„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.
Und Gott sah, dass das Licht gut war.
Da schied Gott das Licht von der Finsternis ...“
1. Mose 1, 3-4
PROLOG
2148 n.Chr.
„Und da er das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tieres sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten den vierten Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.“, spie er aus und knallte im nächsten Moment das dicke uralte Buch energisch zu. Sein Atem ging schnell und sein Puls raste.
„Die vier Reiter sind hier“, flüsterte er mehr zu sich selbst. „Es hat begonnen. Früher als erwartet, aber es hat begonnen.“ Ohne seinen Besucher eines weiteren Blickes zu würdigen, lief er zu seinem Schreibtisch, um dort aus einer versteckten Nische ein kleines Fläschchen mit Whisky herauszuholen. Bevor er sich einen Schluck genehmigte, hielt er inne.
„John, wir haben keine Wahl. Dies ist es, wofür die Ritter Zions gegründet wurden. Wofür unsere Vorfahren so hart gearbeitet haben. Im Geheimen.“
Endlich gönnte er sich das brennende Getränk. Warm ergoss es sich in seine Kehle. Hoffentlich würde es seine Nerven beruhigen.
„Du hast recht. Die Zeit ist angebrochen. Der Kriegsausbruch, dann Tod durch Krieg, Hunger und nun ... nun auch Krankheit. Schon seit mehr als 100 Jahren hält die Zivilisation den Atem an, sind Fortschritt und Evolution unterbrochen. Auf den meisten Kontinenten ist Frieden nur noch ein Wort, das geflüstert wird. Wir müssen dem Ganzen ein Ende setzen und die Welt retten, bevor es zu spät ist und die nächsten Siegel geöffnet werden“, meinte sein Gegenüber ernst.
„Das heißt, wir werden unser Geheimnis der Welt enthüllen und sie gleichzeitig überrennen“, lachte er freudlos. Ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, wie viele Menschenleben es kosten würde. Ein Putsch auf globaler Ebene. So etwas hatte es noch nie gegeben. Nur kurz huschten seine Gedanken zu seiner Frau und seinen zwei Töchtern. Schnell schluckte er das Unbehagen hinunter und legte den Flacon zurück in sein Versteck. Mit zitternden Händen öffnete er die obersten Knöpfe seines Hemdes und brachte eine Kette mit einem Schlüssel zum Vorschein. Sein Besucher hielt bereits das Gegenstück in Händen.
Gemeinsam traten sie vor die kostbare Malerei an der Wand. Ein Gemälde, mehrere Jahrhunderte alt, ebenso wie dieses Haus, das seit Generationen zusammen mit der damit verbundenen Aufgabe weitervererbt wurde. Er hatte immer gehofft, nicht derjenige zu sein, dessen Schicksal es sein würde, jene Aufgabe zu erfüllen. Und doch stand er nun hier, hob das kostbare Kunstwerk von der Wand, um einen Safe dahinter zu offenbaren.
Die zwei Männer blickten einander an. In beider Augen spiegelten sich Angst, Traurigkeit, aber auch Hoffnung. Hoffnung auf eine Zukunft für die Menschheit. Eine Rettung würde große Konsequenzen mit sich bringen. Die Schaffung einer neuen Weltordnung und mit ihr die Wiedergutmachung eines Fehlers, den die Menschen gemeinsam mit anderen Göttern vor Jahrtausenden begingen und für den dieser eine Gott die Welt nun strafte.
Entschlossen steckten sie gleichzeitig die Schlüssel in die zwei Schlösser und mit einigen Drehungen beider schwang der Safe auf. In ihm lagen alte Pergamente. Schriften mit Codes, die einen Tsunami auslösten, sobald sie hinausgeschickt wurden. Einen Tsunami der Gewalt, ohne welche es keinen Frieden geben würde.
Vorsichtig hob er die geheimen Stücke aus dem Wandsafe und brachte sie zu seinem Schreibtisch. Dort angelangt holte er das Morsegerät aus dem untersten Schrank seines Tisches und machte sich sogleich an die Arbeit, diese Botschaft hinaus in die Welt zu schicken. An die zukünftigen Regenten jedes Kontinents. Im Laufe der Nacht würde sie Millionen Brüder des Ordens erreichen. Die Macht der Ritter Zions war mit nichts zu vergleichen.
Als er endlich fertig war, wischte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Wir müssen sie finden. So schnell wie möglich. Sonst wird unsere Mission scheitern“, meinte er zu dem anderen Mann, der mit dem Rücken zu ihm am Fenster stand.
„Wir werden sie finden“, antwortete dieser fest entschlossen, während er ihm sein Gesicht zuwandte. „Der erste Schritt dazu ist bereits getan. Keine Frau wird ab dem heutigen Tag noch in Freiheit leben. Es wird ein Leichtes sein, sie zu entlarven“, ein diabolisches Grinsen legte sich über die Züge des Besuchers.
Kurz schrak er in seinem Schreibtischstuhl zurück und senkte schnell den Blick, um seinem Gegenüber nicht länger ins Gesicht sehen zu müssen. Was bloß hatte er getan? Wie sollte er dies seiner Familie erklären? Beide seine Töchter studierten Jura an der Universität. Zwei weltgewandte junge Damen, die ab nun in einem goldenen Käfig gefangen sein würden.
Hier ging es nicht um ihr Wohl, sondern um die Zukunft der Menschheit. Ja, wir alle würden Opfer bringen müssen, doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Möge Gott uns beistehen“, seufzte er, bevor er die alten Dokumente behutsam wieder in den Safe legte. Danach stellte er sich neben seinen Bundgenossen ans Fenster und blickte hinunter auf die nächtlichen Straßen Londons. Noch lagen sie friedlich da, aber nicht mehr für lange. Schon bald würden sie mit Blut besudelt sein. Blut, das den Überlebenden den Weg in eine Zukunft sichern konnte. Er musste nur vertrauen und glauben.
KAPITEL 1
Die ersten Sonnenstrahlen krochen durch die Zeltwände, tauchten das Land in seinen goldenen Schein. Der Filz der Nomadenbehausung flatterte im Wind und ließ eine leichte Brise in ihr Innerstes wehen. Es würde ein heißer Tag in der Steppe werden.
Unwillig öffnete ich meine Augen und wartete, bis sie sich an das noch schwache Licht im Zelt gewöhnten. Mein Kopf schmerzte. Gestern hatte es viel zu feiern gegeben und über den Durst zu trinken sowie ein Hanf-Dampfbad mit Bateia zu nehmen, um mich auf den Rest der Nacht vorzubereiten, rächten sich jetzt.
Mein Blick fiel auf die Männer, mit denen ich das Bett danach geteilt hatte. Zum ersten Mal war ich dieser Pflicht als Amazone nachgekommen. Jener Pflicht, Nachkommen, Töchter zu gebären. Als Königin meines Stammes war ich mehr als alle anderen Frauen hieran gebunden. Es war Teil unseres Eides, den wir ablegten, wenn wir eine wahre Amazone wurden. Eine vollwertige Schwester.
„Myrina, bist du schon wach?“, hörte ich Matraks Stimme neben mir flüstern. Er war ebenso wie die beiden anderen meiner Bettgenossen aus der Siedlung, zwei Stunden westlich von uns. Sein Finger glitt sanft über meinen tätowierten Arm. Beweise meiner Kriegserfolge. Meiner Fähigkeiten als Kriegerin und Königin. Jede einzelne der schwarzen Linien hatte ich mir hart erarbeitet. Sie waren mein ganzer Stolz. Mein Herz war gebunden an meine Schwestern, meinen Stamm und den Krieg. Dafür lebte ich, das war ich. Eine Amazone.
Es gab nur eine Sache, an die sich das Herz einer Amazone niemals binden durfte: an einen Mann. Matrak war gutaussehend, stark und dennoch hatte er mich heute Nacht ganz sanft genommen. Beinahe liebevoll.
Nein, so etwas darf ich gar nicht erst denken!, ermahnte ich mich streng. Matrak war ebenso wie Gendur und Navar nur zu einem einzigen Zweck hier in diesem Zelt. Einer von Ihnen sollte mich schwängern. Es war egal, wer von ihnen, so lange ich schon bald ein Kind in mir trug. Wenn es ein Mädchen wurde, dann würde es hier bei mir bleiben und als Amazone aufwachsen. Ein Junge jedoch war hier im Frauenstamm nicht erwünscht. Sein Schicksal wäre an das Dorf seines Vaters gebunden, wo sich jemand seiner annehmen würde.
Matraks Finger glitten inzwischen zart meinen Hals hinauf und kurz bevor er mein Gesicht erreichte, fing ich sie ab. Umklammerte sein Handgelenk und kam mit einer schnellen Bewegung auf ihm zu sitzen. Seinen zweiten Arm hatte ich ebenfalls ergriffen und pinnte nun beide gegen den Boden über seinem Kopf.
Zwei erschrockene braune Augen starrten mich fragend an. Trotz seiner körperlichen Stärke konnte ich seine Angst förmlich riechen. Standen wir Amazonen doch für den Tod, den wir bereits so vielen Völkern gebracht hatten.
„Spaß, aber keine Zärtlichkeiten, verstanden?“, zischte ich ihm entgegen. Gleichzeitig mit seinem Nicken trat die Lust in seine Augen. Denn es gab neben dem Tod noch etwas anderes, wofür wir Amazonen bekannt waren: ausgesprochen guten und wilden Sex. Ohne Grenzen, ohne Scham und vor allem ohne Bedingungen. Seine Erregung kam mir entgegen und ohne seinen Blick loszulassen, ließ ich sie in mich gleiten. Sein gestählter Körper fühlte sich gut an. Matrak stöhnte auf. Langsam rollte ich mit den Hüften über ihn, spürte, wie sich meine eigene Lust aufbaute. Plötzlich ergriff eine andere Hand meine Brustwarze, kniff leicht in sie hinein, um danach dieselbe Stelle mit der dazugehörigen Zunge zu umrunden. Überrascht schaute ich in Gendurs gieriges Gesicht. Sein Grinsen, das eines Wolfes, der das Lamm in die Enge trieb. Er würde nicht sanft mit mir sein, sondern mich hart nehmen. Animalisch und nicht zärtlich. Etwas, woran ich nicht mein Herz verlieren konnte. Trotzdem war es respektvoll, auf einer Augenhöhe. Und es war Spaß! Genau das, was ich gerade brauchte.
Gendurs Hand fuhr meinen Bauch hinunter, bis er seine Finger zwischen meine Schamlippen und auf die empfindlichste Stelle meines Körpers legte. Fordernd umkreiste er sie. Flammen schossen meinen Schoss empor. Anstatt mit den Hüften weiterhin über Matrak zu rollen, bewegte ich mich langsam auf und ab. Entließ seine Erektion beinahe, um sie danach wieder tief in mich aufzunehmen. Dem Rhythmus von Gendurs Fingern angepasst, wurde ich immer schneller. Mein Herz raste und das Blut in meinen Adern knisterte feurig. Meine Gefühle, meine Lust und mein ganzes Sein vereinten sich in meiner Mitte. Matrak unter mir erging es nicht besser.
„Ich komme jeden Moment“, presste ich zwischen schweren Atemzügen heraus. Es schien, als habe der junge Mann nur auf diesen einen Satz von mir gewartet, denn im nächsten Moment explodierte mein eigenes inneres Feuerwerk und auch Matrak erreichte den Höhepunkt. Noch während ich die letzten Wellen meines Orgasmus‘ genoss, hoben mich zwei große Hände von der männlichen Erregung herunter, um mich neben den zuckenden jungen Mann auf die Felle zu legen. Gendur hob meine Beine auf seine Schulter und mit einem kräftigen Stoß füllte er mich aus. Sorgte dafür, dass auch meine Lust direkt wieder erweckt wurde. Wild, ungestüm und hart versenkte er sein Glied jedes Mal aufs Neue in mich. Seine funkelnden Augen gepaart mit einer Gier nach mehr. Glühend heiß lagen seine Hände auf meinen Schenkeln, packten mich so kraftvoll, dass ich wusste, seine Fingerabdrücke würden mich die nächsten Tage an diesen Moment erinnern.
Ein Schatten legte sich über mich. Navar. Mit seiner Zunge zog er eine Spur über meinen Hals und glitt langsam abwärts zu meinen Brüsten, die empfindlich auf seine Berührung reagierten.
Inzwischen nahm Gendur mich so hart, dass jeder Stoß in meinem Körper widerhallte und meine Finger sich in den Fellen unter mir vergraben hatten. Meine Lust war zum Zerreißen gespannt. Während Gendur mich so positionierte, dass mein Becken den Boden nicht mehr berührte, näherte Navars Zunge sich meinem Schoß, bis er seinen Mund auf meine Scham legte und mit der Zunge hineinglitt. In selbigem Moment verließ ein Schrei meine Kehle, vermischte sich mit einem Stöhnen, derweil mein gesamter Körper erbebte. Kurz darauf spürte ich, wie Gendur sich in mir zusammenzog.
Doch auch diesmal blieb mir keine Zeit, dieses Gefühl vollends auszukosten, denn Nava wollte ebenfalls seine Pflicht erfüllen. Gendur glitt aus mir heraus, gab aber meine Beine nicht frei. Stattdessen wurde ich mithilfe meiner Gliedmaßen auf den Bauch gedreht. Meine Arme hielt er auf meinem Rücken fest, während Navar hinter mir auf die Knie ging, meine Schenkel auseinander drückte, meine Hüften anhob und mich von hinten eroberte. Die zwei vorherigen Höhepunkte verursachten noch ihre Nachbeben und so war ich innerhalb weniger Stöße Navars‘ Erregung wieder am Rand der Klippen angekommen. Bereit erneut in ungeahnte Höhen zu steigen.
Eine Stunde später trat ich aus dem Zelt und steuerte den Bach an, der sich neben unserem Lager durch die Landschaft schlängelte. Mit von den genussvollen Momenten des Morgens noch zitternden Knien hockte ich mich an sein Ufer.
Die Strömung war ganz sanft und so konnte ich deutlich mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche erkennen. Grüne Augen starrten mir entgegen. Müde, aber zufrieden. Diese Nacht war alles, was ich erwartete, worauf ich gehofft hatte, und jetzt war es an der Göttin Artimpasa, ob sie neben meiner sexuellen Erfüllung auch eine Tochter hervorbringen würde. So lange ich nur nicht mein Herz an einen der Männer verliere, dachte ich und wusch mir hastig das Gesicht.
„Schwester, wie war deine Nacht?“, hörte ich die Stimme meiner Freundin und zweiten Königin unseres Stammes fragen. „Du siehst müde aus, also war sie scheinbar sehr ereignisreich!“, neckte sie mich und kniete sich neben mich. Auch ihre Augen waren so grün wie das satte Gras der Steppe im Frühling. Alle unsere Amazonen-Schwestern trugen diese Augenfarbe. Sie spiegelte unsere Verbundenheit mit unserem Land wider.
„Bateia, das geht dich nichts an“, sagte ich streng, konnte mir jedoch ein Grinsen nicht verkneifen, während ich mein braunes Haar mit einer Lederschnur zusammenband.
„Es ist dir sowieso schon von Weitem anzusehen, dass es eine wilde Nacht war, meine Liebe. Es ist ein offenes Geheimnis!“, lachte die Königin, um im nächsten Moment ernst zu werden. „Denkst du, es hat gefruchtet?“
Ein Seufzen entfuhr meiner Kehle. Für uns beide, als die zwei Königinnen dieses Stammes, war es besonders wichtig, Nachkommen zu zeugen, denn diese würden nach unserem Tod unsere Schwestern führen. So verlangte es die Tradition.
„Ich weiß es nicht, Bateia. Ich kann nur hoffen, dass Artimpasa es gut mit mir meint“, antwortete ich meiner Freundin ehrlich.
Diese klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Das wird schon. Aber jetzt solltest du lieber zum Kriegsgott Ares beten. Wir haben Wort erhalten, dass die Atlanter auf dem Weg zu uns sind. Du brichst gleich mit deinem Heer auf. Ihr müsst ihnen voraus sein, bevor sie unser Lager erreichen.“
„Die Atlanter? Merkwürdig. Was wollen sie von uns?“, fragte ich verwundert, doch meine Freundin hob nur die Schultern. Es würde wahrscheinlich der Grund sein, der viele Völker bereits in einen Krieg gegen uns getrieben hatte. Der Wunsch nach Macht, nach Ruhm. Denn die Amazonen im Kampf zu besiegen, war es, was die Männerwelt in Atem hielt. Was ihre Träume und Ziele dominierte.
Ohne mich von den drei Männern in meinem Zelt zu verabschieden, stand ich kurz darauf mit meinen Waffen und einem Schild bei den Pferden. Mein treuer gefleckter Hengst Terek wieherte leise, als er mich entdeckte.
Liebevoll legte ich ihm die Zügel an, streichelte über seine Nüstern und flüsterte ihm zu, dass ich ihm dankte. Wir hatten schon zahlreiche Schlachten gemeinsam bewältigt und er hatte mich jedes Mal sicher wieder nach Hause gebracht.
Sorgfältig überprüfte ich meine Waffen. Den Bogen mit den Pfeilen trug ich auf dem Rücken. Die Messer sowie die Doppelaxt an meinem Gürtel um die Taille. Jede Amazone besaß so einen Gürtel, nur jener der Königinnen wurde von Generation zu Generation weitervererbt. So auch meiner.
Terek beugte seine Vorderbeine und ging vor mir mit hinunter, damit ich leichter auf seinen Rücken klettern konnte. Meine nackten Beine und Schenkel lagen direkt auf dem Fell des Tieres, welches von der Hitze bereits warm und feucht war.
Wie gut, dass wir nur kurze Kleider trugen. Bei solchen Wetterverhältnissen brachten sie neben den kriegerischen Vorteilen noch den, dass wir ohne Rüstungen weniger schnell in der Hitze zusammenbrachen, wie es sehr oft den griechischen Kriegern in ihren Rüstungen passierte. Abgesehen davon unterschätzen die Männer mich und mein Heer aufgrund unserer Kleidung. Bereits aus der Ferne sah man deutlich, dass wir Frauen waren, und von Nahem waren wir aufreizend genug, dass viele Männer erst realisierten, dass sie überfallen wurden, als es schon zu spät war.
Mit einer winzigen Bewegung meiner Schenkel trieb ich Terek an und steuerte auf den äußeren Rand unseres Lagers zu, wo sich das Heer bereits versammelt hatte. Mehrere hundert Frauen hatten sich dort auf ihren Pferden zusammengefunden und blickten mir erwartungsvoll entgegen. In der ersten Reihe standen meine Freundinnen Failge und Samsi, die mir ein belustigtes Grinsen entgegenbrachten. Scheinbar hatte Bateia ihnen von meiner kurzen Nacht erzählt.
Wenn ich wieder zurück war, dann würde ich sie mir dafür vorknöpfen. Es war schon lange her, dass wir einen Zweikampf ausgefochten hatten. Sicher würde es uns guttun, vor allem Bateia, war sie doch als jene Königin, die immer im Lager blieb und dieses gegen mögliche Feinde schützen sollte, weniger kampferprobt als ich. Es wäre ein gutes Training für sie.
„Schwestern!“, rief ich über das Feld, welches sich vor mir erstreckte und Hunderte erwartungsvollen und für den Kampf gerüsteten Frauen Platz bot. Amazonen in weißen kurzen Togas, mit grünen Augen, die angstlos der Schlacht entgegenblickten. „Heute werden wir auf die Atlanter stoßen. Ohne Furcht und ohne Gewissen! Für unsere Schwestern!“, rief ich, während ich eines meiner Messer zog und in die Höhe streckte. Jubelgeschrei war die Antwort.
In dem Moment erblickte ich einen Lichtschein auf einer der Anhöhen im Nordosten. Die Warnung hatte uns zu spät erreicht. Das Heer des anderen Volkes befand sich schon innerhalb unseres Terrains, bereit zum Angriff. Auch meine Schwestern hatten die Eindringlinge längst entdeckt.
„Los!“, schrie ich aus voller Kehle und spornte Terek zu einem Galopp an. Wie eine Welle brachen wir über die Fußsoldaten Atlantis‘ herein. Unsere Pfeile durchbohrten sie bereits, bevor sie uns sahen, und unsere Messer, in Höhe ihrer Kehlen, ließen sie bluten. Schnell war das Gras zu unseren Füßen rot und die Hitze ließ die Toten fürchterlich stinken.
Gnadenlos metzelte ich mich durch die Reihen des Feindes. Wir waren in der Überzahl und unsere Position auf den Pferden von Vorteil.
Plötzlich ertönte unser Warnhorn vom Lager her. Mein Blick schoss in die Richtung und mit Schrecken sah ich, wie eine große Gruppe Atlanter zu Pferd die Zeltstadt stürmte.
Bateia! Sie ist in Gefahr! Sofort presste ich meine Füße in die Flanken des Hengstes und trieb ihn in Richtung unseres Lagers. Im Galopp preschte ich durch die Steppe, mein Ziel nicht aus den Augen verlierend. Die ersten Behausungen brannten bereits und die Schreie meiner Schwestern waren bis hierher zu hören.
Nochmals trieb ich Terek an. Wir mussten uns beeilen. Hinter mir donnerten plötzlich weitere Hufe über die Steppe. Ein Blick zurück bestätigte meine Sorge. Der Feind ritt mir nach, ebenfalls unterwegs zu unserer nahezu unbewachten Siedlung. Ein Pfeil sauste direkt an meinem Ohr entlang. Ohne zu zögern griff ich ebenfalls nach Pfeil und Bogen. Dann drehte ich mich zu meinen Feinden um und schoss einen Pfeil nach dem anderen in ihre Richtung. Diese hatten nicht erwartet, dass ich rückwärts auf einem Pferd galoppierend schießen würde, denn diese Technik beherrschten nur wir Amazonen, denen der Umgang mit ihren tierischen Begleitern und den Waffen von klein auf beigebracht wurde.
Jeder Schuss fand sein Ziel und die erste Reihe der Angreifer sackte tot in sich zusammen. Jedoch hatten die anderen sich bereits von diesem überraschenden Angriff erholt und feuerten nun ebenfalls Pfeile in meine Richtung. Schmerzvoll bohrte sich einer davon in meinen Oberschenkel. Ein Schrei entwich meiner Kehle und eine Frage lag mir auf den Lippen: Würden wir diesen Tag überleben?
KAPITEL 2
2153 n. Chr.
Keuchend erwachte ich in meinem Bett. Hoffend, dem Albtraum entflohen zu sein, riss ich die Augen auf und setzte mich panisch hoch. Der Schweiß ließ mein Nachthemd an meinem Körper kleben. Beinahe so, als wäre ich wirklich in der sengenden Hitze der Steppe gewesen. Was bloß hatte ich da geträumt? Von einer Amazone, die meinen Namen trug? Es war ein Traum gewesen, aber trotzdem hatte es sich so realistisch angefühlt, dass der Gestank des Blutes, das das Feld tränkte, noch immer in meiner Nase hing.
Verstohlen rieb ich mir den Oberschenkel, in dem noch vor wenigen Augenblicken ein Pfeil das Fleisch durchbohrt hatte. Der Schmerz, er lag auf meiner Zunge, wie Worte, die einem abhandengekommen waren.
Mit beiden Händen fuhr ich mir durch mein nasses Gesicht. Es ist nur ein Traum gewesen, nichts weiter, flüsterte ich mir benommen zu. Doch warum konnte ich dann weder die Bilder noch das Zittern abschütteln?
Neben mir regte sich Alex. In meiner Bewegung innehaltend blickte ich auf seine schlafende Silhouette im Halbdunkel des Zimmers. Hoffentlich wachte er nicht auf. Diese Nächte, in denen er sich hineinschleichen und früh am Morgen wieder rausschleichen musste, waren anstrengend genug für ihn. Da durfte ich ihn nicht auch noch wegen eines Albtraums aufwecken. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange bis zu unserer Heirat, bis wir unsere gemeinsamen Nächte nicht länger verheimlichen brauchten.
Sobald ich sicher war, dass Alex nicht erwachte, schob ich die Decke leise zur Seite und lief barfuß über das Parkett in Richtung Badezimmer. Eine Dusche war jetzt genau das richtige, um den Schrecken zu vergessen.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, knipste ich das Licht an. In der Dusche drehte ich das heiße Wasser auf und wandte mich dem Spiegel zu, der eine ganze Wand ausmachte. Aus diesem starrten mich dieselben grünen Augen an, die die Amazone gehabt hatte. Die sie alle hatten. Meine grünen Augen. Grün wie die Wiesen im Central Park im Frühling, wie die Hügel Irlands, die mir seit unserem Urlaub in Kinderjahren nicht aus dem Kopf gegangen waren.
Hastig drehte ich meinem Spiegelbild den Rücken zu, schälte mich aus dem klammen Nachthemd und betrat die Dusche.
Das Wasser prasselte wie die Bilder meines Traumes auf mich herab. Jeder Tropfen eine Erinnerung, die nicht die meine war. Ich musste an etwas anderes denken, sonst würde ich noch wahnsinnig werden.
Die Hochzeit! Alex und ich, wir kannten uns bereits seit dem Sandkasten, waren zusammen aufgewachsen. Meine Highschool-Liebe und mich konnte nichts trennen. Wir waren Partner, beste Freunde und des anderen Fels in der Brandung. Nicht einmal die Wahl des Colleges hatte uns entzweit. So lange zumindest, bis der Putsch kam und die Regierungen in jedem Land der Welt gestürzt wurde. Das war der Moment, in dem unsere Welt eine komplett andere wurde. Meine noch mehr als die von Alex oder meinen drei Brüdern. Denn ich war eine Frau, die laut der biblischen Schöpfungsgeschichte geschaffen wurde, dem Mann zu dienen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich durfte also nicht weiterstudieren, sondern musste zu Hause bleiben wie ein Vogel im Käfig. Alex verfolgte unsere Ziele alleine weiter und studierte Jura. Er stand kurz vor seinem Abschluss.
Trotzdem hatte es uns nicht auseinanderreißen können und Alex riskierte jedes Wochenende alles, um bei mir sein zu können. Die Nächte gemeinsam zu verbringen. Schenkte man den Rittern Zions Glauben, so war ich, wenn ich nicht jungfräulich in eine Ehe ging, verdammt. Da es dafür sowieso zu spät war, machte es nun doch keinen Unterschied mehr. Schwieriger wurde es aber mit der Verhütung, da diese von der Diktatur des Ordens komplett verboten und als Mord mit dem Tode geahndet wurde, ebenso wie eine Abtreibung. Alex und ich waren darin recht kreativ und bisher auch erfolgreich.
Meine Gedanken schweiften zu unserer gemeinsamen Nacht. Dieser Mann war ein wahrer Gott im Bett. Zumindest soweit ich das beurteilen konnte, war er doch der einzige Mann, mit dem ich bisher das Bett geteilt hatte. Und er würde der Einzige bleiben. Mit ihm war alles so einfach, so unkompliziert. Mit ihm konnte ich sein, wer ich wirklich war. Die Myrina, die ich war, bevor unsere Welt aus den Fugen geriet. Alex respektierte mich jetzt nicht weniger als zuvor, obwohl ich in den Augen der neuen Regierung bloß noch ein Mensch zweiter Klasse war, ohne Recht auf Meinungsfreiheit, Bildung und eigene Entscheidungen. Sobald wir heirateten, würde er das werden, was nun mein Vater und meine Brüder waren. Mein Vormund. Meine Hände formten sich zu Fäusten. Hitze stieg in mir empor. Brodelnde Wut auf die Menschen, die dies entschieden und verursacht hatten. Die Ritter Zions.
Ich atmete tief ein und versuchte, meine Machtlosigkeit abzuschütteln. Ein Gefühl, das mich beinahe in den Wahnsinn trieb. Wieder einmal rief ich mir ins Gedächtnis, dass es mich auch härter hätte treffen können. Viele junge Mädchen dort draußen hatten weniger Glück als ich. Sie würden nie ein Buch lesen können, durften nicht aus Liebe heiraten und wurden wie Sklavinnen gehalten. Meine Familie, mein Vater und meine Brüder, sie hielten sich gezwungenermaßen an die Regeln der neuen Regierungen, gaben mir aber alle Freiheiten, die ihnen möglich waren. Sie verwehrten mir weder den Zugang zu Büchern, noch respektierten sie nicht mehr meine Meinung. Gut, dass meine Mutter das hier nicht mehr miterlebte. Sie starb ein Jahr vor der Machtübernahme der Ritter Zions. An jener Krankheit, die der Orden dem vierten Reiter der Offenbarung des Johannes zugesprochen hatte.
Mom. Ich vermisste sie fürchterlich. Vor allem jetzt, wo meine Vermählung so kurz bevorstand. Unglaublich gerne hätte ich sie hier an meiner Seite gehabt, hätte sie in vielen Dingen um Rat gefragt. Sollte ich ein Kleid mit oder ohne Schleppe wählen? Welche Bibelstelle passte zu uns? Reichten zwei verschiedene Desserts? Und die Frage, die mich am meisten beschäftigte: Wann wusste man mit Sicherheit, dass die Liebe groß genug war, um ein ganzes restliches Leben mit jemandem zu verbringen?
Mein Dad tat sein Bestes, den anderen Elternteil zu ersetzen, aber weder ihm noch meinen Brüdern konnte ich die Fragen stellen, die mir auf der Seele brannten. Nur meine beste Freundin Charly verstand mich. Mit ihr hatte ich schon früher über alles sprechen können. Obwohl auch sie in der Upper Eastside New Yorks wohnte, hatten wir uns seit ein paar Monaten weder gesehen noch gesprochen. Telefone und Handys gehörten ebenfalls zu den Dingen, die für uns Frauen so wie für die meisten Männer verboten waren. Doch Dad hatte mir versprochen, dass er mich zur nächsten Gala des Bürgermeisters mitnehmen würde, ebenso wie Charly das Versprechen ihres Vaters hatte. Dann konnten wir uns endlich wiedersehen. Der Gedanke daran gab mir Hoffnung. Uns Damen war die Teilnahme an solchen Festlichkeiten nur erlaubt, weil sie als Hochzeitsmarkt in unseren Kreisen fungierten. Trotz meiner bestehenden Verlobung mit Alex durfte ich mit. Hoffentlich gab das keinen Ärger.
Inzwischen wurde das Wasser immer kühler. Bevor es ganz kalt werden konnte, drehte ich es ab und wickelte mich in meinen Bademantel. Tropfend verließ ich die Dusche. Mit einer Hand wischte ich über den beschlagenen Spiegel. Diesmal mied ich jedoch den Blick in meine Augen. Ich wollte nicht mehr an diesen Traum denken.
Hastig putzte ich meine Zähne, trocknete mir das nasse, fast hüftlange Haar mit meinem Handtuch und lief dann weiter ins Ankleidezimmer, das vom Badezimmer ebenso wie vom Schlafzimmer aus zugänglich war. Wie jeden Morgen stand ich ratlos vor der Auswahl an Kleidern, die die Stangen hergaben. Früher wäre ich in meine Lieblingsjeans geschlüpft und hätte mir ein buntbedrucktes T-Shirt übergezogen. Auch wenn ich aus einer wohlhabenden Familie kam, meinem Vater gehörten die meisten Häfen der Ostküste Amerikas, habe ich mir nie viel aus Designerkleidung gemacht.
Doch nun waren meine Jeans und T-Shirt verbannt und ich musste aus einer Kollektion langer Kleider wählen, die alle lange Ärmel hatten, hochgeschlossen und in Erdtönen gehalten waren. Außerdem reichten sie bis zum Boden. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich anfangs über den Saum meines Kleides gefallen war. Einmal sogar direkt an der obersten Stufe der Treppe, die vom ersten Obergeschoss unseres Stadthauses bis zum Erdgeschoss verlief. Das Ergebnis waren eine Gehirnerschütterung und ein gebrochener Arm.
Missmutig griff ich nach dem erstbesten braunen Kleid und schlüpfte, wie von Gott geschaffen hinein. Mein eigener kleiner Akt der Rebellion. Auch wenn es niemandem auffallen würde, dass ich keine Unterwäsche trug. Dass ich es wusste, war allein schon befriedigend genug. Zudem würde es mir hoffentlich ein wenig Abkühlung verschaffen können. Dieser Frühling war einer der wärmsten, die New York je gehabt hatte und bereits jetzt war es bei den steigenden Temperaturen außerhalb eines klimatisierten Raumes kaum auszuhalten. Wohlweislich wählte ich einen Fächer aus einer der Kommoden. Mit flinken Fingern flocht ich mein feuchtes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz, den ich dann zu einem Dutt hochsteckte. Die einzige Erinnerung an meine frühere Hingabe zum Ballett.
Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte mir genau die Person, die man von mir erwartete zu sein, und die ich immer mehr hasste. So oft fragte ich mich, wie lange ich mich noch in diese Form zwingen lassen würde? Wie lange ich es in meinem goldenen Käfig aushielt?
Direkt zu Anfang der neuen Weltordnung hatte es viele Aufstände und Proteste gegeben. Männer und Frauen gingen gemeinsam auf die Straße, lehnten sich gegen die neuen Regierungen auf. Es hatte viele Kriege gegeben und sogar heute, fünf Jahre später, beherrschte Gewalt unseren Alltag.
Irgendwann hatte man begonnen, an Frauen, die sich gegen die Ritter Zions auflehnten, Exempel zu statuieren. Sie wurden wie die Hexen des Mittelalters öffentlich gefoltert und anschließend auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Ich war Zeugin solcher Hinrichtung gewesen, und die Schreie der brennenden Frauen verfolgten mich bis heute in meine Albträume. Im ersten Jahr sogar in jeder Nacht.
Der Tod, wie schmerzhaft er auch sein würde, konnte eine willkommene Flucht aus den Fesseln dieses Daseins sein. Angst vor dem Sterben hatte ich keine. Aber nach der Hinrichtung einer Rebellin wurde ihrer ganzen Familie alles genommen. Die Angehörigen wurden geschändet, aus der Gesellschaft verstoßen. Ohne Dach über dem Kopf, ohne Geld und ohne eine Zukunft folgten sie der Toten meist schon im nächsten Winter, wenn Hunger und Kälte überhandnahmen. Das war es, was mich bisher immer von einer Rebellion abgehalten hatte, mich jedes Mal erneut in die Schranken verwies, die meinen Käfig abgrenzten. So etwas konnte ich meiner Familie nicht antun. Mein Vater war nicht mehr der Jüngste und meine Brüder, sie hatten sich ein Leben aufgebaut oder versuchten es zumindest so gut wie möglich. Wie könnte ich ihnen das alles nehmen? Es käme mir egoistisch vor.
Also schluckte ich wieder einmal meine Wut und mein Sehnen nach Freiheit herunter. Es hatte in den ganzen Jahren davor immer funktioniert, also warum sollte es dann nicht auch in den nächsten Jahren weiterhin klappen? Weil es einem die Luft zum Atmen nimmt, wenn die Haut zu eng ist, wisperte eine kleine Stimme tief in mir und ein Schaudern lief über meinen Körper.
KAPITEL 3
„Alex“, flüsterte ich, während ich ihm sanft über die stopplige Wange strich. „Alex, du musst wach werden! Die Sonne geht bald auf.“
Stöhnend wand er sich in den Laken, seine kastanienbraunen kinnlangen Haare lagen verwuschelt auf den Kissen.
„Gib mir noch fünf Minuten“, brummte er und zog sich die Decke weiter über die Schultern. Was diese Geste zu bedeuten hatte, wusste ich nur allzu gut. Aus fünf Minuten würden fünfzehn, dann dreißig und dann fünfundvierzig Minuten werden. Die Sonne ging bald auf und er musste aus dem Fenster klettern, solange es noch dunkel war. Sonst könnte ihn jemand entdecken und das wäre viel zu gefährlich. Unser Personal hatte seine Augen überall und wir alle wussten, dass mindestens einer von ihnen als Spion bei uns eingeschleust wurde. Man behielt jeden, der in diesem Land Macht besaß, gut im Auge.
„Alex“, zischte ich, während ich ihn kräftig schüttelte. Doch auch das half nichts. Dann blieb mir nur noch eines: meinen weiblichen Charme einzusetzen.
Wie eine Katze kroch ich aufs Bett und hielt einen Augenblick direkt über ihm inne. Sein Gesicht glich dem eines Engels. So weich, gütig und jung. Viel jünger, als er eigentlich war.
Grinsend beugte ich mich zu ihm hinunter, bis meine Nase beinahe seine Wange berührte. Dann legte ich meine Lippen auf seine Haut. Küsste ihn von dort bis zum Ohr und von da aus über den Hals, so lange, bis ich die Bettdecke ein Stückchen zur Seite schieben musste, um meinen Weg über seinen trainierten Oberkörper weiterzuführen.
Alex’ nächstes Stöhnen war anderer Natur und das dazugehörige Räkeln entfachte auch in mir die Lust, welche wir in dieser Nacht bereits ein paar Mal gestillt hatten. Leider war mir nur allzu bewusst, dass wir uns heute, ebenso wie in den Nächten davor, nacheinander sehnend trennen mussten.
Jedoch nicht mehr für lange. Die Hochzeit war im Spätsommer geplant. Es waren zwar ein paar Monate bis dahin, aber die würden wir jetzt auch noch schaffen. Wir müssen sie schaffen! Ein ungutes Gefühl stieg in mir empor, das ich schnell abschüttelte, indem ich mich wieder meinen Küssen und Alex‘ Haut zuwandte. Meine ganze Aufmerksamkeit darin verankerte.
„Rina, was machst du da?“, wisperte der Mann unter mir mit kehliger Stimme. Ein Kichern entfuhr mir. Schon hatte Alex mich gepackt und auf den Rücken befördert, während er nun hellwach auf mir lag und mit einem feurigen Blick seiner braunen Augen in mein Grün eintauchte. Seine rechte Hand schob mein Kleid hinauf, um zielstrebig die Finger meine Oberschenkel hinaufgleiten zu lassen, jeder meiner weiblichen Kurven folgend.
Wenn ich das hier jetzt nicht stoppte, würde er dieses Zimmer erst weit nach Sonnenaufgang verlassen. Also grinste ich ihn herausfordernd an, presste meine Schenkel zusammen und brachte meine Arme zwischen unsere Oberkörper. Dann schlug ich so schnell und effektiv zu, wie ich es jahrelang im Selbstverteidigungstraining gelernt hatte. Stemmte eine Hand gegen seinen Kehlkopf, warf die Hüfte zur Seite und schob ihn mit einem Knie von mir weg. Geschickt rollte ich mich unter ihm heraus und stand zwei Sekunden später neben dem Bett. Alex starrte mich entgeistert, dafür aber hellwach an.
Genervt drückte er sein Gesicht in die Kissen. „Das meinst du nicht ernst!“
„Alex, es wird jeden Moment hell draußen! Wir haben hierfür keine Zeit. Du musst jetzt sofort gehen!“, drängte ich ihn und suchte seine Kleidung, die überall im Zimmer verstreut herumlag, zusammen. Eines Tages würde man uns einfach nur deshalb auf die Schliche kommen, weil die Reinigungskraft eine seiner Boxershorts in meinem Zimmer fand, die wir in der Eile morgens übersehen hatten.
Akribisch zählte ich die Socken und zog die Schuhe unter dem Bett hervor. Dann warf ich die Klamotten neben Alex aufs Bett. Dieser hatte sich schon wieder zu mir umgedreht und blickte mich hungrig an. „Du trägst keine Unterwäsche“, lachte er triumphierend auf.
„Nein“, meinte ich trocken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich war noch nie prüde gewesen. „Das hast du gut erkannt, und jetzt zieh dich endlich an.“
Besorgt lugte ich zwischen den Gardinen nach draußen in den Garten. Sah ich da etwa schon die erste Morgenröte? Hinter mir hörte ich, wie Alex seine Hose anzog. Dann legten sich zwei beschützende Arme um meine Taille, und ich lehnte mich gegen ihn. Sein Kinn lag auf meinem Scheitel, und er zog mich nochmals enger an sich. Hier, in seinen Armen, könnte ich den ganzen Tag bleiben. Alle Sorgen und Probleme vergessen. Sie hinter mich lassen und von einer neuen, besseren Zukunft träumen. Gemeinsam.
„Ich weiß, dass ich gehen muss, Rina, aber es fällt mir immer schwerer. Ich liebe dich, und ich will jeden Moment zusammen mit dir verbringen. Nicht in ein paar Monaten, sondern jetzt. Ich wünschte, dass wir eher heiraten könnten. Denkst du ...“, ich spürte, wie er schluckte. „Denkst du, dass die Ritter Zions dahinterstecken, dass wir die Erlaubnis zur Heirat erst für den Spätsommer erhalten haben?“
Erschrocken fuhr ich herum und legte meinen Finger auf seine Lippen. Nur alleine schon das Nennen des Namens dieses Bundes konnte einen in große Schwierigkeiten bringen.
Sanft nahm er meine Hand in die seine und küsste mich federleicht auf den Mund. „Keine Angst, ich werde nichts tun, das einem von uns beiden gefährlich werden kann. Ich habe nämlich Pläne für unsere gemeinsame Zukunft. Und die beinhalten ganz sicher kein Gefängnis oder keinen Scheiterhaufen.“
Liebevoll lächelte er mich an. Dann lief er hastig zurück zum Bett, schlüpfte in seine Schuhe, griff nach seinem Hemd und der Jacke, um im nächsten Moment wieder neben mir am Fenster zu stehen.
„Kommst du heute Nacht zurück?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Wir könnten da weitermachen, wo wir aufgehört haben“, wisperte ich ihm mit einem lasziven Blick zu. Seine Augen fingen direkt Feuer und mit einem stürmischen Kuss beantwortete er meine Frage. Er würde in der Nacht erneut aller Gefahren zum Trotz in unseren Garten einbrechen und durch mein Fenster einsteigen.
„Bringst du mir dann auch ein Buch aus der Universitätsbibliothek mit?“, schob ich hastig hinterher.
„Natürlich, ich werde eins für dich ausleihen, kleiner Einstein.“, grinste er mich belustigt an, während ich ihm empört in die Seite boxte.
„Ich sollte jetzt wirklich gehen“, meinte er plötzlich ernst. „Pass auf dich auf, Rina.“
Behutsam nahm er mein Gesicht in beide Hände und küsste mich diesmal ganz sanft auf meine Lippen. Dann drehte er sich um, spähte vorsichtig zwischen den Gardinen hinaus in den Garten und kletterte schließlich, als er niemanden entdecken konnte, aus meinem Fenster, um in der Dunkelheit unseres Gartens zu verschwinden.
Noch lange stand ich am Fenster und starrte ihm in die Schwärze hinterher, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Langsam schob sich die Sonne über die Hausdächer und tauchte alles in ein spärliches Licht, machte die Schatten, in denen sich die Spione verstecken könnten umso gruseliger.
Hastig schloss ich das Fenster sowie die Gardinen. Dann lief ich ein letztes Mal zum Spiegel, glättete den Rock meines Kleides, brachte meine Frisur in Ordnung und setzte die Maske auf, die ich täglich tragen musste. Diesmal mied ich meinen eigenen Blick nicht. Ganz im Gegenteil. Intensiv schaute ich in das Grün, das mir so vertraut war. Auch wenn es in letzter Zeit matter geworden war, weniger strahlend als vor ein paar Jahren. Ich fragte mich, wann es zu einem dumpfen Grau wechseln würde. Nein, so darfst du nicht denken!, versuchte ich mich wieder daran zu erinnern, dass ich mich selbst nicht aufgeben durfte. Würde ich das tun, dann hätten die Ritter Zions gewonnen und den Gedanken könnte ich noch weniger ertragen, als diesen goldenen Käfig.
So gerne wollte ich mich gegen diese Diktatur auflehnen, mich ihnen entgegenstellen, um meine Rechte und meine Freiheit kämpfen. Doch, ... hoffnungslos sackte ich in mir zusammen ... ich durfte nicht. Aus Liebe zu meiner Familie, aus Liebe zu Alex.
Bald. Bald würde alles besser werden. Sobald ich mit Alex verheiratet war, dann würde mein Leben wieder weitergehen.
So leicht konnte ich mich nicht unterkriegen lassen. Entschlossen straffte ich die Schultern, überwand die letzten Schritte zur Zimmertür, schloss sie auf und trat hinaus auf den Flur.
Dort herrschte wie an jedem Morgen bereits reges Treiben. Die Hausmädchen putzten die Vasen und Gemälde und aus den unteren Etagen drangen die Geräusche aus der Küche nach oben, wo das Frühstück bereitet wurde.
Schweigend nickte ich einem der Mädchen zu. Sie schaute schnell weg und eilte zur nächsten Vase, die nicht auf meinem Weg zur Treppe lag. Diese Mädchen taten mir schrecklich leid. Da, wo Frauen aus der Ober- und Mittelschicht nicht mehr arbeiten durften, da hatte man die weibliche Bevölkerung der Unterschicht dazu verurteilt die Aufgaben zu verrichten, die kein Mann übernehmen wollte. Neben dem Putzen waren es größtenteils auch körperlich sehr anstrengende oder gefährliche Arbeiten, wie zum Beispiel Untertage im Bergbau, den die Ritter Zions wieder neu hatten aufleben lassen. Warum, das wusste keiner so recht. Denn nach den Rohstoffen, die kaum noch vorhanden waren, ausgeschöpft durch die Menschheit in den letzten Jahrhunderten, konnten sie dort nicht suchen. So viel stand fest.
In Gedanken versunken lief ich die Stufen hinunter bis in die Halle im Erdgeschoss. Dieses Haus war meine Heimat. Hier war ich aufgewachsen, hier wurde ich geboren. Ich kannte jeden Winkel, hatten meine Brüder und ich doch gemeinsam das Haus auf jegliche Geheimgänge oder versteckte Türen hin durchsucht, während wir Verstecken gespielt hatten. Leider waren wir erfolglos gewesen, obwohl wir uns sicher waren, dass dieses für New Yorker Verhältnisse alte Haus irgendein Geheimnis in sich trug.
Die Erinnerung daran, wie ich sämtliche Wände mit Opas Stethoskop abgehört hatte und danach schwor, ich hätte jemanden hinter dem alten Gemäuer laut atmen hören, ließ mich lächeln. Natürlich hatten mir meine großen Brüder damals nicht geglaubt. Nächtelang konnte ich nicht schlafen, befürchtete ich doch, dass jeden Moment der atmende Schatten hinter den Wänden hervortreten würde, um uns alle zu töten.
Meine Brüder hatten die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und mir wochenlang Streiche gespielt, indem sie vor meiner Zimmertür gegen das Holz geatmet und gekratzt hatten. Bis Mom sie dabei erwischte und sie für einen Monat Hausarrest bekamen. Meine Mutter war gemeinsam mit mir, mit dem Stethoskop bewaffnet, stundenlang alle Wände nochmals entlang gegangen. So lange, bis ich davon überzeugt war, dass sich niemand hinter ihnen verbarg.
Im Salon streifte mein Blick ihr Porträt über dem großen Kamin, und ich konnte nicht anders als eben stehen zu bleiben. Meine Mutter war eine wunderschöne Frau gewesen. Sie hatte das rötliche Haar ihrer irischen Vorfahren, braune Augen und das liebevollste Lächeln, das man sich als Kind nur wünschen konnte.
Wie hypnotisiert machte ich einen Schritt auf das Gemälde zu. Plötzlich packte jemand von hinten meine Schulter. Erschrocken fuhr ich zusammen und drehte mich schnell um, den Instinkt, eine meiner Selbstverteidigungsbewegungen anzuwenden, unterdrückend. Niemand durfte wissen, dass ich mich verteidigen konnte, auch wenn mein letztes Training bereits fünf Jahre zurücklag.
Zwei stechend blaue Augen schauten mich grausam an. Es war Stephan, unser Butler, der mich schon öfter hatte wissen lassen, dass Frauen in seinen Augen eigentlich kein Existenzrecht hätten und wir alle Sünderinnen seien. Er war eindeutig ein Spion der Ritter Zions und ich war das persönliche Ziel seiner Mission.
KAPITEL 4
„Stephan, Sie haben mich erschreckt“, sagte ich mit einer erstaunlich ruhigen Stimme. „Ich war gerade unterwegs zum Esszimmer. Ist mein Vater bereits anwesend?“
Der Butler hob misstrauisch eine Augenbraue, blickte kurz hinüber zu Mutters Porträt, um danach seine eisigen Augen wieder auf mich zu richten. „Entschuldigen Sie, Miss Myrina. Ich wollte Sie sicherlich nicht erschrecken“, sagte er mit einem blasierten Unterton. Er trat einen Schritt auf mich zu. Und noch einen. Jetzt stand er inzwischen so nah vor mir, dass ich meinte die kleinen Eisberge in seiner Iris erkennen zu können.
Plötzlich sog er lautstark Luft in die Nase, während er sich mir entgegenbeugte. Mir wurde schlecht von seinem Eau de Cologne sowie der schwitzigen Hand, mit der er nun meinen Nacken festhielt und mich noch mehr zu sich hinzog.
„Rieche ich etwa Mr. Alexander auf Ihrer Haut?“, wisperte er mit einem gehässigen Grinsen. Alex benutzte kein Eau de Cologne, und ich hatte nach unserer gemeinsamen Nacht geduscht. Stephan bluffte, er provozierte, darauf hoffend, dass ich in seine Falle gehen würde.
„Stephan, Sie wissen ebenso gut wie ich, dass das unmöglich ist. Mr. Alexander war zuletzt vor zwei Wochen zu Besuch, und ich erinnere mich zu gut daran, dass Sie während der gesamten Zeit mit anwesend waren, genauso wie mein Vater und meine Brüder. Und wir beide wissen, dass Mr. Alexander auf der einen Seite des Zimmers und ich auf der anderen Seite saß. Weit weg von ihm.“ Ich lachte gekünstelt. „Mein liebster Stephan, ich denke, wir können uns darauf einigen, dass Ihnen Ihre Nase einen Streich spielt.“
„Denken Sie das?“, fragte mein Gegenüber hämisch. Doch statt mich weiter provozieren zu lassen, ließ ich ein zuckersüßes Lächeln meine Lippen umspielen. „Ja, das denke ich. Vielleicht sollten Sie weniger Eau de Cologne benutzen, dann funktioniert Ihre Nase bestimmt besser“, erwiderte ich mit einem unschuldigen Blick.
In Stephans Augen schmolz das Eis und verwandelte sich in ein Inferno der Wut. Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in meinen Nacken.
„Myrina!“, hörte ich plötzlich die Stimme meines Bruders Chris hinter mir. Rettung in letzter Sekunde. Warum konnte ich auch nie meinen Mund halten?
Das Gesicht des Butlers wurde zu einer Maske der Besorgnis, während er den Griff in meinem Nacken löste und mir über den Arm strich. „Miss Myrina, gehen Sie schnell zum Frühstück. Ihr Vater wartet sicher schon. Und machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Hochzeit. Es wird alles nach Plan verlaufen“, meinte er mit sanfter Stimme und schenkte mir ein wissendes Lächeln. Bevor ich ihn fragen konnte, worauf er da anspielte, war er bereits durch die Nebentür verschwunden.
„Myrina? Alles in Ordnung?“, wollte mein Bruder wissen, dessen misstrauischer Blick Stephan gefolgt war. Auch Chris ahnte, dass der Butler nur den einen Zweck in unserem Haushalt erfüllte: uns auszuspionieren. Doch leider konnte man ihn nicht feuern, da sonst schon bald der nächste Spion auf der Matte stehen würde.
„Alles gut, Chris!“, meinte ich schnell und ging auf meinen Bruder zu. Freudig umarmte ich ihn. Chris war Priester in der Cathedral of St. John the Divine auf der Amsterdam Avenue und kam aufgrund seiner Gemeindetätigkeiten sowie der damit verbundenen durchgehenden Arbeitszeiten kaum zu Besuch.
„Was tust du hier? Nicht, dass es furchtbar ist, dich nach so langer Zeit endlich mal wieder zu Gesicht zu bekommen“, lachte ich und hakte mich bei ihm unter, während wir zum Esszimmer gingen.
„Ach, darf ein großer Bruder nicht mal seine kleine Schwester außerhalb ihrer Hochzeitsplanungen besuchen?“, zwinkerte er mir zu. Zu gut kannte ich diesen Gesichtsausdruck, der das Zwinkern begleitete. Sein Lächeln war gespielt ebenso wie seine Fröhlichkeit. Sorge spiegelte sich in seinen braunen Augen wider. Sein rötliches Haar stand nach allen Seiten ab, beinahe so als sei er direkt aus seinem Bett hierhergeeilt.
„Was ist los?“, flüsterte ich. Doch Chris schüttelte nur kaum sichtbar den Kopf. Scheinbar bedrückte ihn etwas, dass man in diesem Haus nicht besprechen konnte.
„Eigentlich, meine liebe Myrina, bin ich hier, um dich nach dem Frühstück zu einem Spaziergang im Central Park einzuladen. Das Wetter ist heute wunderschön und ich weiß doch wie sehr du den Park liebst“, meinte mein Bruder überschwänglich und öffnete gleichzeitig die Tür zum Esszimmer. „Guten Morgen, Vater!“, lenkte er sofort vom Thema ab und ich begriff, dass seine Sorgen scheinbar mich betrafen. Im Central Park würden wir ungestört reden können.
„Guten Morgen, Kinder!“, antwortete mein Vater hinter seiner allmorgendlichen Zeitung. Noch so etwas, wo Frauen keinen Zugang mehr zu hatten. Jedoch fand ich das nur halb so schlimm, standen die Zeitungen doch bloß voller Lobgesang auf die neuen Regierungen, die Ritter Zions und die nächsten Hinrichtungen. Was wirklich in der Welt passierte, erfuhr mein Vater über seine Häfen und die Schiffe, die dort vor Anker gingen. Chris setzte sich direkt an den Tisch und griff nach einem der frischgebackenen Brötchen. Herzhaft biss er hinein. Er war dünn geworden, seit er seinen Platz in der Cathedral of St. John the Divine eingenommen hatte.
Leichtfüßig umrundete ich den Tisch, küsste meinen Vater auf die Wange und er streichelte mir über die meine. „Guten Morgen, Dad. Hast du gut geschlafen?“, stellte ich die Frage, auf die ich bereits die Antwort kannte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen hatte er, seit Mom von uns gegangen war und oft wunderte ich mich, ob sie jemals verschwinden würden. Wahrscheinlich erst, wenn die beiden endlich wieder vereint wären.
Würde man mich nach einem Beispiel für unendlich bedingungslose Liebe fragen, dann würde mir sofort die Geschichte meiner Eltern auf der Zunge liegen. Das war die Art der Liebe, die Autoren in ihren Liebesromanen beschrieben. Romeo und Julia, Catherine und Heathcliff, Bella und Edward, Feyre und Rhysand.
Mein Vater blickte mich liebevoll an. „Gut, Myrina“, log er. „Ich habe gut geschlafen. Danke der Nachfrage.“ Dann faltete er seine Zeitung zusammen und griff ebenfalls in den Brotkorb.
„Ich habe gehört, dass Chris heute mit dir einen Spaziergang geplant hat“, meinte er und auch sein Gesicht wurde von Sorge überschattet. Was ist hier los? „Du solltest gut frühstücken. Wer weiß, wie lange ihr unterwegs seid“, schob er hinterher, während er Chris einen durchdringenden Blick zuwarf, und reichte mir ein Brötchen, das ich mit zu meinem Teller nahm. Mir war der Appetit rund um diese Geheimniskrämerei gründlich vergangen.
Doch ich war nicht so dumm, den Ratschlag meines Vaters zu ignorieren, also zwang ich mich, die Backware zu essen, auch wenn meine Kehle wie zugeschnürt war. Irgendetwas ganz Schreckliches war passiert und es betraf mich.
„Dann lass uns schnell aufbrechen, Chris. Um diese Zeit ist es nicht so voll im Park. Ich liebe es, wenn man nur das Rauschen in den Ulmen hören kann“, schwärmte ich, als ein junges Dienstmädchen mit einer Kanne Kaffee den Raum betrat.
„Lass mich noch einen Kaffee trinken und danach ziehen wir los. So lange wirst du es doch wohl aushalten, oder etwa nicht?“, neckte mich mein großer Bruder, und ich war kurz davor die Zunge rauszustrecken, so wie in Kindertagen. Chris hatte das natürlich sofort erkannt und begann schallend zu lachen. Es war schön, ihn so fröhlich zu sehen. Lachen war eine Seltenheit geworden. Ich konnte ein Kichern ebenfalls nicht mehr unterdrücken und sogar mein Vater grinste von Ohr zu Ohr.
Für einen kurzen Moment waren der Druck und die Last von ihnen abgefallen. Und auch ich spürte, wie sich der Knoten in meinem Magen löste. Wahrscheinlich sollte ich doch besser noch ein zweites Brötchen essen. Beherzt nahm ich eins aus dem Korb und bestrich es mit Erdbeerkonfitüre. Vielleicht hatte ich ja alles ganz falsch interpretiert und Chris wollte wirklich nur eine Runde im Central Park mit mir drehen.
Eine halbe Stunde später lief ich an Chris‘ Arm die East 69th Street in Richtung Central Park herunter. So früh am Morgen war es zum Glück noch nicht so heiß. Ab und zu verirrte sich eine kühle Brise unter den Rock meines Kleides und wirbelte erfrischend um meine Beine.
Mein Bruder hatte auf einen Sonnenschirm bestanden. Ob dieser für mich war, die in dem langärmeligen Kleid in der prallen Sonne wie ein Eis schmelzen würde, oder damit er mit seiner hellen Haut keinen Sonnenbrand bekam, konnte ich nicht so genau sagen.
Chris schwieg. Obwohl er gemächlich lief, fühlte ich eine Unruhe in ihm, die mich beinahe wahnsinnig machte, wusste ich doch nicht, woher sie stammte.
Auf Höhe der East 72nd Street betraten wir den Park und gleichzeitig eine völlig andere Welt. Der immerwährende Straßenlärm Manhattans verschwand zunehmend im Hintergrund und stattdessen sangen die Vögel gemeinsam mit den Blättern im Wind. Natürlich! Auch hier war nicht mehr alles wie vor der Übernahme der Ritter Zions. Das wurde vor allem deutlich, als wir in The Mall, die Flaniermeile New Yorks, einbogen. Früher tummelten sich hier kleine Verkaufsstände, Hot Dog Wagen und Artisten, die ihre Künste zum Besten gaben. Egal ob Malerei, Gesang, Musik oder andere Performances. Es war bunt, es war lebendig. Dies alles hatte die Bruderschaft zerstört. Nur die Natur, die konnten sie nicht einfach so verbannen.
Traurigkeit übermannte mich und bevor diese sich in Wut verwandeln konnte, wandte ich mich meinem Bruder zu. „So schweigsam heute Morgen? Wie läuft die Arbeit in der St. Johns?“
Ein unsicheres Lächeln huschte über sein Gesicht. „Gut, Myrina. Alles läuft gut. Danke der Nachfrage“, wiederholte er den Satz, den mir bereits mein Vater zum Frühstück vorgesetzt hatte. Ein freudloses Lachen stieg in mir auf. Wie weit war es gekommen, wenn sich keiner mehr traute, frei über seine Gefühle zu sprechen? Was würde aus unserer Gesellschaft werden?
„Du möchtest nicht darüber reden. Verstehe“, antwortete ich ein wenig genervt. „Dann teile deine Sorgen wenigstens mit dem da oben.“ Demonstrative streckte ich einen Finger gen Himmel.
„Mache ich. Danke, Myrina“, seufzte mein Bruder deutlich unglücklich. „Wie geht es dir? Wie laufen die Vorbereitungen für die Hochzeit?“, fragte er nun mich.
Ein Thema, über das ich momentan wirklich so überhaupt gar nicht sprechen wollte. Grinsend rollte ich mit den Augen. „Gut, Chris. Alles läuft gut. Danke der Nachfrage!“
„Du bist und bleibst eine freche Göre. Armer Alex. Weiß er eigentlich, auf was er sich da einlässt?“, lachte er auf.
„Das will ich doch hoffen. Er kennt mich immerhin besser, als ich mich selbst“, antwortete ich gespielt empört. „So, wie ich auch dich in- und auswendig kenne und weiß, wenn etwas faul ist. Also, raus damit!“, sagte ich energischer als geplant. Nervös schaute sich Chris um. „Lass uns zum Brunnen laufen, da können wir uns hinsetzen und ein wenig erzählen. Gleichzeitig gehen und reden ist nicht so meins“, drängte er mit unsicherer Stimme.
Beim Brunnen? Die letzten Jahre hatten mich viel gelehrt und ich wusste, dass ein Gespräch an einem Brunnen ein sehr Ernstes sein musste. Denn war es doch das Rauschen und Plätschern des Wassers, das es beinahe unmöglich machte, einen abzuhören.
Meine Knie wurden für einen kurzen Moment ganz weich. Was war es bloß, das Chris und auch Dad mich wissen lassen wollten?
Links neben uns, hinter dem kleinen Zäunchen, das den gesamten Weg säumte, entdeckte ich einen Steinhaufen. Erschrocken blieb ich stehen und trat etwas näher. Traurigkeit, Wut und Hoffnungslosigkeit umschlossen mein Herz, hatten es fest in ihrem Griff. Diese Steinreste im grünen Gras waren einst der Sockel einer prächtigen Statue gewesen. Ein Monument zu Ehren der Rechte der Frauen, des Wahlrechts. Es hatte drei Frauen aus der Geschichte gezeigt, die alle den Weg geebnet hatten, um letztendlich den Frauen Generationen später die erhofften Rechte zu erkämpfen. Diese Bronzefiguren waren noch nicht so alt gewesen, und, dass man sie nun entfernt hatte, war ein Zeichen dafür, wie wenig uns geblieben war. Jegliche Rechte hatte man uns genommen, einschließlich des Wahlrechts. Alles, wofür diese drei Heldinnen standen, war uns nur für kurze Zeit vergönnt gewesen.
Mein Bruder trat neben mich und legte einen Arm um meine Schultern. Um nicht laut schreien zu müssen, ballte ich die Fäuste und presste die Kiefer aufeinander. Dies hier war ein Symbol gewesen. Ein Symbol für Hoffnung. Doch scheinbar war jegliche Hoffnung zerstört. Ein kümmerlicher Rest, wie dieser Steinhaufen hier.
„Komm, Myrina. Lass uns weitergehen“, drängte Chris. Seine braunen Augen waren von der Angst davor gezeichnet, ich würde hier, inmitten von The Mall, einen Zusammenbruch erleiden. Ich nickte stumm und ließ mich von ihm wegführen, weiter über den Spazierweg, der noch an vielen anderen Statuen vorbeiführte. Aber keine von ihnen hatte für die Frauenrechte eine so bedeutende Rolle gehabt. Ein letztes Mal warf ich einen Blick zurück.
Irgendjemand muss diesen Wahnsinn aufhalten!
KAPITEL 5
Den Rest des Weges schwiegen wir und ich hielt den Blick gesenkt. Zu schmerzhaft war der Anblick der leblosen Wege in diesem Park, der früher einmal das klopfende Herz der Stadt darstellte.
Sobald wir das Ende der Flaniermeile erreicht hatten, liefen wir die Stufen hinab, die uns in die Unterführung geleiteten. Einen Tunnel, der mit seinen altertümlichen Säulen und den kleinen Fliesen an der Decke eher an eine Halle in einem griechischen oder römischen Badehaus erinnerte. Als Kind hatte ich mich immer hinter den Säulen versteckt und meine Mutter damit schier wahnsinnig gemacht. War es die Erinnerung, die mir mit kalten Klauen den Atem raubte, oder die kühleren Temperaturen hier unter der erhöhten Ebene, die aus dem ursprünglichen Felsgestein Gneis gesprengt wurde. Wenn man Central Park heute sah, dann konnte niemand sich mehr vorstellen, dass diese Landschaft früher einmal eine Wildnis mit Felsen, durchzogen von Granit gewesen war und erst durch Menschenhand zu einem Park geformt wurde.
Auf der anderen Seite dieser Fußgängerpassage traten wir hinaus auf die Bethesda Terrace, die einen wunderschönen Ausblick auf den See bot, der die Strahlen der Sonne hoch am Himmel widerspiegelte.
„Lass uns auf den Brunnenrand setzen und ein wenig ausruhen“, schlug mein Bruder vor und seine Stimme verriet eine unterschwellige Nervosität. Entschlossen ergriff er meinen Arm und zog mich in Richtung des Sees. Seine Hand war klamm, was auch meine Angst befeuerte. Um mich abzulenken, betrachtete ich die Statue auf der Bethesda Fountain. Ein wunderschöner weiblicher Engel, der Engel der Wasser, wie man ihn nannte. Mit einer Hand segnete sie das Wasser, mit der anderen hielt sie eine Lilie. Diese Blume symbolisierte die Reinheit, die der Engel auch auf das Wasser New Yorks übertragen sollte. Es wunderte mich, dass diese Bronzestatue nicht ebenfalls abgerissen worden war, da sie von einer Künstlerin, einer Frau, geschaffen wurde.
Ungeduldig schob Chris mich das letzte Stück bis zur Rückseite des Brunnens und setzte sich dann seufzend auf dessen Rand. Den See überblickend ließ ich mich neben ihm nieder. Hinter uns plätscherte das Wasser des Brunnens und vor uns erstreckte sich der See. Es würde für jegliche Spione schwierig werden, uns hier abzuhören, vor allem da der Platz noch menschenleer war und jeder Ankömmling uns auffallen würde.
„Chris, was ist los?“, fragte ich atemlos. Zu lange hatte ich diese Frage unterdrücken müssen.
Mein Bruder schaute mich unsicher an. Deutlich kämpfte er mit sich selbst. Drängen, das wusste ich, würde bei Chris wenig bringen. Ich musste also Geduld haben, wollte ich erfahren, was meinen Vater und ihn so sorgte.
Mit beiden Händen fuhr er sich durchs Gesicht, lockerte den Kragen seines Priestergewands und seufzte nochmals, den Blick beinahe flehend gen Himmel gerichtet. Manchmal vergaß ich, welchen Beruf er ausübte. Vielleicht passierte das unbewusst, weil ich diese Tatsache verdrängen wollte. Die Ritter Zions hatten immer behauptet, im Auftrag der Bibel und damit im Namen Gottes zu handeln. Meinen Glauben an irgendeinen Gott hatte diese Aussage stark erschüttert, und anfangs hatte ich viele Streitgespräche mit Chris darüber geführt, warum er weiterhin für die Kirche arbeiten wollte. Für einen Gott, der dies über uns hatte hereinbrechen lassen.
Doch mein Bruder hatte dann immer gesagt, dass die Menschen ihn gerade jetzt, in dieser schweren Zeit, am meisten brauchten und dass Gott nichts mit dem Handeln der Menschen zu tun habe. Gott hatte uns die Freiheit des eigenen Willens und der eigenen Entscheidungen gegeben. Eine Konsequenz war dementsprechend auch die Tatsache, dass Gott sich in unsere Entscheidungen nicht einmischte, denn wofür diese jemandem eingestehen, um sie einem bei einer schlechten Entscheidung wieder zu nehmen. Chris liebte die Arbeit mit Menschen, er war kein altmodischer Priester, sondern stand bekannt für seine zeitgemäßen Predigten, und seine Sprechstunden waren immer komplett ausgebucht.
„Myrina, Vater hat mich gebeten, etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen“, meinte mein Bruder plötzlich und nahm fürsorglich meine Hand in die seine. Kurz schaute er auf den Boden, beinahe so, als fände er dort die nächsten Worte, die er aussprechen wollte. Dann blickte er mir wieder in die Augen. Diesmal fest und entschlossen. „Du weißt ja, dass Dad durch seine Häfen noch immer Kontakte in alle Winkel der Welt pflegt und zu jeglichen Schichten der Bevölkerung. Häfen sind längst nicht mehr nur Umschlagplätze für Waren geworden, sondern auch für Nachrichten. Verstehst du das?“, fragte er.
„Du meinst die Nachrichten, die nicht in den Zeitungen stehen? Neuigkeiten, die sich früher über das Internet oder den Fernseher verbreitet hätten?“, puzzelte ich meine Gedanken zusammen.
„Genau. Jetzt, wo Internet und Fernsehen nach der Übernahme der Ritter Zions verbannt wurden, musste man auf Wege der Verbreitung von Nachrichten zurückgreifen, die vor dem digitalen Zeitalter genutzt wurden. Wobei die Seefahrt hier eine große Rolle spielt“, erklärte Chris.
„Welche Neuigkeit ist es denn, die Vater dort aufgeschnappt hat?“, fragte ich ungeduldig.
„Aus aller Welt erhalten wir Berichte darüber, dass junge Frauen im Alter zwischen fünfundzwanzig und dreißig spurlos verschwinden. Auch hier in New York“, sagte Chris diesmal ohne Umschweife.
Das war es also, wovor mein Bruder und Vater so eine Angst hatten. Dass mir dasselbe passieren könnte, man mich verschleppen oder vielleicht sogar ermorden würde. Überraschte es mich, dass jungen Frauen ein derartiges Schicksal blühen konnte? Nein. Ganz und gar nicht. Doch mit welcher Begründung? Das war eine Frage, deren Antwort mich brennend interessierte. Warum machte die Bruderschaft die Frauen erst gefügig, ja ließ sie selbst hinrichten, um sie gleichzeitig zu verschleppen? Was verbargen sie? Warum veröffentlichten sie diese Vorfälle nicht, um so das weibliche Geschlecht noch mehr zu verängstigen und damit ein leichteres Spiel in ihrer Unterdrückung zu erlangen?
„Weiß man, warum sie verschwinden? Wer sie verschwinden lässt, dass wissen wir beide ja nur zu gut“, meinte ich ruhiger als erwartet.
„Man vermutet, dass es die Ritter Zions sind, doch mit Sicherheit kann man das nicht sagen. Warum, das weiß man nicht. Da Informationen über neue Fälle meist sehr spät und über Umwege unvollständig eintreffen, haben wir noch kein Muster feststellen können. Die einzige Gemeinsamkeit scheinen das Geschlecht und das Alter zu sein“, erwiderte mein Bruder missmutig.
„Wir? Du und Dad?“, fragte ich, hellhörig geworden. Betreten schüttelte mein Bruder den Kopf. „Nein, wir haben uns mit einer Gruppe von Männern aus verschiedenen Ecken der Welt zusammengetan.“
„Was?“, rief ich viel zu laut aus und musste mich zurückhalten, um nicht auch noch aufzuspringen. „Was?“, wiederholte ich diesmal leiser. „Ihr habt euch mit unbekannten Menschen verbündet? Wieso? Das ist so leichtsinnig! Ihr wisst doch, dass man niemandem mehr vertrauen kann. Jeder könnte ein Spion sein und euch in eine Falle locken wollen!“
„Das wissen wir, Myrina“, knurrte mein Bruder ungehalten. „Aber wir haben keine andere Wahl! Verstehst du das denn nicht? Wir haben keine andere Wahl, weil wir nicht wissen, ob und wann du die Nächste sein könntest. Täglich sind es mehrere Tausend Mädchen auf der ganzen Welt. Und wir haben Angst um dich, um dein Leben!“
Tränen traten in die Augen meines Bruders, und mit einem Schlag wurde mir klar, dass ich ohne es zu ahnen, in großer Gefahr war. Doch noch schlimmer war der Gedanke, dass meine Familie sich meinetwegen ebenfalls in die Schusslinie begeben hatte.
Verstohlen wischte Chris sich über die nassen Augen. Eine Umarmung wäre zu auffällig, daher drückte ich nur seine Hand und er lächelte mich verlegen an. Chris war derjenige meiner Brüder, der als Kind bereits immer schnell geweint hatte.
„Was können wir tun, um euch und auch mich aus der Gefahrenzone zu holen?“, fragte ich entschlossen.
Chris schaute mich überrascht an. „Um uns brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wir haben alles gut im Griff“, meinte er, und ich quittierte diese Sätze mit einem Augenrollen.
„Ja, klar. Darum sitzen wir auch hier an einem Brunnen und besprechen diese Angelegenheit bei plätscherndem Wasser, damit niemand uns belauschen kann“, brummte ich zurück. Chris jedoch negierte diese ironische Aussage meinerseits völlig und fuhr unbeirrt fort. „Wir haben einen Plan. Wir werden die Unterwelt New Yorks infiltrieren, um an mehr Informationen aus dieser Region zu kommen. Hoffentlich finden wir so ein paar Hinweise. Und was dich betrifft, so hat Vater beschlossen, dass du dein Selbstverteidigungstraining wieder aufnehmen und durch gezielte Angriffstechniken erweitern sollst.“
„Ich soll was?“, stieß ich erstaunt aus. „Wie genau habt ihr euch das vorgestellt? Soll ich etwa vor Stephans Nase in einem Kleid trainieren und so die Ritter Zions direkt auf mich aufmerksam machen?“ Meine Ironie ließ eine verärgerte steile Falte auf der Stirn meines Bruders entstehen. Er kniff die Augen zusammen. „Das ist gar nicht lustig, Myrina!“, schimpfte er.
„Nein, das ist es sicherlich nicht. Doch euer Plan ist einfach nur lachhaft“, zischte ich zurück.
„Du kennst ja noch gar nicht den ganzen Plan, Schwesterchen“, sagte Chris jetzt schon wieder sanfter. „Lass mich also zunächst alles erzählen und danach darfst du gerne darüber urteilen.“
Bereits im College hatte ich einige Debatten aufgrund meiner aufbrausenden Art verloren. Darum wollte ich im nächsten Semester von Jura zu Medizin wechseln, doch so weit kam es dann nicht mehr. Seufzend nickte ich und sah aus dem Augenwinkel, wie mein Bruder ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.
„Der Plan ist folgender: Wir werden ankündigen, dass du dich auf deine Hochzeit vorbereiten und so rein wie möglich in die Ehe gehen möchtest. Um dies zu erreichen, hast du mich gebeten, dass ich dir dreimal pro Woche die Beichte abnehme. Damit du auch wirklich alle deine Sünden mit Alex beichten kannst“, neckte er mich und boxte mir dabei leicht in die Seite. Sogar ich musste darüber schmunzeln. Dass Alex und ich schon seit Jahren miteinander schliefen, war innerhalb meiner Familie ein gut gehütetes Geheimnis.
„Und dann?“, wollte ich wissen.
„Dad lässt dich von einem Chauffeur zu den verabredeten Zeiten in meine Kirche bringen. Es gibt in einer der Kapellen einen Beichtstuhl, der ein Geheimnis in sich trägt.“ Verstohlen schaute Chris sich um, doch nirgends war jemand zu sehen.
„Du weißt wahrscheinlich, dass ich während meiner Zeit an der Columbia University Mitglied in einer dieser Studentenverbindungen war, oder?“, fragte er plötzlich. Natürlich hatte ich das nicht vergessen. Er war nur noch unterwegs gewesen, Tag und Nacht. Vater hatte sich damals große Sorgen um ihn gemacht.
„Na ja, es war nicht eine dieser regulären Studentenverbindungen“, meinte er zerknirscht. „Es war eher so eine dieser Bruderschaften, denen man fürs Leben beitritt.“
Erschrocken blickte ich auf. Schon oft hatte ich Gerüchte von solchen Geheimbünden gehört und die dazugehörigen Geschichten hatten sich immer gefährlich angehört. Besorgt schaute ich meinen Bruder an.
„Keine Angst! Mit der Übernahme der Ritter Zions ist die Bruderschaft auseinandergefallen. Aber sie hat etwas Wertvolles hinterlassen.“
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Verborgene Räumlichkeiten, von denen niemand weiß?“, fragte ich, die Antwort bereits erahnend.
Mein Bruder nickte. „Ja, und zwar unterirdische Gänge und Hallen, die von der Columbia University ebenso wie von der Cathedral of John the Divine aus betreten werden können“, trumpfte Chris auf.
„Und zwar bei besagtem Beichtstuhl“, fügte ich die Informationen zusammen und sah, wie die Augen des Priesters leuchteten. „Das heißt, ich soll anstatt in dem Beichtstuhl meine Reinheit zu erlangen, in den geheimen Räumlichkeiten der Bruderschaft trainieren, mich zu verteidigen?“
„Das ist der Plan! Natürlich gibt es noch ein paar Details, die wir ausarbeiten müssen, aber morgen früh soll deine erste Beichte stattfinden. Dad will keine Zeit vergeuden. Jordy hat bereits ein paar deiner alten Trainingshosen und Shirts dort gelagert und Rick besorgt heute Abend auf dem Schwarzmarkt die nötige Waffenausrüstung.“
„Das heißt, meine beiden anderen Brüder sind auch Teil des Plans?“, fragte ich erstaunt und war gleichzeitig gerührt, über ihre Fürsorge. Wieder nur ein Nicken.
„Und wer von euch soll mich in der Handhabung dieser Waffen unterrichten? In meinem früheren Selbstverteidigungskurs haben wir nie welche benutzt“, erklärte ich und wunderte mich, warum meine Familie direkt so scharfe Geschütze auffuhr.
„Ich soll das übernehmen“, meinte Chris nun leicht zerknirscht.
„Du? Wieso gerade du? Du hast doch gar keine Ahnung von Kampfsport! Warum nicht Rick? Der hat zumindest mal eine Zeit lang geboxt!“, schimpfte ich ungehalten.
„Rick und Jordy dürfen sich nicht in der Nähe der Cathedral zeigen, sonst schöpft noch jemand Verdacht. Du wirst dich also mit mir begnügen müssen“, erklärte mein Bruder ein wenig eingeschnappt. Ich wollte ihm nicht zu nahetreten, aber Chris und Kampfsport passten ebenso wenig zusammen wie der Himmel und die Hölle. Sie waren nun mal zu verschieden.
„Keine Angst, Myrina“, beruhigte mich mein großer Bruder, der scheinbar die aufsteigende Panik in mir spürte. „Wir schaffen das schon. Du musst nur in uns und in Gott vertrauen.“
In seinen braunen Augen spiegelte sich eine solche Entschlossenheit und Hoffnung wider, dass sie geradezu ansteckend war.
„Gut“, stimmte ich zu. „Wir schaffen das schon. Aber bitte sei mir nicht böse, wenn ich mein Vertrauen nur in uns setzte und nicht in Gott.“
Chris schenkte mir ein weiches Lächeln. „Na klar. Vertraue du in uns. Mein Vertrauen in Gott ist groß genug für uns beide.“
KAPITEL 6
Um keinen Anlass für jeglichen Verdacht zu bieten, waren wir nach dem Gespräch noch eine Stunde durch Central Park spaziert, bevor wir wieder den Weg zur East 69th Street, unserem Zuhause, einschlugen.
Der Rock meines Kleides klebte inzwischen so sehr an meinen Beinen, dass ich aufpassen musste, mich nicht in den Stoffbahnen zu verheddern und der Länge nach hinzufallen. Chris blieb noch zum Lunch, musste danach aber eiligst zurück zur Kirche für die Vorbereitungen zur Abendmesse.
Mein Vater zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und mir blieb nichts anderes, als mich im kleinen Salon der Stickerei zu widmen, was ich fast so sehr hasste wie diese gottverdammte Einsamkeit. Sämtliche Freizeitaktivitäten waren mir als Frau eines höheren Ranges nicht gestattet. Lesen war ebenso verboten, wie Musik hören, Briefe schreiben oder gar andere Menschen zu treffen.
Früher hatte ich ein sehr aktives Sozialleben, war ich doch ein geselliger Mensch. Jeder Abend war verplant gewesen. Kino, Theater, Abendessen, Partys, Shoppen oder an den Wochenenden einen Ausflug ans Meer, nach Coney Island.
Nun jedoch war ich an mein Elternhaus gebunden, musste mein Zimmer im Studentenwohnheim gegen mein ehemaliges Kinderzimmer eintauschen. Meinen Freundinnen erging es nicht besser, und die männlichen Kommilitonen hatten sich nach und nach abgewandt. Alle bis auf Alex, der mir schon als Achtjähriger mittels eines sogenannten Indianerrituals die Treue geschworen und seither nie gebrochen hatte.
Was aus meinen Freundinnen im Studentenwohnheim geworden ist, das wusste ich nicht. Nur Charly hatte ich ab und zu mal gesehen. Meist dank unserer Väter, denn ihre Eltern waren der Bruderschaft ebenso wenig treu ergeben, obwohl auch sie den Schein wahrten. Trotzdem hatten sie es schon mehrmals regeln können, dass wir einander bei Galas oder anderen Festlichkeiten über den Weg liefen, wie in ein paar Tagen bei der berühmten Met Gala im Metropolitan Museum. Eine Festivität, die früher einer regelrechten Modeshow der pompösesten Kleider glich. Die High Society war ebenso wie Stars und Sternchen dort zu Gast gewesen und hat der Spendengala zu ihrer Bekanntheit verholfen.
Heutzutage war es das Fest der hochrangigsten und reichsten New Yorker, wozu mein Vater zählte sowie auch der von Charly.
Obwohl der Ball seinen früheren Glanz verloren hatte, freute ich mich sehr darauf, bot er doch endlich mal wieder eine Gelegenheit, dem goldenen Käfig zu entfliehen und mich mit Charly auszutauschen. Ich vermisste sie so schmerzlich.
Hier zu Hause war ich hauptsächlich von Männern umgeben. Meinem Vater, meinen Brüdern, Stephan und manchmal im verborgenen Alex. Die weiblichen Dienstmädchen durften nicht mit mir sprechen und meine Mutter war verstorben. Schwestern hatte ich keine. Ich war einsam und allein in einer von Männern beherrschten Welt und egal, wie viel Mühe sich meine Familie gab, mich nicht auszuschließen, ich war nicht mehr Teil ihrer Weltordnung. Das war auch der Grund dafür, dass ich häufig in Gedanken meinen eigenen Träumen und Geschichten nachhing. In andere Welten eintauchte. Welten, die vielleicht nie bestanden haben, doch jetzt, im Nachhinein nur für mich in meinem Kopf ins Leben gerufen wurden. Eine Romantisierung der Wirklichkeit anstelle eines Abbilds.
So erklärte sich auch der Traum von heute Nacht. Reitende und kämpfende Amazonen. Frauen, die für sich selbst aufstanden, sich nahmen, was sie begehrten und dem Feind mit Stärke begegneten. Das Gegenteil von dem, was ich, was seit der aktuellen Hexenverbrennungen rund neunzig Prozent der weiblichen Weltbevölkerung, darstellten.
Erschrocken schaute ich auf den Zeigefinger meiner linken Hand. Der Nadelkopf steckt in seiner Kuppe und rotes Blut tropfte auf das weiße Tuch, das bereits eine zierliche kleine Blüte abbildete. Eine rote Rose. In einem Rot, das dem meines Blutes glich.
Seufzend legte ich die Stickerei zur Seite, entfernte die Nadel aus meinem Finger und stillte das Blut, indem ich die Kuppe in den Mund nahm. Der Geschmack nach Eisen traf meine Sinne. In meiner Kindheit hatte ich mich häufig mit meinen Brüdern gerauft und ab und zu auch mal geprügelt. Eine aufgeplatzte Lippe oder eine blutende Nase waren da keine Ausnahme gewesen. Doch diese kleinen Zankereien machten mich noch lange nicht zu einer mutigen Amazone.
Verärgert über mich selbst und meine lächerlichen Gedanken schüttelte ich nur den Kopf und seufzte erneut.
Es half nichts, ich musste mich dem neuen System fügen, nach ihren Regeln spielen und vor allem nicht auffallen. Wer den Rittern Zions ein Dorn im Auge wurde, der brachte nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie in Gefahr. Die mir bekannte Wut stieg in mir auf, mischte sich mit dem Gefühl der Machtlosigkeit und endete in Hoffnungslosigkeit.
Mit zitternden Händen nahm ich wieder die Stickerei auf und platzierte über dem Blutfleck eine weitere rote Rose, in Gedanken gefangen in meiner eigenen kleinen Odyssee, die nur mir bekannt war. Der Odyssee einer Heldin, einer Amazone.
Vergeblich wartete ich in dieser Nacht auf Alex. Es war nicht das erste Mal, dass er nicht erschien. Manchmal kam er einfach nicht an den Campuswachen vorbei oder ein Polizist war zu nahe an dem Schlupfloch in der Mauer postiert, die unser Grundstück säumte.
So gerne hätte ich mit ihm über die verschleppten Frauen und die Pläne meines Vaters sowie meiner Brüder gesprochen. Ich war mir noch immer nicht sicher, ob ich die geplanten Trainingsstunden mit Chris guthieß oder für zu riskant hielt.
Alex hatte meist einen nüchternen und gleichzeitig auch optimistischen Blick auf die Dinge. Wohingegen ich eher einen Hang dazu hatte, nur das Schlimmste zu sehen.
Früher war das anders gewesen, da war ich spontan und furchtlos in die Welt hinausgezogen, habe mich vom Wind treiben lassen und dem Schicksal mit manch einer unüberlegten Entscheidung ins Handwerk gepfuscht. Wenn es so etwas wie Schicksal überhaupt gab. Doch wenn Gott uns einen freien Willen geschenkt hatte und daher nicht Einfluss auf unser Handeln nehmen konnte, wie war das dann mit dem Schicksal? Waren wir vielleicht ebenso in der Lage, unser Schicksal selbst zu bestimmen, zu kreieren? Oder entsprang dieser Gedanke nur dem Wunsch, dass es so sei? Wer mochte schon gerne eine Marionette in einem Spiel sein. Gelenkt werden, ohne selber zu entscheiden, in welche Richtung man gehen will?
Stundenlang lag ich grübelnd auf meinem Bett und starrte hinauf an die weiß getünchte Decke, beobachtete das Schattenspiel des Mondes mit den Bäumen und Sträuchern des Gartens im Wind. Beinahe so, als würden die schwarzen, tanzenden Figuren mir die Antwort verraten können, wenn ich nur lange genug starrte. Ich hasste Selbstmitleid, aber in dieser Nacht übermannte mich meine Einsamkeit. Das Sehnen nach jemandem, der mir wirklich zuhörte, für mich da war, mit mir lachte und weinte. Vielleicht würde die Heirat mit Alex mir diese Wünsche erfüllen. Dennoch, tief in mir fühlte ich, dass auch das mir nicht die Freiheit schenken würde, die ich zum Glücklichsein brauchte.
Alex war ein toller Mann und ich liebte ihn sehr, doch an ihm war der Wandel der Gesellschaft und damit der Stellung der Frau nicht unbemerkt vorübergezogen. Es war in den klitzekleinen Gesten, Gesichtsausdrücken und unausgesprochenen Worten zwischen den Sätzen erkennbar. Aber ich durfte die Hoffnung auf ein erfülltes Leben an seiner Seite nicht aufgeben, denn sonst würde mir nichts mehr bleiben.
Letztendlich fiel ich kurz vor Sonnenaufgang in einen traumlosen Schlaf, und als mich eines der Dienstmädchen zwei Stunden später weckte, wusste ich, dass sogar ein Training mit Chris heute eine Herausforderung darstellen würde. So schrecklich müde, verwirrt und emotional leer fühlte ich mich.
Missmutig rollte ich aus dem Bett, wusch mich schnell und zog das gute Sonntagskleid an, welches für Kirchgänge in einem unauffälligen Schwarz gehalten war. Heute entschied ich mich gegen eine Rebellion und schlüpfte ebenfalls in Unterwäsche, die aussah wie die meiner Großmutter früher. Nachdem ich meine Haare geflochten und anschließend hochgesteckt hatte, wählte ich bequeme, flache Ballerinas, in denen auch das Training kein Problem sein sollte.
Mein Vater erwartete mich schon am Frühstückstisch. Stephan war gerade dabei, die Dienstmädchen anzuweisen, die mit dem Auftragen der Speisen beschäftigt waren. Direkt bei meinem Eintreten schoss sein Blick in meine Richtung und seine Augenbrauen schnellten in die Höhe, während seine Augen über mein schwarzes Kleid huschten.
Unbeirrt lief ich zu meinem Vater, küsste ihn auf die Wange und setzte mich dann auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
„Guten Morgen, Vater“, sagte ich und schenkte diesem ein liebevolles Lächeln, das er ein wenig nervös beantwortete. Auch er hatte scheinbar schlecht geschlafen. Seine Haare waren wilder als sonst und schwarze Ringe unter den Augen ließen sein Gesicht noch älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war.
„Guten Morgen, Stephan“, wand ich mich nun dem Butler zu, der neben mir mit dem Brotkorb erschienen war. Dieser reagierte nicht auf meinen Gruß, sondern beugte sich nur leicht vor und ich hörte, wie er in der Nähe meines Haares stark die Luft einsog. Dieser Mann war einfach nur unheimlich.
Ein Laut der Überraschung erklang hinter mir und Stephan murmelte: „Kein Besuch von Mr. Alex heute Nacht und trotzdem so unausgeschlafen.“ Ich tat so, als hätte ich diese Bemerkung nicht gehört, belegte mein Brötchen mit Käse und biss herzhafter hinein als ich mich fühlte. Eilig schluckte ich den geschmacklosen Klumpen in meinem Mund hinunter. Etwas essen zu müssen, obwohl jeglicher Appetit fehlte, war mir nicht fremd.
„Vater“, sprach ich den Mann mir gegenüber an. Dieser hob direkt seinen Blick und zwei besorgte braune Augen schauten mich müde an. Sowohl meine beiden Eltern als auch meine Brüder hatten braune Augen, ebenso wie meine Großeltern. Nur ich stach mit meinem Grün heraus. Schon oft hatte ich mich gewundert, von wem ich wohl diese Augenfarbe geerbt haben könnte, wie viele Generationen dazwischen liegen mussten.
„Vater, danke, dass du mir den Wunsch, nun öfters zur Beichte zu gehen, erfüllst. Das ist mir ausgesprochen wichtig. Die Hochzeit ist in ein paar Monaten und ich möchte alles richtig machen“, spielte ich meine Rolle in diesem Schauspiel, das wir in Anwesenheit von Stephan und den anderen Bediensteten aufrecht halten mussten.
„Sehr gerne, mein Kind“, erwiderte mein Vater ruhig, und nur in seinen Augen war das Flackern der Unruhe tief in ihm zu erahnen. „Mein Chauffeur Thomas wird dich in einer halben Stunde zur St. John Kathedrale fahren und dich bis in die neue Kapelle bringen. Dort erwartet dich Chris, um dir deine Beichte abzunehmen. Eine Stunde später wird Thomas dich wieder abholen. Lass ihn bitte nicht warten.“
Die Warnung am Ende war nicht zu überhören gewesen. Wir mussten rechtzeitig zurück im Beichtstuhl sein, sodass kein Verdacht geschöpft werden konnte. Aber eine Stunde war für ein Training viel zu kurz. Ich musste mir dringend etwas überlegen, um die Zeit verlängern zu können. Mindestens zwei Stunden waren essenziell pro Einheit, damit es sinnvoll war. Vor allem, wenn ich auch den Umgang mit Waffen erlernen sollte.
Doch für den Augenblick nickte ich bloß schweigend und spülte meine Bedenken mit meinem Tee hinunter. Ohne mich umdrehen zu müssen, spürte ich Stephans bohrenden Blick in meinem Rücken.
Der Butler hatte erst vor ein paar Wochen seinen Dienst bei uns angetreten, nachdem unser ehemaliger Butler James in hohem Alter verstorben war. Er hatte zu unserer Familie gehört, war er doch schon Jahrzehnte lang erst bei meinem Großvater im Haushalt gewesen und dann, seit ich denken konnte, bei uns. Wir alle vermissten ihn, seinen Humor und seine Treue jeden Tag.
An seiner statt war es nun Stephan, der diese Position einnahm, welche zuvor dem eines gefühlt weiteren Familienmitglieds gehörte. Wir hatten schnell lernen müssen, dass viele der Dinge, die wir im Beisein von James besprechen oder tun konnten, nun in den eigenen vier Wänden keinen Platz mehr fanden. Dies schadete dem familiären Zusammenhalt genauso wie der Stimmung im Haus. Misstrauen, Angst und Geheimnisse stapelten sich in jedem von uns immer höher und es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser wachsende Turm in sich zusammenfallen würde.
War es das, worauf Stephan wartete, um dann zuzuschlagen? Und wem berichtete er, was ihm auffiel, was er erfuhr? Noch kein einziges Mal, seit er hier als Butler arbeitete, hatte er das Haus verlassen. Er war immer hier, Ohren und Augen sowie scheinbar auch seine Nase auf alles gerichtet, was verdächtig sein könnte.
Das Brennen in meinem Rücken wurde unerträglich. Mich zu ihm umzudrehen kam nicht infrage, aber ich konnte dem Drang, ihn ansehen zu müssen, nicht mehr ertragen. Unauffällig hob ich mein Messer an und drehte es so lange, bis die Spiegelung auf den Mann hinter mir fiel.
Der Blick, den ich dort erhaschte, war nicht jener, den ich erwartet hatte. Weder Misstrauen noch die ihm typische Grimmigkeit lag in seinen blauen Augen. Nein, es war eine Nachdenklichkeit, gepaart mit Sorge, die ich meinte zu erkennen.
War es die Sorge darum, was er seinem Boss über meinen Ausflug zur Kirche erzählen könne? Wahrscheinlich. Ihm ist nicht zu trauen, rief ich mir ins Gedächtnis und legte das Messer wieder beiseite, bevor Stephan auffallen konnte, dass ich ihn beobachtete. Es war besser, ihm immer einen Schritt voraus zu sein.
KAPITEL 7
Thomas fuhr pünktlich in einer schwarzen Limousine vor. Während er die Wagentür für mich öffnete, brachte mein Vater mich bis zum Auto. Die Sonne brannte heute unerträglich stark, und ich hielt es jetzt schon kaum noch in den üppigen Lagen meines dunklen Kleides aus.
Sanft hauchte mein Dad mir einen Kuss auf die Wange und drückte meine Hände, die vor lauter Aufregung feucht waren. Keiner von uns konnte mit Sicherheit sagen, dass niemand von unseren Plänen Wind bekommen hatte. Vielleicht waren wir in Central Park doch belauscht worden oder jemand aus unserer Umgebung, der etwas von dem wahren Hintergrund meines Ausfluges zur Kirche wusste, hatte uns verpfiffen. Die Möglichkeit, dass wir uns nach heute Morgen nicht mehr wiedersehen würden, war nicht von der Hand zu weisen und machte Angst.
„Es wird alles gut, Dad“, flüsterte ich so leise, dass nur er mich hören konnte. Mein Vater nickte stumm, und ich sah eine Träne in seinem Augenwinkel aufblitzen. Während ich Dad in die Arme schloss, schweifte mein Blick hinüber zu unserem Haus. In der offenen Eingangstür außerhalb des Sonnenscheins stand Stephan. Bewegungslos beobachtete er uns beide mit Argusaugen. Keine unserer Emotionen schien ihm zu entgehen. Jede noch so kleine Regung fiel ihm auf. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sobald unsere Blicke sich begegneten. Hastig schloss ich meine Augen, drückte meinen Vater ein letztes Mal an mich und schlüpfte dann, ohne zu zögern in die Limousine. Thomas warf die Wagentür zu und Traurigkeit umschloss mein Herz, als ich das besorgte Gesicht meines Vaters durch die verspiegelte Fensterscheibe sah. Wie er da so auf dem Gehweg vor unserem Haus stand, wurde mir erst bewusst, dass er seit dem Tod meiner Mutter ebenso einsam war, wie ich mich fühlte.
Das Auto setzte sich in Bewegung. Verstohlen schaute ich nochmals zu Stephan und ich hätte schwören können, dass er meinen Blick festhielt, obgleich er mich durch die Scheibe gar nicht sehen konnte. Bevor ich dem nachgehen konnte, bogen wir bereits nach rechts auf die 5th Avenue ab.
Sehnsüchtig sah ich auf das vorbeiziehenden New York, links von uns Central Park und das Metropolitan Museum of Art, rechts das Guggenheim Museum, das Museum of City of New York und das Museo Del Barrio. Früher drängten sich Touristen, Studenten und Bewohner der Stadt auf den Bürgersteigen, doch heute war alles wie leergefegt. Nur wenige Yellow Cabs fuhren auf der Avenue und so kamen wir schneller voran als erwartet.
Am nördlichen Ende des Parks bogen wir nach links in die Central Park North ein, um ein paar Blocks später rechts in die Amsterdam Avenue zu biegen. Direkt vor der größten Kirche Nord-Amerikas hielt Thomas an. Cathedral of St. John the Divine.
Jahrhundertelang hatte man an ihr gebaut. Jedes Mal wurde sie an verschiedenen Stellen vergrößert. Erst vor Kurzem war endlich der zweite Turm der Frontseite fertiggestellt worden. Sein Anblick ließ mich wie bei den anderen Besuchen zuvor erschaudern. Ich konnte nicht erfassen, warum sie mich so gruselte. Eigentlich mochte ich Kirchen und ihre Atmosphäre, aber bei dieser Kathedrale war das anders. Immerzu hatte ich das Gefühl, als schaute ich auf ein schlechtes Omen, wenn ich sie sah.
Thomas stieg aus dem Wagen, um mir die Tür zu öffnen. Die Sonne brannte mir direkt auf den Kopf und brachte mich zum Taumeln. Der Schlafmangel und diese Hitze waren wirklich keine gute Kombination. Chris kam uns bereits entgegengelaufen. „Alles in Ordnung, Myrina?“, fragte er besorgt, während er mich stützte, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
„Alles gut. Danke, Chris“, meinte ich mit einem Lächeln, das nicht meine Augen erreichte. „Lass uns reingehen.“ Innerlich seufzend lief ich auf das große Portal zu. Unweigerlich glitt mein Blick über die beeindruckende Front, auch das Portal des Paradieses genannt, obwohl die abgebildeten Szenen, die man hier in Stein gehauen hatte, nichts Paradiesisches an sich hatten. Ganz im Gegenteil. In den Säulen, die Figuren des alten und neuen Testaments trugen, waren Szenen vom Untergang New Yorks am Tag der Apokalypse für die Ewigkeit eingemeißelt. Tödliche Monsterwellen, Atombomben, Feuer, Tod und natürlich die vier Reiter, die in der Offenbarung des Johannes eine bedeutende Rolle spielten. Johannes selbst stand zentral zwischen den zwei riesigen Flügeltüren den Blick gen Himmel gerichtet.
Während ich schnell an diesen Statuen vorbeilief, überkam mich das Gefühl, fliehen zu wollen. Egal wohin, nur weit weg von diesen Weissagungen, die laut der Ritter Zions bereits begonnen hatten, zur Realität zu werden.
Die beiden Männer folgten mir, und erst nachdem ich die Pforte ins Innere des Gotteshauses durchschritten hatte, wurde ich langsamer. Die Kühle hier im Kirchenschiff tat gut und jetzt bemerkte ich auch die Schweißperlen, die mir auf Stirn und Lippen hingen.
Hastig wischte ich sie mit der Hand weg und wagte einen Blick in den nur von dem durch die Fenster fallenden Licht beleuchteten Innenraum. Der Eingang war überwältigend. Hohe Säulen säumten rechts und links den Weg hinein in die jahrhundertealte Kathedrale.
Früher war jede von ihnen in einer anderen Farbe des Regenbogens angeleuchtet und man fühlte sich, als würde man wirklich das Paradies betreten, nachdem man sich der Offenbarung des Johannes am Portal gestellt hatte.
Doch diese bunten Lichter wurden schon vor Langem weggeholt und nun glich es eher einem griechischen Tempel. Beeindruckend, aber gleichzeitig auch erdrückend.
„Komm, Myrina. Wir werden uns in die Kapelle im nördlichen Teil der Kirche zurückziehen. Thomas, wollen Sie uns bis dahin begleiten oder möchten Sie es sich lieber mit einer kalten Limonade im Cathedral House gemütlich machen?“, fragte Chris den Chauffeur, der uns beide erst unsicher ansah, sich dann aber grummelnd dem südlichen Ausgang in die Gärten zuwandte. Dort befanden sich neben einer Schule noch diverse andere Gebäude, die der Kirche angehörten.
Chris nahm indessen meine Hand und zog mich zu besagter Kapelle, die zwei Räume hinter dem Taufsaal zu finden war. Rasch schob er mich in diesen Teil des riesigen Gotteshauses, schaute sich ein letztes Mal verstohlen um und verschloss dann das eiserne Gittertor, das das Hauptschiff mit diesem Nebentrakt verband.
„Beeil dich, Myrina!“, zischte mein Bruder, der bereits auf der anderen Seite der Kapelle in einem Beichtstuhl verschwand. Auch ich spähte noch einmal durch die Gitter, prüfte, dass wir wirklich unbeobachtet waren, um dann Chris zu folgen. Ich wählte den Eingang in den Beichtstuhl, der für die Priester gedacht war. Innendrin war es recht düster. Langsam tastete ich mich an der Wand entlang, bis ich etwas Weiches fühlte. Vorsichtig schob ich den entdeckten Vorhang beiseite und mir entfuhr ein leiser Aufschrei, als sich plötzlich Finger um mein Handgelenk schlossen und ich hinter das Tuch gezogen wurde.
„Chris!“, schimpfte ich. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“
„Dafür siehst du aber sehr lebendig aus, Schwesterchen“, neckte mich mein Bruder, während er mich weiter hinein in einen schmalen Gang zog. Die Steine an den Wänden waren älter als die Kapelle. Somit musste dieser verborgene Teil bereits in der Zeit entstanden sein, als das Kirchenschiff gebaut wurde. Es ging steil abwärts, tief unter die Erde.
Staunend fuhr ich mit den Fingern über die ausgehauenen Felsen. Es war gruselig, feucht und modrig hier unten. „Wann ist das hier erbaut worden? Und wofür war es ursprünglich gedacht?“, flüsterte ich in die klamme Dunkelheit hinein. Mein Bruder hatte eine Taschenlampe angeknipst, doch diese leuchtete nur mit kleinem Licht so weit nach vorne, dass wir lose Steine auf dem Boden rechtzeitig entdecken konnten.
„Ich weiß es nicht“, wisperte Chris zurück. „Wir hatten damals versucht, es herauszufinden, jedoch nirgends in den Büchern und den Bauplänen der Kathedrale einen Hinweis finden können. Ein Kommilitone aus meiner Studentenvereinigung, sein Vater war im Vorstand der Baukommission, regelte, dass man eine Kapelle genau hier über den Tunneleingang baute. Diese Gänge gab es da bereits. Wir haben nur noch das unterirdische Tunnelsystem der St. John mit dem der Columbia University verbunden.“
„Was?“, ungläubig hielt ich meinen Bruder an seinem Priestergewand fest und hinderte ihn am Weiterlaufen. „Du willst mir doch wohl nicht sagen, dass die legendären Tunnel unter der Columbia wirklich bestehen? Und ich meine nicht die Versorgungstunnel, sondern jene, von denen man munkelt, dass sie auch über den Campus hinaus reichen würden?“
Chris drehte sich zu mir um und ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Genau das will ich damit sagen, Schwesterchen. Wir haben damals versucht, alle Tunnel zu ergründen, aber viele waren zugeschüttet oder endeten in verschlossenen Stahltüren. Doch ich kann dir versichern, hier unten ist ein eigenes Straßensystem angelegt, und wenn man das mit den alten stillgelegten Subway-Tunneln verbindet, dann ergibt es ein zweites New York City, nur unterirdisch.“
„Das ist ja sagenhaft!“, platzte ich heraus und konnte ein strahlendes Lachen nicht unterdrücken. War das hier vielleicht mein Weg in mehr Freiheit? „Gibt es solche Tunnel auch unter unserem Haus“, fragte ich und spürte, wie die Aufregung mir in die Wangen stieg.
Chris‘ Blick wurde ernst und Mitleid zeichnete sich in seinem Gesicht ab. „Myrina, es tut mir leid, aber Jordy, Rick und ich, wir haben uns in den letzten Jahren mehrmals im Keller und Garten auf die Suche nach einem versteckten Eingang oder hohlen Wänden gemacht. Wir haben nichts finden können. Leider.“
Sanft strich er mir über meine Wange und gleichzeitig mit dieser Berührung erstarb mein Lächeln. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein!
„Ja“, krächzte ich, meine Enttäuschung unterdrückend. „Ja, das ist schade. Aber gut, da kann man nichts machen.“ Rasch senkte ich den Blick, damit mein Bruder die kleine Träne, die sich einfach nicht zurückdrängen ließ, nicht sah. „Lass uns schnell weiterlaufen, sonst ist die Stunde gleich vorbei und wir haben nur diesen Teil des Tunnels gesehen“, versuchte ich zu scherzen. Mein Bruder schaute mich ein letztes Mal besorgt an, bevor er stumm nickte und sich dann umdrehte, um dem Tunnelverlauf wieder zu folgen.
Es dauerte nicht lange, bis wir bei einer Gabelung ankamen. Rechts verlief der Weg in die Dunkelheit und links erkannte ich etwas weiter hinten eine Tür, die Chris jetzt zielstrebig ansteuerte. Aus seinem Gewand zog er einen alt aussehenden Schlüssel, mit dem er die Holztür aufschloss.
Knarrend schwang diese auf und der Lichtkegel der Taschenlampe ließ einen großen Raum erkennen. Auf einem Tisch, der gegen die rechte Wand geschoben worden war, standen Kerzenständer, dessen Kerzen der Priester sorgfältig anzündete. Je heller es wurde, desto mehr offenbarten sich die Gegenstände in diesem Raum. Mit offenem Mund schaute ich mich um. Ganz hinten erkannte ich einen provisorischen Boxring mit Sandsäcken, die von der Decke baumelten. Außerdem Zielscheiben in verschiedenen Größen und Formen.
In der Mitte dieses selbsterrichteten Trainings-Centers befand sich eine riesige Übungsmatte und in der Ecke neben dem Tisch hatte man einen Paravent aufgestellt.
„Dahinter findest du deine Trainingskleidung und kannst du dich umziehen! Aber beeile dich, uns bleibt nur noch eine halbe Stunde, bevor wir wieder zurückmüssen!“, meinte Chris, während er ein Buch aus seiner Kutte zauberte. Neugierig schaute ich über seine Schulter auf den Titel. „Chris!“, rief ich empört und boxte ihn mit meinem Ellbogen in die Seite. „Du willst mir den Umgang mit Messern mit Hilfe eines Ratgebers beibringen?“
„Jetzt beruhige dich mal, Myrina!“, knurrte er mich an, während er sich über die Rippen rieb, die den Schlag abbekommen hatten. „Wir müssen improvisieren. Da keiner von uns Erfahrung damit hat, haben wir keine andere Wahl, als die Informationen zu diesem Thema aus der Literatur zu beziehen. Früher hätte ich mir ja ein Video im Internet angeschaut, aber auch das ist nicht mehr möglich. Keine Angst, Schwesterchen! Seit Tagen studiere ich dieses Buch, und ich glaube behaupten zu können, dass ich jetzt weiß, wie es in der Theorie funktioniert. Zeit also, nun die Praxis auszuprobieren!“
Zuckersüß lächelte ich ihn an. „Dann kannst du dich ja als Zielscheibe anbieten, wenn du dir deiner Lehrmethoden so sicher bist.“
„Ähm ... na ja ...“, stammelte der Priester, der hochrot im Gesicht wurde. „So war das jetzt auch nicht gemeint.“
Fluchend lief ich hinter den Paravent und mein Ärger über Chris‘ Naivität verflog, als ich auf einem Stuhl meine alte Trainingshose und ein T-Shirt entdeckte. So sehr hatte ich diese Kleidung vermisst. Ich riss mir förmlich das unpraktische Kleid vom Leib. Ein entzücktes Seufzen entfuhr mir, als ich in die Sportsachen schlüpfte.
Abwechselnd hüpfend und stretchend betrat ich die große Matte in der Mitte des Raumes. Chris erwartete mich dort bereits, seine Nase tief in sein Buch vergraben. Genervt rollte ich mit den Augen, und als von der Seite meines Bruders keine Anweisungen kamen, führte ich einige Bewegungsabläufe durch, die mir von meinem Selbstverteidigungstraining in Erinnerung geblieben waren.
Mein Körper brauchte ein wenig, um die ungewohnten Muskelanstrengungen umzusetzen. Anfangs fühlte ich mich schrecklich steif und ungeschickt, doch je öfter ich eine Schrittfolge ausführte, desto weicher und fließender wurde sie. Schnell hatte ich alles und jeden um mich herum vergessen, war komplett vertieft in meine Erinnerungen an die Schritte und Haltungen.
Es war beinahe so, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht und ich wäre wieder die Myrina von früher. Frei, manchmal etwas zu vorlaut, vor allem aber glücklich.
KAPITEL 8
Die halbe Stunde Training war viel zu schnell vorüber. Als ich mich aus meiner verschwitzten Sportkleidung schälte und das schwarze Kleid anzog, da fühlte es sich an, als würde ich selbst das Schloss zu meinem goldenen Käfig erneut zuschließen. Mir selbst die gerade erlangte Freiheit wieder entreißen.
Der Weg zurück durch die Gänge und hinauf in die Kapelle war eine Qual. Der Raum hinter mir schien an mir zu ziehen, wollte, dass ich umkehrte. Gleichzeitig spürte ich von vorne den Druck der Einsamkeit und Unterdrückung, die auf mich warteten. Jeder Schritt kostete mich Überwindung. Irgendwann nahm Chris meine Hand, drückte sie einmal sanft und zog mich dann den Rest des Weges hinter sich her. Scheinbar hatte er meinen inneren Konflikt wahrgenommen.
Wir waren gerade aus dem Beichtstuhl geklettert, als wir bereits Schritte vernahmen. Schnell strich ich meinen Rock glatt und fuhr mir nochmals mit den Händen über die Hochsteckfrisur. Aufgrund der herrschenden Hitze heute würde der Schweiß auf meiner Stirn nicht verdächtig erscheinen. Chris hatte den Ratgeber unten in unserem Trainingsraum gelassen. Nur der Schlüssel lag gut versteckt in einer geheimen Tasche in der Innenseite seines Priestergewands.
Da stand auch schon Thomas auf der anderen Seite des Gitters und rüttelte vergeblich an dem verschlossenen Tor. Ohne jegliche Eile ging der Priester mit einem geduldigen Lächeln auf den Lippen auf den Chauffeur zu und holte den Schlüssel heraus, der zu diesem Schloss gehörte. Die zwei Schlüssel, so fiel mir jetzt auf, glichen einander sehr. Wir mussten einen der beiden markieren, damit wir sie nicht aus Versehen vertauschen würden. Das wäre fatal.
Das Tor öffnete sich und Chris nahm mich noch einmal in den Arm. Danach blickte er mich ernst an. „Sage jeden Abend zehn Ave Maria und bete, Myrina. Beten wird dir helfen, deine Reinheit wiederzuerlangen. Nur der Glaube an Gott wird dich retten können.“
Ich senkte gespielt beschämt den Kopf und nickte stumm. „Fahr jetzt mit Thomas nach Hause und wir sehen uns dann in drei Tagen wieder“, ergänzte Chris, während er mich in Richtung des Chauffeurs schob, der mich kritisch musterte. Die Ansprache meines Bruders hatte deutlich sein Kopfkino gestartet, und er stellte sich scheinbar gerade vor, was ich alles verbrochen haben könnte, um meine Reinheit zu verlieren. Sobald ein gewisser Glanz in seinen Augen hervorstach, wusste ich, wohin seine Gedanken gedriftet waren.
Auch Chris war dieser Blick nicht entgangen. Er räusperte sich und trat autoritär an den Fahrer heran. „Bringen Sie meine Schwester bitte auf direktem Wege zum Haus meines Vaters. Ich werde mich später nach ihr erkundigen“, sagte er ruhig und dennoch war die Botschaft dahinter deutlich herauszuhören.
Ein nervöses Zucken fuhr durch Thomas‘ Körper, aber die Gier wich nicht aus seinem Blick. Trotzdem folgte ich ihm zum Ausgang der Kirche und von da aus zum Wagen. Auf Abstand. Die Energie des Trainings und die Bewegungsabfolgen prickelten noch in meinem Leib, befeuerten die Muskeln und brachten die Nervenbahnen in Alarmbereitschaft. Jedoch wäre es für unsere heimlichen Treffen nicht förderlich, wenn ich den Fahrer jetzt k. o. schlug. Obwohl er es nach den Blicken, die mich regelrecht auszogen, verdient hatte.
Bevor ich mich in den Rücksitz setzte, schaute ich ein letztes Mal auf die Kathedrale und ihre schaurige Botschaft am Portal. Drei Tage! Dann durfte ich endlich wieder da unten in den geheimen Tunneln trainieren. Bei dem Gedanken wurde mir ganz warm von innen.
Thomas hatte die Limousine gewendet und fuhr denselben Weg, den wir gekommen waren zurück. Mein Blick aus dem Fenster war aber diesmal getrübt von den Erinnerungen an die Trainingseinheit in der Kirche. Trotzdem bemerkte ich, wie der Fahrer mich über den Rückspiegel beobachtete. Ich musste in seiner Nähe sehr vorsichtig sein.
Mit der neuen Weltordnung war die Prostitution abgeschafft worden und die Rate der Vergewaltigungen erschreckend in die Höhe geschossen. Auch wenn keiner darüber sprach, wusste jeder davon. Sogar ich. Gerade die Frauen aus den ärmeren Gegenden waren dieser Gefahr hilflos ausgeliefert.
Erst als wir in die East 70th Street fuhren, danach einmal um den Block bis auf die East 69th Street, konnte ich meinem Gedankenchaos entfliehen. Der Wagen hielt direkt vor unserem Haus und Thomas öffnete mir die Autotür. Unauffällig blickte er zur Haustür, doch mir war diese Regung nicht entgangen. Ich wappnete mich, als ich aus der Limousine kletterte, aber der Chauffeur kam mir zuvor. Geschwind machte er einen Schritt auf mich zu und drückte seinen Körper gegen meinen, sodass ich zwischen dem Auto in meinem Rücken und ihm gefangen war.
Der Gestank nach Schweiß, gemischt mit einem billigen Aftershave, stieg mir in die Nase und mir wurde speiübel. Thomas war mir jetzt so nah, dass sein Atem auf meiner Wange zu spüren war.
„Du geile, unartige Millionärstochter“, keuchte der Fahrer. „Hast wohl deine Beine zu oft breitgemacht. Stimmt’s?“ Sein kehliges Kichern verschaffte mir eine Gänsehaut der schaurigen Art.
Wenn ich jetzt mein Knie hebe, dann geht er zu Boden und ich kann ins Haus schlüpfen, dachte ich, bewegte mich aber dennoch nicht. Es war zu gefährlich mich zu verteidigen. Und das auch noch auf offener Straße.
Stattdessen wandte ich mein Gesicht von ihm ab, in dem Versuch, so dem Gestank ausweichen zu können, jedoch schien das unmöglich zu sein. Wann hatte dieser Kerl zuletzt geduscht?
Plötzlich spürte ich durch die vielen Stofflagen meines Kleides hindurch, wie seine Hand über meinen Po glitt und gleichzeitig den Rock mit jeder Bewegung höher schob. Nie wieder würde ich meine Unterwäsche weglassen, dachte ich und war erleichtert, dass dies heute nicht der Fall war. Ich durfte gar nicht daran denken, was passierte, wenn das Schwein gleich direkt auf meine nackte Haut grapschen würde.
Aber auch meine Unterhose wollte ich nicht von diesen schmierigen Finger angefasst haben. Was nur konnte ich tun, um ihn loszuwerden, ohne ihn zu schlagen, zu treten oder eventuell sogar zu kastrieren.
Meine Gedanken liefen Amok und mein Körper reagierte instinktiv im Abwehrmodus. Alles in mir schrie danach, Thomas zur Strecke zu bringen. Doch das durfte unter keinen Umständen passieren, wenn ich nicht meine Familie gefährden wollte. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als es über mich ergehen zu lassen.
Mit geballten Fäusten kniff ich die Augen zusammen. Tränen der Wut und Machtlosigkeit stiegen in mir hoch. Mein Rock hinten am Po war nun beinahe ganz nach oben geschoben. Thomas Atem ging immer schneller und ich spürte seine Erektion an meiner Hüfte. Mein Magen begann zu rebellieren.
Urplötzlich fiel mein Kleid zurück an seinen Platz und das Gewicht des Chauffeurs verschwand. Überrascht öffnete ich die Augen. Ich stand alleine am Auto. Thomas war verschwunden. Hastig schaute ich mich um, doch nirgends war der Fahrer zu entdecken.
Ohne zu zögern, raffte ich meinen Rock und rannte das kurze Stück von der Limousine zur Haustür, die sofort aufschwang, als ich sie erreichte.
Stephan stand im Eingang und blickte mich tadelnd an. „Eine wahre Dame rennt nicht. Aber an Ihnen ist jegliche Dame bereits bei Ihrer Entstehung verloren gegangen“, meinte er kühl. Außer Atem kam ich neben ihm zum Stehen. „Stephan, haben Sie Thomas gesehen?“, fragte ich, seinen Kommentar ignorierend.
„Thomas? Ja, den habe ich gesehen“, sagte er grimmig und rümpfte gleichzeitig angeekelt die Nase. „Doch was viel wichtiger ist: Sie sollten unbedingt duschen, Miss. Da rieche ich ja noch lieber Mr. Alexander an Ihnen als diese Gestankmischung aus Schweiß und billigem Aftershave.“
Wäre ich nicht gerade knapp einer sexuellen Nötigung und einer eventuell daraus resultierenden Vergewaltigung entkommen, hätte ich über diese Aussage Stephans sicher geschmunzelt, doch der Schock über das Geschehene setzte genau in dem Moment ein. Ein Zittern ließ meinen ganzen Körper erbeben, wacklig stand ich auf den Beinen und musste mich am Türrahmen festhalten.
Der Butler trat einen Schritt zurück. „Stephan, es geht mir nicht gut“, japste ich, mit dem Gefühl der Ohnmacht kämpfend. Doch dieser kam mir nicht zur Hilfe. Stattdessen zog er an der Hausglocke und kurz darauf stand eine junge Frau neben uns.
„Aza, bring Miss Myrina in ihr Zimmer und bereite ihr danach einen Tee. Lege auch ein paar Kekse dazu“, instruierte er sie knapp, drehte sich um und war im nächsten Moment verschwunden.
Aza schaute mich ratlos an. „Miss, können Sie selber gehen?“, fragte sie unsicher.
Ich nickte kurz, atmete tief durch und machte dann einen Schritt in Richtung Treppe, die ins Obergeschoss führte.
„Nein, lassen Sie uns den Aufzug nehmen. Nicht, dass Sie erneut die Stufen herunterfallen“, rief das Mädchen aus und nahm mich an meinem Arm, um mich zum Aufzug zu führen. Ich hasste den Fahrstuhl. Er war klein, langsam und mein Vater hatte ihn für meine Mutter einbauen lassen, als es dieser so schlecht ging, dass Treppensteigen für sie nicht mehr möglich war. Bisher hatte ich mich immer geweigert, den Aufzug zu betreten, hatte ihn gemieden. Doch heute würde ich nicht drumherum kommen, das sah ich ein.
Was ist bloß mit mir los? Warum reagierte ich so anders als sonst auf diese Situation. Ich war eigentlich jemand, der schwierigen Momenten eher mit Trotz und starkem Willen begegnete. So wie damals, als ein Dieb mir in Central Park meine Handtasche entrissen hatte und ich ihm quer durch den Park gefolgt war. Bis ich ihn auf einer Wiese schließlich einholte und derart hart rammte, dass er zu Boden fiel. Meine Tasche bekam ich sofort zurück und die Polizei führte ihn keine fünf Minuten später ab.
Aber heute war ich kurz davor zusammenzubrechen. Lag es an der Hitze in Kombination mit dem ungewohnten Training und dem Vorfall mit Thomas? Wahrscheinlich. Doch wo war der Chauffeur jetzt? Und wie sollte ich mich ihm gegenüber verhalten, wenn ich in drei Tagen erneut mit ihm zur Kirche fahren musste? Bei dem Gedanken daran, ihn wiedersehen zu müssen, wurde mir nochmals speiübel. Meinem Vater konnte ich nichts von alledem erzählen, denn rauswerfen konnte er den Fahrer nicht, ohne dass dieser sich für die Kündigung auf grausamste Weise rächen würde. Wenn er nämlich bei den Rittern Zions vorsprechen würde und behauptete, ich wäre keine Jungfrau, was ja auch der Wahrheit entsprach, dann konnte das nicht nur mich in Probleme bringen.
Nein, ich musste stillhalten und alles, was in Zukunft kommen möge, herunterschlucken. Niemand durfte davon erfahren. Weder mein Vater, noch meine Brüder oder Alex. Denn die Alternative war es, das Training zu beenden. Aber das war für mich nicht möglich. Ich hatte heute nur einen Funken der Freiheit gesehen, die mir früher einmal als selbstverständlich erschien, und ich wollte mehr davon. Brauchte mehr davon!
In ein paar Monaten würde ich Alex heiraten, zu ihm ziehen und wäre dann weit weg von Thomas. Bis dahin musste ich überleben.
Das Pling des Aufzugs riss mich aus meinen Gedanken. Aza schob mich in den kleinen Raum, der gerade genug Platz für uns beide bot. Sobald das Mädchen auf den Knopf für die erste Etage gedrückt hatte, schloss sich die Tür und mit einem Ruckeln setzte der Fahrstuhl sich in Bewegung. Roch es hier drinnen noch immer nach Moms Parfum? Oder bildete ich mir das nur ein?
Erst als sich die Tür wieder öffnete und ich nach draußen auf den Gang stolperte, wurde mir bewusst, dass ich die gesamte Fahrt über den Atem angehalten hatte. Gierig sog ich die Luft ein und ein Schwindelgefühl ließ mich kurz ins Wanken geraten.
„Kommen Sie, Miss“, meinte Aza fürsorglich. „Sie sind ganz blass um die Nase. Sie sollten sich etwas hinlegen.“
Erstaunt schaute ich nun zu der jungen Frau hinüber, die erneut meinen Arm nahm und mich zu meinem Zimmer zog. Eigentlich hielten die Dienstmädchen immer Abstand zu mir, trauten sich noch nicht einmal, mich anzusehen. Doch Aza war anders. Sie trat mir mit einer Freundlichkeit und gleichzeitigem Selbstbewusstsein entgegen, welches ich schon seit Langem nicht mehr bei anderen Frauen erlebt hatte.
Als wir meine Zimmertür erreichten, drehte ich mich zu ihr um und lächelte sie an. „Danke, Aza“, meinte ich. „Ab hier schaffe ich es alleine.“
„Gut, Miss. Sollten Sie doch noch etwas benötigen, dann lassen Sie es mich einfach wissen“, sagte sie und schenkte mir ebenfalls ein Lächeln. Ihre blauen Augen strahlten förmlich und jetzt erst fiel mir auf, dass sie ein wunderschönes Gesicht hatte. Makellos, ja perfekt.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hatte sich das Mädchen bereits abgewandt und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Komplett ermüdet öffnete ich meine Zimmertür, schleppte mich bis zu meinem Bett und fiel, sobald ich mich hingelegt hatte, direkt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.