Träume sind sehr fragile Wesen. Sie zu erfüllen braucht es jede Menge Herzblut und Leidenschaft; um sie zu vernichten, bedarf es meist viel weniger. In meinem Fall eine Faust gegen Jeffs Kiefer, dem gewalttätigen Lover meiner Mutter. Ein einziger Schlag genügte, um ihm ihn zu brechen und mein Leben völlig zu beenden. Das war vor sechs Monaten. In denen haben sich meine Träume und Hoffnungen verändert.
Ich trete hinaus ins Freie und atme tief durch. Noch nie fühlte sich frische Luft so gut an. Ich nehme zwei weitere tiefe Nasen Sauerstoff, wie ein Junkie sein Koks. Heute beginne ich ein neues Leben. Ich blicke nicht zurück zur Jugendstrafanstalt in meinem Rücken, sondern freue mich ein bekanntes Gesicht zu sehen, das auf dem gegenüberliegenden Parkplatz auf mich wartet. Mit Schwung werfe ich mir den Sack mit meinen wenigen Habseligkeiten über die Schulter und überquere die Straße. Die gleichen freundlichen braunen Augen, wie die meiner Mutter, lächeln mir entgegen.
»Hey Noah, schön dich zu sehen.«
»Ich freu mich auch dich zu sehen, Onkel Mike.« Wir fallen uns in die Arme und es fühlt sich tröstlich an, dass wenigstens er hier ist.
»Mum?«, sehe ich ihn fragend an, als wir uns wieder voneinander lösen. Er schüttelt nur den Kopf und meinem Herzen versetzt es einen kleinen Stich. Ich habe nicht erwartet, dass sie mich abholt, nicht nachdem, was passiert ist und nachdem sie mich all die Monate nur ein einziges Mal im Knast besucht hat. Trotzdem hoffte ich es bis zu diesem Moment. Die gesamte Zeit über, in der ich im Gefängnis war, hat ein kleiner Teil von mir sich vorgestellt, wie sie Jeff endlich abschießt und sich für mich entscheidet. Wie sie mich freudestrahlend in die Arme schließt und alles gut wird. Dieser Teil ist gerade erneut gestorben.
»Tut mir leid.«
»Schon okay. Ich habe nicht wirklich erwartet, dass sie herkommt, nachdem sie sich für Jeff entschieden hat.« Sein Name auszusprechen lässt mich mein Frühstück wieder hochwürgen.
»Aber sie ist deine Mutter und du ihr Sohn – sie sollte hier sein. Ich kann meine Schwester nicht verstehen, wie sie diesem Kerl so hörig sein kann.« Der Groll in seiner Stimme ist unüberhörbar. »Du solltest jetzt aufjedenfall nach vorne schauen. Ich habe dein Auto und ein paar deiner Sachen bei ihr abgeholt, wie du wolltest.« Er überreicht mir den Schlüssel zu meiner alten Rostlaube, der ich liebevoll über die Motorhaube streiche. Sie sieht zwar aus, als würde sie gleich auseinanderfallen, doch sie wird in den nächsten Monaten meine neue Bleibe sein. Aber das weiß Mike nicht.
»Bist du sicher, dass ich dir nicht eine Generalüberholung sponsoren soll? Ich bin froh, dass ich mit dem Klapperteil bis hierhergekommen bin.« Er sieht zweifelnd zu dem dunkelgrauen Ford Taurus hinüber, der neben einigen Schrammen bereits ein paar rostige Stellen hat.
»Keine Sorge, es ist genauso zäh wie ich. Uns kriegt nichts so schnell klein. Und du hast wirklich genug für mich getan.« Er war bei ihr und hat sie gesehen, schießt es mir durch den Kopf. »Wie geht es ihr?«, versuche ich, die Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.
Mike kratzt sich nervös den Hinterkopf und holt tief Luft, bevor er antwortet, als müsste er sich überlegen, was er mir erzählen kann und was nicht. »Weißt du Noah, deine Mutter hat deinen Vater sehr geliebt. Sein Verlust, war nicht einfach für sie.« Es war nicht einfach für sie? Hat in den letzten Jahren mal jemand mich gefragt, wie es für mich war. Erst den Vater zu verlieren und dann auch noch die Mutter. Nur dass sie nicht tot ist, was das Ganze noch schlimmer macht. Mit dem Tod meines Vaters bin ich irgendwann klar gekommen. Aber mit einer Mutter, die ihr Kind verrät, das ist tausendmal schlimmer.
»Das soll keine Entschuldigung für ihr Verhalten sein, aber ...« Er sieht mich an und atmet schwer durch, als würde eine Last von ihm abfallen. »Warum soll ich dir was vorgaukeln, Noah, du bist alt genug. Deiner Mutter geht es gar nicht gut. Jeff nutzt sie aus, wo immer er kann. Macht sich an ihren Ersparnissen zu schaffen, während sie arbeiten geht. Aber sie hört auf niemanden, weder auf mich, noch auf ihre Freunde. Sie hat sich total abgekapselt und wir kommen kaum noch an sie heran.« Ich schnappe nach Luft und Wut kocht wieder in mir hoch, so dass ich meine Hände zu Fäusten ballen muss, um sie zu kontrollieren. Ich dachte, dass ich das Kapitel beendet habe, nachdem ich sie im Gerichtssaal angefleht habe, die Wahrheit zu sagen und sie sich nur umgedreht hat und gegangen ist. Aber sie ist meine Mutter, ich kann sie nicht so einfach aufgeben.
»Du solltest dich aber nicht damit belasten und nach vorne schauen. Du musst dich jetzt um deine eigene Zukunft kümmern.« Er zieht meinen Autoschlüssel aus seiner Hosentasche heraus, an dem jetzt eine kleine Weltkugel hängt. Das finde ich irgendwie zynisch. Als würde mir mit einer Vorstrafe die ganze Welt offen stehen. Er wirft ihn mir zu.
»Drück drauf.« Ich drücke den Piepser, um damit das Auto zu öffnen. Bisher musste ich ganz altmodisch zur Tür und sie aufschließen, doch jetzt hat Mike anscheinend eine Batterie eingelegt und meine alte Karre springt schon von weitem auf.
»Ich habe es voll aufgetankt und ein paar Lebensmittel habe ich dir auch in den Kofferraum gepackt.« Ich öffne den Deckel und entdecke einige meiner alten Klamotten, Tüten mit Lebensmitteln, Deo und Zahnbürste. Mehr brauche ich nicht.
»Danke, das wäre nicht nötig gewesen.«
»Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. « Er sieht mich mitleidig an und überlegt anscheinend. Ich weiß, dass er ein schlechtes Gewissen hat, weil seine Schwester, meine Mutter, mich für ihren Lover fallen gelassen hat. Doch das braucht er nicht. Er kann nichts dafür. Mein beschissener Stiefvater hat mich angezeigt, weil ich die Hand gegen ihn erhoben habe und ihn halb tot geprügelt habe, nachdem er zum wiederholten Mal meine Mutter angegriffen hat. Da jedoch meine Mutter nicht gegen ihren Liebhaber ausgesagt hat, stand meine Tat als aggressiver Übergriff da. Meine Argumente waren egal. Niemand hat mir geglaubt. Vielleicht hätte ich ihn ganz totprügeln sollen, dann würde der Mistkerl wenigstens niemandem mehr schaden. Meine Mutter hat sich schon immer mehr für sich, als für mich interessiert. Früh habe ich gelernt, dass ich besser ohne sie klarkomme.
»Bist du sicher, dass du nicht zu uns ziehen willst?« Er deutet auf ein Auto, das so eben auf den Parkplatz fährt und neben uns parkt. »Das ist Sandra, sie holt mich ab.«
»Ich werde in ein paar Monaten volljährig und mit der Schule fertig, dann bin ich sowieso weg von hier.«
»In Ordnung. Ich habe noch etwas für dich.« Er holt eine Schachtel mit einem Smartphone darin aus meinem Kofferraum. »Die Nummer steht hinten drauf, meine ist eingespeichert und die Kosten sind für das erste Jahr beglichen.«
»Das ist zuviel, Onkel Mike.«
»Verbuche es unter reinem Eigennutz. So können wir in Kontakt bleiben. Aber ich wollte dir noch etwas anderes geben.« Er wendet sich plötzlich von mir ab und geht zu seinem Auto, einem familienfreundlichen Van, in dem seine Frau Sandra am Steuer sitzt. Ich winke ihr zu und sie erwidert meinen Gruß mit einem Lächeln. Früher, als mein Vater noch lebte und wir noch eine Familie waren, waren wir oft bei Sandra und Mike zu Besuch. Ich mag sie, sie war immer sehr nett zu mir, hat mit mir Mensch ärgere dich nicht gespielt oder Süßigkeiten mitgebracht. Die beiden haben selbst zwei Kinder bekommen. Meine Nichte Nicole und mein Neffe Paul sind jetzt fünf und sieben Jahre alt. Sandra hat sie nicht dabei, bestimmt sind sie in der Kita und in der Schule.
Mike öffnet die Kofferraumklappe an seinem Van und entnimmt ihm einen kleinen braunen Karton, den er zu mir rüber trägt.
»Ich dachte mir, du möchtest sie vielleicht haben.«
Unsicher überreicht er mir den Karton. Ich stelle ihn auf der Motorhaube meines Autos ab und öffne die lose geschlossene Kiste. Darin liegt meine Kamera, die mir mein Vater geschenkt hat, als ich zwölf war.
»Ich dachte, dass Mum sie verkauft hätte, wie ich wollte.« Ich hebe die Kamera aus der Kiste, pelle sie aus ihrer Schutzhülle und betrachte sie von allen Seiten.
»Sie hat es nicht über das Herz gebracht. Ich habe sie für sie beziehungsweise dich aufgehoben. Ich dachte mir, dass du sie jetzt vielleicht haben willst?«
Es hängen so viele Erinnerungen daran, gute, wie auch schlechte. Schließlich schaue ich durch den Sucher. Als Kind hatte ich das Gefühl, dadurch die ganze Welt sehen zu können. Jetzt fällt mir auf, wie beschränkt die Sicht durch das kleine viereckige Fenster ist. Früher wollte ich sogar mal Fotograf werden, überall hinreisen und damit mein Geld verdienen.
»Du solltest wieder anfangan zu fotografieren. Dein Vater hatte Recht, du hast ein gutes Auge. Es wäre schade, wenn du sie wieder verbannst.«
»Mal sehen.« Ich packe die Kamera wieder zurück in den Karton und dann in den Kofferraum. »Danke, dass du sie aufgehoben hast.« Ich laufe um das Auto herum zur Fahrertür und bin bereit zu fahren.
»Kommst du klar?«, fragt mein Onkel nochmals und ihm stehen die Sorgenfalten auf die Stirn geschrieben.
»Ja, das tue ich. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich will bloß weg hier.«
»Ich wünschte nur, dass du nicht alleine klar kommen müsstest und ich könnte mehr tun, aber ich muss zurück nach Bakersfield zu meiner Familie. Aber wenn was ist, rufst du an, klar?«
Ich nicke und falle ihm zum Abschied um den Arm, bevor ich in mein Auto steige. Sofort steigt mir der Geruch von Zitronenreiniger gemischt mit den Gerüchen meines bisherigen Lebens in die Nase, das ich so vermisst habe. Ich habe hier drinnen eine Menge Zeit verbracht, habe gegessen, geschlafen und hatte Mädchen in dem Auto. Das scheint alles eine Ewigkeit her zu sein. Im Gefängnis fühlten sich die letzten sechs Monate an wie Jahre.
Um so besser fühlt es sich nun an, in meinem alten Sitz zu sitzen, der zwar schon etwas durchgesessen ist, aber der fünfzehn Jahre alte Ford Taurus ist zur Zeit mein wertvollstes Besitzstück. Ich sehe mich in meinem Auto um, in dem alles liegt, was ich besitze. Es ist nicht gerade viel. Ein paar CDs, einige leere Getränkedosen und ein bisschen Kleingeld. Dazu kommt das, was ich im Knast mit dem Löten von Schalttafeln verdient habe. Meinem Onkel winke ich und starte die Zündung und in mein neues Leben.
Die Jugendstrafanstalt liegt etwas außerhalb und ich muss nach L.A. hineinfahren. Der Highway in die Stadt ist um diese vormittägliche Zeit wieder leerer, weil alle auf ihrer Arbeit angekommen sind, die in einem der Randbezirke wohnen. Entsprechend bin ich schnell in der Stadt angekommen und lasse meinen Blick umherschweifen. Das geschäftige Treiben der Stadt ist ungewohnt gegenüber der Stille und Einsamkeit im Gefängnis. All die Menschen, die ihren Träumen nachjagen. Immer in Hektik und auf der Suche nach dem perfekten Job, der Liebe oder dem Sinn ihres Lebens. Keine Zeit zum Durchatmen finden, und dabei verpassen ihr Leben zu genießen.
An der nächsten roten Ampel, krame ich den Zettel mit der Adresse des Bewährungshelfers, bei dem ich mich melden soll, aus meiner Hosentasche hervor und tippe die Adresse in mein neues Handy ein. Ich werde ihm nicht erzählen, dass ich vor habe nicht im Heim, wo er mir einen Platz zu gedacht haben, einzuziehen. In einem halben Jahr werde ich volljährig, solange werde ich in meinem Auto wohnen. Nach Hause kann ich nicht mehr, aber in dieses Heim werden mich auch keine zehn Pferde kriegen.
Ich folge den Anweisungen des Navis bis zur nächsten Kreuzung, wo ich wieder anhalten muss. Im Radio trällert Beyonce ihr Halo. Mein Blick schweift über die vielen Reklametafeln, die die Stadt pflastern Sunset Strip. Gespickt mit perfekten Menschen, unerreichten Idolen, denen nachzueifern für viele eine Lebensaufgabe geworden ist. Ich habe nie verstanden, was an dieser Modelwelt so faszinierend sein soll. Nichts ist darin so, wie es scheint. Alle Streben nach einer unerreichbaren Perfektion, die es gar nicht gibt. Nichts von all dem ist echt.
Mein Blick bleibt an einer Werbung hängen. Ein blondes Mädchen präsentiert den neuesten Lippenstift. Ihre blauen Augen schauen tief in meine Seele. Ihre Züge sind makellos. Die Stupsnase, die Wangenknochen und ihr Kinn folgen dem Ideal der aktuellen Zeit. Ihre Haare fallen in gleichmäßigen Locken um ihr engelsgleiches Lächeln. Sie hat mich innerhalb von Sekunden in den Bann gezogen. Komm schon Noah, reiß dich zusammen. Ist doch bestimmt bloß irgend so eine photogeshoppte Möchtegern-Toni Garn. Meine Hormone spielen verrückt nach sechs Monaten im Jugendknast. Erst als hinter mir jemand hupt, weil die Ampel auf grün gesprungen ist, kehre ich aus meinem Tagtraum zurück.
Das Navi meines Handys führt mich in eine Gegend, die mich anwidert. Heruntergekommene Häuser, Müll liegt überall herum. Anscheinend kann sich ein Bewährungshelfer nicht mehr leisten, wenn er in dieser Gegend ein Büro hat. Im Gefängnis hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und habe mir geschworen, dass ich nicht so enden möchte, wie meine Mutter. Dass ich mein Leben in den Griff bekommen und die Schule beenden möchte, um einen guten Job zu finden, und nie wieder ein Leben führen will, in dem ich nicht weiß, wie ich morgen die Stromrechnung bezahlen soll oder etwas zu Essen kaufen kann.
Ich parke meinen alten Ford Taurus vor dem mehrstöckigen Haus, zu dem mich das Navi geführt hat, in dem unten ein paar Geschäfte sind, wie ein Waschsalon und ein Frisör. Auf einem Schild daneben lese ich die Aufschrift Jason Duncan, Bewährungshilfe.
Ich werfe noch einen Blick in den Rückspiegel und zähme mit Spucke meine zerzausten Haare, um einen guten ersten Eindruck zu machen, und steige aus. Eine Klingel verrät, dass ich das Büro betrete. An einem Schreibtisch voll mit Aktenbergen sitzt ein Mann mittleren Alters mit Brille und tiefen Furchen auf der Stirn. Er sieht auf, als ich eintrete.
»Hi, ich bin Noah Hart. Ich soll mich bei ihnen melden.«
»Hi Noah, ich habe dich schon erwartet. Setz dich doch bitte.« Jason Duncan steht auf und räumt mir einen Stuhl frei, auf dem noch mehr Akten lagern. Er stellt sie auf einen Stapel auf seinem Schreibtisch, der gefährlich anfängt zu wanken, aber stehen bleibt.
»Entschuldige das Durcheinander. Meine Sekretärin hat Urlaub und ich muss mich um alles alleine kümmern.« Er erhebt sich und reibt verlegen den Hinterkopf. Dann beginnt er in einem anderen Aktenberg zu kramen. Schließlich zieht er triumphierend eine braune Mappe mit Papieren hervor, auf der ich meinen Namen lesen kann. »Ha, ich wusste, das sie hier ist!« Er setzt sich wieder, schlägt meine Akte auf und taucht dahinter ab. »Wollen wir doch mal sehen, was du angestellt hast. Ein Jahr wegen Angriffs auf deinen Stiefvater, dem du das Schlüsselbein gebrochen hast. Er musste für ne Woche ins Krankenhaus. Deine Mutter hat für ihn ausgesagt und nicht für dich, das ist bitter«, liest er aus meiner Akte vor. Wenn ein Außenstehender das so nüchtern vorträgt, hört es sich grausam an. War es auch, denn es hat mich völlig unvorbereitet getroffen, dass meine Mutter mir in den Rücken gefallen ist. Dabei wollte ich sie nur beschützen, denn das war nicht das erste Mal, dass Jeff die Hand gegen sie erhoben hat. Aber meine Mum ist ihm so hörig, dass sie Angst hatte, gegen Jeff auszusagen. »Wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Noch fünf Monate auf Bewährung. Das war dein erster Besuch im Jugendgefängnis, vorher weiße Weste.« Duncan sieht von den Dokumenten vor sich auf und direkt in meine Augen.
»Ich hoffe, das war dein letzter Besuch in einer solchen Art von Einrichtung?«
»Ich habe nicht vor noch mal im Gefängnis zu landen.«
»Das freut mich zu hören.« Jason Duncan mustert mich eingehend, als könnte er in meinen Kopf gucken, ob ich die Wahrheit sage. Ich halte seinem Blick stand, während wir wer blinzelt zuerst spielen. Schließlich gibt er sich einen Ruck.
»Na schön. Du meldest dich jede Woche einmal persönlich bei mir und ich werde mich bei deinen Lehrern nach deinen Leistungen erkundigen. Das System erwartet, dass du deinen Abschluss schaffst, damit du dem Staat nicht länger zur Last fällst. Solltest du durchfallen, dich prügeln oder hier nur fünf Minuten zu spät auftauchen, verfrachte ich dich höchst persönlich wieder in den Knast, ist das klar?« Sein Blick ist durchbohrend, wie Supermans Hitzeblick.
»Absolut glasklar.«
»Schön, dass wir uns verstehen. Ich brauche dann noch einige Unterschriften und du kannst gehen. Hier ist die Adresse des Heimes, in dem ich dich untergebracht habe. Kein Luxushotel, aber besser, als dein letzter Schlafplatz. Ich kenne die Einrichtung, korrekte Leitung und gutes Essen.« Ich stehe auf, nehme den Zettel entgegen und stecke ihn ein.
»Ich werde mich sofort dort melden«, lüge ich und hoffe, dass er es nicht merkt. Alles ist besser, als in ein Heim gesteckt zu werden. Im Knast habe ich genügend Geschichten gehört, um zu wissen, dass der Name Heim nicht annähernd das beschreibt, was einen dort erwartet. Dann bin ich doch lieber auf mich alleine gestellt.
»Wir sehen uns dann nächste Woche.« Ich drehe mich um und will gehen, als er noch etwas hinzufügt. »Ach und Noah, ich bin ein sehr liberaler Bewährungshelfer, aber wenn ich merke, dass du mir etwas verheimlichst, dann kann ich ziemlich ungemütlich werden.«
Ich nicke nur und gehe mit weichen Beinen aus Jason Duncans Büro. Hat er mich durchschaut? Trotzdem ändere ich meine Entscheidung nicht. Es ist nicht das erste Mal, das ich in meinem Auto übernachte. In den letzten Monaten bei meiner Mutter bin ich meist abgehauen, wenn Jeff aufgetaucht ist. In der kleinen Wohnung, in der meine Mutter und ich lebten, war nur Platz für einen von uns.
Zurück in meinem Auto, bin ich froh, dass das Gespräch mit meinem Bewährungshelfer so gut verlaufen ist und die erste Hürde für heute geschafft ist. Ich atme tief durch und drehe den Zündschlüssel um.
Bevor ich mir einen Schlafplatz für die Nacht suche, halte ich an dem Imbiss, an dem ich auf dem Hinweg vorbeigefahren bin. Im Fenster des kleinen Restaurants hängt ein großes gelbes Schild, dass sie eine Aushilfe suchen. Das ist genau das, was ich brauche: Kostenloses Essen und einen Job mit Bezahlung. Es ist nicht viel los in dem kleinen Laden mit den schwarz-weißen Fliesen, die wirken, als würde man auf einem Schachfeld stehen. Das Inventar sieht aus, als wäre es aus den Sechzigern. Die roten Ledersitze sind auch schon mal geflickt worden. Trotzdem hat der Imbiss Charme. Ich lasse mich am Tresen auf einem der Drehhocker nieder.
»Was kann ich für dich tun, mein Junge?« Eine ältere Frau, auf deren Namensschild Lucinda steht, tritt mir mit Block und Stift gegenüber. Ich beschließe, erst mal etwas zu bestellen. Die Speisekarte, die auf dem Tresen liegt, ist übersichtlich.
»Einmal den Spezial Cheeseburger mit Pommes, bitte.«
Lucinda serviert ihn mir kurze Zeit später zusammen mit einer Cola.
»Hier mein Junge, lass ihn dir schmecken!« Ihre Stimme ist tief, beinahe wie die eines Mannes und rau, als hätte sie schon viel erlebt. Sie ist keine Frau, der man widersprechen sollte. Außerdem könnte sie meine Mutter sein. Vermutlich schmeckt alles besser, als der Fraß im Knast, denke ich mir und erwarte nichts Besonderes. Ich lasse mich nicht zweimal bitten. Doch der erste Bissen ist eine Geschmacksexplosion. Ich schließe die Augen, während ich mir jede einzelne Zutat auf der Zunge zergehen lasse.
»Sieht aus, als würde dir unser Essen schmecken?« Sie steht noch vor mir, obwohl im Imbiss noch ein paar andere Gäste sitzen und grinst mich an.
»Ja, isch fantaschtisch.« Eigentlich bin ich dazu erzogen worden, nicht mit vollem Mund zu reden, doch das Ding ist so lecker, dass ich mir überlege, einen Zweiten zu bestellen. »Das ist Karls geheime Soße.«
»Sagen Sie Karl, dass ich noch nie einen so guten Cheeseburger gegessen habe!«
»Das würde ich gerne, aber er ist tot. Hat mir außer dem Rezept und dem Laden, nur einen Haufen Schulden hinterlassen.«
Ich wische mir mit der Serviette über den Mund. »Das tut mir leid!«
»Das braucht es nicht mein Junge.«
Lucinda ist Besitzerin, Kellnerin und gute Seele von Karls Better Burger. Ihre grauen Haare trägt sie zu einem Knoten gesteckt und ich habe sie sofort in mein Herz geschlossen.
Wie erwartet gibt es außer mir keinen anderen Bewerber. Wer will schon für einen Mindestlohn Burger und Fritten braten und die ganze Zeit nach Frittierfett stinken? Zum Glück fragt sie nicht nach meinen Vorstrafen, nicht mal meinen Ausweis oder Führerschein will sie sehen. Meinen Lohn erhalte ich bar auf die Hand, am Ende jedes Monats. Ist mir recht. Dazu kann ich die Trinkgelder, die ich bekomme behalten und muss sie nicht mit den anderen Bedienungen teilen. Außer mir gibt es noch zwei weitere Aushilfen: Jorge und Micael.
Gleich am Freitag kann ich eine erste Schicht übernehmen. Ich habe Lucinda gesagt, dass ich nur nachmittags kann, da ich vormittags noch einen anderen Job hätte. Das ich noch zur Schule gehe, lasse ich lieber unter den Tisch fallen. Unter der Woche muss ich Burger braten, denn da arbeitet Manni in seinem ersten Job, als Lkw-Fahrer. Am Wochenende übernimmt er dann schon seit fünf Jahren das Braten der Burger als Zweitjob, um seine Familie, die er kaum sieht, zu versorgen. Er hat alle Tricks mit dem Pfannenwender drauf, die er mir beibringen will. Dass ihm seine Burger schmecken, sieht man. Hoffentlich sehe ich in fünf Jahren nicht auch so aus. Aber darüber mache ich mir jetzt noch keine Sorgen.
Zufrieden und satt steige ich in mein Auto und fahre hinauf in die Hollywood Hills. Ich stelle den Ford am Straßenrand ab und gehe die letzten Meter durch den staubigen Sand Kaliforniens zu Fuß. Es ist noch früh und die Touristen bevölkern das Wahrzeichen der Stadt. Ein Pärchen bittet mich, ein Foto von ihnen zu schießen. Dazu drücken sie mir ihr Smartphone in die Hand. Sie positionieren sich und lächeln mir entgegen. Ich schieße ein paar Fotos von dem verliebten Paar. Glücklich verabschieden sie sich von mir und auch die anderen Touristen machen sich auf den Weg zurück in die Stadt und den Trubel. Irgendwann bin ich ganz alleine. Der Tag verblasst langsam und die Sonne geht unter. Von dem Felsen, auf dem ich mich niedergelassen habe, habe ich einen guten Blick über die Stadt, in der nach und nach die Lichter angehen. Endlich finde ich Zeit zum Durchatmen. Ich bin bereit, für mein neues Leben.
»Angela, du kommst zu spät!« Die durchdringende Stimme meiner Mutter hallt durchs Haus und ich ziehe die Bettdecke über meinen Kopf. Doch gleichzeitig weiß ich, dass wenn ich nicht in ein paar Minuten zum Frühstück erscheine, sie zu drastischeren Maßnahmen greifen wird. Also schäle ich mich aus meinen Laken, springe kurz unter die Dusche und zieh mir was über. Meine blonden Haare stecke ich lose zu einem Dutt zusammen. Meine Mutter hasst es, wenn ich sie nicht streng zurückkämme, aber mir gefällt es besser, wenn ein paar Strähnen heraushängen. Ich benutze nie Schminke. Ich hatte immer das Glück, das meine Haut perfekt ist und so erscheine ich nur eine viertel Stunde nach ihrem Weckruf an unserem großen Esstisch aus Glas. Mein Vater ist hinter seiner Morgenzeitung verschwunden, da ist er altmodisch. Er sagt immer, dass der Duft von Druckerschwärze und schwarzem Kaffee am Morgen seine Seele belebt. Trotzdem drücke ich ihm einen Kuss auf die Wange. »Morgen, Dad.«
»Guten Morgen, Prinzessin.« Er sieht nicht von seiner Zeitung auf, aber das kenne ich schon. Er meint es nicht böse, er arbeitet nur rund um die Uhr. Die meisten seiner Mandanten stehen mit ihren Prozessen regelmäßig in den Schlagzeilen und damit auch mein Vater als ihr Vertreter. Er will wissen, was in der Presse steht, um vorbereitet zu sein. Manchmal dichten die Presseheinies sich etwas zusammen, das er noch nicht weiß.
»Schatz, du könntest ruhig etwas Schminke auflegen, nur soviel, dass du gar nicht aussiehst, als wärst du geschminkt. Nur etwas Rouge hier und Concealer da. Wenigstens etwas Wimperntusche!« Meine Mutter wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum, als ich mich zu ihr hinunterbeuge und sie ebenfalls mit einem Kuss begrüße. »Mum!« Augenrollend tauche ich unter ihrem Arm durch und nehme am Frühstückstisch Platz. »Du weißt doch, dass dich heutzutage jeder überall ablichten und dann die Bilder auf Instagram hochladen kann. Zu meiner Zeit war es schon schwer mit den ganzen Paparazzi, aber jetzt hält sich ja jeder für einen Fotografen.«
»Mum, beruhig dich. Du weißt doch das ich mir aus dem ganzen Social Media Kram nichts mache.«
»Das solltest du aber, dort sieht beinahe jedes Mädchen aus wie ein Model. Die Konkurrenz ist so groß, dass die Modelabels sich vor Mädchen kaum retten können. Du musst im Gespräch bleiben, sonst gehst du unter.« Meine Mutter ist geradezu besessen von Instagram. Sie postet ständig irgendwelche Dinge. Sie war schon drauf und dran einen Account in meinem Namen zu erstellen und für mich Bilder zu posten. Davon konnte ich sie gerade nochmal abhalten. Als Model werde ich oft genug fotografiert, immer makellos gestylt und in perfekten Posen, in meiner Freizeit wiIl ich mich nicht auch noch mit knappen Outfits in waghalsige Pose schmeißen, nur damit irgendein alter Knacker sich darauf einen runterholen kann.
»Keine Sorge, Mum. Du sagst doch immer ›Professionalität setzt sich durch‹. Es braucht schon ein bisschen mehr, als ein paar Schnappschüsse in den Sozialen Medien. Und wenn ich irgendwann mal nicht mehr gebucht werde, dann ist das auch nicht schlimm, schließlich will ich das nicht ewig machen.«
»Ja, aber ich hoffe, das dieser Tag noch in weiter Ferne liegt.«
»Was gibt es denn heute?«, frage ich, um das Thema zu wechseln, und betrachte das Glas mit dem grünen Drink, das vor mir auf meinem Platz auf mich gewartet hat.
»Ich habe dir einen Spinat-Gurken-Kiwi Smoothie gemacht.« Was sie damit meint, ist das Suzie, unser Hausmädchen, mir einen Smoothie auf ihre Anweisung hin gemixt hat. »Danke, Mum.« Ich probiere einen Schluck. Er schmeckt genauso, wie er aussieht: Würgereiz auslösend.
»Ich hole dich nach der Schule ab und bring dich zu John ins Training.«
»Ich würde lieber ins Cheerleadertraining gehen.«
»Wir haben das doch alles schon mal besprochen.«
»Cheerleadertraining ist mindestens so intensiv wie Johns Power Work Out für mich!«
»Mag sein, aber bei John gibt es nicht so viel Ablenkung!« Meine Mutter blättert weiter in ihrer Modezeitung, ohne aufzusehen.
»Diese Stella Maxwell hat den Job für Dior bekommen, für den du beim Casting warst. Ich finde noch immer, dass du besser geeignet wärst.«
»Sie suchten ein Model mit weniger Kurven.«
»Wie dem auch sei, danach gehen wir noch ins Spa. Deine Haut braucht eine kleine Frischzellenkur.«
»Du meinst wohl deine Haut«, flüstere ich in meinen grünen Drink hinein.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.«
»Ich habe uns auch Nagelpflege gebucht. Wir haben morgen ein Shooting für Essie, vergess bitte nicht, dass ich dich früher aus der Schule abholen werde.« Mit wir meint sie eigentlich mich. Ich habe ein Shooting. Doch ihr ist diese ganze Modelwelt so viel wichtiger als mir.
»Natürlich nicht.«
In jeder anderen Familie würde ich dafür ausgepeitscht werden, wenn ich die Schule früher verlassen und als Model arbeiten würde. In meiner nicht. Meine Mutter war früher selbst mal ein gefragtes Model. Dann hat sie meinen Vater kennengelernt, geheiratet und mich bekommen. Und ich musste ihren Traum weiter leben. Klassischer Fall von Übertragung, würde jetzt ihr Psychologe sagen, bei dem sie einige Sitzungen lang wegen Burnout war. Hat aber nicht viel gebracht, sie arbeitet jetzt mehr denn je als meine Managerin.
Als ich noch klein war, fand ich es toll wie Barbie geschminkt, auf der Bühne um her zu tanzen. Jedes Wochenende auf einen anderen Schönheitswettbewerb zu gehen. Vor allem, weil ich immer recht weit vorne gelandet bin und ziemlich oft sogar gewonnen habe. Mein Zimmer ist übersät mit goldenen Pokalen und Schärpen. Dann entdeckte mich ein Modelscout auf der Straße beim Shopping mit meiner besten Freundin Roxy. Meine Mutter brach vor Glück in Tränen aus, als ich ihr die Karte des Scouts zeigte. Das ist nun über drei Jahre her.
»Holt Roxy dich ab?«
»Ja, ich muss los!« Ich nehme mir noch eine Banane aus dem Obstkorb, der inmitten des Tisches steht und schnappe mir meine Schultasche.
Roxy kenne ich, seit wir zusammen bei Schönheitswettbewerben aufgetreten sind. Doch während ich darin ziemlich erfolgreich war, landete Roxy immer im Mittelfeld. Ihre Mum hatte wohl irgendwann ein Einsehen, dass ihre Tochter nicht für diese Art der Wettbewerbe geeignet ist, während meine Mum natürlich bestätigt wurde, dass ihre Tochter mal ein berühmtes Model wird. Sie behielt recht. Roxy hat sich danach ziemlich verändert. Trägt Piercings, die sie sich teilweise ohne Erlaubnis ihrer Mutter hat stechen lassen. Genau, wie das Tattoo auf ihrem rechten Schulterblatt, das einen kleinen Teufel darstellt. Es war Roxys Art zu rebellieren und aus dem rosa Tütü auszubrechen. Ihre Haare waren früher schon dunkel, doch mittlerweile sind sie schwarz, wie ihre Seele, meint meine Mutter, die immer so maßlos übertreibt. Auch ihr Kleidungsstil hat sich geändert. Rosa ist aus ihrem Schrank verbannt worden und stattdessen Schwarz gewichen. Meine Mum kann Roxy nicht leiden, weil sie denkt, dass sie einen schlechten Einfluss auf mich hat. Aber es ist mir egal, was sie denkt. Sie sieht nur das Äußerliche, das so wichtig ist in der Modelwelt. Dabei kommt es auf so viel mehr an, als auf oberflächliche Dinge. Roxy war schon meine Freundin, bevor ich entdeckt wurde und hat sich nicht danach angebiedert, wie manch andere meiner sogenannten Freundinnen.
Der kleine rosa Beetle, der völlig im Gegensatz zu Roxys Emotrip steht, wartet wie jeden Morgen vor der Einfahrt auf mich. Wir nennen ihn liebevoll Pink Panther. Ihre Mum hat ihn ihr zu ihrem Führerschein geschenkt. Woran man mal wieder erkennt, dass Eltern überhaupt nichts von ihren Teenager Kindern wissen. Roxy hasst Rosa. Das ist so ziemlich die letzte Farbe, die sie tragen würde. Das einzig gute daran ist, dass kein Mensch so ein Auto klauen würde – viel zu auffällig. Roxy hat bereits ihren Führerschein, während ich noch daran arbeitete, weil ich kaum Zeit dafür habe zwischen Castings und Shootings.
»Morgen meine Hübsche«, begrüßt mich meine beste Freundin, der ich einen Kuss auf jede Wange drücke. »Ich hab dir was mitgebracht.« Aus meiner Tasche krame ich Wimperntusche, Eyeliner und eine Palette Lidschatten in dunklen Tönen.
»Hier, vom Revlon Shooting am Wochenende. Ich durfte ein paar der neuen Produkte mitnehmen, aber ich habe genug Schminke, da ich die eh kaum trage. Wohingegen du morgens ja ne halbe Ewigkeit im Badezimmer brauchst.« Ich grinse sie an, während ihre in smokey geschminkten Augen zu strahlen beginnen. Hatte ich es mir doch gedacht, dass ich ihr damit eine Freude machen kann.
»Kann halt nicht jeder eine natürliche Schönheit sein, sondern muss etwas nachhelfen.
»Du weißt, dass du auch wunderschön bist, und das viele Make-up nicht nötig hast?«
»Ja, das weiß ich. Aber ich fühle mich wohl in meinem Look und danke dir von Herzem für die Produkte.« Theatralisch hält sie sich die Geschenke ans Herz, bevor sie sie in ihre Tasche wandern lässt.
»Was gabs heute morgen für einen Smoothie?«, stellt mir Roxy die gleiche Frage, wie jeden Morgen, wenn sie mich zur Schule abholt.
»Spinat-Gurke-Kiwi.« Sie verzieht das Gesicht.
»Wie kriegst du das Zeug bloß runter?«
»Ich würde sagen, jahrelange Übung.«
»Hier dein Latte Macchiato.« Sie hält mir einen Bambus Togo-Becher hin, den sie mir jeden Morgen bei Starbucks mit dem heißen Elixier füllen lässt.
»Und die Aussicht den hier zu bekommen!« Ich nehme einen großen Schluck und spüre, wie die warme Flüssigkeit meinen Körper zum Leben erweckt, als Roxy Gas gibt und uns zur Schule befördert.
Ein energisches Klopfen reißt mich aus dem ohnehin unruhigen Schlaf. Ich will mich schnell aufrichten, doch mir tut alles weh und es dauert einige Sekunden, bis ich begreife, das ich in meinem Auto geschlafen habe und das Trommeln von einer Verkehrspolizistin kommt. Ich streiche mir meine Haare aus dem Gesicht, um einigermaßen wach auszusehen, bevor ich mit Schwung das Fenster ein Stück nach unten kurbele.
»Guten Morgen, Mam.« Mein Puls beschleunigt sich und aufgeregt die Luft anhaltend, warte ich, was sie von mir will.
»Sie können hier nicht stehen bleiben. Sie müssen mindestens drei Meter Abstand zu einem Hydranten einhalten. Haben Sie den nicht gesehen?« Sie deutet ein Stück weiter die Straße rauf. Mist. Tatsächlich steht dort ein gelber Hydrant, den ich abends wohl übersehen habe. Da parkte noch ein anderes Fahrzeug zwischen meinem Auto und dem Wasserspender.
»Den habe ich tatsächlich nicht gesehen. Ich fahre sofort weg.« Hastig suche ich nach dem Autoschlüssel, um den Motor zu starten.
»Für heute werde ich sie nur verwarnen. Aber das nächste Mal muss ich einen Strafzettel ausstellen.« Puh, Glück gehabt. Langsam normalisiert sich mein Pulsschlag wieder.
»Es wird nicht wieder vorkommen, Mam.« Ich will gerade das Fenster wieder hochkurbeln, da setzt sie noch hinter her: »Allerdings muss ich ihnen einen Strafzettel ausstellen, da es verboten ist in seinem Auto zu übernachten.« Na toll, war ja klar, dass ich nicht einfach so davon kommen würde. Sie drückt mir ein Stück Papier in die Hand und mein Blick fällt auf den Betrag, der aufgeführt ist. Scheiße 30 Dollar. »Sie können das Geld bis zum Ende des Monats mit einer Money Order in der nächsten Tankstelle oder Drug Store bezahlen.« Na klar, wenn das so einfach wäre. Dreißig Dollar sind ne Menge Geld, für jemanden, der nur ein paar Hundert Dollar besitzt. Die Beamtin grüßt mich noch freundlich, dann dreht sie sich um und sucht sich einen neuen Verkehrssünder. Auf diesen Schrecken am Morgen hätte ich verzichten können. Ich bin dabei mein Fenster hochzukurbeln, als mein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett fällt. Mit Entsetzen muss ich feststellen, dass es bereits halb Acht ist und ich damit schon spät dran für meinen ersten Tag in der Schule. Ich schäle mich aus meinem Schlafsack und aus dem Auto. Erst dann strecke und recke ich mich. Jeder einzelne Knochen ächzt unter der Bewegung. Die Betten im Jugendknast waren kaum weicher als der Rücksitz meines Autos. Aber ich bin frei, das ist alles, was zählt. Dann werde ich die paar Monate, bis ich volljährig bin und die Schule abgeschlossen habe, auch durchstehen.
Notdürftig wasche ich mich mit kaltem Wasser aus der Wasserflasche, putze mir die Zähne und suche im Kofferraum nach etwas zum Anziehen. Dabei fällt mir mein altes Guns ›n‹ Roses Shirt in die Hände, das mein Vater auf einem Konzert der Band erworben hat. Es hat mir bisher Glück gebracht, also werde ich es heute tragen. Frühstück spare ich mir, nachdem mir Lucinda als Einstiegsgeschenk noch einen Burger aufs Haus spendiert hat. Eilig setze ich mich hinters Steuer und gliedere mich in den dichten Verkehr durch das morgendliche Los Angeles. Vielleicht sollte ich das nächste Mal näher an der Schule parken, damit ich nicht so lange fahren muss. Sagen wir, dass ich an einem geeigneten Schlafplatz noch feilen muss.
Pine View High School prangt auf dem großen Schild neben dem Parkplatz, auf dem ich mein Fahrzeug abstelle. Ich frage mich allerdings, wo hier die Pinien sind. Ein paar Sträucher vor dem Haupteingang sind das einzige Grünzeug weit und breit. Ist mir aber auch egal, ich beginne heute mein neues Leben, an einer neuen Schule, an der mich oder meine Geschichte niemand kennt. Nur blöd, dass meine Vergangenheit noch immer die alte ist. Aber keiner weiß, dass ich aus dem Jugendknast komme und das soll auch so bleiben.
Die meisten anderen Schüler kommen zeitgleich mit mir an, viele ebenfalls in ihren Autos. Im Getummel des morgendlichen Ankommens ignorieren sie mich, während ich die Treppenstufen zum Eingang hinaufsteige. Zum Glück. Die jüngeren Schüler rennen an mir vorbei, vermutlich eher, um ihre Freunde zu treffen, als eilig zum Unterricht zu strömen. Ich folge den Hinweisschildern durch die Flure, auf dem Weg zum Sekretariat, in dem ich mich melden muss, um meinen Stundenplan und meine Bücher zu bekommen. Außerdem erhalte ich meine Spindnummer, auf deren Suche ich mich gleich auf den Weg mache. Es hat noch nicht zur ersten Stunde geklingelt und die Flure sind voll mit Schülern. Die fünf Bücher, die ich unter dem Arm trage, wiegen schwer. Allein das Biologiebuch hat 500 Seiten. Ich laufe durch die Flure, mein Blick auf die grauen Spindtüren rechts und links gerichtet und suche nach meinem Schrank mit der Nummer 202, damit ich meine Bücher endlich loswerde. Meine Mitschüler unterhalten sich lautstark oder verstauen etwas in ihren Spinden. Es hat noch nicht zur ersten Stunde geklingelt. Ich spüre die Blicke auf mir, die wohl jeder Neuling über sich ergehen lassen muss. Kaum bin ich an ihnen vorbei, setzt das Tuscheln ein. Die Mädchen lächeln hinter vorgehaltener Hand und die Jungs beäugen mich misstrauisch, ob sie mich als Konkurrenten oder Kumpel einstufen sollen. Weitest gehend kann ich sie ignorieren. Es ist mir egal, was sie über mich denken. Ich habe nicht vor hier Freunde zu finden. Ich will einfach nur keinen Ärger, das kann ich mir nicht leisten. Der kleinste Fehltritt und das war`s mit meiner Bewährung. Sobald ich meinen Schulabschluss habe, bin ich wieder weg. Doch dann bemerke ich sie. Ein blonder Engel. Ihr Lachen übertönt jede andere Stimme auf dem Flur. Durch die Oberlichter erhellen Sonnenstrahlen den Flur und bringen ihr blondes Haar zum Strahlen, das sie unordentlich hochgesteckt trägt. Es sieht aus, als würde ein Heiligenschein sie umringen. Ich kenne sie irgendwo her. Das Mädchen von der Plakatwand, schießt es mir durch den Kopf. Es ist das gleiche perfekte Gesicht. Die gleiche perfekte Stupsnase und die gleichen vollen rosa Lippen. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Noch nie habe ich ein so hübsches Mädchen gesehen. Und sie ist in Wirklichkeit noch viel schöner als auf der Leinwand - ohne das ganze Make-up. So hübsch, dass sie nicht von dieser Welt scheint. Während sie mit ihrer Freundin an mir vorbei geht, wirft sie mir für eine Sekunde einen Blick zu. Unter ihren langen dichten Wimpern schimmern ihre blau-grünen Augen hindurch und nehmen mich gefangen. So blau wie der Himmel, den ich im Gefängnis manchmal vermisst habe und so tiefgrün, wie das Meer an Orten, zu denen ich mich oft geträumt habe. Sie lacht wieder und zeigt dabei ihre perfekten weißen Zähne. Ihr Lachen ist das schönste Geräusch, das ich seit langem gehört habe. Aber für sie bin ich bloß irgendjemand, der sie anstarrt, was vermutlich ziemlich häufig passiert. Schon als sie längst vorüber ist, hängt ihr Duft nach einer bunten Sommerwiese noch in der Luft. Ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden, während ich weiter laufe. Mann alter reiß dich zusammen, ermahne ich mich. Doch zu spät. Prompt stoße ich mit einem Typen zusammen. Meine ganzen Bücher fallen mit einem lauten Poltern zu Boden und ich werde zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit meiner Mitschüler. Schnell gehe ich in die Hocke und sammle meine Sachen wieder auf. »Tschuldige, ich habe dich gar nicht gesehen.« Der Mitschüler, mit dem ich zusammen gestoßen bin, beugt sich ebenfalls hinunter. Hastig schaue ich zu dem Mädchen. Sie ist stehen geblieben und schaut, wie alle anderen, zu mir. Dabei kichert sie gemeinsam mit ihren Freundinnen über mich. Na toll, peinlicher hätte mein Auftritt kaum sein können. Immerhin nimmt sie mich jetzt wahr. Allerdings als ein hormongesteuerter, sabbernder Teenager.
»Mach dir nichts draus, du bist nicht der Erste, dem das passiert!« Erst jetzt schaue ich den Jungen, mit dem ich zusammengestoßen bin, an.
»Wie bitte?« Er kniet mir gegenüber, um seine Bücher, die bei dem Zusammenprall ebenfalls heruntergefallen sind, aufzuheben.
»Du hast doch nach Angela Moore gesehen und nicht wohin du läufst, oder?« Ich reibe mir verschämt den Hinterkopf.
»Erwischt würde ich sagen.«
»Du bist neu hier, oder?«
»Ja, entschuldige.« Ich suche alle meine Bücher zusammen und stehe mit ihnen im Arm auf. »Ich bin Noah.«
Der Junge mit der großen Brille auf der Nase und dem aschblonden zerzausten Haar, hat seine Bücher ebenfalls wieder eingesammelt und unter seinen Arm geklemmt. »Ich bin Tyler. Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Gleichfalls.« Ich wage noch einen Blick auf Angela Moore. Selbst ihr Name klingt perfekt und passt zu ihr. Allerdings ist nun ein großer, muskulöser Typ mit Teamjacke der Schule und Militärhaarschnitt, an ihre Seite getreten – war klar, dass so ein Mädchen einen Freund hat.
Tyler bemerkt meinen Blick. »Vergiss sie! Angela gehört zu Luke Davidson. Die beiden sind zusammen, seit ich denken kann. Da hast du keine Chance bei ihr.«
»Danke für den Rat, Mann. Aber wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dass nichts für immer ist.«