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Karpfen im Froschteich

Karpfen im Froschteich · Romane

Katjas neureiche Freundinnen planen einen exklusiven Urlaub. Um dabei zu sein beginnt für sie eine Reise durch ungewöhnliche Nebenjobs.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Katjas Geschichte begleitet mich schon länger. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die mit viel Hingabe und Einfühlungsvermögen ihre Arbeit in einem Pflegeberuf erfüllt und gerade genug verdient, um über die Runden zu kommen. Vor allem ist es aber eine Geschichte über Freundschaft. Wie sie sich verändern und wo sie einem ungeahnt begegnen kann. Manchmal haben wir das Glück jemanden kennenzulernen, der oder die uns über Jahre begleitet. Wir verändern uns, miteinander oder nebeneinander. Manchmal auch aneinander vorbei. Dann trennen sich Wege, schmerzhaft und laut oder leise, still einschlafend. Doch wenn man offenbleibt, Begegnungen zulässt, im Gegenüber mehr sieht als das Alter, Tattoos oder Status, können einzigartige Verbindungen entstehen. Katja hat das Glück durch die Nebenjobs, die sie unter normalen Umständen nie angenommen hätte auf ungewöhnliche Menschen zu treffen die zu Freunden werden. Was mir aber genauso wichtig ist wie Freundschaft, ist Humor. Darum ist es ein Unterhaltungsroman geworden.

Über den/die Autor:in

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Edith Gould ist 1982 in Zug geboren und wohnt noch heute mit ihrer Familie und einem sockenfressenden Berner Sennenhund in ihrem Heimatkanton. Ihre Leidenschaft für Geschichten festigte sich während ...

Aus Kapitel 1, Arbeit

 

«Regina, lass es mich noch einmal erklären», ich schaue sie eindringlich an, «Ich weiß, dass war nicht in Ordnung von mir. Aber die müssen mir wenigstens einen Teil der Kurskosten zurückerstatten. Du musst mit Baumgartner reden.»
Meine Vorgesetzte faltet ihre Hände auf dem Tisch, als wolle sie für mich beten.
«Katja, du hast mit einem Urinbeutel nach ihm geworfen. Was denkst du kann ich da noch für dich tun?»
«Das war ein Reflex! Außerdem ist er kaum nass geworden.»
Ich schlage die Augen nieder und hefte meinen Blick auf die weiße Tischplatte.
Der leuchtend gelbe Strauß Narzissen, der neben mir auf Reginas perfekt aufgeräumtem Schreibtisch steht verbreitet einen viel zu süßen Duft für ein Krisengespräch.
Beim Gedanken an Baumgartners aufgerissene Schweinsäuglein schleicht sich dennoch ein schadenfrohes Grinsen in mein Gesicht.
«Was Grinst du wie ein Honigkuchenpferd? Die Lage ist ernst. Du hast Glück, dass Baumgartner von weiteren Schritten absieht.»
«Ich habe Glück? Ich soll die Kurskosten für mehr als ein Jahr bezahlen, obwohl ich nicht mehr teilnehmen darf, und dieser fiese Grapscher kommt ungeschoren davon. Dass nennst du Glück?»
Verzweiflung steigt heiß in mir auf, mein Gesicht glüht. Ich verlege mich auf Betteln.
«Regina, versuch es doch bitte. Ich brauche das Geld. Ab wann kann ich wieder Vollzeit arbeiten?»
Der Gesichtsausdruck meiner Chefin kippt von streng zu mitleidig. Sie dreht verlegen an ihrem schlichten Ehering.
«Katja, du weißt, ich schätze dich und deine Arbeit sehr», sie schaut an mir vorbei, und lässt die Bombe platzen. «Leider ist dein restliches Pensum schon neu vergeben.»
«Wie vergeben? Es wurde doch gar niemand neues eingestellt.»
«Ulrike hat die Gelegenheit ergriffen, um mehr zu arbeiten, ihre kleine Klara ist ja jetzt im Kindergarten.»

 

Ich steige die verwitterten Stufen der Holztreppe hoch, die zu Herrn Imhofs Eingangstür führt. Sie knarren unter meinem Gewicht. Automatisch straffe ich die Schultern und ziehe den Bauch ein.
Das Haus ist alt und verwittert, hat aber durchaus seinen Charme behalten, genau wie sein Besitzer.
Ich klingle zweimal und warte eine Weile. Er weiß, dass ich komme, aber ein alter Mann ist nun Mal kein Eilzug. Der Schlüssel dreht sich geräuschvoll im Schloss, der ältere Herr lächelt mir müde durch den schmalen Spalt in der Tür zu.
«Morgen Fräuleinchen.»
«Guten Morgen Herr Imhof. Haben sie gut geschlafen?»
«Danke es ging so. Kommen sie doch bitte rein.»
Er öffnet die Tür und lässt mich in den nach Kaffee duftenden Flur eintreten.
«Ich bin gerade noch beim Frühstück», informiert er mich.
«Gut, dann werde ich erst das Bad sauber machen und dann Staubsaugen. Danach kümmern wir uns um ihre Medikamente.»
«Wunderbar, das ist sehr nett von ihnen.»
Ein müdes Lächeln umspielt seinen Mund. Mit schleppenden Schritten bewegt er sich in Richtung Küche. Sein Gang erinnert mich an ein hinkendes Schlossgespenst. Eines, das einen Kerzenleuchter in der Hand halten sollte, oder eine brennende Fackel.
Ich putze das Badezimmer und beim Saugen achte ich darauf, ob ich Tabletten auf dem Teppich ausfindig machen kann. Natürlich werfe ich auch in alle Blumentöpfe einen prüfenden Blick. Drei pastellgelbe Kapseln finde ich allein im Ficus. Kein Wunder sieht der so mitgenommen aus. Ich erlöse ihn von der Rheumatherapie und gieße ihn und seine Leidensgenossen ausgiebig. Dann setze ich mich mit der Medikamentenbox und den verschiedenen Pillenpackungen zu Herrn Imhof an den mit Krümeln übersäten Küchentisch.
«Wie geht’s so mit ihren neuen Medikamenten, sind sie zufrieden?», frage ich unschuldig.
«Ich glaube die nützen überhaupt nichts», antwortet er ungerührt.
«Das ist ja seltsam.»
Ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Er sich auch nicht. Wir Wissenden unter uns.


Aus Kapitel 3, Familie



Kaum habe ich den Klingelknopf losgelassen öffnet meine Mutter schwungvoll die Tür.
«Hallo Mama.» Ich quetsche mich mit meinem selbstgemachten Nachtisch an ihr vorbei in den gut geheizten Flur.
«Hallo Katja. Du bist ja ganz durchgefroren. Hast du so weit weg geparkt? Und ist das Schlamm an deinen Schuhen?» Sie beäugt mich kritisch.
«Nein ich bin mit dem Bus gefahren und musste ein Stück gehen.»
Ich lächle sie an in der Hoffnung, dass mein Auto, oder eher seine Abwesenheit, nicht schon wieder zum Thema wird.
Es ist schon schwer genug mit meinen Eltern über Geld zu reden, noch weniger Lust habe ich, dass meine perfekte Schwester Isabelle Wind davon bekommt, dass bei mir nicht alles nach Plan läuft.
«Geh doch schon mal ins Wohnzimmer, Tante Gerda ist da. Sie isst mit uns.»
Meine Mutter beugt sich leicht nach vorn, und raunt mir zu: «Ich hoffe sie bleibt nicht lange. Gib mir die Schokoladenmousse mit in die Küche, wenn wir Glück haben, sind wir sie vor dem Nachtisch los.»

Tante Gerda ist Papas Schwester. Sie gehört also zum engeren Familienkreis und hält sich zu unserem Leidwesen gerne in dessen Nähe auf.
Sie thront in krassem Kontrast zu Mamas, in schlichtem cremeweiß gehaltenen Wohnzimmer, farbenfroh wie ein Papagei auf dem Sofa. Sie denkt, wild gemusterte wallende Oberteile, die sie gerne mit üppigem Schmuck kombiniert, machen sie jünger.
Seit sie Single ist, färbt sie sich die zu einer flippigen Kurzhaarfrisur geschnittenen Haare in einem satten Rotton. Mehrere Edelsteinarmbänder in rosa, braun und blau umschlingen ihre korpulenten Arme. Von ihrer großzügig ausgeschnittenen Bluse schauen mich Lemure mit weit aufgerissenen Augen an, die mit Untertellergroßen Passionsblumen um meine Aufmerksamkeit wetteifern. Dagegen sind die Muster auf Thomas Gottschalks Kleidung dezent.
«Törtchen! Schön dich auch Mal wieder zu sehen!»
Ich habe keine Lust auf Smalltalk, aber ich weiß, wann ich verloren habe.
«Hallo Tante Gerda», murmle ich.
«Nenn mich nicht so. Du weißt, ich möchte Charlotte genannt werden!»
«Ja Tante Gerda, wenn du mich Katja nennst, kann ich dich gerne nennen wie auch immer du möchtest», erwidere ich patziger als beabsichtigt.
«Ach, sei nicht so empfindlich.»
Die Armbänder klimpern bei ihrer wegwerfenden Handbewegung.
Ich bin nicht empfindlich. Im Gegensatz zu ihr, fände ich es nur schön, mit meinem richtigen Namen angesprochen zu werden. Gerda heißt nämlich kein bisschen Charlotte. Nicht mal mit Zweitnamen. Aber seit ihrer Scheidung macht sie einen auf jugendlich. Soweit das mit Mitte sechzig möglich ist. Dazu gehört unter anderem ihr neuer, wie sie denkt frischerer, Name. Obwohl man bei «Charlotte» nicht gerade an eine knackige Blondine denkt. Eher an eine alternde Baronesse mit gestärkter Rüschenbluse.
Es klingelt Sturm, was mich zumindest vorübergehend erlöst.
Der Stuhl kippt fast um, als ich aufspringe, um die Tür zu öffnen. Mein Schwager Harry schiebt sich ächzend und voll beladen an mir vorbei.
«Hi Katja! Auch wieder mal dabei beim großen Familienessen?»
«Wie du siehst. Ziehst du bei Mama und Papa ein, oder schleppst du überall hin den ganzen Hausstand mit?»
Ich sehe ihm belustigt zu, wie er sich von einer grünen Umhängetasche, einer vollgestopften Wickeltasche und zwei identischen Prinzessin Lillifee Rucksäcken befreit.
«Krieg du mal Kinder, da vergeht dir das Lachen dann schon.»
Er schält sich umständlich aus seiner Jacke.
Und wie es so ist, «wenn man vom Teufel spricht», stürmen auch schon seine Kinder, meine Nichten, in den Flur.
«Katja, Katja, Katja!», schreit Emma und zerrt an meinem Pullover.
«Ja Emma, was ist denn los?»
«Ich bin Julia», klärt mich die kleine Nervensäge auf.
«Ja Julia?», frage ich brav.
«Was hast du uns mitgebracht?»
«Das gleiche wie immer.»
«Och, schon wieder nichts?», schmollt der blonde Zwerg, der immer noch meinen Pulli festhält. Bis zum Abend wird er ausgeleiert sein.
Solange meine Nichten nicht lernen, wenigstens zu Grüßen vor der Frage, was ich ihnen mitgebracht habe, werde ich auch nicht lernen, was mitzubringen.
Isabelle tritt als letzte in den Flur, mit der Tragetasche in dem mein kleiner Neffe Julius schlummert in der Hand.
Julius mag ich trotz seines Namens am liebsten. Wahrscheinlich, weil er noch nicht sprechen kann.
Isabelle mag ich eher weniger, wahrscheinlich deswegen, weil sie sprechen kann.
«Hallo Katja. Wieder mal den Weg gefunden?»
«Wie du siehst.» Ich versuche, es freundlich klingen zu lassen, und setze mein bestes künstliches Lächeln auf. Wir werden bestimmt auch so noch früh genug aneinandergeraten.
«Hallo Kinder! Geht schon mal ins Wohnzimmer, das Essen ist gleich fertig. Wo nur Daniel wieder so lange bleibt?», lässt sich meine Mutter leicht gestresst vernehmen und wischt die Hände an ihrer Schürze ab.
Zum Glück kommt Daniel auch. Wenn mein kleiner Bruder da ist, bin ich nicht das schwarze Schaf. Nur das Dunkelgraue.


Aus Kapitel 7, alte Freundinnen


Tina sitzt mir in einem eleganten, lachsfarbenen Etuikleid mit übergeschlagenen Beinen gegenüber und nippt an ihrem Champagner. Jessica neben ihr trägt einen taillierten Nadelstreifen-Businessanzug in anthrazit, inklusive Weste. Ihre blitzblanken Lederpumps glänzen in der Sonne. Ich beobachte sie, wie sie, ohne den Blick von ihrem Smartphone zu heben, beim Kellner ein Glas Mineralwasser und einen doppelten Espresso bestellt.
Für Außenstehende wirke ich in meiner Jeans und dem verwaschenen T-Shirt neben den beiden wie ein Zufallsgast, der sich nur an diesen Tisch verirrt hat, weil noch ein Stuhl frei war.
Tina kramt in ihrer gewaltigen Handtasche mit Griffen in Hornoptik, auf der mit Großbuchstaben das Fendi-Logo prangt. Sie fischt verschiedene Ausdrucke von Reisewebseiten aus der Tasche, die sie auf ihrem Schoss balanciert und verteilt sie vor uns auf der sonnenwarmen Tischplatte.
«Also Mädels, ich war schon mal fleißig.»
Mit einem Schnauben reißt sie Jessica das Handy aus der Hand und knallt es auf den Tisch.
«Mann, Jessy echt jetzt, hier spielt die Musik!»
«Hey gehts noch, das ist geschäftlich!»
Sie greift nach ihrem schwarzen iPhone und tippt weiter auf die Tastatur ein. Wir sehen ihr eine Weile schweigend dabei zu. Der muskulöse Kellner stellt Jessicas Getränke vor ihr auf den Tisch, ohne dass ihr sein perfektes Zahnpasta-Lächeln aufgefallen wäre.

Jessy legt das Handy neben sich auf den Tisch.
«So, jetzt bin ich so weit.» 
Ich bedeute ihr, sich den attraktiven Kellner mit dem sonnengebleichten Blondschopf anzusehen und flüstere ihr zu: «Der steht auf dich.»
«So ein Unsinn!», wehrt sie ab.
«Kinder!», unterbricht Tina mahnend, «Das ist doch wirklich egal jetzt. Ich habe recherchiert. Irgendwer muss es ja machen, sonst wird das nie was mit unserem Urlaub.» Sie sieht uns scharf an. «Ich habe die interessantesten Angebote schon einmal für euch vorsortiert.»
Ein Strauß aus türkisen Meerlandschaften, traumhaften Sonnenuntergängen aus verschiedensten Blickwinkeln, Skylines und luxuriösen Hotelanlagen mit Whirlpools breitet sich vor uns aus.
«Das sind meine Favoriten.» Tina legt verschiedene Ausdrucke nebeneinander in die Tischmitte. An erster Stelle, Paris.
«Ich wollte schon immer in die Stadt der Liebe. Wir könnten im Ritz übernachten und auf dem Place Vendome bummeln gehen. Ich habe mich schlau gemacht, es gibt viele trendige Restaurants und natürlich müssen wir auf den Eifelturm», begeistert sie sich.
Weiter liegen vor uns New York, Dubai, die Fidschi-Inseln, die Kanaren und Oslo. Jessica zieht es eher zu den Stränden.
«Ich würde Kapverden oder die Malediven bevorzugen, im Urlaub will ich am Strand liegen, mich entspannen, tauchen. Was meinst du Katja?»
Ich habe keine Ahnung. Preise sind auf keinem der Angebote zu entdecken. Ich murmle etwas in der Richtung: «Ich finde alles gut», vor mich hin und höre zu, wie Tina und Jessica miteinander diskutieren und feilschen wie beim türkischen Basar. Einkaufsmöglichkeiten werden gegen Flugzeiten, Strände gegen Hotelkomfort abgewogen. Oslo und Paris sind schnell aus dem Rennen, zu wenig Ferienfeeling für zwei Wochen, eher etwas für einen Kurztrip. Die lange Flugzeit wird für die Fidschis zum Killerkriterium, New York wäre ein Shoppingparadies, doch die Strände in der Karibik sind so traumhaft schön… letztlich geht Dubai als Gewinner hervor. Ich werde nicht gefragt, nicke aber zustimmend in die Runde, als der Beschluss steht.
Jessica eröffnet uns, dass sie kurz vor der Partnerschaft in ihrem Unternehmen steht.
«Die nächsten Monate sind entscheidend, wenn ich den Deal mit den Engländern ohne Zwischenfälle über die Bühne bringe, habe ich es geschafft. Darum wird es September, spätestens Oktober, bis wir fliegen können. Es ist bestimmt kein Problem spontan zu buchen.»
«Okay, nur damit das klar ist, ich fliege auf keinen Fall mit irgendeiner Billiglinie, ich will nicht eingepfercht mit müffelnden Pauschaltouristen Stundenlang im Flieger sitzen», stellt Tina energisch klar.
Um unser Reiseziel zu feiern, bestellt Jessica Champagner.
Der hübsche Kellner hat nur Augen für Jessica. Sie ist etwas freundlicher als bei der letzten Bestellung, behandelt ihn jedoch mit einer gewissen Herablassung. Ich stupse sie an und flüstere nochmal: «Der Kellner steht sowas von auf dich», dabei kichere ich wie ein Teenager.
«Der ist nichts für mich.» Jessica rümpft die Nase.
«Warum, der ist doch nett. Und er sieht richtig gut aus.»
Mit dem in die Stirn fallenden, vollen Haar und der gepflegten Bräune sieht er aus wie ein Surfer.
Sie schaut mich an, als wäre ich schwer von Begriff. Dann sagt sie langsam, jedes Wort betonend, wie wenn sie mit jemandem sehr Dummen sprechen müsste: «Er ist Kellner.»
«Ja und?»
«Ich date doch keinen Kellner. Ich bin bald Partnerin unserer Firma und werde an sämtliche Anlässe eingeladen. Ich brauche einen Mann mit einem richtigen Beruf.»
Ihr verächtliches Lachen verdirbt mir die Lust auf die Chips, von denen ich erst ein paar gegessen habe.



Aus Kapitel 9, Nebenjob


Meine Hände sind feucht. Ich presse den Hörer fest an mein Ohr, in meinem Kopf rauscht das Blut. Es klingelt fünf Mal. Eine kantige weibliche Computerstimme heißt mich auf der Plauderlinie willkommen. Sie fordert mich höflich auf, meine Identifikationsnummer einzugeben. Ich schiele auf das Blatt auf dem Daniela alle Informationen für mich festgehalten hat und tippe die mit rotem Filzstift eingekreiste Nummer ein. «Deine ID Nummer ist gültig. Willkommen. Bald wird ein Gesprächspartner für dich frei.»
Nach dieser Ansage ertönt etwas zu laut «The Final Countdown». Ich zucke zusammen.
Dass ist er, der Countdown, der mich von meinem ersten Gespräch in meinem neuen Nebenjob trennt.
Ich rutsche auf meinem Stuhl herum, schon nach einigen Takten kann ich nicht mehr sitzen bleiben. Ich streife durch die Wohnung, kaue an der Nagelhaut des rechten Daumens, bis ein Blutstropfen an meinem Nagelbett entlangrinnt. So aufgeregt war ich das letzte Mal bei meiner Lehrabschlussprüfung. Wenn überhaupt. Wie war nochmal mein Name? Mein lang überlegter, sexy Name. Er fällt mir nicht mehr ein. Was soll ich bloß sagen, wenn der erste fremde Mann in der Leitung hängt? Vielleicht hätte ich mich besser vorbereiten sollen. Notizen machen. Namen, Städte und Hobbys aufschreiben. Mir eine Identität ausdenken. Genau. Wie eine Undercover Ermittlerin, die sich in ein Drogenkartell einschleicht. Die geht da auch nicht unvorbereitet rein, ohne zu wissen, wie sie heißt. Die fliegt auf, bevor der Spaß begonnen hat. Wie konnte ich nur so unvorbereitet an meinen ersten Einsatz herangehen? Aus dem Hörer dringt die Computerstimme: «Wir haben einen Gesprächspartner für dich gefunden. Ihr werdet gleich verbunden.» Meine Hände werden eiskalt.
Eine dunkle Männerstimme dringt durch meinen Pulsschlag hindurch an mein Ohr.
«Hallo, wer ist da?»
Es geht nicht. Ich bin sprachlos. Ich traue mich nicht.
«Hallo, hier ist Elias, wer ist denn da?»
Ich atme ganz flach, um nicht aufzufallen. Meine Wangen brennen wie Feuer, mein Herz schlägt wild gegen meinen Brustkorb.
«Haaaallloooo?», ertönt es schon etwas genervt. Ich fühle mich wie gelähmt und bleibe stumm wie ein Fisch. Einige Sekunden vergehen schweigend.
«Schlampe!» Damit verlässt Elias das einseitige Gespräch.
Ich sinke auf das Sofa während mir die Computerstimme verkündet: «Dein Gesprächspartner hat die Unterhaltung verlassen. Wir suchen einen neuen Gesprächspartner für dich.»
Ein, «Eo, eo», schallt aus dem Hörer, dann der Rest des Neunziger Hits «Alles nur geklaut» von den Prinzen. Ich atme tief ein und kontrolliert aus. Dann hole ich einen Schreibblock aus der Schreibtischschublade und denke angestrengt über einen Namen nach. Ich brauche einen melodischen, sympathischen Namen. Sexy ist mir gerade selbst noch zu viel. Einen der gut klingt und den ich mir merken kann, reicht fürs Erste vollkommen aus. Der Kugelschreiber kratzt ohne Tinte über das Papier. Ich male ein paar Kringel, bis sich die Kreise, die ich ziehe, blau färben. Zögernd schreibe ich alle Namen, die mir spontan einfallen auf die gepunkteten Linien des rauen Recyclingpapiers. Anna, Laura, Helene, Shakira. Das geht wohl etwas zu weit. Ich streiche Shakira durch. Ich bin schließlich weder eine berühmte Sängerin noch ein Haustier. Ich kaue auf meinem Stift herum, die Prinzen sind beim zweiten Refrain angelangt: «Denn das ist alles nur geklaut, das ist alles gar nicht meines», mitten im Refrain werden sie unterbrochen.
«Wir haben einen Gesprächspartner für dich gefunden. Ihr werdet gleich verbunden.»
Ich atme noch einmal tief durch. Mein einziges Ziel ist, irgendetwas halbwegs zusammenhängendes zu sagen. Zu überleben.
«Hallo?», eine selbstsichere Männerstimme.
«Ja, Hallo?»
«Ich bin Sam, wer bist du?»
«Anna.»
«Hallo Anna. Was suchst du auf der Line?»
Gute Frage, was zum Teufel suche ich hier bloß? Um das Gespräch nicht gleich zu vermasseln, bediene ich mich meinem liebsten Smalltalk Werkzeug, der Gegenfrage.
«Was suchst denn du so hier?», ich bemühe mich um einen lockeren Tonfall.
«Was sich so ergibt, ein gutes Gespräch, ein heißer Flirt, vielleicht ein Treffen. Bist du offen für ein Treffen?»
In mir schreit es: «Nein! Ich bin nicht einmal offen für ein Gespräch, aber ich brauche diesen Job, Himmel nochmal!»
Ich senke meine Stimme, bemüht sie verführerisch klingen zu lassen, und behaupte, ich sei selbstverständlich offen für ein Treffen. Auch die Frage nach meinem Aussehen meistere ich, wie ich finde, mit Bravour. Ich bin logischerweise sowas wie ein Topmodel. Bei den Fragen nach meinen sexuellen Neigungen komme ich ins Stocken, stottere ein wenig herum und werde von ihm ohne Vorwarnung aus der Leitung geworfen. Das stehe ich unmöglich allein durch.

Erst war Lena nicht sehr glücklich über mein spätes Erscheinen. Sie trug schon ihren Schlafanzug und war gerade auf dem Sofa bei einer Schnulze eingedöst als ich sie rausgeklingelt habe. Als sie mein Anliegen hörte, war sie allerdings gleich Feuer und Flamme. Weil sie es gerade so gemütlich hatte, schickte sie mich zurück nach unten in meine Wohnung, um mein Telefon und die Zugangsdaten zu holen.
Nun sitzen wir, den Lautsprecher aktiviert, auf ihrem Sofa in Decken gekuschelt und lauschen der Musik, die aus dem Smartphone dröhnt. Es sind wieder die Prinzen. Lena tanzt sitzend mit und kann den ganzen Text auswendig. Bis die Prinzen und sie von der Computerstimme jäh unterbrochen werden. Mit einem neugierigen Blitzen in den Augen schaut Lena mich an.
«Geht’s jetzt los?»
Ich nicke und spüre, wie der Kloß in meinem Hals sich ausdehnt.
Eine Männerstimme macht den Anfang: «Hallo, wer ist da?»
Meine Lippen bleiben aufeinander kleben, ich bringe kein Wort heraus und sitze wie versteinert neben Lena, die mich fragend anschaut.
«Hallo? Keiner da?»
Er fragt noch zweimal nach, dann unterbricht er die Verbindung. Nach einem Knacken in der Leitung erfüllt «Poker Face» von Lady Gaga den Raum. Lena schaut mich fragend an und schüttelt den Kopf, ihre goldenen Locken schwingen mit als hätten sie ein Eigenleben.
«Was war denn das gerade?»
«Ich weiß auch nicht, es geht einfach nicht. Ich kriege so einen wahnsinnig trockenen Mund, wenn einer dran ist. Eigentlich schon, wenn ich die Nummer wähle.»
«Dann hast du ja genau den richtigen Job ausgewählt», erwidert sie trocken.
«Ich habe es mir viel leichter vorgestellt. Ich habe keine Ahnung was ich sagen soll. Und noch weniger, wie ich es sagen soll. Ich habe richtig schiss.»
«Es gibt keinen realistischen Grund so panisch zu werden. Die wissen nicht wer du bist. So wie ich das verstanden habe, ist deine einzige Aufgabe die Typen in der Leitung zu halten. Erzähl halt irgendwas. Wenn du bei der Arbeit bist, redest du schließlich auch jeden Tag mit fremden Menschen. Das schlimmste…»
Sie wird von der Computerstimme unterbrochen, die einen neuen Gesprächspartner ankündigt. Ein paar Sekunden vergehen, bis ein weiterer Mann sich meldet.
«Hier spricht der Sven, mit wem habe ich das Vergnügen?»
Lena schaut mich auffordernd an. Als kein Ton über meine Lippen kommt, verdreht sie genervt die Augen und beugt sich tiefer über den Hörer.
«Hi, hier ist Diana. Schön dich zu hören. Wie verschlägt es dich denn hier her?»
Sie klingt fantastisch. Lässig und überzeugend.
«Ich suche ein gutes Gespräch, wenn es passt auch gerne ein Date.»
«Cool. Das klingt super. Aus welcher Gegend kommst du denn?»
«Aus dem Kanton Luzern.»
Mit gespielter Begeisterung lügt sie: «Das ist ja ein Zufall, ich auch!»
«Das ist aber wirklich ein super Zufall. Wie siehst du denn aus?»
«Ach, ganz normal», sie grinst mir frech zu, während ihrer Beschreibung, «ich bin eins siebzig groß, habe langes schwarzes Haar und mandelförmige Augen. Meine Mutter ist Asiatin. Und ich bin sehr schlank, ich gehe jeden Tag joggen. Und du?»
«Ich bin muskulös, kurzes braunes Haar und dreißig. Von wo genau in Luzern kommst du denn?»
Kurz entgleisen Lenas Gesichtszüge, sie fängt sich jedoch schnell und sagt spontan: «Direkt aus der Stadt Luzern.»
«Das ist ja super, ich auch!», ruft er begeistert aus, «In welchen Bars bist du so anzutreffen?» Jetzt wird es eng. Soweit ich weiß, war Lena noch nie in Luzern, genau so wenig wie ich. Sie schaut mich hilfesuchend an. Ich kenne keine einzige Luzerner Bar, darum kann ich nur mit den Schultern zucken und ein betont ratloses Gesicht machen.
«Ich gehe meistens ins Alegro.»
Sie fuchtelt nervös mit den Händen neben ihrer Hüfte herum. Mir ist klar, dass sie den Namen gerade erfunden hat.
«Das kenne ich ja gar nicht, wo ist das genau?»
Lena windet sich, sie hat anscheinend keinen Plan, wie sie aus dieser Lüge heil rauskommen soll. Ich versuche ihr tonlos, mit langsamen Lippenbewegungen das Wort «Raute Taste» mitzuteilen. Sie schaut mich aber nur verdattert an. Dann gebe ich ihr pantomimisch zu verstehen, mir das Telefon auszuhändigen. Kaum halte ich es in der Hand, drücke ich die Raute Taste, um das Gespräch zu verlassen und wir brechen in unkontrolliertes Kichern aus.
«Na ja, ist noch ausbaufähig aber für das erste Mal…»
Lena wischt sich eine Lachträne von der Wange und freut sich riesig, dass gleich wieder ein Gesprächspartner für uns frei ist. Einige Sekunden vergehen, und wir merken, dass wir wieder den gleichen Sven dran haben. Mit großer Geste reicht mir Lena das Telefon.
«Hallo Sven, hier ist Lisa.»
Mit Lena an meiner Seite und nachdem ich bei ihr gesehen habe, dass es gar nicht so schlimm ist, traue ich mich.
«Hallo Lisa. Schön dich kennenzulernen.»
«Ganz meinerseits.» 
Dabei schaue ich in Lenas offenes Gesicht und mein Lächeln überträgt sich auf meine Stimme. Ich fühle mich schon viel sicherer.
«Von wo kommst du?», fragt er.
«Aus Bern. Und du?»
«Ich bin aus Zürich.» Lena und ich schauen uns mit großen Augen an.
«Ach wirklich?», gebe ich mich interessiert, «So wie du klingst hätte ich fast gedacht, du kommst aus Luzern.»
«Nein, Zürich», lügt er dreist, «und wie siehst du aus?»
«Ich bin blond, habe blaue Augen und einen trainierten Körper.»
«Das klingt aber gut. Ich bin auch blond, groß und schlank.»
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und frage: «Und wie alt bist du?»
Diesmal ist er sechsundzwanzig. Nun da vollkommen klar ist, dass er mir das Blaue vom Himmel herunter lügt, fällt mir das Lügen plötzlich auch ganz leicht. Ich erzähle munter von meinem Goldfisch, meinen breit gefächerten sportlichen Aktivitäten und natürlich interessiere ich mich brennend für alles, was er mir erzählt. Es läuft richtig gut. Bis er nach etwa zwanzig Minuten anfängt, Fragen über meine Kleidung zu stellen. Gleich darauf macht er mir unverblümt den Vorschlag, die von mir beschriebenen Kleidungsstücke auszuziehen. Zerknirscht wechsle ich einen Blick mit Lena, spiele verbal aber brav mit. Von da an nimmt das Gespräch rasant Fahrt auf. Nach wenigen Augenblicken keucht er ins Telefon. Wir hören, dass es am anderen Ende der Leitung schon ziemlich zur Sache geht. Musste der sich gar nicht ausziehen? War er beim gesamten Gespräch schon nackt? Ich werde still und vermeide Lena anzusehen, um mir das Lachen, dass in mir hochsteigt zu verkneifen. So warten wir einfach ab. Ihn scheint das nicht zu stören, es klingt, als amüsiere er sich gut. Er wird immer lauter, stöhnt heiser auf, und mit einem lauten: «Jaaaaa, du geiles Stück!», kommt er zum Höhepunkt. Danach wird er leise, seine Stimme klingt fast zärtlich. Er beteuert, wie gut ich war und wie gut es ihm mit mir gefallen hat. Ich bin ein höflicher Mensch, daher versichere auch ich ihm, dass es fantastisch für mich war, und weg ist er.
Lena klopft mir auf die Schulter.
«Geht doch. War besser als mein Film. Ich mache uns jetzt eine heiße Schokolade.»
Kaum zu glauben, aber ich fühle mich wie immer. Sogar besser. Es ist vergleichbar, wie wenn man zum ersten Mal vom Dreimeterbrett springt. Erst hat man Panik. Man steigt bei jedem Schwimmbadbesuch hoch, schaut ängstlich über den Rand des unter den Füssen leicht schwingenden Brettes runter in die Tiefe und nimmt dann doch lieber die Treppe. Sowas kann sich ewig hinziehen. Vielleicht schafft man es nie. Aber immer, wenn man am Beckenrand sitzt, denkt man, es müsste doch gehen. Dann, wenn man nach langem Zögern den ersten Sprung gewagt hat, ist man frei. Das Adrenalin flutet den Körper und man will gleich wieder hoch und einen weiteren Sprung wagen.
Eine Stunde, und mehrere Verbindungen später gähnen wir beide. Lena streckt sich, bis ein Wirbel knackt.
«Jetzt will ich nochmal, danach muss ich ins Bett.»
Ein paar Minuten dudelt Musik aus dem Hörer, ein neuer Gesprächspartner wird uns angekündigt und Lena wippt etwas nervös mit ihrem Fuß. Sie stellt sich als Samanta vor. Das Gespräch entwickelt sich gut. Sie reden eine Weile darüber, woher sie kommen, wie sie aussehen und was sie arbeiten. Wie wir in der vergangenen Stunde gelernt haben, bauen sich die meisten Gespräche so auf. Wenn diese Themen abgearbeitet sind, kommen langsam die wahren Absichten ans Licht. Auch Leo, wie sich der Herr vorgestellt hat, macht da anscheinend keine Ausnahme.
«Samanta, ich suche eine starke Frau», raunt er in den Hörer.
Schlagfertig fragt Lena: «Warum, ziehst du um und brauchst noch jemanden zum Möbel schleppen?»
Ich muss lachen und die Sprite, von der ich gerade einen Schluck getrunken habe, verirrt sich in meine Luftröhre. Ich renne hustend aus dem Zimmer in das kleine Bad.
Als ich zurückkomme, höre ich dumpfe Klopfgeräusche aus dem Telefon. Fragend mustere ich Lena, die konzentriert hinhört. Nach ein paar weiteren dumpfen Klatschern wird es still.
«Hmmm», sagt Lena nachdenklich ins Telefon, eine steile Falte bildet sich zwischen ihren hellen Brauen. «Ich denke es war der Kochlöffel.»
«Ja, du hast recht!», bestätigt Leo euphorisch, «Jetzt muss ich nochmal.»
Es entsteht eine kleine Pause, dann klatscht es abermals. Diesmal ein wenig anders. Irgendwie zischender, klarer und etwas lauter. Lena hört aufmerksam hin, wehrt mit einer Geste meinen fragenden Blick ab und schließt kurz die Augen, um sich besser auf das Geräusch konzentrieren zu können. Nach zehn zischenden Klatschern wird es still.
«Ganz klar, der Bambusstock.»
«Nein, nein, nein, bist du gut!», ruft Leo nun in einem weinerlichen Tonfall. Dann spielt sich die gleiche Szene nochmal ab. Ich warte geduldig, bis das Klopfen verstummt. Lena schaut ratlos zu mir, dann fragt sie etwas unsicher ins Telefon: «Teppichklopfer?»
Man hört ihn erleichtert aufatmen und triumphierend sagt er: «Nein, es war der Gummistock.»
«Na ja, ich war trotz dem gut, ich hatte fünf hintereinander richtig.»
«Du warst großartig! Aber heute muss ich deinetwegen auf dem Bauch schlafen. Danke liebe Samanta. Vielleicht begegnen wir uns wieder, das wäre schön. Ich bin öfters hier.»
«Wer weiß. Gute Nacht Leo, schlaf gut.»
Lena drückt energisch die rote Aus-Taste.
«Was genau lief da ab?», erkundige ich mich neugierig.
«Das war Leo, er sucht eine starke Frau, die ihn übers Knie legt und ihm so richtig den Hintern versohlt. Findet er aber nicht. Deshalb hat er sich ein Spiel ausgedacht. Sozusagen als Alternativprogramm. Er hält verschiedene Gegenstände bereit, mit denen er sich so hart er kann zehn Mal auf den Po schlägt. Wenn ich am Klang der Schläge errate, welcher Gegenstand es war, gibt es eine weitere Runde.»
Lena streckt sich und gähnt ausgiebig dann sagt sie: «Das hat Spaß gemacht. Ich wusste gar nicht, dass ich so ein gutes Gehör habe.»

 

 

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