Heute ist der Tag, an dem ich sterben werde.
Morgen schon werde ich nur noch eine Erinnerung sein.
Ich spüre, wie sich der Moment um mich herum enger und enger zusammenzieht. Gelähmt von der Kürze der Zeit warte ich allein in der Dunkelheit. Warte auf das Nichts. Meine Nachttischlampe versucht mit ihrem schwachen Schein mein Gemüt aufzuhellen.
»Was mache ich denn jetzt?«, frage ich sie, bekomme aber keine Antwort.
Plötzlich sitze ich mittendrin – im letzten Tag meines Lebens.
Dabei bin ich doch noch längst nicht bereit …
Und wieso wurde ich bei der Entscheidung über den Zeitpunkt meines Todes eigentlich nicht gefragt? Sollte ich bei so einem lebenswichtigen … lebensbeenden Beschluss nicht auch mit einbezogen werden? Habe ich dazu etwa keine Meinung?
Kein Stimmrecht?
Kein Veto?!
Mein bebendes Herz ist in dichten Nebel gehüllt.
Ich fühle mich Dunkelblau. Fühle, wie sich Gewitterwolken in meinem Kopf zusammenbrauen. Bereit sich in meine Gedanken auszuschütten.
Ist es zu spät für lebenserhaltene Maßnahmen?
Ich brauchen doch nur etwas mehr Zeit.
In meinem Gehirn kracht es. Ein Donnergrollen knurrt hinterher. Ich hebe die Hände und spüre den Wolkenbruch hinter meinen Schläfen. Die ersten Regentropfen rinnen über meine Wangen. Aus Dunkelblau wird Tiefschwarz.
Mein ganzes kurzes Leben lang habe ich mich gefragt, ob ich alt werden würde. So richtig dreistellig alt. Ob ich auf ein intensives Leben zurückblicken würde. Eines, das irgendwann nur noch hauchdünn und abgenutzt ist. Wie würde ich wohl als Oma sein? Würde ich so runzlig und glücklich aussehen wie meine Eigene, die ich nur von alten Fotos kenne? Würde ich eines späten Tages einfach zufrieden einschlafen? Hier und heute kenne ich nun all die Antworten. Keine Fragezeichen mehr, nur noch Punkte.
Ich werde kein langes Leben führen.
Punkt.
Werde keine Oma sein, weil ich noch nicht mal mehr Zeit dazu habe jemals Mutter zu werden! Ausrufezeichen.
Ich werde mit einem Ruck aus meinem Leben herausgerissen. Nicht mal meinen zweiundzwanzigsten Geburtstag darf ich noch erleben.
Ich bin dabei alles zu verlieren.
Oder habe ich eigentlich nichts zu verlieren?
Ich weiß es nicht mehr …
Ein starker Wind rauscht in meinem Inneren und wirbelt meine Gefühle durcheinander. Unter mir sammelt sich das Regenwasser zu einer Pfütze. Welche Erinnerungen an mich werden bleiben? Mein aufgeräumtes Zimmer? Mein Lippenstift am Rotweinglas? Meine Scheiß Prüfungsnoten?
Das Wasser steigt in sanften Wellen. Die stille Glühbirne versinkt und ihr Leuchten erstickt. Ich schließe die Augen, während mich die Flut umspült. Oder wird der Klang meines Lachens bleiben? Eigentlich möchte ich, dass der Klang meines Lachens das ist, was von mir bleibt. Ich öffne die Augen, das Salzwasser reicht mir inzwischen bis zum Kinn.
Nein, nicht so.
Kein Tod durch ertrinken!
Es ist noch nicht zu spät!!
Noch nicht zu spät für ein erfülltes Leben.
Ein paar Stunden habe ich schließlich noch.
Und wer sagt denn, dass diese letzten wenigen nicht vielleicht die wichtigsten von all den vielen vielen Stunden sind.
Ich befreie mich aus meinen Gewittergedanken. Löse mich aus meiner Schockstarre.
In einiger Entfernung sehe ich meinen Mut auf der Wasseroberfläche treiben. Ich mache mich auf den Weg und schwimme ihm entgegen.
Mir bleibt immerhin dieser letzte Tag.
Mein letztes Heute.
Vielleicht ist heute ein wunderbarer Tag zum Sterben.
Meine Augen blinzeln ins schläfrige Zimmer, das in rötlich verschwommenes Licht gehüllt ist. Hinter den Vorhängen schimmert ein frischer Tag. Die Bettdecke liegt schwer auf mir und drückt mich tief in mein zerwühltes Bett. Mir ist übel. Ich will mich mit dem Morgen versöhnen, aber die letzte Nacht macht es mir heute schwer. Erschöpft drehe mich um und blicke zu Herbert.
»Erst mal keinen Merlot mehr für mich!«, sage ich und tippe auf sein dunkelgrünes Blatt, das mittlerweile neugierig bis über mein Kissen ragt. Herbert nickt still in voller Zustimmung. Mein Magen knirscht leise. Es ist zu früh, flüstert mein Buch, als ich beginne durch dessen Seiten zu blättern. Ein paar Seiten nur, zum Wachwerden. Ich ziehe die Geschichte zu mir unter die Decke, damit der Tag uns nicht findet.
Meine Ohren summen leise, als ich gegen Mittag in die Küche schlurfe. Auf dem Küchentisch liegt ungefiltertes Sonnenlicht. Es erleuchtet den Raum hell und warm. Der meterhohe Berg ungespülten Geschirrs wirft lange Schatten.
Typisch.
Wie so oft beginne ich mein Frühstück also damit zuerst eine Tasse im gewaltigen Porzellan-Monument zu finden und anschließend operativ zu entfernen. In nicht mal 30 Sekunden habe ich sie sauber gespült.
Was ist daran so schwierig?
Danach suche ich in einer Schublade aus vielen kleinen Teebeuteln den verträglichsten heraus und werfe ihn in die nassglänzende Tasse. Ich öffne den Brotkorb und finde nur vereinzelte Krümel.
Fantastisch.
Das Teewasser brodelt wie ich. Ich hole meine Hafermilch aus dem Kühlschrank und schütte sie in den frisch aufgegossenen Tee. Da ich ohnehin hauptsächlich solarbetrieben bin, setze ich mich, statt etwas zu essen, noch für einen Moment in die schweigende Sonne. In meiner dampfenden Tasse tobt ein Gewitter. Ich beobachte, wie sich die quellenden Milchwolken langsam auflösen, bis nur noch eine gleichmäßig hellbraune Flüssigkeit in meiner Tasse kreist. Langsam werde ich wach. Der heiße Tee beschwichtigt meinen Magen und es geht mir allmählich besser. Ich genieße die Ruhe, bis die Uhr an der Wand mit ihrem langen Zeiger zu winken beginnt.
[...]