sie denn?“

„99 Jahre“

„Da kann man schon mal etwas älter aussehen.“

„Aber doch nicht mehr heutzutage.“

„Wenn man sterben muss schon.“

Sie schaute Hunter zuerst verwirrt, dann prüfend an. Ihr Blick ging von unten nach oben und wieder zurück. Sie scannte ihn.

„Sie sind kein Schornsteinfeger“, stellte sie fest.

Er fühlte sich ertappt, zumindest in der Hinsicht, dass er beim Heiteren-Berufe-Raten die falsche Profession angegeben hatte. Trotzdem versuchte er, seine Tarnung aufrecht zu erhalten. „Wie kommen Sie jetzt darauf?“

„Schauen Sie doch mal Ihre Fingernägel an. So sauber und gepflegt kriegt man die nur im Büro hin.“

„Nein“, fuhr sie fort. „Sie bringen kein Glück. Sie bringen Trauer und Tod.“

Vom Fußboden meldete sich die Totgeglaubte mit heiserer, leiser Stimme. „Mörder“, hauchte sie. Das war dann auch der letzte Atemzug, der wiederauferstandenen Scheintoten gewesen.

„Mörder“, echote laut und kräftig die Tochter der gerade von uns gegangenen Frau Marchawski, die ältere.

„Frau Marchawski“, sagte er „ich bin ein Schornsteinfeger. Ich habe sogar einen Meisterbrief. Ich bin nur zufällig hier. Wenn ich ein Mörder wäre, dann hätte ich doch schon längst das Weite gesucht.“

Sie fing an zu weinen. „Sie haben meine Mutter umgebracht.“ Sie wandte sich von ihm ab und strich mit der Hand über das Gesicht der Toten, deren Augen ins Leere blickten. Mit Daumen und Zeigefinger schloss sie die Augenlider.

„Warum haben Sie das getan?“ fragte sie.

„Ihre Mutter ist gestorben, weil sie alt war.“ antwortete er. „Der Arzt wird nichts anderes feststellen. Vermutlich altersbedingter Herzinfarkt. Ich bin kein Mediziner, aber um nichts anderes handelt es sich hier. So, und jetzt muss ich leider gehen, denn ich habe noch weitere Kunden hier in der Nähe, deren Schornsteine mal ordentlich durchgebürstet gehören. Wenn dann noch Fragen sind, nehmen Sie bitte meine Karte hier und rufen Sie mich an.“

Hunter wollte gehen, aber Frau Marchawski, die jüngere, stellte sich ihm in den Weg. „Halt“, sagte sie. „Sie gehen nicht eher, als bis dass der Arzt gekommen ist und die Todesursache festgestellt hat. Und ich rufe auch noch die Polizei.“

Jetzt wurde sie ihm langsam lästig. Er hatte noch einem anderen Delinquenten, der dort in der Nähe wohnte, die Frohe Botschaft zu überbringen und wenn er den nicht schaffen würde, konnte er die Tagesprämie vergessen.

Er fasste die jüngere Frau Marchawski mit beiden Händen an den Oberarmen, hob sie an, wie einen X-beliebigen leblosen Gegenstand, setzte sie hinter ihm ab und machte sich so den Weg frei zur Treppe, die hinab zum Eingangsbereich des Hauses führte.

„Ihre Mutter ist gestorben.“, sagte er noch, „Sie brauchen jetzt Trost und Hilfe. Das kann ich Ihnen leider nicht bieten. Rufen Sie Ihren Lebensgefährten oder Ihre beste Freundin an. Aber erzählen Sie ihnen nichts von mir. Sie würden sonst ausgeschaltet werden, ohne dass Sie sich darauf vorbereiten könnten.“

„Und wenn ich noch Fragen habe?“

Er griff in seine Seitentasche und reichte ihr seine Karte, auf der nur eine Telefonnummer stand.

„Hier,“ sagte er. „Das muss reichen.“

Sie nahm die Karte. Hunter drehte sich um in Richtung Eingangsbereich, ging einen Schritt auf die Treppe zu und wollte die oberste Stufe betreten, als ihm der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde und er sich annähernd im freien Flug den Gesetzen der Schwerkraft folgend auf den wahrscheinlich schnellsten Weg nach unten begab. Sein schwarzer Gurt im Judo und seine Zeit als Stuntman kamen ihm in diesen Bruchteilen von Sekunden, die wie in Zeitlupe vergingen, zu Gute. Am Ende der Treppe machte sein Hinterkopf aber doch noch die Bekanntschaft mit einem Treppenpfosten. „Das war es dann wohl mit der Prämie.“ dachte er noch. Dann wurde es dunkel, und er verlor für die gefühlte Dauer eines Augenblicks das Bewusstsein.

Als er erwachte, war wieder Licht, aber es war unbarmherzig grell und kalt.

Vorsichtig drehte er seinen Kopf nach links und nach rechts, bewegte ganz bewusst und langsam seine Finger, dann seine Zehen, horchte in seinen Körper hinein und stellte erleichtert fest, dass er bis auf ein paar schmerzhafte Prellungen im Rippenbereich und einen brummenden Schädel unverletzt war. Seine Augenlider wehrten sich, als er sie öffnen wollte. Was er sah, schien zu flackern und war nur undeutlich zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen, hustete und schnaufte kurz und versuchte dann, sich stöhnend zur Seite zu drehen, um seine Hände wieder frei zu bekommen, weil sie unter seinem Rücken lagen. Es gelang ihm nicht. Sie waren gefesselt. Erneut öffnete er die Augen und schaute sich um. Er war im Heizungskeller. Hier wurde noch mit Gas geheizt. Langsam lichteten sich die Nebel in seinem Kopf, und er konnte wieder klare Gedanken fassen.

Frau Marchawski hatte es nicht für nötig befunden, ihn zu knebeln, vielleicht aus Angst davor, dass er ersticken konnte. Ansonsten aber war er gut verpackt mit Paketband fixiert und mit einer Wäscheleine umwickelt. Immerhin lebte er noch und konnte sich bemerkbar machen.

„Frau Marchawski“, rief er. „Frau Marchawski!“

Schon nach dem zweiten Ruf wurde die Tür zum Heizungskeller geöffnet.

„Binden Sie mich los.“ forderte er sie auf. „Sie bringen sich sonst in arge Schwierigkeiten.“

„Ach ja?“

„Ja, man wird nach mir suchen. Sie haben sich der Freiheitsberaubung und der Körperverletzung schuldig gemacht. Binden Sie mich los und lassen Sie mich gehen, dann werden Sie ungeschoren davon kommen.“

„Sie sind es, der garantiert nicht ungeschoren davon kommen wird. Sie haben meine Mutter ermordet. Ich werde die Polizei anrufen.“

„Frau Marchawski“ sagte er. „Ich schlafe jede Nacht tief und fest. Je nach Füllstand meiner Blase wache ich auch schon mal nachts auf, das schon, aber ich schlaf dann gleich wieder ein, nachdem ich meinen natürlichen Bedürfnissen gefolgt bin. Ich träume auch nicht schlecht. Ich schätze ein ruhiges Gewissen. Was ich mache, kann ich verantworten, und das soll auch so bleiben.“

„Das ist ja schön, dass Sie keine Skrupel haben, ein Leben zu beenden. Das Leben meiner Mutter, einer warmherzigen, fürsorglichen Frau, die nie etwas Schlechtes getan hat.“

„Das tut mir aufrichtig leid. Aber Sie sind doch eine reife Frau mit sehr viel Lebenserfahrung. Ihnen muss doch klar sein, dass wir alle einmal sterben müssen. Ihre Mutter ist sehr alt geworden, und der Arzt wird einen natürlichen Tod feststellen. Wenn Sie wirklich die Polizei rufen wollen, dann wird die garnicht nachvollziehen können, warum Sie sie alarmiert haben.“

Ihr Blick wanderte unentschlossen hin und her, fand aber keinen Halt bis sie ihn wieder auf Hunter gerichtet hielt. Allmählich gewann sie ihre Fassung zurück.

„Warum haben Sie das gemacht?“, fragte sie.

„Was gemacht?“

„Das mit dem schnellen Altern meiner Mutter.“

„Ihre Mutter ist sehr alt geworden. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dann kann es halt sehr schnell gehen. Dann altert man sehr schnell.“

„Das sagen Sie so als Schornsteinfeger?“

„Ich bin kein Arzt. Ich vermute das einfach. Für viele Dinge reicht ein gesunder Menschenverstand. Da muss man kein Abitur haben. Und außerdem gibt es doch diesen Vertrag, den heutzutage jeder unterschreiben muss. Den kennen Sie doch auch, sonst würden Sie schon lange nicht mehr so aussehen und sich so bewegen können, wie Sie dies jetzt tun. Da steht drin, dass man irgendwann abtreten muss.“

In ihrem Kopf schienen sich lautlose Zahnräder zu bewegen und ineinander zugreifen.

„Ach, der Vertrag. Da war was. Aber das ist ja schon Jahrzehnte her. Da kann ich mich kaum dran erinnern. Da war ich noch keine 30 Jahre alt. Ich weiß garnicht, ob ich den noch habe.“

„Ich habe meinen noch.“

„Das heißt also, dass in einigen Jahren der Schornsteinfeger auch zu mir kommen wird?“

„Jetzt lassen Sie doch mal unsere Innung aus dem Spiel. Der Schornsteinfeger kommt zwei Mal im Jahr zu Ihnen. Das ist Vorschrift und dient zu Ihrer Sicherheit, damit Sie nicht an einer Kohlenmonoxidvergiftung zu Grunde gehen, wenn der Kamin verstopft ist. Damit sie also lange leben.“

„Und warum bringen Sie dann meine Mutter um?“

„Ich habe Ihre Mutter nicht getötet. Das Alter hat sie umgebracht. Der Alterungsprozess. Mal geht das schnell und mal geht das langsam. Und außerdem: Heutzutage leben die Menschen doch viel länger als es die Natur vorgesehen hat.“

„Die Natur?“

„Ja, die Natur. Oder unser Schöpfer. Wie es eigentlich sein soll, steht doch schon seit mehr als zweitausend Jahren in der Bibel: Das Leben währet siebzig Jahr und wenn es lang ist sind es achtzig. Psalm 90:10 in der Lutherbibel.“

„Sind Sie auch noch Priester?“

„Nein, aber ich war einmal Messdiener. Abgesehen davon: Ein guter Schornsteinfeger hat viele Fähigkeiten. Das macht ihn doch zum Glücksbringer.“

Er versuchte ein Lächeln. Wahrscheinlich sah es etwas gequält aus. „Ihre Mutter ist neunundneunzig Jahre alt geworden ohne zu altern. Sie sollten dankbar dafür sein, dass dies heutzutage möglich ist.“

„Ach, soll ich Ihnen jetzt auch noch dafür danken, dass Sie meine Mutter umgebracht haben.“

Bis jetzt hatte er sich gut unter Kontrolle, aber langsam stieg immer mehr Wut in ihm auf, wie Druck in einem Dampfkessel auf einer glühenden Herdplatte, und er musste aufpassen, dass der nicht explodierte.

„Ich sage es jetzt zum allerletzten Mal.“ schnaufte er. „Ich habe Ihre Mutter nicht umgebracht. Ich habe lediglich einen natürlichen Prozess in Gang gebracht, der unnatürlich aufgehalten worden war.“

„Aha, Sie geben es also zu.“

„Was gebe ich zu?“

„Dass Sie es waren. Sie haben meine Mutter getötet.“

Shakespeare ging ihm durch den Kopf. Ach hättest du nur geschwiegen Desdemona...

„Nein“, sagte er mit sehr, sehr ruhiger Stimme „zum zehnten Mal: Ich habe Ihre Mutter nicht getötet. Das Alter hat sie umgebracht. Der Alterungsprozess.“

Frau Marchawski machte übertrieben große erstaunte Augen. „Ach so. Das Alter ist vorbeigekommen und hat meine Mutter mitgenommen...“

„Ja, das hört sich jetzt blöd an. Aber Sie haben doch diesen Vertrag unterschrieben. Den müssen Sie doch durchgelesen und verstanden haben.“

„Ich habe so viele Verträge im Laufe meines Lebens unterschrieben. Weiß der Teufel, was da alles drin stand. Und wer liest schon das Kleingedruckte?“

„Ich zum Beispiel. Das sollte jeder tun. Darin ist festgesetzt, dass Sie alle fünf Jahre geimpft werden. Der Inhalt des Impfstoffes hält den Alterungsprozess mit Hilfe von Viren und Gentechnik für eine bestimmte Zeit auf. Abhängig davon, wie Sie sich für die Gesellschaft engagiert haben und wie Ihr Leben verlaufen ist, bekommen Sie zum Beispiel ab dem achzigsten Lebensjahr keine Einladung mehr zu einem Impftermin. Den meisten fällt das garnicht auf. Das Altern geht schleichend dahin.

Dann gibt es da noch die Impfgegner. Die werden natürlich schneller hinfällig. Gäbe es mehr davon, wäre unsereins vielleicht sogar arbeitslos. Aber einige besonders Schlaue sind sich doch dessen bewusst, was da vor sich geht. Einige wenige kommen sogar über irgendwelche dunkle Kanäle an diesen Impfstoff heran, und die wollen am liebsten zweihundert Jahre alt werden oder noch älter, aber ohne zu altern.“

„Ich will auch nicht sterben.“ sagte sie. „Kann man doch verstehen, oder?“

„Ja, kann man verstehen. Aber das Boot ist voll. Dieser Planet kann nur eine bestimmte Anzahl von Bewohnern ernähren. Abgesehen davon braucht die Welt junge Menschen mit neuen Ideen und Leidenschaft. Nur so kann sich die Menschheit weiterentwickeln zum Wohle aller.“

„....zum Wohle aller.“ echote sie und fuhr dann fort: „Das Wohl aller braucht auch Erfahrung und Erkenntnis, Weisheit und Besonnenheit, damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden.“

„Natürlich. Aber da reichen doch hundert Jahre. Manche sind sogar mit zwanzig schon weiser als viele, die schon mehr als neunzig Jahre auf den Buckel haben. Das können Sie mir glauben: Es gibt mehr Narren in dieser obersten Altersgruppe, als die Welt eigentlich vertragen kann, meistens sehr von sich selbst überzeugte, hochmütige Klugscheißer, deren oberstes Ziel es ist, nichts anderes als den eigenen Wohlstand und die Macht zu mehren.“

„So ein Mensch war meine Mutter nicht.“

„Habe ich auch nie behauptet. Es geht doch darum, warum jeder irgendwann abtreten muss und in welcher Zeit. Und es geht darum, ob es Ausnahmen geben darf. Ich sage Ihnen, dass es nur halbwegs gerecht zugehen kann, wenn für jeden das selbe Gesetz gilt. Dann kann sich auch jeder darauf vorbereiten. Aber wer macht das schon? “

„Wie soll man das denn auch machen? Ins Kloster gehen und meditieren?“

„Das wäre kein schlechter Anfang. Aber die meisten machen es anders: Sie schließen die Augen vor dem, was auf sie zukommt, stecken den Kopf in den Sand oder Sie handeln nach der Devise: Möglichst viel mitnehmen, alle Sinne ansprechen. Möglichst viel anschauen, Essen und Trinken auch viel und nur vom Feinsten. Wolllust in allen Variationen..... Einfach die sieben Todsünden begehen, bis es nicht mehr weitergeht.“

„Die sieben Todsünden?“, echote Frau Marchawski.

„Ja, die da sind: Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit.“

„Wollust finde ich garnicht so schlimm.“

Er schaute ihr schweigend in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick und ließ auf ihrem Gesicht ein kleines schimmerndes Lächeln spielen. Ganz die Mutter, dachte er und rief sich die Szene in Erinnerung, die beinahe auf dem Teppich geendet hatte.

„Binden Sie mich jetzt los?“

„Sehe ich aus, als wäre ich lebensmüde?“

„Sie brauchen nichts zu fürchten. Ich tue ihnen nichts. Ich bin kein Mörder. Und überhaupt: Was haben Sie denn mit mir vor? Wollen Sie mich umbringen?“

„Dann wären Sie schon längst tot. Nein, ich wollte nur verhindern, dass Sie einfach abhauen.“

„Warum?“

„Weil ich da noch ein paar Fragen an Sie habe.“

Er war gespannt darauf, was jetzt kommen würde.

„Wie kommt man an diesen Job dran, den Sie da machen?“, fragte sie.

„Schornsteinfeger? Das ist ein Lehrberuf. Die Ausbildung dauert 3 Jahre. Dann sind Sie Geselle und nach zwei Gesellenjahren dürfen Sie die Ausbildung zum Meister in Angriff nehmen.“

„Hören Sie doch auf mit dem Quatsch. Vielleicht waren Sie einmal Schornsteinfeger, aber dieses Handwerk üben Sie doch nur noch zur Tarnung aus. Sie sind hierhin gekommen, weil man Sie geschickt hat, entsprechend der derzeitigen Gesetzeslage das Leben meiner Mutter zu beenden.“

„Und wenn es so wäre?“ fragte er.

„Dann sollte die Öffentlichkeit wissen, dass es so etwas gibt.“

„So etwas?“

„So ein Programm meine ich damit und Leute wie Sie, die das umsetzen!“

„Nein, das muss geheim bleiben. Das gäbe sonst einen Aufstand, einen Ansturm von Klagen, eine völlige Destabilisierung unseres Systems. Wenn Sie damit an die Öffentlichkeit gehen, sind Sie geliefert. Dann ist Ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert.

Hören Sie: Sie sind jetzt schon in Gefahr. Sie ahnen viel zu viel und Sie wissen viel zu wenig. Also: Binden Sie mich los und nehmen Sie Abschied von Ihrer Mutter. Bereiten Sie die Trauerfeier vor und regeln Sie den Nachlass. Damit haben Sie die nächsten Wochen mehr als genug zu tun.“

„Ich habe Sie nicht gefragt, was ich Ihrer Meinung nach tun sollte. Ich habe Sie gefragt, wie man an diesen Job drankommt.“

„Das ist kein Job, dazu muss man berufen sein. So wie Priester oder Lehrer oder Richter.“

Sie lachte kurz auf. „Priester oder Lehrer oder Richter werden auch Menschen, die nicht dazu berufen sind und zwar nicht wenige.“

„Ja, ich weiß. Aber so sollte es eigentlich sein. Und dieser Maßstab wird angelegt. Dazu kommen noch Anforderungen, wie sie an Elitersoldaten gestellt werden. Körperliche und geistige Fitness sind ein unbedingtes Muss. Sie dürfen keine Schwächen haben oder zumindest“ ergänzte er in Anbetracht der erst kurz zuvor stattgefundenen Ereignisse „keine Schwäche zeigen. Und doch müssen Sie einfühlsam und sensibel sein.“

„Dann könnte ich ja auch diesen Job, nein, diese Profession erledigen. Habt ihr keinen Personalmangel?“

„Doch, doch, den haben wir schon. Nicht nur wegen den hohen Anforderungen. Viele scheiden nach einiger Zeit wieder aus, weil sie das, was sie da erleben, einfach nicht verkraften können. Sie haben Alpträume, fühlen sich verfolgt von den Geistern der Toten oder entwickeln andere Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Glauben Sie mir: Es ist eine sehr, sehr schwierige Arbeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie dafür geschaffen sind.“

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Was verdient man so dabei?“

„Wenn es nach Ihnen ginge, wahrscheinlich die Todesstrafe.“

„Nein, ich frage ganz nüchtern und sachlich nach Ihrem Gehalt.“

„Man kann davon leben, ganz gut sogar.“

„Wieviel?“

„Beamtentarif. Soviel wie ein Hauptkommissar bei der Polizei. Es reicht mir.“

„Das ist alles?“

„Das ist alles.“

„Das glaube ich nicht.“

„Ich habe Ihnen jetzt genug erzählt. Binden Sie mich los oder öffnen Sie mir wenigstens den Hosenschlitz, und fummeln Sie mein primäres Geschlechtsmerkmal daraus, damit ich meine Blase entleeren kann. Ersparen Sie mir die Peinlichkeit, dass ich mir in die Hosen mache.“

Frau Marchawski schaute ratlos aus. Sie schien hin- und her zu überlegen und mehrere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Schließlich holte sie ein langes Messer aus der Küche. Bevor sie ihn ganz befreit hatte, drückte sie ihm die Klinge an die Halsschlagader.

„Lassen Sie das.“ sagte er zu ihr. „Das gibt sonst eine Riesensauerei.“

„Ich glaube das nicht, dass Sie diesen Job zum Beamtentarif erledigen. Niemals. Da ist noch was anderes.“

„Stechen Sie ruhig zu. Dann finden Sie es aber auch nicht heraus.“

„Also ist da was.“

„Habe ich nicht gesagt. Aber ich habe auch eine Frage. Ganz banal.“

„Ja.“

„Sind Sie gerade arbeitslos?“

„Nein, ich habe einen Job. Ich war viele Jahre bei der Polizei, habe dann eine Ausbildung als Physiotherapeutin gemacht und dann Sport studiert und arbeite jetzt als Fitness-Trainerin und Coach. Damit dürfte ich die ersten Hürden der Qualifikationstests locker nehmen. Das haben Sie doch gesagt, dass man auch topfit sein muss dafür.“

„Okay, wir können es versuchen. Lassen Sie uns jetzt wieder nach oben gehen.“

„Ich nehme an,“ sagte er, „dass Sie noch Abschied nehmen wollen von der Toten.“

„Helfen Sie mir noch, meine Mutter ins Bett zu legen?“

„Kein Problem, wenn ich vorher auf die Toilette gehen darf.“

Sie gingen nach oben, und er erledigte das, was getan werden musste. Danach fasste er den schlaff gewordenen Körper unter den Achseln und die jüngere Frau Marchawski packte an den Füßen an. Zusammen brachten sie die Tote zurück ins Schlafzimmer, hievten sie ins Bett und deckten sie zu.

Sie schauten beide auf das Gesicht des Hutzelweibleins, das noch vor wenigen Stunden glatt und faltenfrei gewesen war. Die Tochter der Toten unterbrach diesen kurzen Augenblick der Andacht mit einem schweren Seufzer, bekreuzigte sich und wandte sich von ihrer Mutter ab.

„Okay“, sagte sie. Wir können jetzt gehen.“

„Und der Arzt?“, fragte er „Und die Polizei?“

„Sind noch nicht alarmiert.“

„Aber Sie hatten doch in Ihr Smartphone gesprochen.“

„Das war nicht mein Smartphone. Das war mein Schminketui. Das Smartphone habe ich mal wieder zu Hause auf dem Küchentisch gelassen. Ich habe nur so getan, als würde ich jemanden alarmieren. Vorsichtshalber.“

„Vorsichtshalber?“ echote er.

„Weiblicher Instinkt“, entgegnete sie. „Schon mal was davon gehört?“

„Ich dachte, er wäre ein Mythos.“

„Sie sind witzig.“ stellte sie trocken fest. „Vielleicht wird es sogar ab und zu lustig, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

„Noch haben Sie den Job nicht. Und ich muss noch einen hier erledigen.“

„Na, dann gehen wir jetzt mal los. Ich werde schon dafür sorgen, dass meine Mutter bald gefunden wird.“

„Und wieso glauben Sie, dass ich Sie so einfach mitnehme?“

„ Erstens: Weil die Behörde, für die Sie arbeiten, Leute braucht. Zweitens: Weil ich Sie habe leben lassen. Drittens: Weil man diesen Job nie allein erledigen sollte – vermute ich und viertens, weil ich, während Sie selig schlummerten, eine Sprengkapsel in Ihre vordere Hosentasche deponiert habe, zusammen mit einem Empfänger für Funksignale. Den passenden Sender dafür habe ich. Und ich habe keine Hemmungen, den zu betätigen, wenn Sie mich verarschen wollen.“

Ich steckte meine Hand in die Hosentasche, da, wo sonst immer mein Taschenmesser war. Tatsächlich, da war was.

„Ich habe sie angenäht“, sagte sie und zeigte ein perfides Grinsen. „Es wäre sonst zu einfach gewesen, sie mit einer schnellen Bewegung aus der Hose zu ziehen und fort zu werfen, womöglich noch in meine Richtung.“

Sein Körper und sein Unterbewusstsein waren sich einig. In ihm zog sich einiges zusammen. Ein Urologe hätte Hodenhochstand diagnostiziert. Vorsichtig zog er seine Hand aus der Hosentasche.

„Wo kann man so etwas kaufen?“, fragte er und versuchte dabei möglichst gelassen zu klingen.

„Das verrate ich Ihnen lieber nicht.“

„Das denke ich mir. Der Bedarf an solchen Spielzeugen dürfte eher gering sein.“

„Sie würden sich wundern. Aber ich bin halt auch kreativ und bastel gerne.“

„Und da fällt Ihnen so etwas ein?“

„Ja. Ich weiß auch nicht, von wem ich das habe.“

„Sie nehmen mich auf die Schippe.“

„Glauben Sie das besser nicht.“

„Pa!“. Er griff erneut in die Hosentasche. „Wenn Sie das Ding hochgehen lassen, kommen Sie auch nicht weiter.“

Frau Marchawski zielte mit dem Sender auf seinen Hosenschlitz. Das versteckte Teil fing an, heftig zu vibrieren und zu summen. Er nässte sich unwillkürlich ein.

„Mini-Vibrator mit Fernbedienung“ erklärte sie trocken. „Hat mir ein Liebhaber mal geschenkt. Ist lange her. Die Sprenkkapsel ist in der anderen Hosentasche.“ Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Er stand verlegen einfach nur da und wartete ab, bis sie sich beruhigt hatte.

„Für den anderen Auftrag muss ich mich sowieso duschen und umziehen.“, sagte er.

„Ach,“ antwortete sie. „Der Herr macht sich fein für andere Leute.“

„Ich muss seriös wirken, wenn ich überzeugen will.“ Sie blickte an ihm herunter. „So kann ich auf jeden Fall nicht gehen. Ich muss die Hose wechseln.“

„Das sehe ich ein.“ antwortete sie und fuhr nach kurzem Überlegen fort: „Ich schlage folgendes Vorgehen vor: Ich sperre Sie jetzt im Badezimmer ein. Sie geben mir vorher Ihren Autoschlüsssel. Ich hole Ihre Sachen und dann können Sie sich in Ruhe umziehen.“ Sie zog einen kleinen Revolver aus der Tasche. „Und dieses kleine Werkzeug, das immer schön bei mir bleibt, wird Ihnen helfen, dumme Gedanken zu vertreiben.“

„Hört sich nach einem guten Plan an. Wo ist das Badezimmer, damit ich mich ausziehen kann?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Hose ziehen Sie am besten hier aus und lassen Sie hier, damit ich die andere Hose preparieren kann. Soll ich wieder beide Hosentaschen gleich ausrüsten?“

„Das muss nicht sein.“, antwortete er. „Ohne den Sender ist die sinnliche Seite nutzlos, vermute ich.“

Sie lächelte nur stumm und bedeutete ihm, sich frei zu machen. Er entledigte sich all seiner Kleidung und ging ins Badezimmer. Selten war er so überrumpelt und gedemütigt worden. Trotzdem kam kein richtiger Ärger in ihm auf. Die Frau hatte etwas. Sie war ihm ebenbürtig, vielleicht sogar, dass musste er sich eingestehen, überlegen.


„Wo gehen wir hin?“ fragte die jüngere Frau Marchawski, als er sich wieder anzog. Er überlegte, ob er auf sie eingehen sollte und musterte sie. Sie hatte sich ebenfalls umgezogen. Als zeitlosen Schick würde er ihre Ausstattung bezeichnen. Lackschuhe, Strumpfhose, ein schwarzer Rock, der ihr im Stehen bis über die Kniee reichte, eine weiße Bluse und ein schwarzer Blazer kleideten sie vornehmer als er aussah.

„Lassen Sie sich überraschen.“ antwortete er. „Soviel vorab: Wir sind reich und vornehm und etwas hochmütig.“

„Wir sind beide reich und vornehm?“, vergewisserte sie sich.

„Nein, eigentlich nur ich. Sie sind meine Sekretärin. Die muss man nicht zwingend ankündigen. Mir bleibt ja auch nichts anderes übrig. Ich muss Sie mitnehmen. Aber wollen Sie das wirklich?“

„Warum zweifeln Sie daran?“, fragte sie.

„Es ist wirklich nichts für empfindliche Gemüter. Der Fall auf den ich jetzt angesetzt bin, hat seine Tücken. Sie müssen....“, er suchte nach dem passenden Wort. „Sie müssen hartherzig sein.“

Sie verdrehte die Augen und seufzte. „Ich habe ein Herz aus Stein. Ich fühle nichts. Ich will nichts fühlen. Spätestens seitdem ich meine Mutter habe sterben sehen.“

Sie starrten einander an.

Leise sagte er: „Es tut mir leid.“

„Sparen Sie sich das. Das glaube ich Ihnen sowieso nicht. Und jetzt sagen Sie mir, wie ich zum Gelingen der Operation beitragen kann.“

„Spielen sie die freundliche Sekretärin. Reden Sie nur, wenn Sie angesprochen werden, und hindern Sie mich nicht daran, meinen Auftrag zu erfüllen. Sie wissen, worauf der hinausläuft, und es gibt keinen Zweifel daran, dass er auszuführen ist.“

„Sonst noch was?“

„Ja, ich wäre entspannter, wenn Sie den Sender für die Sprengkapsel in eine Pillendose oder so etwas Ähnlichem unterbringen könnten. Nicht, dass Sie aus Versehen ein Funksignal schicken.“

„Gute Idee“, bestätigte sie. „Aber wenn Sie nur den kleinsten Versuch machen, mich loszuwerden, drücke ich ab.“

„Ja, ja,“ antwortete er „jetzt machen Sie sich mal nicht in Ihr Höschen.“

Sie wandte ihr Gesicht ab, aber er konnte in dem widerspiegelnden Seitenfenster des Autos sehen, dass sie ein bitteres Lächeln vor ihm versteckte. „Das überlasse ich Ihnen“, sagte sie leise.

„Was hätten Sie auch anders sagen sollen?“ antwortete er. „Bei der Vorlage.“


Sie mussten eine halbe Stunde durch die Stadt und dann aufs Land fahren, bis sie ihr Ziel erreichten. Eine Seitenstraße führte zu einem parkähnlichen Anwesen, das durch Gitterzäune und Hecken von der Außenwelt abgeschirmt wurde. Sie stellten das Fahrzeug auf einen für Gäste gekennzeichneten Parkplatz ab und gingen dann zum Eingangstor. Seiner Sekretärin hatte Hunter eine Tasche mit einem Laptop übergeben. Er trug einen Aktenkoffer.

Von den Grünanlagen her tönte Kindergeschrei. Als er den Klingelknopf am Tor betätigte, schwenkte eine Kamera über ihren Köpfen zu ihnen herüber und nahm sie in Augenschein.

„Wollen Sie sich vorstellen?“, fragte eine raue Stimme, die aus dem Lautsprecher kam.

„Guten Tag. Mein Name ist Hunter“, antwortete er, zückte eine Visitenkarte und hielt sie vor das Kameraobjektiv. „Wir sind angemeldet.“

„Sie sind angemeldet“, erwiderte die Stimme aus dem Lautsprecher „die junge Dame nicht.“

„Die junge Dame ist eine Praktikantin und fungiert im Augenblick als meine Sekretärin. Ihr Name ist Frau Marchawski. Bitte entschuldigen Sie, dass meine Leute es versäumt haben, sie ebenfalls anzumelden. Soll sie draußen bleiben?“

„Nein, nein, schon gut. Kommen Sie nur.“

Ein Summen am Türschloss zeigte an, dass man ihnen Einlass gewähren wollte. Als Hunters Hand zur Türklinke ging, wurde das Tor aber schon von einem breit lächelnden dunkelhäutige Kind aufgezogen, einem Jungen, der vielleicht 12 oder 13 Jahre alt war. Erst beim zweiten Hinschauen wurde Hunter bewusst, dass er dies mit Hilfe einer Unterarmprothese bewerkstelligte.

„Kommen Sie mit.“, sagte er und winkte sie mit seiner gesunden Hand heran. „Ich bringe Sie zum Büro von Herrn Strahler.“ Dann drehte er sich um und ging uns mit energischen Schritten voraus. Sein Gang ließ allerdings vermuten, dass auch eines seiner Beine zumindest verletzt war. Während sie durch den Garten zur Eingangstür des Gebäudes gingen, schweiften ihre Blicke ab zu den anderen Kindern, die dort spielten. Sie waren von unterschiedlicher Hautfarbe, Afrikaner, Asiaten, Indogene, Europäer, jeder Kontinent war vertreten, aber alle Gruppen, die sich im Spiel gefunden hatten, waren bunt durchmischt. Die Kinder wirkten alle in ihr Spiel vertieft, aber keines von ihnen bewegte sich völlig natürlich. Jedem war anzumerken, dass es von einem oder mehreren seiner Gliedmaßen wie gebremst schien und davon immer wieder in seiner Konzentration für sein Tun abgelenkt wurde.

Trotz seiner Behinderung legte der Junge, der das Tor geöffnet hatte, ein ordentliches Tempo vor, sodass sie sich schon nach wenigen Minuten vor einem Büro wiederfanden, das durch ein Messingschild als Sitz der Anstaltsleitung ausgewiesen war.

Der Junge klopfte energisch an die Tür.

„Come in“, forderte eine kräftige männliche Stimme und so standen sie gleich darauf dem Herrn Strahler gegenüber, der sich auf einem Stuhl sitzend hinter einem wuchtigen Schreibtisch verschanzt hatte. Als sie den Raum, der einer kleinen Bibliothek glich, betraten, stand er auf und streckte ihnen die rechte Hand zum Gruß entgegen. Der linke Arm hing dabei schlaff herab.

Trotz dieses Handicaps machte der Mann einen körperlich starken, kräftigen Eindruck. Hunter hatte schon in Erfahrung gebracht, dass Herr Strahler gerne aß. Er war ein echter Gourmet, was sich darin zeigte, dass er etwas füllig war. Sein Vollbart war getrimmt und gepflegt, seine Stimme tief und rau, als hätte er eine Erkältung hinter sich, sein Lächeln warmherzig. Turnschuhe und Jeans waren kombiniert mit einem dezent gestreiften hellblauen frischen Hemd und einem Jacket. Der Hemdkragen stand offen. Mit einer einladenden Geste seines gesunden Armes wies er auf zwei Stühle und bat uns, dort Platz zu nehmen. Hunter überreichte ihm seine Visitenkarte, dann setzten sie sich.

„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte er.

„Gerne“, antwortete Hunter, und Frau Marchawski nickte dazu und lächelte dankbar.

Herr Strahler sprach den Jungen an, der sie in sein Büro geführte hatte.

„Jakob, bist du so gut und holst du uns Kaffee und Kekse?“

Der Junge verschwand und kam schon nach wenigen Minuten mit einem Teewagen wieder. In der Zwischenzeit hatten sie den üblichen höflichen Smalltalk absolviert: Fragen nach den Anreisebedingungen, Bemerkungen über das Wetter. Er zauberte eine kleine Pralinenschachtel aus seiner Tasche, auf der das Logo ihrer Firma aufgebracht war. „Nur ein Werbegeschenk“, erklärte er. „Aber es passt gut zum Kaffee.“ Er öffnete die Schachtel zur freien Verfügung. Der Junge schenkte den Kaffee ein, trat zurück, salutierte lässig und schenkte uns ein breites Lächeln.

„Soll ich die Tür schließen?“, fragte er.

Herr Strahler nickte, zwinkerte ihm zu und salutierte ebenfalls. Dann waren sie unter sich.

„Herr Strahler“, ergriff Hunter das Wort, „ich weiß, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, der eine große Aufgabe zu bewältigen hat. Darf ich deshalb gleich zur Sache kommen und mit Ihnen den Grund besprechen, aus dem wir hergekommen sind?“

Der so Angesprochene hatte gerade eine Praline in den Mund gesteckt, nickte und bedeutete ihm durch ein Brummen und eine einladende Geste, weiter zu reden.

„Zunächst einmal möchte ich etwas Persönliches loswerden. Ich bewundere sehr, was Sie für diese Kinder aus aller Welt in ihrer Einrichtung auf die Beine gestellt haben. Sie sorgen dafür, dass kriegsversehrten Kindern eine intensive Rehabilitation zukommt, sodass Sie eine neue Lebensperspektive erfahren und den Glauben an das Gute im Menschen zurückgewinnen. Hätte ich einen Hut auf, ich würde ihn vor Ihnen ziehen und mich tief verbeugen.“

Herr Strahler machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich mache das nicht allein“, sagte er, „Wir haben viele Helfer und Unterstützer. Ohne die wäre es gar nicht möglich, so etwas – wie drückten Sie sich so passend aus- auf die Beine zu stellen.“

„Das ist uns bewusst.“, antwortete Hunter. „Aber anscheinend sind es nicht genug Mäzene, die Sie unterstützen wollen. Ihre Organisation steckt in finanziellen Schwierigkeiten.“

„Einige unserer Sponsoren haben arg mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu kämpfen. Andere haben hausinterne Probleme. Es ist der Lauf der Dinge. Nicht jeder bleibt immer erfolgreich. Wir versuchen dauernd neue Spender zu aquirieren.“

„Ja, deshalb freut es mich ganz besonders, dass meine Firma, bzw. mein Arbeitgeber sich dazu bereit erklärt, Sie finanziell zu unterstützen. Es handelt sich dabei um einen Millionenbetrag, der ihre Organisation für die nächsten zehn Jahre am Leben erhalten wird.“

Herr Strahler nickte ein paar Mal scheinbar gedankenverloren vor sich hin. Dann richtete sich sein Blick wieder direkt auf Hunter. „Was mir Ihre Firma angeboten hat, ist allerdings keine Spende.“

„Inwiefern?“

„Sie knüpfen diese gute Gabe an einige Bedingungen. Sie wollen damit Werbung machen, Ihr Image aufpolieren.“

„Das dürfte den Kindern egal sein“, wandte Hunter ein.

„Wissen Sie, warum ich diese Organisation gegründet habe? Wahrscheinlich kennen Sie die Story.“

„Im großen Ganzen ja.“

„Und Ihre Praktikantin?“

Frau Marchawski schüttelte den Kopf.

„Wir hatten noch keine Möglichkeit und Zeit darüber zu reden. Ich hatte erst heute Mittag erfahren, dass ich für meine Kollegin einspringen muss. Und dann ist noch soviel in der Zwischenzeit geschehen.“

„Ich will“, sagte Herr Strahler, „dass Sie mich verstehen und meine Bewegründe auch Ihren Vorgesetzten deutlich klarmachen. Deshalb nehme ich mir jetzt ein paar Minuten mehr Zeit, um diese zu erläutern. Haben Sie noch andere Termine?“

„Wenn es sein muss,“ antwortete Hunter, „habe ich alle Zeit der Welt.“

„Und Sie?“, fragte er Frau Marchawski.

„Ich bin nur die Praktikantin.“ antwortete sie.

„Nun gut“, fuhr Herr Strahler fort und lehnte sich zurück. „Als ich jung war, vor hundert Jahren, hatte ich ein für mich großes Ziel, einen Traum. Ich wollte fliegen.

Mein Vater war Hausmeister an einer Schule, einem Gymnasium, meine Mutter Frisöse. Meine beiden älteren Brüder hatten eine Lehre bei einem damals großen Fahrzeughersteller gemacht und arbeiteten dort in Schichtarbeit. Ich war ein Nachkömmling und der einzige in der Familie, der in diesem Gymnasium die Schulbank drückte. Wir waren also, wie man so schön sagt, nicht mit Reichtümern gesegnet.

Das heißt natürlich auch, dass ich mir keinen Segelflugschein oder Motorflugschein leisten konnte. Mein Taschengeld und das, was ich mir durch Nachhilfeunterricht für Kinder, die noch dümmer oder fauler waren als ich, verdiente, reichte gerade dafür aus, mir ein Modelflugzeug mit Fernsteuerung zu kaufen und damit das Fliegen im Freien zu praktizieren. Außerdem gab es da noch den Flugsimulator am Computer, den ich als Raubkopie von einem Mitschüler bekommen hatte.“ Er unterbrach seine Rede. „Langweile ich Sie?“, fragte er. Sie verneinten kopfschüttelnd und er fuhr fort.

„In der Oberstufe wurden meine Schulnoten dann plötzlich besser und auch meine körperliche Fitness machte einen Qualitätssprung. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass die Armee Piloten ausbildet. Eine Pilotenausbildung bei einer Fluggesellschaft kostet eine Menge Geld. Die Armee bildet kostenlos aus. Erste Voraussetzung dafür, dass man in dieses Ausbildungsprogramm aufgenommen wurde, war aber, dass man das wirklich harte Ausleseprogramm überstand und darauf bereitete ich mich schon in der Schulzeit vor. Um es kurz zu machen: Ich erreichte mein Ziel, weil ich hart gegen mich selber war, und ich war stolz darauf und bildete mir etwas darauf ein.

Die zweite Vorausetzung ist, dass man sich für 16 Jahre als Soldat verpflichtete. Damit war ich auch einverstanden. Unser Land war in keinem Krieg. Bündnispartner unterstützten wir nur durch Aufklärungsflüge und Waffen- und Materialtransporte. Gefechte wurden simuliert und trainiert, fanden aber nie unter realen Bedingungen statt.

Unsere Verbündeten waren da mehr gefordert. In geheimen Missionen wurden in einem fremden unzugänglichen Land Terroristen, die sich selber als Freiheitskämpfer ansahen, aufgespürt und zur Strecke gebracht. Waffentransporte wurden ausspioniert und dann bombardiert. Kameraden wurden aus Notsituationen herausgehauen, befreit, der in Anführungsstrichen, böse Feind dabei ausgeschaltet. Ausgeschaltet, so nannte man das damals und so nennt man das auch noch heute. Man legt nur einen Schalter um, weiter nichts.

Die Technik, die gegen Menschen eingesetzt wurde, die auf Eseln durchs Gebirge ritten, wurde immer ausgefeilter. Es wurden Drohnen benutzt, um das Leben der eigenen Leute nicht zu gefährden. Ich war damit fein raus.

Aber manchmal fällt auch die beste Technik aus. Eines Tages sollte der Standort eines feindlichen Konvois ausspioniert werden. Die Drohne, die für die Eliminierung des Trupps vorgesehen war, war wegen eines technischen Defektes ausgefallen. Der Einheit, die wir unterstützen sollten, stand kein Pilot zur Verfügung. Zwei waren am frühen Morgen abgeschossen worden und notgelandet. Einer war krank geworden, heftiger Durchfall.

Der Druck von oben, von der militärischen Leitung muss enorm gewesen sein, zumal man einen führenden Terroristen in dem Konvoi ausgemacht hatte. Es hieß, dass er direkt und indirekt für hunderte von toten Kameraden verantwortlich gewesen sein soll. Schließlich wandte man sich an mich. Alles musste absolut geheim bleiben. Niemals würde jemand irgendwann einmal zugeben, dass er mich zu diesem Einsatz aufgefordert hatte. Sollte der Einsatz erfolgreich sein, würde ich von niemanden offiziell Anerkennung erfahren. Sollte der Einsatz in einen Misserfolg enden, würden keine Rettungsversuche erfolgen können. Im Gegenteil, ich müsste irgendwie verschwinden. Auf gar keinen Fall dürfte ich dem Feind in die Hände fallen. Aber jetzt gelte es erst einmal, die Tod und Verderben bringenden Terroristen-Anführer und seinen Konvoi zu eliminieren.

Also schickte man einen Freund von mir und mich los. Es gelang mir, bzw. meinem Co-Piloten und mir, den Konvoi ausfindig zu machen. Er hatte bei einer kleinen Ansammlung von Hütten Halt gemacht. Wir liessen uns noch einmal das Ziel bestätigen und griffen dann an. Wahrscheinlich hatten wir den Feind vollständig eliminiert. Um das zu bestätigen, sollten wir aber noch einmal den Zielort überfliegen und dort Aufnahmen machen.

Damit hatte der Feind anscheinend gerechnet. Man erwartete uns und empfing uns mit einer Flugabwehrrakete, die uns zum Absturz brachte. Ich verlor dabei meinen linken Arm, mein Co-pilot sein Leben.“

Er machte eine kurze Redepause.

„Es tut mir leid.“ murmelte Hunter in die Stille hinein. Herr Strahler winkte ab und fuhr mit seiner Erzählung fort.

„Ich konnte mich mit Hilfe des Schleudersitzes retten. Mein Co-Pilot hatte das Gleiche versucht. Wir wurden aber als schwebenden Zielscheiben angesehen. Man schoss auf uns. Ich wurde am Arm getroffen, mein Co-Pilot am Kopf durch die Brille ins Auge.

Ich wurde gefangen genommen, verhört und gefoltert. Keiner von denen, die mich fertig machen wollten, kam auf die Idee, dass ich aus einem anderen Land kam, als das, wogegen sie Krieg führten. Dann fing die Wunde an meinem Arm an zu faulen. Weil sie mich austauschen wollten, wurde ich in eine Art Lazarett gebracht, in dem man sich nicht anders helfen konnte, als mir den Arm zu amputieren.

Ich war dort nicht der einzige, bei dem man diesen Eingriff vornehmen musste. Was mich aber so fertig gemacht hat, das waren nicht die Männer, die sich dort in Schmerzen wanden. Es waren die vielen Kinder und das Kindergeschrei, das mir bewusst machte, was Kampfpiloten so gerne verdrängen: Die sogenannten Kollateralschäden, die Unschuldigen, die völlig Wehrlosen. Sie kamen, wenn sie sich unbeobachtet fühlten zu mir, tupften mir den Schweiß ab vom Gesicht, steckten mir heimlich Essbares zu und brachten mir ein paar wichtige Brocken ihrer Sprache bei: Hunger, Essen, Trinken, Bett, Toilette, Schmerzen.

Ich wurde ausgetauscht und überlebte dank Bluttransfusion und Antibiotika, und ich ließ mich ehrenhaft entlassen, obwohl ich auf diese Art von Ehre noch heute spucken möchte, und ich gründete dieses Rehabilitationszentrum, um den Kriegskindern zu helfen.“

Es trat wieder eine Pause ein. Hunter war einmal mehr beeindruckt von diesem Mann. Wieder war er es, der die Stille unterbrach: „Meine Auftragnehmer möchten Sie gerne dabei unterstützen.“

„Ihr Auftraggeber stellt die Raketen her, mit denen die Häuser in die Luft gejagt werden, in denen diese Kinder mit ihren Eltern leben. Über euch hat schon Bob Dylan gesungen, als er noch ein junger Spund war. Ihr seid die „Masters of War“, die mit totbringenden Waffen ihr Geld verdienen. Ihr wollt nicht spenden, weil ihr barmherzig seid. Ihr wollt Imagepflege betreiben. Weiter nichts. Ich kann eure Verträge nicht unterschreiben.“

„Den Kindern wird ihre Prinzipientreue nicht helfen. Denen kann egal sein, woher das Geld für ihre medizinische Hilfe kommt.“

Herr Strahler hieb mit der Faust auf den Tisch. „Dieses Geld ist schmutzig. Das nehme ich nicht an.“

Hunter schüttelte den Kopf. „Das Geld ist nicht schmutzig.“ sagte er. „Wir stellen diese Raketen nur her. Wir schießen sie nicht ab. Sie sind von uns nur zur Verteidigung gedacht.“

Herr Strahler fuhr aus seinem Sessel hoch. „Das ist absurd.“ rief er. „Jetzt kommen Sie mir nicht so.“

„Ich muss Ihnen so kommen, Herr Strahler. Die Raketen, die den Konvoi eliminiert haben, sind nicht durch ihre Hersteller abgeschossen worden. Das Ziel haben Sie ins Visier genommen. Den Startknopf haben Sie gedrückt. Die Verantwortung lag bei Ihnen. Dem müssen Sie sich endlich stellen.“

Herrn Strahler fiel die Kinnlade herab. Er schnappte nach Luft. „Ich hatte den Befehl.“

Hunter nickte.

„Ich wollte meine Kameraden schützen.“

Hunter nickte erneut.

Herr Strahler blickte auf ihn herab. „Sie sind nicht wegen einer Spende hier.“, stellte er fest. „Wer hat Sie geschickt?“

„Doch,“ sagte er. „Ich soll Ihnen den Vertrag überbringen. Aber er ist an eine Bedingung geknüpft.“

„Die da wäre?“

„Sie müssen den anderen Vertrag erfüllen.“

„Wovon reden Sie?“

„Das wissen Sie genau. Sie sind überfällig. Sie verlängern Ihre Lebenszeit illegal über die Maße hinaus mit der Begründung, dass Sie diese Mission haben. Aber Ihr Werk kann auch ohne Sie weitergeführt werden, auch mit Unterstützung der Waffenindustrie.“

„Wenn es keine Waffen mehr gäbe, gäbe es auch keine Kriege.“

„Ja, ja, das ist diese John Lennon Utopie. Imagine. Bullshit. Ohne Waffen würden die Menschen mit Steinen aufeinander einschlagen. Und wenn die Allierten keine Waffen und keine Soldaten gehabt hätten, dann wären wir heute alle Nationalsozialisten. Aber wir sind nicht hier, um dies auszudiskutieren. Die Welt ist, wie sie ist. Und damit sie ein bisschen besser wird, sollten Sie beide Verträge erfüllen.“

„Wieso macht das die Welt besser, wenn mein Leben zu Ende geht und ich nicht mehr für diese Kinder sorgen kann?“

„Weil es beweist, das alle Menschen gleich sind vor dem Gesetz. Gleiches Recht für alle, auch für Sie.“

„Wollen Sie mich jetzt umbringen?“

„Nein, auf gar keinen Fall. Wir verabreichen nur ein Mittel, das den Alterungsprozess wieder in Gang setzt.“

„Ich werde mich dagegen wehren. Ich war nicht nur Pilot. Ich habe auch eine Ausbildung als Einzelkämpfer absolviert.“

„Das brauchen Sie nicht. Sie haben das Mittel gerade zu sich genommen. Es war in der Praline, die Sie vorhin so genüsslich verputzt haben.“

Herr Strahler sprang auf, stürmte zu den Topfpflanzen, die am Fensterbrett standen, beugte sich über einen Blumentopf und steckte sich den Mittelfinger seiner rechten Hand in den Hals, um so einen Brechreiz hervorzurufen.

Hunter ging zu ihm hin, stach die kleine dünne Nadel durch seine Jeans und injizierte das Mittel in eine Pobacke.

„Zu spät“ sagte er. „Ich hoffe es hat nicht weh getan. Ich bin manchmal ein bisschen ungeschickt.“

Herr Strahler richtete sich langsam auf.

Hunter trat zwei Schritte zurück, auch für den Fall, dass der Geimpfte wütend auf ihn losgehen würde.

„Das Mittel muss in die Blutbahn gelangen.“ erklärte er. „Die Magensäfte würden es zerstören.“

Herr Strahler schaute ihn mit großen Augen an, als würde er aus einem Traum erwachen.

„Was passiert jetzt?“, fragte er.

„Sie werden altern. Allerdings deutlich schneller, als man es von früher her kennt.“

„Wieviel Zeit habe ich noch?“

„Sie haben nicht so stark überzogen, wie manch anderer und Ihnen wird Ihr Engagement zu Gute gehalten. Deshalb dauert es nicht ein paar Minuten oder Stunden. Ich schätze Sie haben noch drei Tage. Genug Zeit Ihr Testament und die Vollmachtsdokumente zu überprüfen und sich von den Menschen zu verabschieden, die Ihnen lieb geworden sind und einen Nachfolger vorzuschlagen. Auch genug Zeit, um mit denen den Sponsorenvertrag dieser Rüstungsfirma durchzugehen. Übrigens, nur fürs Protokoll: Die brüsten sich damit, dass sie nur Waffen zur Verteidigung herstellen.“

Herr Strahler hielt sich an der Rückenlehne seines Bürostuhls fest. Sein Blick war unsteht, er schien nach einem Menetekel an der mit Bücherregalen vollgestellten Wand oder nach anderen passenden Worten zu suchen.

„Möchten Sie noch etwas wissen? Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ fragte Hunter.

„Wenn ich mich von diesem Leben verabschiede, Wenn ich hinüber gehe“, sagte er „werden dann die, denen ich das Leben genommen habe, am Eingangsbereich auf mich warten? Was meinen Sie?“

Hunter überlegte kurz, suchte nach einer Antwort und stieß einen kurzen Seufzer aus. „Um ehrlich zu sein: Ich glaube, ja, das wird so sein. Aber es werden auch diejenigen Sie in Empfang nehmen, die durch Ihren Einsatz gerettet wurden. Und dann sind da noch die Eltern der Kinder, die Sie gerettet haben und die Kinder selbst, denen Sie neue Lebensperspektiven gegeben haben. Die werden auch da sein.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich weiß es einfach.“

Hunter reichte ihm die Hand. Herr Strahler zögerte, schlug dann aber doch ein. Er stand nicht mehr so aufrecht vor ihnen wie zu Beginn ihres Besuches. Das Alter startete wohl seine ersten Beugungsversuche.

Zum ersten Mal wandte er sich der bis dahin nur zuschauenden Frau Marchawski zu.

„Tolles Praktikum“, sagte er. „Haben Sie was gelernt?“

Hunters Praktikantin lächelte ihn traurig an. „Wahrscheinlich mehr von Ihnen als von meinem Ausbilder.“ antwortete sie.

„Ach ja? Was denn?“

„Haltung“

Sein Rücken straffte sich.

„Was bleibt mir auch anderes übrig?“ sagte er.

Sie schien zu überlegen, ob sie ihm eine Alternative nennen wollte, wandte sich dann aber ab und ging mit Hunter zur Tür vor.

Der Junge, den Herr Strahler mit Jakob angesprochen hatte, stand parat, um uns zum Ausgang zu bringen. Er verabschiedete die beiden mit seinem strahlenden Lächeln. „Ich hoffe, Sie waren erfolgreich.“ sagte er.

„Das kann man so sagen.“ antwortete Hunter.

Sie stiegen ins Auto und fuhren los, ohne ein Wort zu sagen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Plötzlich fing Frau Marchawski an zu singen: „Imagine there´s no heaven. It´s easy if you try.“ Hunter stimmte mit seinem Bass ein: „No hell below us. Above us only sky. Imagine all the people. Living for today....“ Er stockte, aber sie sang einfach leise weiter.

: „You may say that I´m a dreamer. But I´m not the only one. Hope some day you will join us. And that day is soon to come...“

Nach ein paar weiteren Schweigeminuten sprach er sie an: „Sie haben sich gut gehalten. Ich hatte erst Angst, dass Sie mir dazwischen pfuschen.“

„Ich kam dazu kurz in Versuchung“, antwortete sie, „aber was hätte ich denn machen sollen? Ihn warnen? Dann wäre es mit meinem Vorhaben, mit Euch zusammenzuarbeiten wohl aus gewesen. Außerdem haben Sie nicht nur Herrn Strahler überrumpelt, sondern auch mich.“

„Überrumpeln ist am einfachsten, wenn man einen guten Plan hat. Improvisieren ist öfter mal erforderlich, aber keine gute Ausgangsbasis. Den Plan zu entwickeln ist das Schwierigste. Dazu muss man gut recherchieren, die Schwächen der Zielperson kennen und die erforderlichen Maßnahmen treffen.“

„Fangen Sie schon jetzt mit meiner Ausbildung an? Dann bin ich ja schon akzeptiert.“

Er lachte kurz und trocken auf. „Nein“, sagte er „ich wollte nur ein bisschen angeben. Bisher fällt mir nichts ein, was meinen Chef davon überzeugen könnte, Sie einzustellen.“

„Dann denken Sie aber besser darüber nach“, erwiderte Sie, „denn ich habe Sie bei den Eiern.“

„Das ist nur für mich ein Argument und bestimmt kein dauerhaftes. Was denken Sie denn, was außerdem noch für Sie spricht?“

„Ich bin topfit. Ich bin kreativ in meiner Lösungfindung. Ich kann meine Gefühle ausschalten. Ich bin kaltblütig. Ich bin selbstbewusst, und ich bin hochmotiviert.“

„Kreativ in Ihrer Lösungsfindung?“

„Ja. Wenn Sie das bezweifeln, schauen Sie doch einfach in Ihre Hosentaschen.“

„Gefühle ausschalten können Sie auffällig gut. Den Tod Ihrer Mutter haben Sie auf jeden Fall schnell verkraftet.“

„Nein, habe ich nicht. Aber ich bin ein Verdrängungskünstler. Wie ich damit fertig werde, geht Sie nichts an. Kaltblütig ist nicht kaltherzig. Das verwechseln die Leute oft. Kaltblütig heißt, dass ich schnell und logisch handeln kann, ohne mich von meinen Gefühlen ablenken zu lassen. Kaltherzig würde heißen, dass ich ohne Mitleid bin. Das bin ich aber nicht. Mir tun die kriegsversehrten Kinder sehr leid. Nicht nur wegen ihrer äußeren Verletzungen. Die seelischen Wunden werden oft viel schwerer wiegen.“

„Topfit und selbstbewusst nehme ich Ihnen auch ab. Bei hochmotiviert besteht noch Klärungsbedarf.“

„Was motiviert Sie denn?“, fragte sie Hunter.

„Das ist mein Job. Er ist wichtig. Er hilft, die Kräfte, die die Welt bewegen, im Gleichgewicht zu halten. Es ist der Job, in dem ich gut bin. Ohne uns wäre die Welt überbevölkert mit uralten Menschen und es gäbe im besten Fall keinen Fortschritt, wahrscheinlich aber eher Rückschritte, Barberei durch den Kampf um Ressourcen. Das, was ich hier mache, hat einen Wert, der weit über das Materielle und die Alltagsprobleme hinausgeht. Meine Kollegen und ich sorgen dafür, dass der natürliche Fluss des Lebens in Gang bleibt.“

Frau Marchawski schaute ihn spöttisch von der Seite an. „Wow!“, sagte sie. Sie bringen es auf den Punkt. Genau das motiviert mich auch.“

Verdrießlich beschreibt seinen Gesichtsausdruck als Reaktion auf ihre Antwort wohl am besten. Sie grinste ihn frech an.

„Dann schauen wir einmal,“ sagte er, „ob das für einen weiteren Praktikumsabschnitt ausreicht. Es ist erst später Nachmittag. Können Sie noch einen dritten Fall verkraften? Ich bin in erster Linie Außendienstler und muss erst morgen früh wieder im Büro sein.“

Sie hob die Schultern bis zu den Ohren. „Wie ich schon vorhin festgestellt habe: Ich bin nur eine kleine Praktikantin, ich bin nicht müde, und ich habe alle Zeit der Welt.“ Sie machte eine kleine Kunstpause und ergänzte dann „Wenn Sie es zulassen.“

„Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Wir müssen uns schon etwas beeilen. Zum Glück müssen wir uns nicht umziehen.“

„Als was treten wir denn dieses Mal auf?“

„Staubsaugervertreter. Ich habe so ein Gerät im Kofferraum. Hab er schon mehrmals verkauft und konnte es am Ende doch immer behalten.“

„Wie kann ich dabei helfen?“

„Ich trag den Staubsauger, Sie den Eimer mit Sand und die kleine Schaufel.“

Wir fuhren in die Vorstadt, dort wo die Reihenhäuser und Einfamilienhäuser der Mittelschicht stehen, mit ihren auf vier Zentimeter Länge coupierten Rasen und den vom Unkraut befreiten Beeten, vor denen die Bewohner knieten und sich vorbeugten, als wollten Sie Allah anbeten, den Gott, den sie den Gastarbeitern und Terroristen zuordneten. Hunter musste zugeben, dass er immer wieder neidisch auf diese Menschen war, auf die Idyllle in der sie lebten, auf das Fläschchen Bier, mit dem man anstieß, wenn man mit dem Nachbarn ein Schwätzchen hält und auf die Einladung zum Grillen, wenn einer Geburtstag hat und einen ausgeben will.

Das Grundstück ihrer Zielperson war von einer kniehohen Mauer umgeben, aus der grüne Eisenstäbe wuchsen, die sich in zwei Metern Höhe zu spitzen Pfeilen verdünnten, die über eine waagerechte Stange miteinander verbunden waren. Eine dahinter liegende dichte Buchsbaumhecke verdeckte die Sicht auf das Einfamillienhaus. Ein seitlich verschiebbares Gartentor in Höhe der niedrigen Mauer versperrte den Weg zu einer Garage und zur Haustür, ließ sich aber leicht mit der Hand öffnen.

„Mit Fotos von solchen Häusern hat man früher für Bausparverträge geworben.“ sagte Hunter an seine Begleiterin gewandt, als sie auf den mit Naturstein-Platten belegten Weg entlang gingen. Sie hatten fast den Hauseingang erreicht, als die Haustür geöffnet wurde und ein Mann bekleidet mit einem schäbigen dünnen Mantel die Tür von innen öffnete, dabei den Rücken in Richtung zu ihnen wandte, nach drinnen schaute und rief: „Ich gehe nur eben einkaufen. Ich bin in einer halben Stunde wieder zurück. Wir brauchen noch Brot, Butter und Milch.“

Darauf antwortete eine kratzige übellaunige weibliche Stimme: „Ja, ja. Geh du nur wieder dich besaufen und kotz die Bude voll, wenn du nach Hause kommst.“

„Ich habe gesagt, ich gehe jetzt kaufen, nicht saufen.“

„Und ich habe geantwortet, dass du dich nicht wieder so besaufen sollst.“

„Ich hole Milch.“

„Die Art von Milch kenne ich. Aber es ist mir egal, wenn du abhaust. Ich komme sowieso besser ohne dich zurecht.“

„Ich weiß Schatz. Es tut mir leid.“

„Hör auf dich dauernd zu entschuldigen. Und hör auf mit deinem Schatzgesülze. Ich kann es nicht mehr hören.“

Der Mann wandte sich um. Ein blasses Allerweltsgesicht schaute mit traurigen Augen in die Welt. Sein dünnes Haar hätte einen Friseur gebraucht, sein Kinn und die Wangen verlangten nach einer Rasur. Als er Hunter und Frau Marchawski erblickte, wichen Kummer und Sorgen für einen Augenblick aus seinem Gesicht. Stattdessen machte sich ein kurzes Erschrecken darauf breit. „Was wollen Sie hier?“, fragte er und schaute abwechselnd die beiden an und dann wieder zurück in den Flur.

Hunter lächelte ihn an. „Wir wollen ihnen ihr Leben ein wenig leichter machen.“

Dieses Mal spiegelte sich völlige Verständnislosigkeit auf dem Gesicht des Mannes wieder.

„Kennen Sie schon den neuen Superstaubsauger von Saugwerk? Sie glauben nicht, was mit dem alles möglich ist.“

„Wir haben schon einen Staubsauger. Wir brauchen keinen zweiten.“

„Das ist in fast allen Haushalten der Fall“, entgegnete Hunter, stieß die Schaufel in den Eimer mit Sand und warf eine Schüppe von dem feingemahlenen Quarz in den Flur auf den Teppich.

Er nutzte die Verblüffung des Hausherrn, um weiterzureden. „Aber kann ihr Billigprodukt auch das hier? Den Teppich innerhalb von zwei Minuten wieder vollständig vom Sand befreien?“

Dem Mann war für einige Sekunden die Kinnlade heruntergefallen und der Atem hatte gestockt. Dann begann er nach Luft zu schnappen wie ein Karpfen an Land, und schließlich fuhr er Hunter an: „Ja sind Sie denn total bescheuert? Das machen Sie sofort wieder weg, aber auf der Stelle.“

Hunter zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie darauf bestehen.“

Er betrat sehr gelassen den Flur und schaute sich suchend um. „Drin bin ich“, dachte er.

„Was noch?“, raunzte ihn der Mann an.

„Gibt es hier irgendwo eine Steckdose?“, fragte er.

Der Mann streckte die Hand nach dem Stecker von dem Staubsauger aus, den Hunter ihm herüberreichte, und er zog die Leitung in ein Nebenzimmer, wo er den Stromanschluss herstellte.

„Was machst du denn da?“ kam es vom hinteren Teil des Hauses und als der Mann nicht sofort antwortete: „Verdammte verfickte Kacke, sag was.“

„Die haben hier Sand in den Flur geworfen.“

„Wer ist die?“

„Irgendwelche Staubsaugervertreter.“

„Die solllen ihre Scheiße wieder weg machen, aber Pronto.“

„Das wollen die ja gerade.“

Hunter hielt den Griff des Staubsaugerrohres in der linken Hand und hob die Rechte, um die volle Aufmerksamkeit der sichtbaren und auch der nichtsichtbaren Anwesenden zu erheischen und erhob, immer noch lächelnd, seine Stimme.

„Was Sie jetzt miterleben dürfen“, sagte er, „hat bisher noch jeden unserer Klienten vom Hocker gerissen und zu Stammkunden gemacht. In genau zwei Minuten wird dieser Läufer, der beinahe zu einem orientalische Teppich mutiert wäre, vom feinsten Wüstensand befreit sein. Das ist einzigartig. Das schafft auch das teuerste Gerät der Konkurrenz nicht. Schauen Sie zu und staunen Sie.“

Er betätigte den Schalter an dem Staubsauger. Der heulte auf, und er begann schwungvoll, den Vorleger zu reinigen.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass eine Tür am Ende des Flures weiter geöffnet wurde. Ein Kopf erschien, dann schob sich der Mensch in einem Rollstuhl weiter vor. Erst auf den zweiten Blick konnte man erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Ihre Haare waren kurz und schwarz gefärbt, die Gesichtszüge grob. Ein großes Muttermal am Kinn lenkte den Blick auf sich. Die ganze Erscheinung war ungepflegt, der Gesichtsausdruck düster und abweisend.

Sie schaute an ihm vorbei und starrte den Hausherrn an. Der stand mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf ratlos im Flur. Die Geräusche, die der Staubsauger machte, übertönten zuerst das, was die Frau sagte. Er konnte nur sehen, dass sich ihr Mund bewegte. Als keine Reaktion von den anderen Anwesenden kam, rief sie: „Warum lässt du diese Idioten in unser Haus herein? Hast du denn gar keinen Sinn und Verstand?“

„Aber du hast doch selber gesagt, dass die ihren Dreck wegmachen sollen.“

„Was habe ich gesagt?“

„Der Staubsauger ist so laut“, brüllte er.

„Bin schon fast fertig“, mischte Hunter sich ein, ging mit der Bodendüse über den Teppich in die letzte Ecke und stellte das Gerät aus. Für wenige Augenblicke herrschte fast so etwas wie himmlische Ruhe in diesem Gebäude. Nur das Ticken einer Wanduhr, die im Nachbarzimmer hing, war zu hören.

„Jetzt schauen Sie sich das einmal an“, unterbrach er die Stille. „Ich will nicht sagen, dass dieser Vorleger, der beinahe zum Wüstenteppich geworden wäre, so gut wie garkein Sandkorn mehr aufweist. Aber fast gar keins. Und jetzt erzählen Sie mir nicht, dass das Ihr Staubsauger auch geschafft hätte.“

„Verlassen Sie mein Haus!“, fauchte ihn die Frau im Rollstuhl an. „Auf der Stelle.“

„Aber Frau Herrmann“, wandte er ein. „wir wollen doch nur Ihr Bestes.“

„Und genau das will ich Ihnen nicht geben. Ganz im Gegenteil: Selbst wenn ihr mir euren Staubaufwirbler und Lärmverursacher für umsonst dalassen würdet, würde ich euch das verschissene Teil noch hinterher werfen. Ich lass mir nichts an der Tür andrehen. Tut mir auch nicht leid, dass Sie diesen Job machen müssen. Hätten Sie halt was ordentliches gelernt.“

„Ich bin Doktor der Philosophie.“

„Das können Sie draußen dem Abfalleimer an der Bushaltestelle erzählen. Brotlose Kunst. Das Einzige, was mich daran beeindruckt, ist die Blödheit, so etwas zu studieren. Und jetzt raus hier.“

„Frau Herrmann“, sagte Hunter mit einem erstarrten Lächeln auf seinem Gesicht, wurde aber gleich von der wütenden Frau unterbrochen.

„Woher, zum Teufel, kennen Sie überhaupt meinen Namen?“

„Vom Namensschild unter der Hausklingel?“

„Da ist kein Namensschild. Hier ist nirgendwo ein verfluchtes Namensschild.“

„Dann muss ich den auf der Liste stehen haben.“

„Welche Liste?“

„Die Liste, auf der Sie und Ihr Ehemann drauf stehen, weil Sie überfällig sind.“

Sie schaute verwirrt zu ihrem Mann herüber.

„Haben wir irgendwelche Rechnungen nicht bezahlt?“ fragte sie unwirsch. „Hast du das Geld wieder für irgendwelche Huren und Lokalrunden ausgegeben?“ und an Hunter gewandt: „Sind Sie Geldeintreiber und Philosoph?“

„Einmal Philosoph, immer Philosoph“, antwortete er. „Das hilft auch bei der Arbeit. Aber Geldeintreiber bin weder ich, noch meine Kollegin Frau Marchawski.“

Er wandte sich an Herrn Herrmann. „Sie ahnen wahrscheinlich, weshalb wir gekommen sind?“

„Helfen Sie mir auf die Sprünge“, sagte er.

„Okay. Wie alt sind Sie?“

„Achtzig Jahre, so steht es auch in meinem Ausweis.“

„Der ist gefälscht. Sie sind einhunderundzehn Jahre alt und haben damit deutlich überzogen.“

„Wovon redet der Kerl?“ mischte sich seine Frau ein. „Die sollen verschwinden.“

„Lass gut sein Hilde. Ich regel das schon.“

„Einen Scheißdreck tust du. Ich kenn dich doch. Wenn die das Haus verlassen, haben wir ein Gerät mehr im Keller stehen, dass wir nicht gebrauchen können.“

„Frau Herrmann“, sagte ich, „können Sie uns für ein paar Minuten alleine lassen?“

„Damit ihr diesen Versager über den Tisch ziehen könnt? Fällt mir im Traum nicht ein.“

Herr Herrmann hob beschwichtigend die Hände, sodass die Handflächen zu seiner Frau hin offen waren. „Hilde“, sagte er beschwörend „bitte lass uns für ein paar Minuten alleine.“

„Nur über meine Leiche.“

„Guter Vorschlag“ fand Hunter.

Herr Herrmann schien das auch zu finden. Zumindest hellten sich seine Gesichtszüge auf, und er machte keine Anstalten, ihr zu Hilfe zu kommen, als Hunter seine Praktikantin aufforderte: „Frau Marchawski, halten Sie bitte diese Furie fest. Sie stehen gerade günstig. Die Dame hier bekommt eine Beruhigungsspritze. Können Sie sie fixieren?“

Frau Marchawski nickte bejahend. Sie stellte sich wirklich geschickt an. Hinter dem Rollstuhl stehend legte sie den rechten Arm um den Hals von Frau Herrmann und drückte ihr damit die Luftröhre in Höhe des Kehlkopfes zu.

Hunter nahm eine der Spritzen aus einem Etui, das sich in seiner Jackentasche befand, packte sich ihren rechten Arm und führte die Nadel dort ein.

Nach einem Schmerzensschrei, fauchte sie ihren Mann an: „Jetzt tu endlich was, du Lusche.“

Doch der starrte sie nur stumm an und schüttelte den Kopf. Wenig später fiel ihr Kopf nach vorne und ihr Körper entspannte sich.

„Ist sie tot?“, fragte Herr Hermann.

„Nein“, antwortete Hunter. „nur ohnmächtig.“

Auf Herrn Herrmanns Gesicht machte sich ein Ausdruck des Bedauerns breit. In diesem Augenblick konnte Hunter ihn verstehen.

„Sie scheinen hier nicht gerade den Himmel auf Erden zu haben“, stellte Hunter fest.

Herr Herrmann gab einen Seufzer von sich. „Kaum vorstellbar, dass die Hölle schlimmer ist“, gab er zu.

„Was dagegen, wenn ich Ihre Gattin im Nebenzimmer unterbringe?“, fragte Hunter.

Herr Herrmann erteilte seine Zustimmung, Frau Marchawski schob die außer Gefecht gesetzte in das Nebenzimmer am Ende des Flurs, kam zurück und signalisierte mit dem Daumen nach oben zeigend, dass sie sicher vor weiteren Einmischungen waren.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht einen Kaffee?“

Sie nahmen gerne an.

„Dann lassen Sie uns in die Küche gehen.“

Sie ließen sich am Küchentisch nieder, Herr Herrmann servierte ihnen einen Milchkaffee.

„War Ihre Frau schon immer so?“ begann Hunter das Gespräch ohne Umschweife.

„Sie meinen, so aggressiv?“

„Ja, und vor allen Dingen Ihnen gegenüber so herabsetzend und demütigend. War sie das schon vor dem Unfall?“

„Sie wissen von dem Unfall?“

„Wir recherchieren immer ziemlich genau, bevor wir unsere Aufträge ausführen. Ihre zwei Töchter starben bei dem Autounfall, bei dem Ihre Frau so schwer verletzt wurde, dass Sie seitdem querschnittsgelähmt an dem Rollstuhl gefesselt ist. Die Bremsen hatten aus Gründen versagt, die nie geklärt werden konnten. Angeblich hatte ein Lehrling die falschen Beläge eingebaut. Sie haben die Werkstatt verklagt und sich schließlich mit denen geeinigt. Gezahlt hat deren Versicherung. Wobei damals viele Leute gesagt haben, dass die Firma nur aus den schlechten Schlagzeilen herauskommen wollte und deshalb auf den Kompromiss eingegangen ist. Ein Unfall dieser Art ist zuvor und auch nie wieder danach passiert.“

„Das habe ich nicht geprüft. Das Geld haben wir auf jeden Fall gut gebrauchen können, obwohl wir gut versichert waren.“

„Kann ich mir gut vorstellen.“

„Ich habe dann aufgehört zu arbeiten. Ich musste mich ja um meine Frau kümmern.“

„Und wer hat sich um Sie gekümmert? Schließlich mussten Sie ja den Tod Ihre beiden Töchter verarbeiten.“

„Ich wollte keine Hilfe für mich. Ich wollte nur meiner Frau helfen.“

„Die hat das auch nicht verkraftet und ist dann bösartig geworden.“

Herr Hermann starrte vor sich hin. Sie warteten auf ein Zeichen der Zustimmung, aber er rührte sich nicht.

„Herr Hermann“, sagte Frau Marchawski.

Der Mann schreckte auf. „Nein“, sagte er „Ein Ekel war sie schon vorher. Schon als ich sie kennengelernt hatte, in der Berufsschule, war sie unter den Klassenkameraden gefürchtet. Aber seltsamer Weise hat sie sich schützend vor mich gestellt, wenn ich gemoppt wurde, weil ich komische Hosen und komische Hemden trug, gebrauchte Kleidungsstücke aus der Altkleidersammlung. Wir hatten wenig Geld. Meine Eltern haben in einer Putzkolonne in dieser Schule gearbeitet.“

„So lange kennen Sie sich schon?“

„Ich weiß nicht, ob ich sie jemals wirklich gekannt habe. Heute denke ich, dass sie mich geheiratet hat, nicht ich sie. Ich habe ja gesagt, als sie mich gefragt hat, weil ich der festen Überzeugung war, dass mich sowieso keine andere gewollt hätte. Wahrscheinlich hat sie genauso gedacht.“

„Aber sie hatten zwei Töchter. Sie waren doch eine richtige Vorzeige-Familie. Sie hatten einen guten Job als Mechaniker, konnten sich dieses Haus hier bauen.“

„Ja, von außen sah alles gut aus. Meine Frau kam auch gut mit den Kindern zurecht, wenn alles gut lief. Es lief aber nicht immer alles gut. Kindergeschrei konnte sie überhaupt nicht ab. Wenn die Kinder schrien, weil sie Zähne bekamen oder krank wurden oder sich weh getan hatten, schrie sie zurück. Und wenn das nichts brachte, dann gab es Backpfeifen oder sie rüttelte sie, bis sie das Bewusstsein verloren. Wenn ich dann dazwischen ging, bekam ich auch was ab. Ich wollte mich nicht wehren. Ich hatte gelernt, dass man keine Frau schlägt. Ich habe nur die Arme und die Hände nach oben gehalten, um mich zu schützen. Dann hat sie mich noch angepöbelt, ich sei eine feige Sau.

Später hat es ihr dann wieder leid getan, und sie ist im Bett über mich hergefallen, und wir haben uns versöhnt, oder was man so versöhnen nennt. Aber es bleibt immer etwas zurück.“

„Da kommt man dann schon mal auf dumme Gedanken.“ sagte Hunter.

Wieder versank Herr Herrmann in Schweigen. Wieder sprach ihn Frau Marchawski an, und wieder schreckte er hoch wie aus einem bösen Traum.

„Wieso wollen Sie das eigentlich alles wissen?“, fragte er.

„Ich will verstehen, warum Sie den Vertrag nicht einhalten wollen. Bisher klingt für mich alles so, als ob Sie froh sein müssten, aus diesem Leben zu scheiden, dass nur Müh und Not und Leid und Arbeit ist. Außerdem sind da noch ihre Töchter. Die werden Sie dann wiedersehen.“

Herr Herrmann tat erneut einen tiefen Seufzer.

„Meine Töchter, wunderschöne, kluge Kinder sehe ich andauernd wieder: wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie. Wenn ich endlich nach einigen Flaschen Bier oder härteren Sachen einschlafe und träume, sehe ich sie. Wenn ich aufwache und die Augen öffne, sehe ich sie, weil meine Frau mir Bilder von ihnen ans Bett stellt, damit ich sie gleich wieder vor Augen habe. Sie stellt und hängt ihre Bilder in jedem Zimmer, selbst im Keller und auf dem Dachboden auf, und auch auf dem Fernseher steht ein Bilderrahmen mit dem einen Motiv: meine Töchter.“

„Und das weckt keine schönen Erinnerungen in Ihnen?“

„Erst in zweiter Linie. Ich will den Vertrag nicht erfüllen, weil ich ihn nicht erfüllen kann. Ich muss mich um meine Frau kümmern.“

Hunter klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Das brauchen Sie jetzt nicht mehr Herr Hermann. Die ist genauso überfällig wie Sie.“

Mit der dann folgenden Reaktion seines Klienten hatte Hunter nicht gerechnet. Herr Herrmann ging in die Knie, als hätte ihm jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt. Dann fing er an zu weinen. „Ich will es wieder gut machen.“ jammerte er. „Ich brauch noch etwas Zeit.“

„Herr Herman“, sagte er, „Erzählen Sie uns einfach, was geschehen ist. Sie werden sich danach besser fühlen. Glauben Sie mir.“

Seine Stimme wurde fester. „Ich kann es nicht.“ sagte er. „Ich kann es nicht länger tragen.“

„Das müssen Sie auch nicht. Lassen Sie es einfach heraus. Erzählen Sie, was passiert ist.“

„Ich hatte es nicht länger ausgehalten. Die Schläge, die Erniedrigungen, das Fluchen, das Nörgeln und Schimpfen. Die Kinder waren völlig verstört. Im Kindergarten und auf dem Spielplatz spielten sie das nach, was sie zu Hause erlebt hatten. Sie schlugen auf andere Kinder ein, beschimpften sie und traten ihr Spielzeug kaputt. Ich musste etwas unternehmen. Ich musste uns retten vor dieser Frau.“

„Indem Sie das Auto manipulierten?“

„Der Wagen meiner Frau musste zur Inspektion. Am nächsten Morgen wollte sie wieder damit zur Arbeit fahren, sagte sie mir. Mit meiner Scheißkarre käme sie nicht zurecht. Es musste ihr Wagen sein. Sie bestand darauf. Ich wusste nicht warum, und die Gründe waren mir auch egal. Mir kam das sehr entgegen.

Ich hatte mir vom Autofriedhof alte abgenutzte Bremsbeläge besorgt. Nach der Inspektion habe ich die eingebaut. Morgens brachte meine Frau die Kinder immer in den Hort. Dann fuhr sie zu ihrer Arbeitsstelle. Auf dem Weg zur Arbeit gab es eine recht scharfe Kurve, die meine Frau immer mit sehr viel Schwung nahm. Wenn ich mitfuhr, genoss sie es, wenn ich mich verkrampfte und an der Schlinge über dem Seitenfenster festhielt, wenn sie in diese Kurve ging. Die sollte ihr am nächsten Morgen zum Verhängnis werden. Das war mein Plan.

Was ich nicht wusste, war, dass sie gar nicht zur Arbeit fahren wollte. Sie hatte ganz andere Pläne gehabt. Sie wollte mich verlassen und die Kinder mitnehmen.

Einer Freundin oder besser einer Bekannten von ihr hatte sie, wie ich später erfuhr, anvertraut, dass sie von diesem Waschlappen, der keinen mehr hoch bekam, also von mir, die Schnauze voll hatte.“

„Sie hätten sich doch einfach scheiden lassen können.“

„Ja klar. Mit dem Ergebnis, dass mich meine Kinder an jedem zweiten Wochenende hätten besuchen dürfen. Ihr aggressives Verhalten hätte man dann mit der Scheidung erklärt. Es ist doch immer noch so, dass die Scheidungskinder in der Regel der Mutter zugesprochen werden.“

„Sie haben keinen anderen Ausweg gesehen.“

„Nein. Ich habe lange überlegt, alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen. Dann kam diese Gelegenheit und ich dachte, ich müsste sie ergreifen.

Auf jeden Fall kann ich meinen Kindern noch nicht gegenübertreten. Ich muss es noch wieder gut machen. Ich muss es auch an ihrer Mutter wiedergutmachen. Das habe ich nicht gewollt, dass sie querschnittsgelähmt ist. Erklären Sie das Ihren Vorgesetzten. Die werden ein Einsehen haben. Bestimmt. Ich bin ein Sonderfall.“

„Meinen Vorgesetzten ist ihr Sonderfall bekannt. Aber Sie und Ihre Frau haben schon mehr als deutlich überzogen. Wir haben unsere Grenzmarken und die Statuten stehen fest. Alles geschieht rechtmäßig gesetzeskonform. Sie müssen den Vertrag erfüllen.“

„Was soll das heißen? Wollen Sie uns umbringen?“

„Auf gar keinen Fall. Das wäre ja Mord.“

„Was dann?“

„Wir setzen nur das Alterungsgen wieder in Kraft.“

„Okay, damit kann ich leben.“

„Gewiss. Dann ist ja gut. Machen Sie nur eine Seite Ihres verlängerten Rückens frei.“ Hunter nahm die Spritze aus dem Etui. „Es ist nur ein kleiner Piks. Sie werden ihn kaum spüren.“

Herr Herrmann hatte tatsächlich sehr stark überzogen. Er spürte zunächst nichts von dem, was in ihm vorging. Frau Marchawski und Hunter aber konnten schon nach wenigen Minuten beobachten, wie seine Haut faltiger wurde und die ersten Altersflecken auf seinen blassen Händen erschienen.

„Ich muss mich jetzt um meine Frau kümmern“, sagte er und stemmte sich hoch. „Ich muss ja auch noch einkaufen.“

Er schlurfte zur Tür, als diese mit großem Schwung aufgestoßen wurde. Im Türrahmen saß Frau Herrmann in ihrem Rollstuhl und holte weit aus mit einem Beil in der Hand. „Heut ist wohl Tag der Auferstehung“, ging es Hunter durch den Kopf und vielleicht hatte er das auch gut vernehmlich vor sich hingemurmelt oder ausgesprochen. Er war sich nicht mehr sicher. Die Ereignisse überschlugen sich.

„Du hast unsere Kinder umgebracht“, brüllte die Furie und schleuderte das Beil dem fassungslos erstarrten Lebensgefährten an den Kopf. Dessen Reaktionsfähigkeit hatte wohl auch altersbedingt schon deutlich nachgelassen. Das Beil steckte in seiner Stirn. Ein kriegsgeschulter Indianer hätte seinen Tomahawk nicht zielsicherer platzieren können. Es dauerte keine zwei Minuten und Herr Herrmann hörte auf zu altern.

Frau Marchawskis entsetzte Blicke gingen zwischen dem Ehepaar Herrmann und Hunter hin und her. „Ich verstehe das nicht“, sagte sie schließlich, „Sie haben ihr doch eine Betäubungsspritze gegeben.“

„Ich war keinen Augenblick betäubt“, meldete sich Frau Herrmann, „und ich habe an der Tür gelauscht.“

Dann schaute sie auf ihre Hände und das Blut wich aus ihrem Gesicht. „Was ist das?“, fragte sie und hielt ihre Arme hoch, damit wir besser sehen konnten. Ihre Haut war schlaff und es hatten sich auch bei ihr schon Altersflecken breit gemacht. Sie drehte sich mitsamt dem Rollstuhl um und schaute sich im Garderobenspiegel, der im Flur hing, an. Ihre eh schon groben Gesichtszüge wurden durch die tiefen Furchen ihrer Falten noch markanter. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um besser sehen zu können. Ihr Haar fiel büschelweise aus und sie musste zwei Zähne ausspucken, weil die sich schon zu stark gelockert hatten.

Frau Marchawski schaute mich fragend an. Dann kam ihr die passende Erkenntnis. „Sie haben ihr die falsche Spritze gegeben“, stellte sie fest.

Hunter fingerte sein Etui aus der Jackentasche, öffnete es und musste ihre Vermutung bestätigen. Im Eifer des Gefechtes hatte er wohl daneben gegriffen. „Ich bin aber auch ein Schussel“, tadelte er sich selber.

Frau Herrmann stieß einen gurgelnden Laut aus und rollte in Richtung ihres Mannes, um sich das blutige Beil zu fassen. Frau Marchawski war geistesgegenwärtig genug, das zu verhindern, indem sie sich an die Rückenlehne des Rollstuhls klammerte und so das Gefährt rechtzeitig stoppen konnte. Sie drehte das Vehikel zu Hunter herum, sodass die im Zeitraffer alternde Frau und er sich in die Augen schauen konnten.

„Frau Herrmann“, sagte er, „wer hat Ihnen den Impfstoff verschafft, der das Alterungsgen ausschaltet?“

„Mein... mein Mann hat sich darum gekümmert.“

„Wie hat er das gemacht? Wo ist er dafür hingegangen? Hat er sich mit jemanden getroffen?“

„Das weiß ich doch nicht. Ich habe ihn das selber auch einmal gefragt. Das willst du garnicht wissen, hat er gesagt. Je weniger du weißt, umso besser. Wir kommen sonst in Teufels Küche.“

„Und weiter?“

„Da sind wir doch schon längst, habe ich geantwortet. Und dann war wieder Ruhe.“

Sie brauchte eine kurze Atempause und fuhr dann fort: „Das ist das Einzige, was wir gemeinsam hatten. Wir wollten nicht sterben oder wenigstens so lange leben wie möglich. Ich habe Angst. Angst vor der Dunkelheit, die da auf mich wartet. Angst vor dem großen Nichts.“

„Sie werden ihre Kinder wiedersehen.“

„So ein Blödsinn. Hören Sie doch auf damit. Einen Scheißdreck werde ich. Haben Sie mal in den Himmel geschaut? Ich meine so richtig, vom Observatorium aus ins Weltall ins große Nichts. Da ist auch Nichts.“

„Es gibt Nahtoderfahrungen...“

„Illusionen, Träume, weiter nichts und wieder Nichts“, keuchte sie. „Aber für den Fall, dass da doch jemand auf mich warten sollte, habe ich dafür gesorgt, dass er das ist. Ich muss den Kindern erklären, was er für ein verschissener, schlappschwänziger Vater er gewesen ist. Dann kann er zum Teufel gehen. Und wenn ich dann komme, werde ich sie an der Hand nehmen und mit ihnen in die andere Richtung gehen.“

Ihr Kopf und ihre Hände fingen an zu wackeln. „Wenn es da was gibt“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber wahrscheinlich ist da nur das große Nichts. Einfach Nichts.“

„Glauben Sie an Gott?“, fragte Hunter.

Sie verzog ihren Mund zu einem verächtlichen Grinsen. „Wenn es einen gäbe, dann würde ich auf ihn spucken, auf diesen Scheißkerl, der soviel Macht hat und so wenig macht. Was für ein verschissener Gott ist das, der all das zulässt, was mir passiert ist. Kommen Sie mir nicht mit diesem Scheiß. Eher glaube ich an den Teufel. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe. Sie sind auch nur Dreck, ein Mörder, weiter nichts.“

Er schaute zu Frau Marchawski herüber und zuckte hilflos mit den Schultern. Sie signalisierte die gleiche Hilflosigkeit.

„Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“, fragte er das verschrumpelte Weiblein, zu dem die Frau im Rollstuhl langsam mutierte.

„Ja, verschwinden Sie endlich. Und nehmen Sie ihren verschissenen Staubsauger mit.“


Sie verließen das Haus auf leisen Sohlen ohne Spuren zu hinterlassen. Der Sand war im Staubsauger. Auf dem Stiel der Axt waren nur die Fingerabdrücke von Frau Herrmann. Die Kaffeetassen waren gespült und aufgeräumt. Sie mussten aufpassen, dass sie nicht in das Blut von Herrn Herrmann traten. Frau Herrmann schoben sie in ihr Schlafzimmer, nachdem sie sicher waren, dass sie jetzt wusste, ob da jemand auf sie warten würde. Es hatte nicht lange gedauert, vielleicht eine halbe Stunde.

Als sie ins Freie traten, sang eine Amsel in der Abenddämmerung ihr Lied. Ohne dass sie das verabreden mussten, hielten sie für wenige Minuten inne. Friedlich lag die Siedlung da. In den Häusern gingen die Lichter an. Irgendwo weinte ein Kind gegen die tröstende Stimme eines Erwachsenen an. Dann klappte eine Tür auf und zu, und es blieb nur noch der Gesang des schwarzen Vogels, der in die Stille drang. Die Sonne ging unter und sie stiegen ins Auto.

Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Marchawski zitterte.

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