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Das Geheimnis des Monsieur Arnaud

Das Geheimnis des Monsieur Arnaud · Sci-fi und Fantasy

Der melancholische Arnaud erlangt auf mysteriöse Weise seine Jugend zurück und verzaubert die junge Colette mit gefährlichem Charme.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Was gibt es Schöneres, als andere Menschen zum Träumen zu bringen? Seit 6 Jahren teile ich meine romantischen Fantasy-Geschichten mit meinen LeserInnen und erlebe dabei selbst wunderbare Glücksmomente, wenn sie mir nach dem Lesen meiner Bücher von ihrer Begeisterung für meine Figuren berichten. Mit "Das Geheimnis des Monsieur Arnaud" wollte ich ihnen einen weiteren Vampirroman schreiben, der diese geheimnisvollen Geschöpfe anders präsentiert als in der gängigen Literatur. Da auch ich wie so viele andere immer wieder mit depressiven Phasen zu kämpfen habe, musste sich dieses Thema irgendwann in meinen Geschichten niederschlagen. Meiner Erfahrung nach kann die Liebe dabei helfen, die Krankheit in den Griff zu bekommen. So möchte ich anderen Hoffnung geben und gleichzeitig Nichtbetroffene darauf aufmerksam machen. Dennoch ist die Geschichte nicht düster, sondern ganz im Gegenteil humorvoll erzählt. Außerdem suche ich immer nach ungewöhnlichen ProtagonistInnen. Hier ist es eine Pflegedienstmitarbeiterin - eine Berufsgruppe, die endlich mehr gewürdigt werden sollte, was mir beim Schreiben von "Das Geheimnis des Monsieur Arnaud" auch sehr wichtig war.

Über den/die Autor:in

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Odine Raven ist eine gebürtige Rheingauerin, lebt aber inzwischen mit ihrem Mann und den Kindern an der hessischen Bergstraße. Sie schreibt hauptsächlich Fantasyromane für jedes Alter und betätigt sic...

Rue de Belfort. Hier musste es irgendwo sein.

Colettes Twingo fand einen passablen Parkplatz auf dem Seitenstreifen. Der Schriftzug auf der Heckscheibe des kleinen Autos verriet, dass es zu einem privaten Pflegedienst gehörte, ihrem Arbeitgeber.

Auf dem Auftragsformular war eine Hausnummer vermerkt. Das heruntergekommene, graue Gebäude aus dem vorletzten Jahrhundert, an dem sie auf einem verwitterten Schildchen zu entziffern war, lag nicht weit entfernt.

Schön, das hatte ja prima geklappt, der Rest war Routine.

Sämtliche Fensterläden zugeklappt. Fensterläden!

Die junge Frau mit dem aschblonden, locker geflochtenen Pferdeschwanz studierte das verrostete Klingelschild.

Arnaud. Da wollte sie hin. Ein betagter, kränklicher Herr, so hatte man ihr mitgeteilt, gewiss zumindest geistig sehr rege, aber doch zu gebrechlich, um die einfachsten Dinge des Alltags noch selbst zu bewältigen.

Dafür gab es Colette. Die studierte Kunsthistorikerin hatte resigniert den Traum begraben, in ihrer gewählten Zunft ihr täglich Brot zu verdienen. Pflegekräfte hingegen besaßen Hochkonjunktur!

„Sie haben Ihren Opa bis zu dessen Tod gepflegt?“, war vor einem knappen Dreivierteljahr eine Frage im Vorstellungsgespräch gewesen, die sich ihr besonders ins Gedächtnis gebrannt hatte. Auf ihr verwirrtes Kopfnicken hin hatte sie kurzerhand den Job erhalten. Seither klapperte sie die Alten und Gebrechlichen der Stadt in ihrem Firmenwagen ab, wusch faltige Gesichter, flößte pampigen Brei in zahnlose Münder und tätschelte welke Hände, die ihre kaum loslassen mochten.

Kein schöner Job, aber Colette kam ganz gut damit zurecht. Sie wusste, was sie den Kunden, die man ihrer Pflege anvertraut hatte, bedeutete. Mit ihrem stets fröhlichen Gemüt war sie die aufgehende Sonne, die mit ihren hellen Strahlen die vergessenen, bedauernswerten Seelen wärmte und ihnen die trostlose verbliebene Zeit auf Erden ein wenig verschönte. Die Gewissheit, zahllosen Menschen ein unverzichtbarer Freund zu sein, gepaart mit einem Monatslohn, von dem sie zumindest ihre Miete bezahlen und für einen Urlaub sparen konnte, waren mehr, als sie in diesem abgelegen Winkel des Landes hatte erwarten können.

Sie drückte die Klingel. Nichts zu hören. Sollte sie nochmal ...?

Ein undefiniertes Bauchgefühl ließ sie gegen die Haustür drücken, und siehe da, sie war gar nicht verschlossen.

Ein düsterer Flur empfing sie. Rechter Hand befand sich eine ausgetretene, geschwungene Treppe ins Obergeschoss, unter der man sinnigerweise ein praktisches Kabinett eingebaut hatte. Eine Tür mit bunten Butzenscheiben beschloss den Gang am jenseitigen Ende, doch auch im dahinterliegenden Raum ließen die deckenhohen, geschlossenen Läden nur vereinzelte Lichtstrahlen durch die Fugen eindringen. Ob der Garten dahinter so verwildert war, dass der Bewohner des Hauses die Sicht dort hinaus nicht ertrug? Zu beiden Seiten des Flures führten jeweils zwei massive Holztüren in verborgene Räumlichkeiten.

„Hallo? Monsieur Arnaud? Sind Sie da?“, rief Colette beherzt in das muffige Halbdunkel.

Keine Antwort.

„Monsieur Arnaud? Ich bin es, Colette Lacroix vom Pflegedienst!“, versuchte sie es erneut.

Ein leises Kratzen lockte sie den Gang hinunter. Ein bisschen mulmig war ihr schon, wie sie da unaufgefordert die fremde Wohnung betrat, doch rührte dies weniger von der Befürchtung, dabei ertappt und barsch des Hauses verwiesen zu werden, als von der durchaus reellen Angst, einen leblosen, halbverwesten menschlichen Körper in einem der Räume aufzufinden, wie es ihrer Kollegin Julie vor einigen Wochen passiert war.

„Hallo? Monsieur Arnaud? Sind Sie zu Hause?“ Colette lauschte angestrengt, ob nicht ein weiteres Geräusch ihr den Weg weisen mochte.

Das tat es zwar nicht, doch schien eine der hinteren Türen nur angelehnt zu sein. Mutigen Schrittes lief sie darauf zu und drückte sie vorsichtig auf.

„Hallo?“ Sie spähte in der Stube umher, soweit es die wenigen spätsommerlichen Sonnenstrahlen erlaubten, die auch hier einen Weg durch die Ritzen der brüchigen, geschlossenen Fensterläden gefunden hatten.

Du liebe Güte, wie sah es hier bloß aus! Welch ein Chaos! Da hatte jemand seit Jahren nicht mehr aufgeräumt! Geschweige denn staubgewischt und geputzt! Fuck Alzheimer! War der alte Herr doch nicht so beisammen, wie es die Chefin behauptet hatte.

Behutsam trat Colette näher. Verstaubte Bücherregale, ein antikes Sofa mit aufgeplatzten Nähten und passende Sessel voller modriger Kissen und Decken, Art Nouveau Tischchen mit vergessenem, schmutzigen Geschirr darauf – nein, hier konnte unmöglich jemand wohnen. Dieser Ort schien lange verlassen.

Eine Skulptur auf dem Sims des erloschenen Kamins erweckte ihre Aufmerksamkeit. Gleichfalls Jugendstil. Eine barbusige Schönheit, die auf den ausgebreiteten Schwingen eines Adlers Platz genommen hatte, der sie von unten anschmachtete. Im Original sicher wertvolle Kunst, aber die Kopie nichts weiter als kitschiger Plunder.

Colette hob die Plastik an. Oha, ganz schön schwer! Dann doch richtige Bronze! Die Expertin suchte und fand eine Signatur – Milo! Ah, also zeitgenössisch. Ein Massenartikel, wenngleich kunstfertig und teuer. Die Vase daneben hingegen entpuppte sich als echte, kostbare Émile Gallé! Eine Schande, darin den längst zu brüchigem Braun verwelkten Strauß undefinierbarer Blumen stehen zu lassen!

„Sie sind also Colette“, raspelte eine schwache Stimme aus dem Nichts.

Die junge Frau fuhr erschrocken herum! Was? Wie? Woher ...?

Da entdeckte sie die Gestalt auf einem der Sessel, so grau, so durchsichtig und unscheinbar, dass sie sie beim ersten Hinsehen gar nicht bemerkt hatte. Ein uralter Mann mit zerfurchtem Gesicht, eingesunkenen Augen und letzten weißen Haarsträhnen, die eher an Spinnweben erinnerten, saß da, einem Gerippe ähnlicher als einem lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut.

Monsieur?“ Colette hatte es die Sprache verschlagen. Wie peinlich! Was musste er von ihr halten? Und ... was sollte sie von ihm halten, der er hier so gottverlassen dahinvegetierte?

„Ich habe Sie erwartet“, fuhr er ungerührt fort. „Gefällt Ihnen meine Sammlung?“ Er hob mühsam die rechte Hand, um in Richtung Kamin zu deuten, und ließ sie alsbald kraftlos wieder fallen.

„J-ja, sehr hübsch ... ähm ... Art Nouveau.“

„Ah, Sie kennen sich aus.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem geisterhaften, zahnlosen Grinsen.

„Ja, Monsieur. Ich  ... ähm ... Sie haben unseren Pflegedienst beauftragt, ähm ...“ Nanu? Sie war doch sonst nicht so auf den Mund gefallen!

„In der Tat, ja ... es ließ sich nicht umgehen. Nun, Sie dürfen anfangen.“

„Womit?“

„Mit der Pflege. Was auch immer Sie da machen.“ Hätte er über mehr Kraft verfügt, hätte Colette seine angedeutete Handbewegung sicher als ungeduldiges Winken verstanden.

„Ja, also ... ähm, normalerweise geht es um Medikamentengabe, Körperpflege, Hilfe bei den Mahlzeiten und so.“ Sie hatte keine Ahnung, was der Greis von ihr erwartete. Für gewöhnlich lag ein Handbuch für sie bereit und eine saubere, aufgeräumte Küche, Essen auf Rädern vielleicht, Medikamente auf dem Nachttisch.

„Nur zu.“

„Haben ... haben Sie Tabletten einzunehmen?“

Er lachte verächtlich auf, bis er husten musste.

„Alles in Ordnung, Monsieur? Wenn Sie mir sagen, wo die Küche ist, mache ich Ihnen sehr gerne einen Tee.“

Er winkte sie erschöpft zu sich. „Helfen Sie mir hoch, ich zeige Ihnen alles“, murmelte er.

Der fragile Mann ließ sich von ihr in die Höhe ziehen. Oh Gott, er wog fast gar nichts! Völlig ausgemergelt. Ob er regelmäßig zu essen bekam? Immerhin schien er sich halbwegs sicher auf den Füßen zu halten.

Colette hätte schwören mögen, dass wahre Staubwolken emporwirbelten von da, wo er eben noch gesessen hatte.

Fest an ihren angewinkelten Arm geklammert, schlurfte der Alte zielstrebig, wenn auch wacklig, aus dem Zimmer und zur gegenüberliegenden Tür. Diese knarzte auf, als sei sie lange nicht bewegt worden, und gab den Blick frei in eine gleichermaßen verdunkelte, muffig riechende Küche, in der sich – wen wunderte es – das schmutzige Geschirr auf dem altmodischen Mobiliar stapelte und auch sonst ein heilloses Durcheinander im hoffnungslosen Schein weniger verirrter Sonnenstrahlen herrschte.

Automatisch suchte und fand Colette den Lichtschalter. Nichts. Sicher war die Glühbirne kaputt. Wie kam der alte Mann bloß in dieser Düsternis zurecht? Ach so. Gar nicht, wie’s aussah.

„Warten Sie, ich mach mal den Laden auf“, schlug sie vor und schob ihren Auftraggeber behutsam in den Raum, um ihn auf einen Stuhl zu setzen. Nachdem sie einen Stapel zerfledderter Zeitungen unbeholfen von dort auf den Boden befördert hatte.

„Nein! Zulassen!“, herrschte der Alte sie unerwartet scharf an.

„Aber hier ist es stockdunkel! Wie soll ich denn ...?“

„Da drüben ist eine Kerze.“

„Aber Monsieur! Da draußen ist bester Sonnenschein!“

„Mir egal!“

„Wollen Sie nicht ... die Sonne tut doch so gut!“

„Mir nicht!“

„Ihnen – wie meinen Sie das?“, fragte die junge Frau verdutzt.

„Ist egal. Machen Sie die Kerze an!“ Alte Leute konnten ja sowas von störrisch sein!

Nun, sie musste es ja nicht verstehen. Artig kam Colette seiner Aufforderung nach und besah im flackernden Kerzenschein das verdreckte Tohuwabohu.

„Ist lange nichts gemacht worden hier“, mühte sie sich betont unbekümmert um etwas Smalltalk.

Der Alte brummte nur unwirsch.

„Haben Sie irgendwo Tee?“

„Im Schrank.“ Er winkte ungeduldig mit der Hand.

Nun, ein Wasserkessel stand auf dem altmodischen Ofen, dessen verkrustete Herdplatten immerhin durch ein flackerndes Lichtchen beim Betätigen des Drehknopfes Funktionsbereitschaft signalisierten. Der Wasserhahn an dem überquellenden Spülbecken erwachte stöhnend zum Leben und spie nach einer Weile sauberes Wasser von sich – was wollte man mehr.

Über der Spüle befand sich ein Regal, in das man vielleicht die Tassen nach dem Abwaschen einräumen konnte – und eine Wandlampe mit Zugschalter.

Voller Hoffnung zupfte Colette daran – und wurde von Erfolg belohnt! Eine matte 20 Watt Kerze glomm auf.

„Was dagegen wenn ich mir ein bisschen Licht mache?“, bat sie hastig um Erlaubnis.

Doch der Alte stierte nur vor sich hin. Bedauernswerte Kreatur. Ganz blass mochte er sein, selbst im orangeroten Schein der schwachen Glühbirne.

Im Wandschrank entdeckte Colette mehrere Päckchen Beuteltee. Lange abgelaufen. Na, was sollte schon daran sein?

Während der Wasserkessel schnaufend seiner Arbeit nachkam, machte sich die junge Frau an der Spüle zu schaffen. War kein Act, dem Alten ein wenig das Geschirr abzuspülen, selbst wenn es nicht zu ihren Aufgaben zählte.

„Haben Sie keine Putzfrau?“, erkundigte sie sich höflich.

„Was?“ Er schreckte aus welcher Welt auch immer hoch.

„Ob Sie keine Putzfrau haben. Wir können Ihnen jemand vermitteln.“

„Putzfrau ... doch ... ja ... nein ... sie war lange nicht da.“

„Soll ich Bescheid geben, dass Sie jemanden brauchen?“, bot sie freundlich an.

„Ich brauche niemanden“, entgegnete Monsieur Arnaud trotzig.

„Nein? Aber hier müsste mal ein bisschen aufgeräumt und geputzt werden.“

„Das machen Sie.“

„Was?! Ich? Äh ...“ Nun war sie sprachlos.

„Ja, Sie. Ist doch nur ein bisschen, haben Sie selbst gesagt.“

„Also eigentlich ...“, versuchte sie höflich, aber bestimmt aus der Nummer herauszukommen.

Ehe ihr eine passende Entgegnung einfiel, redete der Alte jedoch schon weiter. „Stellen Sie sich nicht so an. Ich bezahle Sie schließlich.“

„Ja, aber für Pflege und so.“

„Wenn Ihnen die Vase gefallen hat, vererbe ich Sie Ihnen“, verkündete er mit der Andeutung eines Grinsens.

„Monsieur, ich ...“

Das Pfeifen des Wasserkessels schnitt ihr das Wort ab. Erleichtert goss sie den Tee auf.

„Zucker?“ Sie blickte suchend umher.

„Im Schrank. Machen Sie sich keinen?“

Äh ... na ja, warum nicht. Die Tassen waren gespült, und es kam schon mal vor, dass die alten Herrschaften um Gesellschaft beim Tee baten.

„Haben Sie etwas gegessen?“, erkundigte sich Colette besorgt, während auch sie sich einen Tee brühte.

„Sicher, sicher“, murmelte Arnaud.

„Wenn ich Ihnen schnell was zubereiten soll?“

„Tun Sie was Sie wollen.“

„Heißt das jetzt ...“

„Machen Sie.“

Also gut, nicht aufregen. Die betagten Kunden waren mithin ein wenig wunderlich, gehörte zum Berufsalltag dazu.

Der Kühlschrank war leider nicht nur leer, sondern auch hoffnungslos verschimmelt. Oje! War überhaupt irgendetwas Essbares im Haus?

Da, im Wandschrank, Tütensuppe. Hm, hätte laut Aufdruck lange vor ihrem Examen verzehrt werden sollen. Egal. Colette überwand ihre Skrupel – „mindestens haltbar bis“ hieß schließlich nicht „absolut tödlich ab“, und selbst wenn langfristig eine Gesundheitsgefährdung zu befürchten war, würde Monsieur sie wahrscheinlich nicht erleben. Zynismus? Ja klar, was denn sonst?

Bald duftete es in der Küche nach Hühnchen und Hefeextrakt.

„Bitte sehr.“ Colette reichte dem Alten einen dampfenden Teller mitsamt Löffel. „Bon appétit.“

Schweigend nahm er die Suppe entgegen und fing an, mit zittriger Hand die Brühe zu löffeln. Die wabbeligen Pseudonudeln stellten dabei zum Glück kein Hindernis für seinen zahnlosen Mund dar.

Während Monsieur schlürfend die wärmende Mahlzeit zu sich nahm, kümmerte sich Colette um den Zustand der Küche.

Beherzt spülte sie sämtliches Geschirr, wusch die Schränke aus, um es dort sauber zu verstauen, und unterzog den Kühlschrank einer gründlichen Reinigung mit Spülmittel und Essig, den sie ebenfalls im Wandschrank gefunden hatte.

Dabei registrierte sie das Nichtvorhandensein weiterer Lebensmittel und beschloss, für den Alten einkaufen zu gehen.

Sie wollte ihm gerade ein entsprechendes Angebot machen, da realisierte sie, dass er, längst fertig mit seiner Suppe, jede ihrer Bewegungen aus aufmerksamen Augen verfolgte, die zu neuem Leben erwacht schienen und nun aufgeregt blitzten.

„Hat es Ihnen geschmeckt? Möchten Sie noch einen Teller?“, erkundigte sie sich dienstbeflissen.

„Danke sehr, Mademoiselle, es war ganz vortrefflich“, entgegnete er mit einem angedeuteten Schmunzeln im Gesicht.

Auch Colette musste jetzt lächeln. Diese Momente waren es, die sie ihre Arbeit lieben ließen.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, erkundigte sie sich zuvorkommend.

„Wenn Sie so freundlich wären ... in meine Bibliothek ...“

Er wollte ins Nachbarzimmer zurück geleitet werden, wie es schien.

Nun, ihre Zeit bei dem neuen Kunden war ohnehin längst überschritten. Die Reste der Suppe standen auf dem Herd bereit für Monsieur, weitere Hilfe lehnte er ab, bis auf ihren Vorschlag, einige wesentliche Dinge für ihn einzukaufen. Er wies sie an, zu diesem Zweck Geld aus seiner Brieftasche auf dem Kaminsims zu entnehmen, doch mit vergilbten Franc-Scheinen war nicht viel anzufangen heutzutage.

„Macht nichts. Wir buchen das einfach am Monatsende von Ihrem Konto ab“, versicherte Colette, der eine solche Situation nicht neu war.

Arnaud nickte müde von seinem Sessel aus und neigte den Kopf zur Seite. Reichlich Aufregung heute für einen so zurückgezogen lebenden Mann. Bestimmt war er erschöpft.

„Ich komm dann morgen wieder vorbei, gleiche Zeit, okay?“

Er schlief wohl bereits, als sie sachte die Haustür hinter sich zu zog.

Bepackt mit zwei großen Einkaufstüten voller Lebensmittel und anderer wichtiger Dinge des täglichen Bedarfs stand Colette am nächsten Tag wie vereinbart vor dem Haus in der Rue de Belfort.

Vorsichtshalber klingelte sie, und wie gestern war kein Ton zu hören. Auch jetzt ließ sich die Haustür problemlos aufdrücken. Sehr leichtsinnig! Es gab so viele Drogenabhängige und Kleinkriminelle in der Stadt! Wenn die auf die Idee kamen, dem hilflosen Herrn einen Besuch abzustatten – nicht auszudenken!

Die junge Frau nahm sich vor, mit ihrer Chefin über diesen Zustand zu sprechen. Dabei fielen ihr einzelne Gesprächsfetzen ihrer Unterhaltung vom Morgen wieder ein.

„Wie alt, sagten Sie, ist Monsieur Arnaud?“

„Dreiundneunzig, wenn ich mich recht erinnere, warum?“ Madame Herbert, die Leiterin des Pflegedienstes, sah erstaunt von ihrem Schreibtisch hoch.

„Ja also, ganz schön vernachlässigt, also die Wohnung, meine ich, und er selbst eigentlich auch.“

Die Chefin hatte irgendetwas zum Thema Putzfrau gesagt, aber Colette war mit ihren Gedanken bereits woanders gewesen und hatte es sich nicht gemerkt.

Das mit dem Einkaufen ging in Ordnung, war bezahlte Arbeitszeit und würde mitsamt den vorgestreckten Ausgaben für die benötigten Waren von seinem Konto abgebucht. Geld schien er ja zu besitzen.

„Und ist er nun dement?“, wollte Colette sicher gehen.

„Davon ist mir nichts bekannt. Warum? Hatten Sie den Eindruck? Madame Portier hat ihn als durchaus rege beschrieben.“

Madame Portier war die städtische Sozialarbeiterin, die dem Pflegedienst den Auftrag vermittelt hatte.

„Nein, nein ... ist alles okay.“ Damit war das Gespräch beendet gewesen.

Nun denn, auf ein Neues.

„Monsieur Arnaud?“, rief Colette laut in den düsteren Gang hinein, ehe sie denselben betrat. „Ich habe Ihre Einkäufe!“

Erst einmal in die Küche damit.

Der Suppentopf von gestern stand nach wie vor auf dem Herd. Aber er war leer.

Colette lächelte erleichtert. Es tat ihr immer schrecklich leid, wenn die alten Menschen Not litten, weil sie sich nicht mehr allein versorgen konnten.

Der Kühlschrank war schnell aufgefüllt, jetzt nichts wie hinüber in die Bibliothek, wo der Greis sich aufhalten mochte.

Dieses Mal klopfte sie, bevor sie eintrat.

„Monsieur? Ich bin es, Colette – sind Sie hier?“

Er antwortete nicht. Doch er starrte ihr aufmerksam von seinem Sessel entgegen, als habe er sie erwartet. Na ja, sie hatte auch genügend Lärm gemacht, nicht wahr?

„Guten Tag, wie geht es Ihnen heute?“, erkundigte sie sich fröhlich.

„Geht so“, grummelte er.

„Sie haben die Suppe gegessen, ja? War lecker, oder?“

„Jaja.“

„Ich hab für Sie eingekauft.“

„Ich weiß.“

„Klar. Ich würde Ihnen was kochen, wenn es recht ist? Ich hab Ihnen aber auch mal unsere Broschüre Essen auf Rädern mitgebracht.“

„Auf Rädern essen? Ich bevorzuge Teller.“

„Monsieur, ich ... das ...“

Sie kochen.“

Hoppla! Das klang wie ein Befehl! Nicht aufregen, die alten Leute meinten es meist gar nicht so barsch, wie es sich anhörte.

„Möchten Sie mir dann etwas Gesellschaft leisten?“, lud sie ihn ein, mit ihr zu kommen.

Er ließ sich gnädig von ihr aus dem Sessel hieven und schlurfte unerwartet sicheren Schrittes an ihrem Arm hinüber in die Küche.

Von seinem Stuhl aus beobachtete er jeden ihrer Handgriffe.

Gemüse schälen, kleinschnippeln ...

Er beäugte den gesunden Haufen misstrauisch. „Was wird das?“

„Ratatouille, das wird Ihnen schmecken!“

„Mit Fleisch drin?“

„Nein, Monsieur, in Ratatouille ist kein ...“

„Ich will Fleisch essen.“

Colette runzelte die Stirn. Das hätte er doch gestern wenigstens andeuten können! Dabei war das ein ganz feines Familienrezept! Sie hatte sogar schon Heiratsanträge deswegen bekommen! Na ja, so ähnlich jedenfalls.

„Ich ... ich könnte etwas von der Lyoner dazugeben“, meinte sie ratlos und ließ ihren Blick zum Kühlschrank wandern.

„Dann tun Sie das.“

Schön, kein Problem. War ja beruhigend, wie schnell er sich fügte.

„Wenn ich das nächste Mal einkaufen gehe, bringe ich Ihnen gerne was mit. Was Bestimmtes?“, erkundigte sie sich versöhnlich.

Steak schied bei seinem Zahnbestand wohl eher aus.

„Leber.“

„Rind? Schwein? Gans?“

„Egal. Roh.“

Huch? Selbstverständlich war die Leber beim Metzger noch roh! Und im gegarten Zustand nicht minder eklig! Aber das ging Colette nichts an, sie war nur dazu da, dem Alten diesen Gefallen zu tun.

Arnaud schwieg sich fortan aus, und die junge Frau zückte ihr Smartphone, um beim Kochen ein wenig Musik zu hören.

Fast erwartete sie einen abfälligen Kommentar des Alten, doch er lauschte mit stoischer Miene den modernen Songs und sagte nichts.

Auch die köstliche Ratatouille schlürfte er schweigend, während Colette den Abwasch erledigte.

Sie verschaffte sich dabei einen Überblick, was die Bestückung der Küche anging. Kein Toaster, keine Mikrowelle, keine Kaffeemaschine. Gut, dass sie Instant Pulver besorgt hatte.

„Monsieur, ich habe Ihnen Croissants fürs Frühstück morgen mitgebracht.“

Er reagierte kaum, brummelte lediglich Unverständliches.

Nach dem Essen bedeutete er ihr, ihm beim Rückweg in die Bibliothek behilflich zu sein.

Ächzend ließ er sich auf seinen angestammten Platz fallen und schloss die Augen.

„Alles okay, Monsieur?“

„Haben Sie Wein gekauft?“

„N-nein, Sie sagten nichts ...“

„Kaufen Sie morgen. Einen Bordeaux. Oder, wenn Sie mögen, einen Merlot. Und jetzt schauen Sie, da hinten ... da müsste noch etwas Port in der Flasche sein.“

Colette fand einen trüben Rest dickflüssigen roten Sirups im einer Kristallkaraffe auf einem Beistelltisch. ‚Nicht drüber nachdenken‘, befahl sie sich selbst und schenkte den Inhalt in ein immerhin sauberes Gläschen.

Arnaud schlürfte den uralten Port mit genießerisch geschlossenen Augen und atmete entspannt aus.

„Was kann ich sonst für Sie tun?“, fragte sie dann, denn laut Plan sollte sie noch etwas bei dem alten Herrn verweilen.

„Sie könnten mal hier durchputzen“, kam seine postwendende Antwort.

„Monsieur ... ich ... ich bin keine Putzfrau, sondern zur Pflege ...“

„Stellen Sie sich nicht so an. Was brauche ich schon an Pflege?“

„Ja, trotzdem. Sie sollten sich an unsere ...

„Was haben Sie gelernt?“

„Wie bitte?“

„Na, heutzutage lernt man doch, was man ist, nicht wahr? Also?“

„Ich bin keine gelernte Pflegefachkraft, wenn Sie das meinen.“

„Sondern?“

„Ich habe ein abgeschlossenes Studium zur Kunsthistorikerin.“

„Kunst ... soso – warum tun Sie dann nicht das, statt sich hier mit alten Leuten wie mir zu plagen?“

„Es gibt nicht so viele Arbeitsplätze in ...“

„Warum haben Sie es dann studiert?“

„Weil ich es liebe!

„Dann werden Sie das hier auch lieben. Sehen Sie es so – Sie pflegen nicht den alten Mann, der vor Ihnen sitzt, sondern seine Kunstgegenstände – Gallé, Grasset, Gaillard, Lalique - sie alle bedürfen Ihrer Aufmerksamkeit!“

„Monsieur!“

Doch er hatte sie erfolgreich in die Ecke argumentiert.

Wenig später schwang sie den altertümlichen Staubsauger aus dem Kabinett im Flur durch den düsteren Raum und musste beim Anblick von Arnauds wohlgefälligem, zahnlosen Lächeln gleichfalls schmunzeln.

...

Am nächsten Tag betrat Colette das Haus in der Rue de Belfort mit einem merkwürdigen Gefühl in der Magengegend.

Sie musste an Werther denken, der sich das Leben genommen hatte. Sie wollte den Roman heute sicher zu Ende lesen, aber nun, da sie den Ausgang schon kannte, würde es ihr kein Vergnügen bereiten. Sie hatte so für den Bedauernswerten gehofft! Mit ihm gelitten, ihm gerne tröstende Worte zugerufen, ihn in die Arme geschlossen!

Und dann lag etwas ganz klar auf der Hand. Arnaud hatte ihr das Buch nicht ohne Hintergedanken gezeigt. Nur wusste sie noch nicht, welche Parallelen zu seiner eigenen tragischen Lebensgeschichte sie daraus ziehen sollte.

Eine unglückliche Liebe, ein Selbstmord, etwas mit gesellschaftlichen Beschränkungen vielleicht – er hatte erwähnt, dass Fleur und ihm die Ehe versagt worden sei, allerdings hatte er keine Gründe dafür genannt.

Alles in allem sehr traurig und nur zu offensichtlich, dass er einen ganz besonderen Bezug zu diesem Roman hatte und sich selbst auf die eine oder andere Art darin wiederfand.

Die Erkenntnis all dessen bedrückte die junge Frau doch außerordentlich. Dann das triste Wetter und nun das düstere Haus mit den morschen Fensterläden, die nach wie vor zugeklappt waren.

Monsieur empfing sie wie üblich in seinem Sanktuarium, der Bibliothek. Sie vereinbarten, dass Colette zunächst das Mittagessen kochen sollte. Heute war Freitag und somit Badetag, und der neuerdings so rüstige Alte versicherte ihr, dass er keinerlei Aufsicht benötige und sie in aller Ruhe den Werther zu Ende lesen dürfe, während er oben in der Wanne lag.

So geschah es dann auch. Colette bereitete das Bad zwar vor, sparte sich aber die Zeremonie mit dem Seidenschal vor den Augen.

Arnaud kam sehr gut alleine zurecht. Da konnte sie sich ungestört mit Werthers Tragödie befassen.

Es dauerte nicht lange und sie vergoss bittere Tränen. Monsieur hatte recht gehabt – das vermochte man nicht zu erzählen, das musste man selber lesen! Dieser unaufhaltsame Fall in immer tiefere Abgründe der Melancholie und Verzweiflung! Die Einsamkeit und das schnöde, ignorante Verhalten seiner Mitmenschen! Sich nicht mehr zu helfen wissen und dann sich selbst derart brutal aus dem Leben zu reißen, am Heiligen Abend gar, welcher natürlich – wie Colette aus eigener leidvoller Erfahrung hätte sagen können – für die Alleingelassenen ganz besonders schmerzhaft war.

Sie erschrak zutiefst, als plötzlich Arnaud in der Bibliothek auftauchte, fix und fertig abgeduscht und über die frische Kleidung seinen altmodischen Bademantel gezogen, damit die langen, nassen Haare ohne Unannehmlichkeiten an der Luft trocknen konnten.

Er ahnte gleich, was mit ihr los war. „So haben Sie den Werther beendet?“

Sie nickte stumm und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Ich habe ihn unzählige Male gelesen, wissen Sie. Mich berührt er auch. Immer wieder.“

„Wegen ... wegen Fleur?“, wagte sie zu fragen.

Er schaute sie einen Moment lang an, bevor er antwortete. „Ja. Ich glaube schon. Ich will es verstehen. Es fühlen. Er ... er ist ... mein Schlüssel zu ... zu ihr, zu ihrer Seele, zu meinem Schicksal, wenn Sie so wollen.“

„Haben Sie mir das Buch deswegen gegeben? Damit ich Sie jetzt auch besser verstehe?“

Nun lächelte er. „Nein. Ich hatte es lediglich deshalb gerade selbst in der Hand, und mir erschien es ganz praktisch, wenn Sie es mir vorlesen.“

Abermals schaffte er es, auch auf ihre Lippen ein Lächeln zu zaubern. So ein Fuchs! Aber sie war ihm keineswegs böse. Hatte er ihr doch eine wunderbare, klassische Lektüre nähergebracht, die sie, mit ihrem Sinn für die Kunst, für den Rest ihres Lebens im Herzen tragen wollte.

Das Wochenende trennte Colette auf beinahe schmerzhafte Weise von Arnaud. Sie konnte es sich selbst nicht recht erklären, aber er schien einen immer bedeutenderen Platz in ihrem Leben einzunehmen, war Vater, Freund, Mentor und weiß der Himmel was für sie. Was auch immer – jedenfalls kein Patient mehr.

Und nun vermisste sie ihn. Sie konnte ihn nicht einmal anrufen! Ob sie ihm ihr altes Handy zu Weihnachten schenken sollte?

Ob er sie auch vermisste?

Sie hätte natürlich einfach zu ihm fahren können, aber das erschien ihr zu unprofessionell, am Ende hielt er es gar für aufdringlich.

Der Samstagabend mit ihren Freunden lenkte sie einigermaßen von ihrem Kummer ab.

Sie zogen durch mehrere Kneipen und hatten jede Menge Spaß, ehe sie sich zu später Stunde auf den Weg zum Taxistand in der Nähe des Bootsanlegers begaben.

Nanu? Colette zuckte zusammen – hatte sie eben nicht Arnaud auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkannt? Leider verschwand der Mann in einer Hofeinfahrt, bevor sie sich vergewissern konnte. Hatte er aber nicht auch zu ihr herübergestarrt? Das war er doch gewesen! Obwohl - lag vielleicht nur an der Pilotenbrille, die jener unbekannte Passant trug - etwas seltsam, so mitten in der Nacht.

Monsieur schlief bestimmt schon tief und fest.

Das sollte sie am besten auch recht bald tun.

So nahm sie sich, genau wie die anderen, ein Taxi, um sicher durch die Nacht nach Hause zu kommen.

Ein weiser Entschluss, wie sich wenige Stunden später herausstellte.

Noch vor dem Mittagessen erreichte sie eine WhatsApp-Nachricht von Laurent. Das ominöse Ungeheuer hatte erneut zugeschlagen! Wieder am Fluss, dieses Mal aber in einer Parkanlage – ganz in der Nähe ihres Taxistandes! Ein Obdachloser war dort mit schwersten Bissverletzungen am Hals tot in einer Blutlache liegend aufgefunden worden!

Um Himmels willen!

Das waren ja tolle Neuigkeiten ausgerechnet an einem ersten Adventssonntag!

Da blieb Colette lieber gleich im Bett. Mit einer leichten Lektüre zur Abwechslung, um ihr Gemüt etwas aufzuhellen. Aussichtslos. Viel zu trivial nach Werther. Entnervt schnappte sie sich ihr Notebook und vertrieb sich die Zeit abwechselnd auf Facebook und mit Musikvideos.

So brachte sie den Sonntag doch noch irgendwie herum, und endlich fing die neue Woche an.

Colette konnte es kaum erwarten, ihren Dienst in der Rue de Belfort anzutreten. „Monsieur?“, rief sie schon im Flur.

Sie fand Arnaud wie sonst auch in seiner Bibliothek.

Er stand, mit dem Rücken zu ihr gewandt, vor einem Bücherregal und schien etwas zu suchen. „Colette! Wie geht es Ihnen?“, murmelte er fast ausweichend. „Setzen Sie sich doch, ich komme gleich zu Ihnen, ich muss erst noch ...“ Seine Finger glitten über die Buchrücken, bis er offensichtlich fündig wurde und einen alten, reichverzierten Band aus einer Reihe ähnlich antiker Exemplare zog.

Colette machte es sich bereitwillig bequem auf dem Sofa und schaute erwartungsvoll zu ihm. In welchem Wälzer hatte er da seine Nase vergraben? Was würde er ihr heute zeigen?

Er setzte sich auf den Sessel ihr gegenüber und nahm das Buch vom Gesicht, räusperte sich und blickte ihr abwartend und sehr ernst entgegen.

Ähm – das war nicht Arnaud! Nie und nimmer! Er sah ihm ähnlich, ja – aber das musste ein Anderer sein! Ein weitaus ... Jüngerer!

„Wo ist ...?“ Colettes Blick flog gehetzt im Zimmer umher, ob sie den Alten nicht doch irgendwo entdecken konnte.

Er erriet wohl ihre Gedanken. „Ich bin es wirklich.“

Eine Schrecksekunde lang harrte sie bewegungslos auf ihrem Platz aus. Dann fuhr sie abrupt in die Höhe. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu, und sie mochte ganz sicher nicht weiter an diesem Ort bleiben!

„Ich muss hier raus!“ Sie wollte fliehen, aber der Mann war sofort aufgesprungen und blitzschnell an ihrer Seite, um sie zurückzuhalten.

„Gehen Sie nicht! Bitte! Ich will es Ihnen erklären!“, beschwor er sie.

Sie erkannte ihn fassungslos. „Monsieur!

„Bitte, nennen Sie mich ... nenn mich Achille. Das ist mein Name. Achille Ignace Arnaud.“

„Achille“, wiederholte sie automatisch, unfähig, sich aus seinem unnachgiebigen Griff zu befreien. „Was haben Sie mit Monsieur gemacht?“

„Ich bin es, Colette, Achille Arnaud!“ Er packte sie noch fester, weil sie nämlich soeben in sich zusammensackte, und setzte sie behutsam auf dem Sofa ab. „Hier ... hier – nimm einen Schluck von meinem Wein, das wird dich beruhigen. Ich weiß, dass es dich sehr verwirren muss, mich so zu sehen!“ Er nahm bedächtig neben ihr Platz.

„Monsieur ...“

„Achille.“

„Achille ...“

Sie schauten sich gegenseitig bewegt an.

„Wer bist du?“, flüsterte Colette nach einer Weile.

„Ich bin Achille Ignace Arnaud, den du zu neuem Leben erweckt hast.“

„Ich ... ich verstehe nicht ...“

„Ich war so gut wie tot, aber du hast mich zurückgeholt, Colette.“

„Aber ... wie ist das möglich?“

„Ich werde versuchen, es dir zu erklären.“

„Du siehst so jung aus! Als wärst du kaum älter als ich?“

„Es ist - bitte versprich, mich anzuhören, mir zu glauben, ja?“

„Ja?“ Sie suchte verwirrt mit ihren Augen Halt in seinen.

„Ich bin ... anders. Ich habe einen ... anderen Stoffwechsel. Mein Körper hat sich in den letzten Wochen ... regeneriert. Ich sehe wieder jung aus. Aber ich bin es nicht.“

„Nein?“

„Nein. Das frische Blut aus der Leber hat etwas in mir ausgelöst. Hat meinen Körper geheilt, meinen Körper ... ja ... nicht die Seele.“ Seine Stimme driftete ab.

„Und du bist wirklich dreiundneunzig?

„Nein. Nicht dreiundneunzig. Über vierhundert eher.“

Wieder wollte sie aufspringen, und wieder hielt er sie mit festem Griff zurück.

„Das gibt es nicht“, wisperte sie verzweifelt.

„Doch. Das gibt es“, erklärte er bestimmt. „Ich sitze neben dir, so wie ich bin.“

„Das kann nicht sein.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Und doch hatte sie es selbst beobachten können, wie aus einem todgeweihten Greis dieser jugendliche Mann an ihrer Seite geworden war.

„Und dennoch bin ich hier.“ Er nahm ihre Hand in seine und küsste sie sanft.

Dann wurde es schwarz um Colette.

 

...

Das Restaurant war gut besucht. Zum Glück hatten die Freunde einen Tisch reserviert, sodass auch Colette noch einen Platz fand, als sie mit reichlicher Verspätung als Letzte eintraf. Sie hatte sich einfach nicht von Achille losreißen können.

Küsschen rechts und links, und dann auf die Bank zu Julie gequetscht, Laurent gegenüber, der sie mit leicht schuldbewusstem Blick anschaute.

„Habt ihr schon bestellt?“ Colette überdeckte ihre Verlegenheit, indem sie die Karte zur Hand nahm.

„Jap, Chardonnay. Das Glas da ist für dich.“

Sie orderten alsbald ihre Essenswünsche und diskutierten gutgelaunt die geplante Silvesterparty, welche nach dem gelungenen Weihnachtsessen ebenfalls wieder bei Marcel stattfinden sollte.

Fingerfood und Cocktails? In diesem Fall aber mit mehr Leuten! Warum nicht? Da gab es bei jedem von ihnen noch zwei, drei Weitere, mit denen man wunderbar den Anlass feiern konnte!

„Dann kannst du ja auch Aurel mitbringen!“, ließ es sich Julie nicht nehmen, mit der Neuigkeit herauszuplatzen.

„Welchen Aurel?“, fragte Colette verdattert.

„Na, den Enkel von dem Alten!“

„Achille.“

„Meinetwegen! Bring ihn mit, oder? Was meint ihr?“

Jetzt musste sie natürlich Rede und Antwort stehen. Bloß nicht zu viel verraten! Lieber keine Details ...

„Er hat ihr sogar einen Ring geschenkt!“

Dieses Detail, zum Beispiel – das hätte sie gerne unerwähnt gelassen. Wahrscheinlich lief sie nun so rot an wie der Rubin an ihrem Finger!

Es ging eine Weile aufgeregt durcheinander, bis sie sich beruhigt hatten und wieder dem eigentlichen Grund ihres Treffens widmen konnten.

Dann also eine größere Party mit an die zwanzig Gästen, wer besorgte die Häppchen, wer kümmerte sich um Getränke, Musik, Einladungen?

Während die Aufgaben besprochen wurden, neigte sich Laurent ein wenig nach vorn, um mit Colette unauffällig ein paar Worte zu wechseln, die nichts mit der Feier zu tun hatten.

„Ich hab versucht, dich anzurufen“, kam es ihm leise über die Lippen.

„Wann?“

„Die Tage. Bist nicht drangegangen.“

„Ah ... ja ... mir ging’s nicht so gut, hatte Kopfweh und war müde, da hatte ich das Handy aus.“ Das war nicht einmal gelogen. Dass sie sich bei Achille auf dem Sofa ausgeruht hatte, musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden.

„Ähm, und jetzt ... also geht’s dir besser?“

„Jaja“, beruhigte sie ihn. Sie ahnte, was ihm auf den Lippen brannte, so wie er und Arlène schon den ganzen Abend Blicke miteinander wechselten.

„Also, ich wollte dir das eigentlich gleich sagen. Das mit Arlène ... da ist irgendwie ... seit unserem Essen am Sonntag ist da ... mehr draus geworden.“

„Hm hm.“

„Nicht dass du denkst - also das war nicht geplant! Ich würde nie ... du weißt schon.“

„Natürlich nicht, Laurent.“

„Und ... ähm ... na ja, aber du scheinst ja jetzt auch jemanden kennengelernt zu haben, also ist das hoffentlich okay ... für dich.“

„Ja. Klar.“ Sie schüttelte den Kopf, weil es doch nicht so klar schien. „Bitte entschuldige. Ich ... ich hab dich auch lange genug hingehalten. Es war ... keine böse Absicht oder so.“

„Natürlich nicht! Das ist ... alles okay!“, beeilte er sich zu versichern. „Hat sich halt alles ... ein bisschen anders entwickelt als gedacht.“

„Ja. Irgendwie. Mir war das auch ... ich hätte das auch nie ... mich hat das selber überrascht.“ Endlich schaffte sie es, ihm ins Gesicht zu schauen.

„Dann sind wir weiterhin Freunde?“

„Aber unbedingt! Ich ... mag dich sehr, Laurent!“

Er erwiderte ihren Blick auf seine nachdenkliche Art. „Ich dich auch.“

Darauf stießen sie mit einem erleichterten Lächeln an.

Die anderen bekamen lediglich mit, dass die Gläser klangen, und erhoben nun ihre, um mitzuprosten.

„Und wer ist nun dieser Achille?“, erkundigte sich Laurent mit höflicher Neugier.

Colette wiederholte, was sie bereits erzählt hatte, und gab immerhin zu, dass „der junge Arnaud“ wohl aufgrund seines Kunstverstandes ihr Interesse geweckt hatte, obwohl sie ja gar nicht auf der Suche nach einem neuen Partner gewesen war.

Wie schön, dass er nun mit eingeladen war zur Silvesterfeier! Dann mochte der Jahreswechsel doch noch vergnüglich werden.

„Ist das nicht der mit dem Selbstmord?“, drang Laurents Stimme in ihre Überlegungen.

„Was? Ach so - ja!“ Oh, daran wollte sie gerade gar nicht denken!

„War das dann seine Oma?“

„Wer? Ah – Fleur? Ja – nein – ich weiß gar nicht ... ähm – hast du denn noch mal geguckt?“

„Also in den letzten Jahren hatten wir keinen Suizid mit diesem Namen. Wann war das genau?“

„Ich weiß es nicht. Ist halt schon lange her.“

„Na ja, vielleicht hat der alte Herr ja danach eine Andere kennengelernt. Wenn du mir das Jahr nennst, kann ich gezielt nachschauen. Irgendwo ist das archiviert, auf Mikrofilm oder so. Also falls es dich noch interessiert.“

Ja, das tat es irgendwie schon. Achille hatte ihr nie verraten, wann diese Tragödie geschehen war.

Das Essen wurde an ihren Platz gebracht und Colette somit jeder weitere Gedanke an das traurige Ereignis erspart.

Doch mitten unterm vergnüglichen Schnabulieren klingelte Laurents Handy, das als einziges auf dem Tisch lag.

Stirnrunzelnd nahm er das Gespräch entgegen. Es mochte eher unerfreulich sein.

„Was? Wo? Alles klar. Bin in fünf Minuten da.“

Er erhob sich hastig, entschuldigte sich und drückte Arlène einen flüchtigen Kuss auf den Mund.

Erst als er seine Jacke aus dem Haufen anderer klaubte und überstreifte, erkannte Colette, dass er seine übliche Dienstkleidung trug. Sogar die Waffe hatte er umgeschnallt. Sie war unter der Tischplatte nicht zu erkennen gewesen.

Also Rufbereitschaft! Ausgerechnet!

„Musst du wirklich gehen?“, beklagte sich Arlène und hielt seine Hand länger als nötig fest.

„Was ist los?“, wollte Julie wissen.

„Jemand ist angefallen und gebissen worden.“

Die Freunde waren entsetzt! „Wieder dieses Ungeheuer?!“

„Keine Ahnung. Ich muss los, ich melde mich morgen, macht’s gut!“

„Pass auf dich auf!“

Weg war er, und mit ihm die eben noch so heitere Stimmung.

...

So, wie die Dinge sich entwickelten, sah es nach einer wohlgefälligen Zukunft für die werdenden Eltern aus.

Der Flügel machte sich gut in der Bibliothek. Colettes Gefährten staunten nicht schlecht, zu welcher Virtuosität ihr neuer Freund imstande war, und dem wiederum bereitete es ein außerordentliches Vergnügen, sein Geschick an den Tasten täglich zu verbessern.

Mit Colettes Gemütszustand ging es allmählich aufwärts. Sie schaffte es sogar, ihre Mutter anzurufen und ihr von der Schwangerschaft zu erzählen.

Madame Lacroix ließ sich den Kindsvater an einem Sonntagabend gnädig vorstellen und unterhielt sich durchaus angetan mit ihm.

„Und Sie sind im Kunsthandel tätig?“, erkundigte sie sich bei Antipasti und Crémant.

„Ja, Madame. Ich berate Auktionshäuser und private Kunden.“

„Das ist interessant. Colette ist so der Kunst verfallen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass man damit Geld verdienen kann.“

„Oh doch, Madame, wenn man auf dem Markt erst einmal festen Fuß gefasst hat, ist das durchaus möglich. Ich verfüge über ein ausreichendes Einkommen, um unsere zukünftige Familie zu versorgen, seien Sie ganz unbesorgt.“

Colettes Mutter lächelte. „Da bin ich wirklich beruhigt, wenn Sie das so sagen. Sie hat es unbedingt studieren wollen, wir haben es nicht übers Herz gebracht, sie davon abzuhalten. Und dann musste sie doch zu dem leidigen Pflegedienst. Nicht wahr, mein Schatz, das war nicht das Richtige für dich?“

„Na ja ...“ Colette kam sich in Momenten wie diesem gerade so vor, als sei sie wieder zwölf Jahre alt und habe eine schlechte Mathenote mit nach Hause gebracht.

„Ohne den Pflegedienst hätten wir uns aber gar nicht kennengelernt“, warf Achille ein. „Und Colette hat wahre Wunder bewirkt bei meinem Großvater. Er ist regelrecht aufgeblüht und zu neuem Leben erwacht!“

Die werdenden Eltern grinsten sich wohlwissend an.

„Ja, das glaube ich wohl.“ Madame Lacroix ahnte nichts von der eigentlichen Bedeutung seiner Worte. „Ich muss auch gestehen, ich weiß gar nicht, was ich ohne sie getan hätte, als es meinem Vater so schlecht ging. Jaja, Schatz, das darf ich doch so sagen, du brauchst gar nicht rot werden!“ Sie reichte die Häppchen herum und bat Achille, Crémant nachzugießen. Für ihre Tochter gab es leider nur Zitronenlimonade. „Auf euch, ihr Lieben!“ Sie stießen an und sie fuhr fort: „Habt ihr denn jetzt vor, zu heiraten?“

„Selbstver...“, fing Achille an, aber Colette unterbrach ihn und warf ihm einen verunsicherten Blick zu.

„Darüber haben wir noch gar nicht geredet, Maman. Das hat doch auch Zeit.“

„Genauso sehe ich das, mein Schatz. Ihr jungen Leute habt heute so viele Freiheiten, da muss man nicht gleich heiraten. Wenn dein Vater und ich es damals so gut gehabt hätten, wäre uns so manches erspart geblieben! Nichts gegen Sie, Monsieur, oder die Ehe an sich, aber es tut nie gut, solche Dinge zu überstürzen. Wenn wir damals mehr Zeit gehabt hätten, aber na ja ...“

„Madame, ob mit oder ohne Trauschein, ich liebe Colette über alles und wünsche nichts sehnlicher, als dass wir unser Leben gemeinsam verbringen.“

Das klang zwar ein wenig altmodisch, aber die überraschte Colette schmachtete ihn an für dieses Geständnis.

„Wunderbar! Achille, ich muss sagen, Sie gefallen mir! Kommt, Kinder, darauf stoßen wir an, und dann lassen wir das mit den Förmlichkeiten und sind per Du!“

So verlief das Treffen mit der Schwiegermutter für die Beteiligten überaus harmonisch.

Danach nahm alles seinen gewohnten Gang, und niemand hätte in irgendeiner Weise mit einer besonderen, dramatischen Wendung gerechnet.

Doch genau diese bahnte sich an einem im Nachhinein betrachtet unerträglich gewöhnlichen Dienstag Ende April an.

Es war bereits spät am Abend.

Colette war gerade damit beschäftigt, die frisch gewaschene und getrocknete Wäsche in Achilles ehemaliger Schlafkammer ordentlich zusammenzulegen, während er in der Bibliothek komplizierte Partituren am Flügel übte.

Der Fernseher, den sie aus Platzgründen hier untergebracht hatten, dudelte unbeachtet vor sich hin. Ihr Handy klingelte.

Laurent? Nanu? So spät noch?

„Salut, was gibt’s?“, begrüßte sie den Freund entspannt und völlig ahnungslos, was gleich über sie hereinbrechen sollte.

„Colette! Hör mir zu!“ Der junge Mann klang sehr aufgebracht.

„Na klar, bin ganz Ohr.“ Dennoch fuhr sie fort, Handtücher zusammenzufalten, das Handy dort mit der Schulter eingeklemmt.

„Nein, echt jetzt! Colette! Ich habe sie gefunden!“

„Wen?!“

„Fleur.“

„Ach was!“ Nun unterbrach sie doch ihre Tätigkeit und setzte sich auf das Sofa. Das klang ja interessant!

„Ja! Und du musst ... ich komme jetzt vorbei ... das ist ...“

„Jetzt mach doch mal langsam! Was ist denn passiert?“

„Was passiert ist? Fängt schon an damit, wann es passiert ist!“

„Sag schon.“

„Neunzehnhundertsechsundzwanzig!“

„Ist nicht dein Ernst!“

„Colette! Überleg doch mal!“ Er schien in heller Aufregung zu sein.

„Was? Ist lange her?“

Lange her? Weißt du nicht, was das bedeutet? Sie kann nicht die Geliebte von Achilles Großvater gewesen sein! Wenn sie damals über dreißig war, wären das heute ... noch mal knapp hundert Jahre mehr!“

„Upps ...“

„Colette! Verstehst du nicht! Da ist was oberfaul!“

„Na ja ...“

„Aber das ist es eigentlich nicht ...“

„Sondern?“

„Er selbst.“

„Was ist mit ihm?“ Sie mochte es gar nicht, wenn jemand an Achille unberechtigt Kritik übte.

„Seine langen Zähne!“

„Das haben die alle, hat er doch erzählt!“

„Genau! Ich hab grad - Colette, ich hab grad das Protokoll gelesen von damals! Ich ... ich musste dich sofort anrufen! Du musst da weg! So schnell wie möglich!“

„Jetzt mach mal halblang! Was ist denn nur los mit dir?“

„Colette! Der Selbstmord!“

„Was ist damit? Sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt!“

„Ja, schon. Aber hat er dir auch gesagt, dass sie eine schlimme Bissverletzung am Hals hatte? Angeblich von einem streunenden Hund? Colette? Bist du noch dran?“

„Ja ...“, hauchte sie benommen.

„Man hat – Colette, du musst mir zuhören! – man hat eine Obduktion an der Leiche vorgenommen. Sie war verblutet, ja, aber es muss nicht an den Pulsadern gelegen haben, verstehst du? Und jetzt kommt’s! Der Abdruck der Zähne in der Zeichnung stimmt eins zu eins mit dem von unserem freilaufenden Ungeheuer überein!“

„Was?“ Ihr Denken setzte für einen Moment aus.

„Wer oder was auch immer Fleur in den Hals gebissen und sie getötet hat, läuft gerade frei in unserer Stadt herum und sucht sich weitere Opfer!“

Laurent!

„Ich bin in zwanzig Minuten bei dir!“

„Willst du etwa damit sagen, dass Achille ...?“

„Ich weiß es nicht! Er kann es rein rechnerisch nicht gewesen sein. Aber - er hat doch selbst gesagt ... alle in seiner Familie haben diese Zähne! Dann war es eben sein Urgroßvater! Aber auch er selbst - Colette! Ich hab an Silvester einen Fingerabdruck von seinem Glas genommen und ins Labor geschickt, und schon wieder waren alle Spuren unbrauchbar! Nichts als Staub! Da stimmt etwas nicht, und ich hab jetzt echt Angst um dich!“

„Warum hast du das ...?“

„Weil ich es wissen wollte! Mensch! Diese Zähne! Das ist doch nicht normal! Und das grad nachdem wir einen Zeugen hatten, der sowas behauptet hat!“

„Das ist ... niemals! Das würde er nicht ...“

„Ach ja? Kannst du das mit völliger Sicherheit sagen?“

„Ich ... wir sind doch rund um die Uhr ... wann soll er denn ...?“

Ganz sicher? Soweit ich weiß, warst du ohne ihn im Chalet, als der letzte Überfall passiert ist!“

„Das ... das bildest du dir nur ein“, flüsterte Colette fassungslos und ließ das Mobiltelefon sinken.

Alles um sie herum drehte sich!

Fleur! So lange schon tot!

Ein Biss ... wie bei ...

Sie schlug die Hand vor den Mund! Oh mein Gott!

Sie achtete nicht auf Laurents aufgeregte Rufe aus dem Handy, sondern beendete das Gespräch ganz automatisch.

Was der junge Polizist nicht ahnen konnte - sie besaß Gewissheit!

Achille hatte damals schon gelebt. Er selbst war der Mann an Fleurs Seite gewesen, nicht irgendein Urgroßvater.

Vierhundert Jahre! Das hatte sie ihm in ihrer Blauäugigkeit ohne Weiteres geglaubt – aber allein sein Alter sprach doch Bände! Das war doch nicht normal!

Und seine Zähne!

Wie blind war sie nur gewesen! Wie unfassbar naiv! Dabei lag es doch ganz offensichtlich auf der Hand!

Natürlich hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, hinter ihrem Rücken ...

Er hatte den Mann im Park getötet! Und - Fleur!

Es war alles – eine große Lüge!

Und er tat sein Möglichstes, um sie in Sicherheit zu wiegen, warum auch immer.

Als ob diese Erkenntnis allein nicht schon schmerzhaft und schockierend genug gewesen wäre, dämmerte es der jungen Frau, dass andere Behauptungen Achilles genauso wenig ehrlich gemeint sein mochten, dass er sie am Ende gar nicht liebte! Sie lediglich ... benutzte!

Das war mehr, als sie ertragen konnte!

Ihr Herz zersprang in tausend Stücke!

Wie in Trance erhob sie sich, das Handy krampfhaft umklammert, als erhoffe sie sich einen Halt davon, und tapste den Gang entlang zur Bibliothek, aus der Debussys eher experimentelle Kompositionen an ihr Ohr drangen.

Jenseits jeder Gefühlsregung betrat sie den Raum.

„Colette!“ Achille sah ihr erfreut entgegen. Seine langen, spitzen Eckzähne blitzten im matten Licht der Art Nouveau Lampe auf dem Steinway.

Du ...“ Ihre Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen.

„Ja?“ Er ahnte nicht im Entferntesten, dass sie die grausame Wahrheit erfahren hatte.

Du hast sie getötet!“ Colette atmete immer heftiger.

„Was?“ Nun hielt er in seinem Klavierspiel inne und starrte sie betroffen an. „Wovon redest du?“

„Fleur. Du hast sie getötet ... wie den Mann im Park! Du ... du bist ein Monster!“ Das letzte Wort schrie sie heraus. Ihr wilder Blick hetzte umher, heiße Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Colette!“ Langsam erhob er sich, um mit weit von sich gestreckten Armen vorsichtig auf sie zu zu kommen.

„Lass mich in Ruhe!“ Panik und Hysterie vermischten sich in ihr. „Du Mörder! Du ... du Lügner! Ich hasse dich!“

„Colette! Warte! Ich will es dir erklären!“

Doch sie hatte genug gehört. Sie wollte nicht eine Sekunde länger hierbleiben, in seiner Gegenwart!

Sie schnappte sich den Autoschlüssel vom Kaminsims und stob davon, aus dem Haus, auf die Straße.

Mit aufheulendem Motor floh sie in die Nacht und sah vor lauter Tränen nicht, wie der Mann, der ihr Herz auf so abscheuliche Weise gebrochen hatte, entsetzt hinter ihr her stürzte und verzweifelt ihren Namen rief.

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