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Außen - Innen

Außen - Innen · Romane

50jährige schält sich aus gewalttätiger Beziehung. Unterstützt durch Kraftorte wird sie zur Heldin ihrer Reise, zur freien, autarken Frau.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Wie innen, so außen In gewisser Weise habe ich das Thema Missbrauch in der Beziehung gewählt, weil ich selbst über Jahre hinweg in solch einer Beziehung gelebt habe. Und sicher ist am Schreiben daran ganz viel therapeutisch. Nur! Das gleiche Schema sehe ich auch im Außen. Ich sehe, wie die Erde täglich missbraucht, geschändet und ausgebeutet wird - alles zugunsten des männlichen Prinzips Fortschritt. Und ohne Rücksicht auf das Gegenüber. Ich sehe, wie Menschen (nicht nur Frauen) täglich unterdrückt, ausgebeutet und erpresst werden - alles zugunsten des männlichen Prinzips der Selbstoptimierung. Der propagierte Mangel in Hinblick auf Dinge und Eigenschaften macht uns bewusst blind für das, was da ist. Wir dürfen das große Geheimnis nicht wissen, das da lautet: Ich bin genug. Wir dürfen nicht wissen, dass Alles mit Allem verbunden ist. Und mein Anliegen ist es, dieses Geheimnis in die Welt zu posaunen mit meiner Stimme! Ich will den Komparativ aushebeln, die Zeit anhalten, zum (Luft) Anhalten zwingen. Damit wir endlich wieder wissen, dass der Superlativ bereits in uns liegt. Zugegeben: Der Weg dahin ist zugeschüttet mit Glaubenssätzen aller Art. Die Struktur der Heldinnenreise aber, der ich in meinen Büchern folge, kann die Landkarte raus sein aus dem Wahnsinn - innen wie außen.

Über den/die Autor:in

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Alexandra H. Meier - Schreiben aus dem Überlebensmodus raus ins Leben hinein. Ich bin die, die Frauen an der Hand nimmt und mit ihnen auf Heldinnenreise geht. Ich bin die, die mit ihren Geschichten...

Außen - Innen

(Nicht überarbeitete Leseprobe)

Sie genoß die Zugfahrten am zweiten Tag. Ihre Kollegen fuhren immer mit dem Auto. Reihten sich ein in den morgendlichen Stadtverkehr, hupten und fluchten, bis sie schließlich abbogen und den Getriebenen entgegen fuhren. Froh, nicht auf der Gegenseite im Stau zu stehen.

Sie tat das nur am ersten und am dritten Tag. Da brauchte sie das Auto um die Bücherkisten hin und auch wieder weg zu bringen. Denn dort lassen durfte sie sie nicht.

Am zweiten Tag aber nahm sie den Zug. Stellte sich den Strömen der Pendler entgegen, wie sie am Bahnsteig aus den Zügen brachen, und trat dann ein in eine Welt aus Schweiß und Schwere und dem zuviel getrunkenen Wein von gestern Abend.

Dann war sie allein. Nur selten störte sie ein Schaffner in ihrem einsam Sein, und dann auch nur schnell und unaufdringlich. Froh, wieder Platz zum Atmen zu haben.

Dann blickte sie hinaus in die vorbeifahrenden Welten aus geschäftigem städtischen Treiben und tiefer, natürlicher Ruhe. Sah Männer mit Aktenkoffern und Handys und Rehe, die auf den Wiesen ästen. Aufgetakelte Weibchen in Business-Kostümchen und silberne Reiher auf den Feldern.

"Weibchen" - woher war dieses Wort nur gekommen? Denn es gehörte nicht in ihren Sprachgebrauch. Eben darum, weil es sich nicht gehörte.

"Nächster Halt, Landshut Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss…"

Den Rest hörte sie schon gar nicht mehr. Denn sie brauchte keinen Anschluss.

Keine dreißig Minuten später saß sie brav neben dem Tisch, den man ihr freigeräumt hatte, und von dem sie wusste, dass etliche der Lehrer diesen in ihrem Lehrerzimmer schwer vermissten. Überhaupt ließ man sie spüren, dass sie hier, in diesem einzigen sicheren Ort an der Schule, wie wahrscheinlich überall in allen Schulen, ein Fremdkörper war. Eine, die nicht hier reingehörte. Eine, die hier nichts zu suchen hatte. Denn sie störte den üblichen Fluss. Jetzt mussten sie alle aufpassen, was sie sagten, worüber und vor allem über wen sie jammerten.

Schon seit Jahren hatte sie es sich deswegen antrainiert, gänzlich unsichtbar zu werden, wie sie da neben ihren Büchern saß.

Es klingelte noch ganz altmodisch und schrill und sie erhob sich, strich noch einmal ihren Rock glatt, der sich beim Sitzen nach oben geschoben hatte, und wartete. Zuerst vereinzelt, dann immer mehr, eilten die Lehrer in das Lehrerzimmer, als wären sie auf der Flucht vor dem da draußen. Und kaum hatten ihre Mienen sich entspannt, sahen sie sie. Und wurden wieder steinern.

Dann setzte sie ihr nettestes Lächeln auf, eines, von denen ihre Kollegen behaupteten, dass es das war, was ihr immer wieder zu Erfolg verhalf. Dabei war es nur einfach. Und in ihren Augen lag Verständnis.

Vielleicht auch Verheißung. Dass alles anders werden würde, wenn sie nur ihre Bücher verwenden würden. Wobei sie selbst daran nicht glaubte. Doch war das einerlei. Was sie glaubte.

Mittlerweile war der stickige Raum angefüllt mit plappernden Menschen, die sie alle nicht beachteten.

Was heute kein Wunder war. Eine ihrer Kolleginnen war heute mit dem Neugeborenen in die Schule gekommen, um es der Welt vorzustellen. So stand die eine Hälfte der Anwesenden um das junge Mutterglück herum und die andere Hälfte stürzte sich gierig auf die mitgebrachten, wahrscheinlich selbstgebackenen Süßigkeiten.

So setzte sie sich wieder. Etwas, was unter ihrem alten Chef niemals hätte vorkommen dürfen.

"Wenn du neben deinen Büchern sitzt", hatte er ihnen eingeschärft, "dann wertest du sie ab. Stehe zu ihnen! Du bist ihr Leuchtturm."

Heute musste sie das nicht mehr. Heute waren die Bücher schon von selbst bunt genug. Der Inhalt jedoch seit Jahren derselbe.

Also schaute sie wieder. Lächelte offen zurück, wenn zufällig ein mitleidiger Blick auf sie fiel, der sagen wollte "schon wieder so eine". Und mittendrin weiter das Baby, das jetzt vergnügt quiekte und die Aufmerksamkeit sichtlich genoss. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Sie hatte das Mutter-Sein konsequent aus ihrem Leben ausgeklammert. Dazu war sie nicht geboren. Zumal ihre häusliche Situation sie quasi dazu zwang, dem Schicksal dafür dankbar zu sein. Nie hätte sie die Verantwortung für ein kleines Wesen übernehmen und tragen können. Sie schaffte es ja nicht einmal für sich selbst.

Gerade, als die Schatten der Erinnerung sich wieder plastisch aufbäumen wollten, riss eine junge Frau sie aus deren Fängen.

"Grüß Gott, Frau Humbolt, ich bin die Konrektorin. Was haben Sie uns denn da Schönes mitgebracht?"

Und gleich darauf war ein übliches Verkaufsgespräch im Gange, in dem vieles gelobt und am nächsten Tag nur halb soviel bestellt wurde.

Es klingelte wieder und bald darauf war das Lehrerzimmer wieder verwaist. Nur sie blieb darin zurück. Sie und ihre Bücher.

90 Minuten lang, in denen sie nun Zeit hatte, all das zu erledigen, wofür ihr sonst keine Zeit blieb. Ihre Mails zu lesen zum Beispiel, Angebote zu erstellen und zu verschicken. Wieder andere zu überarbeiten und schließlich noch zu überlegen, ob und wie weit man der freundlichen Konrektorin entgegen kommen könnte. Sicherlich würde sie auch noch die ein oder andere Minute finden, um in den sozialen Medien herauszufinden, was ihre Kollegen heute verkauft und ihre Freundinnen gestern gegessen hatten. Im Grunde genommen war das die einzig noch verbliebene Art sich mit ihnen zu verbinden. Also scrollte sie über üppige Teller, grün gesättigte Wiesen, über gestählte Bodys ohne Makel und unzählige Tipps für die Frau ab fünfzig.

Fünfzig. Sogar ihr Account wusste, dass es mit ihr vorbei war. Der Algorithmus tat seines dazu um es ihr jeden Tag wieder zu beweisen.

Dann, rechtzeitig, klingelte es wieder. Draußen stürmte eine wild johlende Meute Kinder vorbei, die sich draußen, vor den großen Fenstern, fröhlich und unbekümmert auf ihre Räder warfen. Sonst geschah nichts. Niemand kam. Nicht jetzt. Nicht fünf Minuten später. Auch nicht zehn. Was eintrat war seltsame Stille. Dann erst kam eine verschleierte Frau, die einen Putzwagen vor sich her schob.

Für einen tiefen Augenblick lang sahen sie sich an. Musterten sich. Und sie kannte ihre Gedanken. Und sie gefielen ihr nicht. Denn zu dem, was in ihr Überheblichkeit war, hatte sie am allerwenigsten ein Recht.

"Du noch da? Ist Schule leer. Alle Hause. Heute Elternabend."

Damit widmete sie sich ihrer Arbeit und räumte tatkräftig die herumstehenden Tassen in die Spülmaschine ein.

Sie hatten vergessen es ihr zu sagen. Man hätte einen anderen Termin finden können. Vielleicht auch einen ohne konkurrierendes Baby. Vielleicht hätte alles ganz anders laufen können. Nicht nur heute. Schon viel früher. Doch so würde sie vielleicht den früheren Zug erreichen. Wäre früher Zuhause. Könnte sich ihren Pflichten widmen. Vielleicht könnte sie aber auch... Nein. Das konnte sie nicht.

Sie wusste noch nicht, was es heute zu bedeuten hatte, als seine Pranken flach auf sie zukamen. Schallend nahmen sie ihr Gesicht zwischen sich als seien sie ein Schraubstock und kurz darauf übersäte er ihr Gesicht mit kalten, lügenden Küssen. Ob er wusste, dass er log? Nein. Er wusste angeblich sovieles nicht.

Es folgte irgendein Diminutiv, wahrscheinlich damit ihr sofort wieder klar wurde, wo ihr Platz war, bevor er sich wieder an seinen Gast wandte und von sich redete. Ihr blieb von jetzt ab nur noch die Existenz als Marginalie, die nur zum richtigen Zeitpunkt applaudieren müsste. Ja, genau. So war ihr Leben. Oder als was auch immer man das bezeichnen wollte.

Er hatte einen Gast und er hatte gekocht. Er kochte immer, wenn Gäste kamen. Denn sie, so sagte er immer wieder, könne es nicht.

Was sollte sie dazu schon sagen? Was könnte sie dazu schon sagen? Sie wollte nicht mehr wütend sein, wenn er sie wieder und wieder und wieder verletzte.

Seitdem sie denken konnte, war sie mit ihren Schmerzen allein gewesen.

Der erste Tag ihrer Regel zum Beispiel. Er war auch für sich allein genommen ein fürchterlichen Tag. Schmerzen. Durchfall und sich die Seele aus dem Leib kotzen. Ein perfekter Tag, um einmal ganz alleine für sich im Bett zu liegen und zu wissen, warum man Tränen weinte. Man vor Schmerzen schrie und alles daran gab, sich aus deren eisernem Griff herauszuwinden.

Nein.

Sie durfte nicht.

Immer gab es etwas zu tun, was weitaus wichtiger war als der lähmende Schmerz. Jetzt, jetzt nach 26 Jahren, wusste sie, was es war. Er war es. Er war es, der immer wichtiger war.

Und heute wieder.

Wie ein gefangener Tiger im Käfig war er am Nachmittag durchs Haus gelaufen und hatte das gemacht, was er die ganzen langen Jahre hindurch gemacht hatte. Er jammerte.

Nur einen unachtsamen Moment lang, und wieder hielt er ihr Gesicht zwischen seinen Händen. Und sie spürte die rohe Gewalt, die darin steckte und die sie so gut kannte.

So begrüßte sie sie. Lächelnd. Heimlich. Still.

"Das ist es also? Dafür reicht die Kraft noch? Da kannst du dich also noch bewegen?"

Und sie wusste: Noch vor einem Jahr hätte sie allein schon diesen unachtsamen Gedanken büßen müssen. Hätte wieder in der Arbeit anrufen und sich mit fadenscheinigen Gründen krank melden müssen. Heute nicht.

Also spülte sie ab, wie es sich gehörte, wenn er schon kochte, putzte die Küche und saß dann mit am Tisch, lachte an den hoffentlich richtigen Stellen, lachte sogar bei seinen Beleidigungen und versuchte erst zu denken und dann zu reden, während das, was von ihr im Innen noch geblieben war, immer mehr starb. Stück für Stück. Zelle um Zelle.

Am nächsten Morgen musste sie erst in den Verlag, um das Auto zu holen. Das passte ihr ganz und gar nicht.

Dabei hätte sie noch nicht einmal zu beantworten gewusst, was genau das war, was ihr nicht passte. Am allermeisten wahrscheinlich, dass ihre Kollegen zuviel von ihr wussten.

Oh, nein. Nicht, weil sie soviel erzählt hatte. Weil sie soviel gesehen hatten. Zu viel. Und auch wenn sie nie etwas gesagt hatten - es war offensichtlich gewesen. Seit einiger Zeit schämte sie sich. Konnte ihren langjährigen Kollegen nicht mehr aufrichtig in die Augen schauen. Da konnte man auch gleich über Mails kommunizieren. Es machte es um so vieles einfacher.

Kein Kloß, der wegzuschlucken war, keine Stelle, die überschminkt werden musste, keine Blöße, wenn sie nicht antworten konnte, weil das einzige Wort, das in ihr war, Schmerz hieß.

Mails und Nachrichten waren geradezu mathematisch neutral.

Und: Es lag Zeit zwischen ihnen. Das Gegenüber sah nicht, ob es wahr war, dass man im Auto, auf dem Klo oder an der Supermarktkasse stand, wenn man nicht sofort reagierte, wenn man mal wieder unfähig war zu reagieren. Weil es gefährlich war. So, wie am Schluss jedes Pling verdächtig und die ganzen schlimmen Jahre lang jedes Wort gefährlich gewesen war.

Doch sie hatte Glück. Das Großraumbüro war leer und hinter den geschlossenen Glastüren der Chefs herrschte die den Räumen ganz eigene Betriebsamkeit. So nahm sie den kleinen, schwarzen Schlüssel vom Brett, trug sich mit ihrer klaren, akribisch gestochenen Druckschrift in das Fahrtenbuch ein und verließ die geräumige Etage, in die eben die ersten Sonnenstrahlen fielen und alles in ein seltsam verspieltes Licht tauchten.

Gut. Das bedeutete, dass es weit nach acht Uhr war. Der schlimmste Verkehr wäre vorbei und sie würde pünktlich zur Pause in der Schule ankommen. Diesmal würden wohl zwei Pausen stattfinden. Dann würde sie ihre Kisten wieder zusammenpacken und nach Hause, ins Wochenende fahren.

Nach Hause. Ins Wochenende.

Nichts von beidem existierte. Es waren nur Worte. Worte, die erzogene Erwachsene einander sagten, um nicht über die Dinge reden zu müssen, über die man nunmal nicht sprach. Die man sagte, um sich gegenseitig die Probleme vom Hals zu halten. Um sich in Sicherheit zu wiegen. Sicherheit, das wusste sie, war auch nur so ein Wort.

Einmal, an einem Ort, der nicht ihr Zuhause war und keine Sicherheit bot, so erinnerte sie sich, während die noch leeren Felder an ihr vorbeizogen, einmal war sie auf dem Bett gelegen. Er hatte gerade die Tür zum Schlafzimmer eingetreten, in dem sie sich zu verschanzen versucht hatte. Er war auf sie zugesprungen, hatte sie gewürgt, und es war ihr nichts anderes eingefallen als das "Vater unser" zu beten. "Als ob drüber wär ein Ohr zu hören ihre Klage, ein Herz wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen." Wieder schüttelte sie den Kopf, wie so oft danach.

Da war niemand gewesen.

Nur er.

Und er hatte für sich aus ihrer Litanei erkannt, dass sie besessen war. Und das gemacht, was schon all die Jahrhunderte vorher Männer mit besessenen Frauen gemacht hatten. Er hatte ihn ihr rausgeprügelt.

Sie musste hier raus. Sie konnte gerade nicht mehr mit 150 Sachen über die Autobahn brettern. Sie musste anhalten. Raus.

Die Straße, die der Ausfahrt folgte, führte sie durch urtümliche Wälder, die rechts und links der Isar lagen, dann einen Hügel hinauf - und im Rückspiegel sah sie sie. Die mächtigen Alpen, die sich klar gegen den blauen Himmel abzeichneten. Ein Parkplatz war schnell gefunden, der Weg noch höher hinauf ebenfalls. Und sie stand ihnen gegenüber. War das Gott? Gab es ihn doch? Nur für sie nicht erreichbar?

Kaum hatte sie das gedacht, da sah sie ihn auch schon. Wie er dahing am Kreuz. Bemitleidenswert. Und selbstverständlich oben.

Doch wenn er oben war, wer war dann unten? Seine Mutter. Eine Frau.

Ob das Baby von gestern auch eines Tages so auf seine Mutter blicken würde? Machte man das überhaupt? Und die Frau? Wohin blickte sie? War ja klar. Zu ihm hinauf. Damit war alles gesagt. Jeder Zweifel an der Verteilung der Macht ausgelöscht. Oder warum stellten sie sie sonst zu ihm?

"Weißt du", hatte ihre Gemeindeschwester gesagt. Damals war sie fünf Jahre und in der Kinderbibelstunde gewesen. "Für uns Frauen ist es wichtig, dass wir auch jemanden zum Reden haben." Damals hatte sie es nicht verstanden. Und heute verstünde sie es vielleicht, doch heute gab es niemanden mehr in ihrem Leben, mit dem sie reden konnte.

Die frische Luft tat gut. Die Weite, die sie hier oben umgab, tat gut. Die Sonne, die sich in den schneebedeckten Gipfeln spiegelte und immer wieder herüber zwinkerte, tat einfach nur gut. Es war so… Sie war so… Mist. Auf jeden Fall war es schon nach neun und sie zu spät.

Vor 150 Millionen Jahren also. Eine Ewigkeit her. Vielleicht sogar mehr als eine Ewigkeit. Die Welt war bewegt, wenn sie das so las. Nicht in dieser aufgeräumten Ruhe, die es heute gab.

Kontinente, vielmehr die tektonischen Platten, aus denen sie aus dem großen Wasser aufragten, waren in ständigem Kampf miteinander um den bequemsten Platz. So schien es ihr zumindest.

Immer waren unterschwellige hitzige Energien damit beschäftigt, Feuer ins träge Gesteinsöl zu gießen. Immer trugen glühende Massen die ruhende Platte davon. Brachen ein, brachen durch. Schmolzen ein. Zerstörten.

Dass sie Neues schufen, verstand sie damals noch nicht.

Und drangen mit unvorstellbarer dunkler Kraft in andere Platten ein. Perforierten das Ruhige. Traten und drückten. Nahmen keine Rücksicht. Nahmen ein, was sie wollten. Fürchteten keinen Verlust. Vielleicht wollten sie ihn sogar.

Bis die europäische Platte schließlich nachgab. Sich unterwarf. Tief abtauchte in das zerstörende Erdinnere. Um dort zu sterben.

Immer und immer wieder drang er in sie ein und presste ihr Innerstes auf den kleinsten noch verbliebenen Raum zusammen. Und selbst das genügte nicht. Auch das kleinste wurde wieder und wieder im giftigen Feuer verbrannt - immer in der Hoffnung, es eines Tages ganz ausgelöscht zu haben.

So entstanden die Alpen. Es entstanden neue Wege, dem auszukommen.

Witzigerweise ausgerechnet Falten. Oh, an dieser Stelle musste sie sehr aufpassen, nicht zu lachen. Denn er nahm alles war.

"Was liest du?"

"Wie die Alpen entstanden sind."

Gespannt hielt sie die Luft an. Doch nichts geschah. Er erkannte es also nicht.

"Brauchst du das für ein neues Erdkunde-Buch?"

"Ja." Er war also noch immer ahnungslos.

"Ich habe darüber nachgedacht, ein Quartett dazu zu entwerfen."

Sein Blick verriet, was er davon hielt. Nämlich nichts. Und er schwieg. Das war gut.

Die großen Berge hatten sich aufgefaltet, den einzigen Fluchtweg, der geblieben war, genutzt. Sich selbst komprimierend. Verdichtet bis zur Selbstverleugnung. Sich ändern. Immer wieder ändern.

Und doch war es noch immer nicht vorbei. Noch immer wogten die zerstörenden Wellen aus heißem Magma nach oben und ruinierten alles.

Nun. Wenn man dem Text glauben wollte, nur in den Zentralalpen. Hier, wo sie war, hier herrschte der Kalk vor.

Die aufgeklappten Wundränder, die von der früheren Basis noch übrig geblieben waren und zu Gletschern eiterten.

Und das war schon der erste Anflug ihrer Rebellion. Denn sie tat es auf dem Sofa. In seiner Gegenwart. Dass er am Handy Poker zockte, war kein Argument, dass auch sie am Handy daddeln durfte. Heute tat sie es.

Wann hatte das eigentlich begonnen? Zuerst nur sonntags. Ein guter Wein zum guten Essen schminkte darüber hinweg, dass hier zusammen saß, was nicht mehr zusammen gehörte. Dann ein weiterer guter Wein am Samstagabend. Dann ein Glas Wein zum Feierabend und schließlich war es, ja, das war wohl das richtige Wort, ausgeufert. Es war wie ein Fluss, dem der Staudamm gebrochen war, dem sich nichts und niemand mehr entgegen stellen konnte, so unausweichlich war er geworden.

Und mit ihm kamen die Steine. Zuerst nur in Worten, dann in Taten, dann in Tritten. Stundenlang redete er auf sie ein und fand nur dann ein Ende, wenn der Schlaf, sein Schlaf, sie endlich erlöste. Beleidigung um Beleidigung floss unermüdlich wie ein giftiger Fluss aus seinem Mund und tropfte in ihr Innerstes, wo er schließlich im Herzen versank und dabei einen kleinen Fleck hinterließ. Klitzeklein nur, so als hätte man einen winzigen Tropfen Säure verloren. Während sie im Bett lag, der Dunkelheit dankbar, dass sie ihre Schmerzen verhüllte, und die bösen Worte aus seinem Mund tropften. Sie hatte mal eine Reportage über Guantanamo gelesen, da waren angeblich tropfende Wasserhähne Foltermethoden. Fast lächelte sie leicht. Wie sehr sie sich doch Wasserhähne gewünscht hätte. Denn Wasser hatte keine scharfen Messer.

Gestern war wieder Sonntag gewesen. Und gestern war sie wieder dem Irrtum aufgesessen, dass man miteinander wieder umgehen konnte, miteinander lachen und diskutieren konnte. Wie früher. - Oder war das gar nicht so? Sah das richtige Früher in Wahrheit gar nicht so aus? Sie konnte sich nicht erinnern.

“Hallo, Frau Humbolt! Läuft nicht mehr so in letzter Zeit.” Damit deutete ihr beschnauzter Kollege auf die große Tafel, auf der fein säuberlich die erfolgten Bestellungen der vergangenen Woche aufgelistet waren. Sie nannten es “Das Ranking”.Und das war es auch: Der Pranger der Erfolge und Misserfolge aller Mitarbeiter. “Ist aber bei mir auch nicht besser. Bei den Leuten sitzt das Geld knapp.”

Sie fragte sich, ob es sie beruhigen sollte, dass es bei ihm auch nicht besser lief. Oder ob es sie im Gegenteil vielmehr be-un-ruhigen sollte, da sie nun auf einer Ebene mit ihm stand. Auf welcher Ebene hatten sie denn beide vorher gestanden?

Doch statt einer Antwort nickte sie nur säuerlich und bemühte sich so offensichtlich wie möglich nur ihre eigenen Bestellungen zu lesen. Zwei Handbücher. Keine Klassensätze. Drei vergeudete Tage.

Vor einigen Wochen hatte sie mit einer Grundschullehrerin ein interessantes Gespräch geführt. Die hatte sich darüber beklagt, dass die Schulbücher noch immer vor allem als Kompendien entwickelt wurden. Nachschlagewerke, die man bei Bedarf etwas fragte, was man nachher eh nicht mehr brauchte. Sie hatte sich gewünscht, dass es intuitive Lehrmittel gäbe. Vielleicht sogar als Spiele. Etwas, an dem man Spaß hatte und dabei noch ganz nebenbei etwas lernte. Etwas, das man dann in die Hand nehmen konnte, wenn einem danach war.

So wie bei ihr Trivial Pursuit. Sie liebte dieses Spiel. Es war überhaupt das einzige Spiel, das sie liebte. Mit allen anderen konnte sie nichts anfangen. Konkurrenzkampf war ihr ein Greuel. Zumal wenn er nicht an Kompetenzen, sondern an einen simplen Würfel gebunden war.

Bei Trivial Pursuit ging es wohl auch ums Gewinnen. Den anderen vielleicht.

Für sie zählte einzig und allein, dass sie alle Tortenstückchen in ihrem Kreis vereinen konnte - dass sie anhand der anderen Fragen gleichzeitig noch ihr Wissen überprüfen und viel besser noch sogar erweitern konnte, war ein äußerst produktiver Nebenerfolg.

Irgendwann einmal, früher, als diese Form der freien Pädagogik aufgekommen war, hatte sie einmal einen Vorschlag in diese Richtung gemacht. Doch ihr wurde unmissverständlich versichert, dass das eine vorübergehende Phase war, die man den sogenannten freien Wirtschaftern gönnerhaft überlassen wollte.

Auf ihrem Schreibtisch fand sie eine Notiz. “Heute Stadtbibliothek!” erinnerte sie in großen Lettern daran, dass sie ja in dieser Woche nicht wie ursprünglich geplant im Landkreis unterwegs sein sollte, sondern in München blieb. Er wusste davon nichts. Und das war gut so. So hatte sie einmal einen ganzen Tag für sich. Nur für sich.

Die feinen Eiszapfen am Eisbach waren gerade erst abgetaut. Nur hier und da versteckte sich noch ein kleines Restchen brauner Schnee unter den dicken Hecken.

Und doch standen die härtesten Surfer schon wieder auf ihren Brettern und surften die verspielten Wellen.

Wahrscheinlich schien es ihr nur, als wären sie wie Kinder, denn ab und zu bissen sie zu und rissen die wagemutigen Männer vom Brett.

Dann blieben sie für lange Sekunden verschwunden, als hätte der Bach sie verschluckt, und tauchten dann mit einem Mal wieder auf. Sie schwammen an die Mauer, hieften sich hoch und starteten wieder.

"You can't stop waves, but you can learn to surf" stand auf dem Froschanzug von dem, der wohl beschlossen hatte, dass es besser wäre, wenn die Farbe seiner Hände von purpur wieder zu normalem rosa zurückkehren würde. Während er sie knetete, sah er sie kurz an und lächelte.

Wie es sich gehörte, lächelte sie zurück und blickte dann weg. Sie war eindeutig aus dem Flirt-Alter raus. Und soweit, dass sie ohne Scham seine wohlgestaltete Bauchmuskulatur, auf die die Frühlingssonne gerade die Täler nachzeichnete, betrachten und genießen konnte, war sie noch nicht.

"Der Eisbach ist schon etwas wunderbares, nicht wahr?" Ein kleiner, älterer, rundlicher Mann setzte sich auf die Bank neben sie. Und sie könnte heute noch schwören, dass er so ausgesehen hatte, wenn sie ihn auch anders erinnerte, jedesmal wenn sie später an diese Begegnung dachte. Jedesmal, wenn sie später an diese Begegnung dachte, war er schöner. Größer. Jünger. Stattlicher. Den Bart und die halblangen Haare hatte er in ihrer Erinnerung behalten, aber sein Zwergengesicht war kantig und markant.

"Hier besitzt die Isar ja noch ihren eigenen Namen. Eis und Isa, Sie verstehen?"

Sie nickte.

"So ist sie. Wild. Unermüdlich…"

"Vielleicht auch gnadenlos", fügte sie hinzu, nachdem wieder einer gefallen war.

"Tja, wenn einer sie nicht reiten kann, dann lehrt sie ihn das Fallen."

Dann lehrt sie ihn das Fallen. War das nicht was, was man gar nicht lernen konnte? Weil man doch einfach fiel.

Gerade eben hatten sie noch zusammen gelacht und plötzlich, und sie wusste nie warum, war die Stimmung gekippt. Gerade eben noch war sie ins Bad gegangen und war dankbar gewesen, dass es heute nicht zum Äußersten gekommen war, dann lächelte sie. Sie kam zurück - und alles war anders. Er begann wieder mit Giftpfeilen zu schießen. Zuerst nur ganz kleine, säuberlich platzierte, die sie noch wegzulächeln versuchte. Dann gröber. Und das Lächeln in ihrem Gesicht, das ihr so gefallen, ihr für einen Moment so gut getan und das Vertrauen wiedergeschenkt hatte, gefror zu einer verzerrten Fratze.

Sie lächelte. Immer lächelte sie.

Warum eigentlich? War es ein Schild?

Eines, das sie irgendwann nicht mehr abnehmen und auch nicht mehr tragen konnte. Das Lächeln wurde ihr erstarrtes Antlitz.

Und mit der Fratze kamen die Schläge. Die Fratze war die Provokation. Zumindest betonte er das immer wieder. Zumindest hatte er das immer betont. Solange er sich dafür entschuldigt hatte. Geschworen hatte, dass es nie wieder vorkäme. Heute tat er sich damit leichter. Heute erinnerte er sich schlicht nicht mehr daran.

"Die Isar war überall so. Gerade auch draußen am Flaucher. Ein reißender, lebendiger Fluss. Zumindest bevor sie sie hier in Mauern gezwängt und gezähmt haben. Hat ein bisschen was von Tierpark", kicherte er. Und sein Kichern hatte sowas kindliches, das irgendwie die verbliebenen Blätter tanzen ließ und es war, als gluckerte der Bach wellenförmig mit. Bevor er wieder mit dem weitermachte, wozu er hier war: Mit Menschen zu spielen.

"So", sagte er und stand auf. "Ich muss mich noch ein bisschen bewegen, solange die Sonne noch scheint. Die morschen Knochen wieder ans Leben gewöhnen, Sie verstehen?" Dann lüpfte er seinen grünen Hut und spazierte aufrecht davon.

Auf dem Platz, auf dem er gesessen hatte, lag eine Kette mit einem Anhänger. Die hatte er wohl verloren.

Schnell wollte sie ihm noch hinterher, doch er war wie vom Erdboden verschluckt. Seltsam.

Seltsam auch, das diese Kette in ihrer Hand sich so anfühlte, als gehörte sie zu ihr. Der Anhänger, nicht größer als ihr Daumennagel, war in billiges Blech gestanzt und zeigte eine Mariendarstellung.

Nun, wenn er versucht hatte, sie zu missionieren, dann hatte er wohl bemerkt, dass sie kein geeignetes Opfer war. Und doch.

Wenn sie einmal richtig hinspürte, einmal ihrem Gefühl wieder vertrauen würde, da konnte sie die Gänsehaut wahrnehmen, die sie hatte. Anders als die, die die Kälte hervorruft. Mehr eine Ahnung. Eine Ahnung davon, dass gerade etwas Bedeutsames geschehen war.

Sie schüttelte die Gefühle weg als wäre sie einer der Surfer und wäre gerade eben selbst aus dem Eisbach gestiegen, steckte die Kette ein und ging.

Es war bestimmt nicht einfach. Sie war bestimmt nicht einfach.

Einmal im Monat lag sie darnieder. Einmal im Monat presste sie wieder ein Ei raus. Eines, das wieder nicht aufgegangen war. Wie so viele.

Sie erkannte, was er glaubte.

Sie saß auf der Stange, gackerte und versuchte ein Kapitel zu legen. Wenn schon kein Kind, dann wenigstens einen, ja, fiel ihr gerade nicht ein. Oder doch.

Einen Wechselbalg. Oder wenigstens irgendwas produktives.

Doch das einzige, was sie fühlte, war Schmerz.

Schmerz.

Versteht das heute überhaupt noch jemand? Oder rennt jeder gleich in die Apotheke und holt sich das, was ihn wieder gefügsam macht?

"Arbeite!", hatte er gesagt. Und "Ich glaube dir nicht einmal, wenn du tot auf dem Boden liegst".

Was hatte sie eigentlich davon abgehalten tot auf dem Boden zu liegen?

Oh ja, bestimmt ihr eigener Wille ihm beweisen zu wollen, dass sie seinem Willen bestimmt nicht nachgab. Tot auf dem Boden liegen? Nicht, weil du es willst.

Aber Leben hatte sie dadurch nicht gewonnen.

Sie schmunzelte.

Der Tod war ihr bekannter, vertrauter als das Leben. Eigentlich war er ein Freund. Ein guter sogar. Einer, der immer an ihrer Seite stand und auch immer zu einem Plausch bereit war darüber, ob sie sich nun mit ihm zusammen tun sollte oder nicht.

Eigentlich hatte sie in den letzten Jahren nur noch mit ihm geredet.

Doch kehren wir zurück. Zurück zu dem, was vorbei und nicht mehr als Druckmittel zur Verfügung stand.

Oh Gott. Sie hasste ihn. Sie hasste ihn und sein Jammern. Denn sie wusste: Es war nur ein Bruchteil von dem, was sie hatte erleiden müssen.

Und wenn auch nicht. Und wenn auch nicht. Niemand hatte es in ihren Augen verdient, einen Schmerz dieser Art tragen zu müssen. Alle anderen ringsum hätten tragen müssen.

Ertragen müssen und halten müssen. Einfach nur akzeptieren. Nichts mehr.

Zumindest sah sie das so. So war sie erzogen worden.

Das war der Grund, warum sie seine Schmerzen ertrug. Und die waren zahlreich.

Sie hasste den Flaucher. Schon ganz oben an der Brücke, wo unzählige Kettenschlösser von ewiger Liebe zeugen sollten. Zack, abgesperrt und den Schlüssel für ewig ins eisige Grab geschmissen. Ob die Leute, die das taten, wirklich wussten, was sie da taten? Für immer und ewig? Gott, wie sie den Flaucher hasste.

Diese überbevölkerte Kiesbank, die nach jedem Wochenende aussah wie eine Müllkippe in der dritten Welt, weil die sogenannten Naturliebhaber vor allem sich selbst liebten und zu faul waren ihren Wohlstandsdreck nach diesem erholsamen Tag in der Natur auch wieder mit nach Hause zu nehmen. Irgendjemand würde sich schon darum kümmern. Jemand, der dafür bezahlt würde. Von den eigenen Steuergeldern, die man tunlichst zu bezahlen vermied.

Dieser steinige Anschein von unberührter Natur, der da zwischen Tierpark und Hochhäusern lag und, wie sie jetzt feststellte, wo sie über die lange Holzbrücke ging, ausgetrocknet war wie ein alter Haifischknochen. Sicherlich auch eine Folge der Überbevölkerung.

Nein. Auch deswegen hatte sie keine Kinder gewollt. Nicht in diese Welt.

Vielleicht ganz am Anfang ihrer Beziehung. Aber selbst da wäre es nur ein Platzhalter gewesen für das Wir, das nie existiert hatte.

Und nein, ganz bestimmt hätte sie nie ein Kind aufziehen wollen mit ihm. Vielleicht wäre das Kind ein Grund gewesen, groß genug ihn zu verlassen. Wenigstens es schützen, wenn sie sich schon nicht selbst beschützen konnte.

Die dicken Holzplanken unter ihr rumorten, wenn passend gestylte Radfahrer oder joggende Mütter mit Kinderwagen und Handy am Ohr über die ausgebleichte Holzbrücke trampelten. Fehlte nur noch das obligatorisch münchnerische "Schleich di" und wenn man dann was entgegnete "Hoid dei Fotzn", schon allein deshalb hielt sie sich am äußersten rechten Fahrbahnrand.

Ihr Blick fiel wieder zuerst auf das ausgetrocknete Bett unter ihr - und dann auf das, was darin lag. Töpfe mit Essensresten vergammelten in der prallenden Sonne, neben denen halbleere Flaschen mit Putzmitteln standen, die wohl eher selten benutzt wurden. Etwas weiter weg, im Gebüsch, hing ein modriger, sicherlich stinkender Schlafsack. Und sie konnte sich nicht erklären, ob er dazu gehörte, oder irgendwann mal vergessen worden war.

Säuberlich aufgereiht am äußersten Ende des Bettes standen Schuhe und lenkten ihre Vorstellung in eine sie bestätigende Richtung. Hier musste einer hausen.

Hier lebte jemand. Oder was man eben so leben nannte. Wenigstens war er frei.

Nur wenige Meter weiter ein Kindergarten. Ein Pulk von fröhlich zwischen den trockenen Steinen spielenden Kindern, dazwischen zwei Erwachsene. Ob das einer von diesen Draußen-Kindergärten wäre? Ohne Begrenzung? Immer inmitten und mit der Natur? Hätte sie sich das gewünscht als Kind?

Nun, sicher nicht, dann aus ungewaschenen Töpfen zu essen - sollte der Müll von eben zu ihnen gehören.

Ach, und dahinten waren ja auch schon die Nackerten.

Sie fröstelte. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre trotz der Frühlingssonne, sie hätte sich gerne dazugelegt.

"You make me feel, you make me feel, you make me feel like a natural woman". Aretha Franklin sang sich da gerade in ihre Gedanken und es dauerte eine Weile, bis sie sich daran erinnerte, dass es ja ihr Klingelton war, der da so beharrlich war.

Sie würde ihn ändern müssen.

"Humbolt?"

"Damien, setzt du dich bitte wieder auf deinen Platz? Ich würde gerne in Ruhe telefonieren. Danach bin ich gleich bei dir."

Sanftes Kinderlachen und geschäftiges Treiben kam aus dem Lautsprecher.

Sie glaubte, die Grundschullehrerin erkannt zu haben, und wiederholte.

"Humbolt."

"Hallo, Frau Humbolt! Irina Singer hier von der Marienschule. Ich wollte mich nur einmal kurz bei Ihnen melden, wegen dem Quartett."

Des Quartetts. Es musste 'des Quartetts' heißen. Sie zwang sich zur geraden Haltung des Zuhörens zurück.

"Haben Sie da schon einmal vorgefühlt?"

Abrupt blieb sie mitten auf der Brücke stehen und ihr Gehirn sprang an. Das tat es immer in solchen Situationen und jagte dann, Impulse gebend und ihnen folgend, in alle Richtungen davon.

Hatte sie vorgefühlt?

Was war das eigentlich, fühlen?

Konnte sie das überhaupt?

Wen hätte sie fragen sollen?

Und vor allem nach was?

Hatte sie ein Versprechen gegeben, das sie jetzt nicht einhalten konnte?

Wollte sie es überhaupt einhalten?

Was würde es kosten, es einzuhalten?

Würde sie den Preis zahlen wollen?

Und hatte sie überhaupt den Mut dazu.

Wie so oft in letzter Zeit, wenn zu viele widersprüchliche Gedanken gleichzeitig in ihrem Kopf durcheinander brüllten, tat sie das einzige, was ihr noch zu tun im Rahmen ihrer Möglichkeiten blieb. Sie wurde starr und sagte die Wahrheit.

"Nein."

Sie suchte keine Ausflucht. Da, an das Holzgeländer gelehnt, unter sich eine Müllhalde aus Schlafsäcken, Decken, Schuhen und Töpfen und einem Kindergarten, blieb sie einfach stehen.

"Nein."

Ihr Kopf, ihr Körper aufrecht. Denn es war wahrhaftig, was sie sagte. Es war die Wahrheit. Wozu sich also noch wegducken?

Das Treiben im Hintergrund wurde lauter.

"Das macht nichts. Ich wollte mich nur mal wieder melden. Jetzt muss ich zurück an die Arbeit, Sie hören es ja." Mit einem Lachen verabschiedete sich Frau Singer aus der Marienschule und legte auf.

Sie stand noch immer da. An das Holzgeländer gelehnt. Irgendwas war geschehen.

Irgendwas in ihr war an den richtigen Platz gerutscht. Hier, auf der Brücke über der Steinwüste und der Müllhalde.

Irgendwas hier zwischen all den Nackerten.

Endlich ein Ausweg. Nach links hinein unter die Bäume. Weg von den Nackerten, die rechts lagen.

Nach links hinein! Was für ein Irrsinn!

Vor ihr lag der Damm. Die Isar zwischen Mauern gebettet. Wenigstens ruhig. Da waren keine hindernden Wehre um die Sauerstoffqualität aufzubessern.

Wenn sie das schon hörte. Ach ja? Man konnte besser atmen mit einem Wehr? Etwas, das einen brach? Den Fluss brach?

Schrill und laut lachte sie auf. Was für ein Irrsinn!

Neben ihr bewegte sich etwas. Da saß ein Vogel im Ast. Keinen halben Meter von ihr entfernt und zwitscherte.

Den Schnabel weit aufgerissen.

Und heraus kam ein Lied.

Was sollte das schon heißen, ein Lied? Eine melodische Abfolge von Tönen, Sequenzen. Zumindest das, was wir als melodisch bezeichnen würden. Ein, sagen wir, Asiate würde das mit großer Wahrscheinlichkeit anders hören.

Schwarz der Schnabel und rot die Brust.

Und jetzt?

Sie suchte sich einen ausgetretenen Platz an der Mauer und setzte sich. Packte die Semmel aus, die sie gerade in der U-Bahn gekauft hatte, und aß.

Und wieder war diese Bewegung neben ihr. Hatte dieser Vogel denn nichts anderes zu tun?

War ja klar. Sie hatte den Samen in der Hand. Ihr Vollkornbrötchen war voll davon!

Mit kräftigem Griff rieb sie ein paar Sonnenblumen- und Leinsamenkerne von der Schale ab und warf sie in Richtung des singenden Vogels.

"Jetzt bloß nicht hinschauen", dachte sie noch und öffnete den Artikel, den sie am Wochenende bereits angefangen hatte.

Irgendwann, so las sie, waren die sich auftürmenden Gesteine so übergreifend geworden, dass sie die weiche Erde, die dahinterlag, aufschoben. Sich mit roher Gewalt Platz verschafften. Das Meer, denn das war es einmal gewesen, dieses Stück Land auf dem sie jetzt saß, musste weichen. Und alles Leben in ihm mit.

Sie erfuhr, dass dies einst die Heimat von solch anmutigen und wilden Tieren wie Haien und Rochen gewesen war, die jetzt dem fachkundigen Auge von ihrer einstigen Existenz zeugten. Versteinert. Für immer in die Starre gebannt.

Für immer unbeweglich. Sich nicht mehr dem sanften Schaukeln des tiefen Ozeans hingebend. Und schließlich ganz abgeschnitten vom lebendigen Wasser des Lebens.

Getrennt. Gestorben. Gesunken. Für immer verloren. Getrennt.

Ganz sachte suchten sich kleine salzige Tränen ihren Weg aus den ausgetrockneten Augen und brannten schmerzhafte Spuren in ihre Wangen, während neben ihr das Rotkehlchen aus voller, stolzgeschwellter Brust sang, was der Atem hergab.

"Die Kiesel in der Isar sind ja gar kein Gerölle. Mehr ein Geschiebe."

Woher war das gekommen?

"Die hohen eisigen Gletscher sind irgendwann abgetaut und das wilde Wasser hat Gesteinsbrocken mitgenommen. Mit riesiger Kraft vom Berg hinabgespült und kugelrund gedreht. Oben an die Berg gibt's noch Murmelfabriken. Schauen Sie!"

Eine runzlige, an harte Arbeit gewohnte Hand reichte ihr einen kleinen schwarzen Stein.

Da erst blickte sie auf.

Er war es wieder. Der Alte vom Eisbach.

"Was für ein wunderschöner Zufall, dass wir uns hier treffen." Er lächelte.

"Der schwarze hier entstand im Oberen Trias, ist also ungefähr 200 Millionen Jahre alt. Wo er geboren wurde, da gab es mal ein Riff. Und die weißen Äderchen und Punkte da, das sind fossilierte Korallen. Schön, nicht?"

Irgendwie hatte dieser Stein ein Gesicht wie der dumme Willi, Majas einfältiger Bruder. Jetzt lachte sie auch.

"Hier floss ja einst die Loisach. Die Isar war viel weiter drüben."

Die Loisach? Die floss doch weiter südlich in die Isar? Wie sollte das gehen? Wie sollte das gehen, dass ein Fluss so gänzlich aufgehoben wurde? Indem einfach ein anderer Fluss kam und ihn unterwarf und ihn und seinen Namen einfach auslöschte? Oder die, die die Namen vergaben, ihn einfach strichen, einfach weil es ihnen so besser gefiel.

Als hätte der alte ihre Gedanken gelesen, plauderte er weiter.

"Der Fluss war hier einst wild. Das ist gar nicht so lange her. Schauen Sie, dort hat man extra eine Kirche gebaut, um sich vor der immer drohenden Gewalt des mächtigen Wassers zu schützen. Die Wehre und Mauern kamen erst später. Früher hat man halt einfach nur gebetet."

Er tauschte die Murmel in ihrer Hand gegen einen flachen Stein.

"Der rote hier ist ein Radiolarit. Er kommt aus der ganz tiefen See. An den weißen Adern erkennen Sie, dass der Stein stark gequält ist. Und der weiße Calcit, hier, die feinen Streifen, hat ihn mehrmals ausgeheilt. Er heißt Radiolarit, weil er aus dem Skelett von Einzellern desselben Namens besteht.” Er schmunzelte spitzbübisch. “Sehen Sie, er ist ganz flach. Das Wasser schiebt ihn am Grund ganz langsam vor und zurück. Die Achterbahnfahrt hat er quasi hinter sich." Damit lachte er ein seltsam tiefes, fast gurgelndes Lachen, als käme er selbst von diesem Grund, über den er redete.

"Und in 1500 Jahren wird er in der Donau sein. Der hat eine andere Vorstellung von Zeit."

Er nahm den Stein aus ihrer Hand, pustete ihn an und warf ihn in die Isar zurück.

Ein aufdringliches Rascheln verriet, dass eine Amsel die Krumen entdeckt hatte und jetzt unter den Blättern des letzten Sommers weitersuchte.

Als sie sich wieder zu ihm drehte, war er verschwunden.

Zeit zu gehen. Das war ihr hier zu... Sie wusste es nicht, was es war.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle las sie, nur um sich abzulenken und ihre Gedanken an etwas realem festzuhalten, die Werbung des gegenüberliegenden Tierparks, an dessen Toren fröhlich lachende Menschen darauf warteten, endlich eingelassen zu werden. Unfreie Menschen betrachten eingesperrte Tiere, um sich davon zu überzeugen, dass sie selbst es eigentlich doch ganz gut hatten.

"Entdecke die Tierwelt Afrikas" und "Entdecke die Vielfalt der Polarwelt".

Nein.

Da war es schon wieder, dieses Nein...

Nein. Von beidem hatte sie jeden Tag Zuhause genug. Von bissigen Löwen, ewigem Eis, keinem Leben und Gitterstäben, hinter denen keine Welt lag. Genug. Sie hatte genug davon.

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