Prolog
Alles, was wir von der Liebe wissen, erwarten, wie wir sie ausdrücken und wie viel wir glauben, von ihr verdient zu haben, haben wir von unseren Eltern. Dank unserer Eltern glauben wir daran, dass Liebe Respekt bedeutet. Zuneigung. Wärme. Bedingungslose Annahme unserer Selbst — mit allen Fehlern, Eigenheiten, Wünschen, Sehnsüchten, Stärken, Schwächen und Träumen.
Liebe war Licht.
Licht war Leben.
Katiyas Eltern hatten niemals geliebt.
Sich selbst nicht.
Einander nicht.
Katiya nicht.
Manchmal, wenn Katiya über Kopfsteinpflaster ging, stellte sie sich vor, dass Papa und Mama sie an den Händchen hielten.
»Engelein, Engelein flieg!«
Liebe bedeutete Schwerelosigkeit. Sich fallen zu lassen. Und zu wissen, dass es da jemanden gab, der sie auffing. Aber niemals hatte irgendjemand Katiya fliegen lassen. Zu fliegen — das vermochte bloß der Engel in ihrer Spieluhr. Die Spieluhr hatte Papa ihr zur Geburt geschenkt. Natürlich erinnerte Katiya sich daran nicht mehr, denn sie war damals noch viel zu klein gewesen.
Überhaupt erinnerte sie sich nicht sehr gut an Papa.
Papa waren schwere Schritte auf den marmornen Fliesen ihres Herrenhauses. Knallende Türen. Eine raue, dröhnende Stimme. Der Gestank nach Whiskey und Zigarettenrauch. Das Bild, das sie ihm einmal gemalt und dann im Papierkorb seines Zimmers wiedergefunden hatte. Kampf statt Respekt. Härte und Wut an Stelle von Sicherheit und Trost. Papa war ein lodernder Gewittersturm mit finsteren Wolken. Es war immer besser, wenn er nicht da war.
Ihre Mutter Natasha war ein Cerankochfeld: Glatt und makellos. Sie mochte keine Umarmungen. Keine Nähe. Keinen Bastard aus einer schmutzigen Affäre, mit der sie ihre Ehe zerstört hatte. Wie ein kluges Kind irgendwann lernte, dass Herdplatten gefährlich waren, so hatte auch Katiya begriffen, dass ihre Mutter jemand war, von dem sie sich zumindest emotional besser fernhielt.
Vielleicht konnten Papa und ihre Mutter ihr einfach nicht geben, was sie brauchte. Katiya hatte schon oft gehört, dass manche Leute, die weniger Geld hatten als sie, bestimmte Sachen nicht haben konnten. Vielleicht hatten sie Geld und dafür andere Sachen nicht.
Und so war es dazu gekommen, dass Katiya an ihrem fünften Geburtstag damit begonnen hatte,
jedes Jahr beim Ausblasen der Kerzen auf ihrem Kuchen denselben Wunsch loszuschicken: Nur einmal, aber wenigstens einmal in ihrem Leben wollte sie erwiderte Liebe erfahren. Endlich wollte sie von ihrer fortwährenden Dunkelheit erlöst werden.
Dann war Peter von Malvenstein in ihr Leben getreten.
Katiya hielt inne. Der Kopf der Puppe, an der sie baute, in ihren Händen so lebendig, dass es sie schauderte. Dabei war sie den Anblick von Puppen mehr als gewöhnt. Noch vor ein paar Jahren hatte sie sich ihr Zimmer mit gut drei Dutzend Porzellanpuppen verschiedenster Größen geteilt. Dann waren die meisten ihrer Schwestern mit den toten Glasaugen im Keller ihres Herrenhauses verschwunden. Ihr Kichern verfolgte Katiya manchmal im Schlaf. In ihrem Zimmer geblieben war von diesen nur Katyusha — die Puppe, die ihre Mutter ihr im Namen ihrer Familie zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Katyusha mit ihrem langen, gewellten kastanienbraunen Haar, dem stummen, sanft lächelndem Mund und dem immer leicht staunenden, nach Rat suchenden Ausdruck in ihren leeren Augen war all das, was Katiya sein sollte.
Eine Prinzessin in einem gläsernen Sarg.
Und wieder setzte Katiya den Fineliner an, um Peters Züge auf die Puppe in ihrer Hand zu bannen.
In ihrem Zimmer war es so still, dass sie beinahe das Quietschen des Filzstifts auf dem Puppenkopf hörte. Ihre Hand war so ruhig, während sie selbst innerlich bebte. In ihrer Brust ein Knoten. Jeder Muskel unter Hochspannung. Der silberne Ring an ihrem Finger glänzte.
Katiya hatte die Fenster gekippt. Vogelgezwitscher drang in ihr Zimmer. Und obwohl die Reinigungskraft erst gestern in ihrem Zimmer geputzt hatte, entdeckte Katiya ein paar Staubpartikel im Schein der Nachmittagssonne vor ihrem Queensize-Bett mit der dunklen Seidenbettwäsche und über dem Ölgemälde mit den dunklen roten Rosen tanzen.
Noch eine Linie mit dem Fineliner. Und noch eine. Peters Augen wirkten schon viel weicher. Viel lebendiger. »Katiya, Liebling!« Beim Klang seiner weichen Stimme in ihrem Kopf weitete sich Sehnsucht in Katiyas Brust aus und sie verengte die Lider, um nicht die Lippen zusammenzupressen, wie sie es oft tat, wenn sie sich konzentrierte. Aber ihr Lippenstift durfte nicht verschmieren. Gleich würde Peter sie abholen. Dann würden sie gemeinsam zu ihrer Verlobungsfeier fahren.
Sie brauchte nicht wirklich die vier Stunden, um sich fertig zu machen. Zumindest nicht fürs Duschen, Frisieren und Schminken.
Mit nun einem anderen Fineliner zeichnete Katiya Peters Lippen nach. Peters Lippen waren weich und voll. Sie zu küssen … Irgendwie nicht besonders. Sich zu küssen, war ohnehin eine komische Geste. Wer in aller Welt hatte das aus welchem Grund erfunden? Was am Aufeinanderpressen von Mündern und dem dabei unvermeidbaren Austausch von Keimen, Viren und Bakterien drückte Zuneigung aus?! Menschen waren komisch.
Katiya legte den Fineliner ab und griff nach dem Kleber und den Wimpern für den oberen Wimpernkranz. Sie fuhr das Innenlid der Puppe nach. Mit jeder Fingerbewegung materialisierte sich das, was eben noch eine unwirkliche Fantasie, eine Vision, eine mentale Energie in ihrem Kopf gewesen war, in der Realität. Es war ein bisschen wie Magie, die sichtbar machte, was zuvor für jeden Außenstehenden unbegreiflich gewesen war. Dank der detailgenauen Arbeit an den Puppen hatte Katiya eine Routine etabliert, die ihr jedes Mal half, nicht innerlich durchzudrehen. Denn soziale Events kosteten sie alle Ressourcen. Jedes Mal nach einer so netten Zusammenkunft fühlte Katiya sich wie eine falsch zusammengesetzte Puppe. Selbst Puppen zu bauen, beruhigte sie. Vielleicht, weil es ein bisschen so war, als könnte sie die Menschen in ihrem Leben damit kontrollieren. Oder sie zumindest besser einschätzen.
Erst hatte sie ihren gesamten Bekanntenkreis in dem Videospiel Die Sims nachgestellt. Dann hatte sie begonnen, Aschenburg und die Figuren als Ball Jointed Dolls — kurz BJDs — umzusetzen.
Das waren Puppen, die es in unterschiedlichen Größen gab. Katiya bevorzugte die, die ungefähr so groß waren wie Barbie-Puppen. Die BJDs waren jedoch viel detailreicher als besagte knapp dreißig Zentimeter große Modepuppen. Elastische Bänder hielten ihre aus Resin — eine Art Kunstharz — gefertigten Gliedmaßen zusammen. Durch die Kugelgelenke konnten sie sich bewegen wie echte Menschen.
Tante Irina war Katiyas Versuchskaninchen gewesen. Sie schielte etwas, weil Katiya damals noch nicht so gut darin gewesen war, die aus Glas gefertigten Augen einzusetzen. Irgendwann musste sie die Puppe nachbessern, denn obwohl sie Tante Irina weit nach hinten in ihrem Puppenhaus auf einem Sofa positioniert hatte, von wo Katiya sie meistens nur im Profil sah, machte dieser Mangel an ihrer Arbeit sie wahnsinnig. Nur bislang hatte sie keine Lust gehabt, sich erneut so intensiv mit Tante Irina auseinanderzusetzen.
Ihre Mutter Natasha war eine der am detailgetreusten Puppen. Das kurze Haar wirkte an sich nicht feminin, doch die handgelegten Wasserwellen im Stil der 1920er-Jahre verliehen ihm Eleganz. Die dunkelroten Lippen. Die figurbetonten Hosenanzüge. Anhand mehrerer Fotos hatte Katiya jeden Krähenfuß im Gesicht ihrer Mutter ausgearbeitet. Den Zug um ihre Lippen, der sie immer leicht verächtlich wirken ließ. Mit jedem Detail hatte Katiya mehr das Gefühl bekommen, ihre Mutter kennenzulernen.
Fertig.
Stolz strömte durch Katiya wie warmer Honig. Zufrieden mit dem Ergebnis sah sie die Peter-Puppe an, die ihren Blick aus noch leeren Augenhöhlen erwiderte. Am besten setzte sie ihm gleich die silbernen Augen ein. Die Augäpfel in verschiedenen Blautönen waren vor ein paar Tagen eingetroffen.
Katiya drehte Peters Puppenkopf in ihrer Hand, sodass das goldene Sonnenlicht des frühen Abends ihn aus verschiedenen Winkeln beleuchtete.
Peter war wie die Sonne. Nicht nur, weil jeder sich nach ihm ausrichtete und dafür sterben würde, um ihn zu kreisen. Er war das hellste und herrlichste Licht, das Katiya sich vorstellen konnte. Nicht aggressiv. Eher wie die ersten Strahlen im Frühling.
Peter war voller Liebe.
Sobald Katiya den Leuten begegnete, schlugen sie die Jackenkrägen höher. Sie wandten sich ab, weil niemand mit ihrer Kälte und Dunkelheit konfrontiert werden wollte.
Katiya hatte gehofft, dass Peter sie erhellen würde. Sie hatte gehofft, dass Peter ihr beibringen könnte, zu lieben. Aber selbst Peter war nicht gegen ihre Finsternis angekommen.
Sie absorbierte sein Licht und verwandelte es in Nichts.
Katiya war kein Schatten. Katiya war ein schwarzes Loch.