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Schwarz ruht der See · Krimi und Spannung

Ein Jagdhaus am See. Magda träumt von Liebe und Zärtlichkeit. Da ist die Zwillingsschwester. Als ein Mann auftaucht, beginnt Magdas Albtraum

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Von jeher interessiert mich die Psyche des Menschen. Zu welchen Mitteln ist eine Frau fähig, die von einer großen Sehnsucht getrieben ist? Einmal im Leben in den Armen eines Mannes liegen. Ich begleite die Protagonistin und ihre Schwester in ihre tiefsten Abgründe. Doch Vorsicht, es ist nichts so, wie es scheint.

Über den/die Autor:in

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Die Autorin Ingrid Reidel wurde 1960 in Weinheim geboren. Nach der Ausbildung zur Erzieherin absolvierte sie eine zweite als Mediengestalterin. 2012 begann sie ein Fernstudium: Autorin werden. Ingrid ...

Schwarz ruht der See

1 Kapitel

Magdalena erschrak. Was war das eben für ein Geräusch gewesen? Ein Scheppern. Das Buch glitt ihr aus den Händen und rutschte mit einem Plumps zu Boden. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass es lediglich das Unwetter war, ein winterliches Schneetreiben; gepaart mit einem ordentlichen Sturm, der ums Haus pfiff. Magdalena atmete erlöst aus.

Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sich die Witterung geändert und die Dämmerung eingesetzt hatte. Im Wohnzimmer war es inzwischen recht frisch geworden und bevor sie weiterlas, stand sie auf und lief hinüber zum Ofen. Es war ein alter Ofen, wie hier alles alt war. Mit hohen geschwungenen Füßen und einer Jagdszene auf dem schwarzen Schamottkorpus. Er hatte schon hier gestanden, seit sie denken konnte, und Katharina, ihre Zwillingsschwester, lehnte es strikt ab, ihn zu ersetzen.

Das war gut so. Seit fast fünfzig Jahren wohnten sie in diesem Haus, nur mit einer kurzen Unterbrechung, und von vertrauten Dingen umgeben zu sein, hatte etwas Angenehmes, Beruhigendes. Hier drinnen war alles wohl geordnet und fein säuberlich an seinem Platz, Veränderungen gab es nur da draußen. Einige davon waren nicht ganz unbedenklich. Wenn sie nur daran dachte, sie ginge spazieren. Tief in den Wald hinein. Die vielen Wildschweine, sie konnten ganz schön gefährlich werden. Oder noch schlimmer, sie liefe hinunter ins Dorf. Sie könnte von einem der jungen Kerle angesprochen werden.

Also blieb sie lieber schön brav hier im Haus. Und mit einem halbwegs ordentlichen Dach über dem Kopf und einem guten Buch als Gesellschaft war die Welt in Ordnung. Bevor sie sich wieder in ihren Ohrensessel niederließ, nahm sie das Buch vom Boden auf.

Ein wirklich hoch spannendes Buch, mal etwas ganz anderes. Natürlich hatte sie deswegen nicht gemerkt, wie schnell die Zeit gegangen war.

Fifty Shades of Grey. Was wollte einem der Titel sagen?

Was für komische Sachen darin vorkamen! Ganz anders als bei Vom Winde verweht oder Die Brücken am Fluss, zwei Titel ihrer Lieblingslektüre. Aber das hier war auf jeden Fall ein sehr außergewöhnlicher Stoff. Anderseits dachte sie an Rhett und wie er sie küssen würde. Wie er sie ins Schlafzimmer zum Bett tragen würde, und dann …

Magdalena lehnte sich in ihrem Ohrensessel zurück, schloss die Augen und überließ sich dem wohligen Gefühl, das sie gerade überkommen hatte. Dabei begann Ihr Herz zu klopfen, tok, tok, tok. Wie in einem verzückenden Takt.

Mit einem Mal fiel ihr ein, dass auch andere Dinge ihren Takt hatten. Schritte zum Beispiel. Sie konnte sie schon hören, selbst wenn sie sie noch nicht sah. So sehr war sie auf Katharina, ihre Zwillingsschwester eingestimmt.

Sie wusste, sie stand jetzt draußen im Flur, denn sie hatte den Nachmittag über ihren Schönheitsschlaf gehalten, war aus ihrem Zimmer gekommen und würde wie immer griesgrämig sein. Nein, es half nichts, sich zu sträuben, gleich würde Katharina hier vor ihr stehen.

Hektisch schob sie das Buch unter den Stapel Zeitschriften auf dem Teewagen neben sich.

Gerade noch rechtzeitig, denn durch die Tür konnte sie schon ihre durchdringende Stimme hören.

„Magdalena, wo steckst du?“

Magdalena erhob sich rasch. Sie eilte durchs Wohnzimmer, blieb kurz stehen, atmete kräftig durch und öffnete die Tür.

Und erschrak. Eine Schmierspur, die sich bis zur Kommode zog, zeichnete sich auf den Holzdielen ab.

Mitten im Korridor lag eine Rattenfalle. Eine von diesen Klappfallen, wie sie sie im Winter auslegten, um der Rattenplage Herr zu werden.

Es war eine Ratte darin – ein ziemlich große mit glattbraunem Fell. Die Falle hatte die Ratte in der Mitte zerquetscht, wohl aber nicht getötet. Sie zappelte noch. Eines ihrer Hinterbeine hing über den Rand der Falle hinaus und versuchte, zuckend auf dem Holzboden Halt zu finden. Vergeblich. Ihr Fell war mit Blut befleckt.

Katharina dagegen, die an der Wand lehnte, sah im Gegensatz zu der Ratte frisch und munter aus. Sie hatte wie immer ihr kurzes weißen Kleidchen an, das ihre Rundungen eher hervorhob, als verbarg. Ihr schwarzes, dunkles Haar trug sie offen. Blut klebte an dem Stock, den sie gelegentlich bei sich trug, so wie jetzt, wenn sie nach den Fallen unter den Möbeln stocherte.

„Das ist deine Aufgabe“, zischte sie.

Katharinas Stimme klang wie immer hoch und abgehakt. „Außerdem war mal wieder das Hühnerhaus nicht abgeschlossen, ich habe zum Fenster hinausgesehen. Möchtest du endlich mal erwachsen werden und deiner Verantwortung nachkommen, du schreckliches kleines Mimöschen? Sieh hin!“

Magdalena gehorchte. Ihr wurde übel. Sie überlegte für einen kurzen Moment, ob es nur ein Traum war.

Aber das hier war kein Traum. Höchstens ein grausiger Albtraum.

„Aber Katharinas ich ... ich ...“

Sie blickte zwischen ihr und der Ratte hin und her. Jetzt konnte sie Katharinas Haar riechen. Eine Mischung ais Patschuli und Essig. Sie wusste, was Katharinas von ihr erwartete. Sie wusste, was Katharina in Bezug auf die Ratte von ihr erwartete.„Heb sie auf!“

Aber sie konnte nicht. Jetzt war ihr nicht nur übel, sie spürte auch einen Kloß in ihre Kehle heraufwandern, der im Begriff war, ihr die Luft zum Atmen zu nehmen.

Gleichzeitig bemerkte sie, wie die arme Ratte piepste und kraftlos nach Luft schnappte. Die Pupillen des bemitleidenswerten Tieres traten langsam aus ihren Augenlöchern heraus.

Magdalena wandte sich ab. Sie konnte es nicht sehen. Die raue Stimme ihrer Zwillingsschwester drang in ihr Unterbewusstsein.

„Dass du das nie hörst, Kleine. Ich meine, dass du nie merkst, wenn die Klappe zuschnappt. Du weißt genauso wie ich, dass sie kommen, wenn es draußen schneit. Das ist ganz normal. Das weiß jedes Kind. Aber du glaubst es anscheinend nicht. Stattdessen gibst du dich deinem Schmuddelkram hin ...“

Mit einem Mal verstummte Katharina. Verstummte einfach und sagte kein Wort mehr. Sie stand einfach da, erstarrt wie eine Puppe in einem Wachsfigurenkabinett.

Ein Anfall von Kontraktur einer typischen Form von Gelenkversteifung.

Magdalena starrte sie an. Starrte sie und die Ratte an.

Dann, nachdem sie schon gehofft hatte, Katharina wäre für immer in die ewigen Jagdgründe entschwunden, redete sie weiter, so als hätte sie nie aufgehört.

„Aber nein, meine Schwester gibt sich lieber Schmuddelkram hin.“

Magdalena spürte einen Anfall von Wut. Konnte ihre Schwester schon durch Wände sehen? Maß sie sich an, ihr hinterherzuspionieren?

„Das ist Aufklärung …“

„Aufklärung, dass ich nicht lache. Nimm das!“ Vehement deutete ihre Schwester auf den Brieföffner mit dem Affenkopf neben dem Telefon. Das messingne Ding, das sie einmal auf ihren wenigen Reisen in Solingen gekauft hatten und das als Waffe hätte durchgehen können.

„Ich kann nicht.“

„Dann, wirst du mit den Konsequenten rechnen müssen, dummes kleines Mimöschen.“

Katharinas Stimme war mit einem Mal trügerisch sanft geworden. Magdalena wusste, was das bedeutete. Obwohl sie sich bemühte, nicht zuzuhören, konnte sie Katharinas Worte verstehen. Genauso, als sie unbeirrt weiterfuhr: „Dann werde ich dich verlassen …“

„Nicht. Sag es nicht!“

Sie schrie es förmlich heraus. Schrie es aus ihren Lungen und somit auch den Kloß mit hinaus. „Katharina, warum musst du immer die Rattenfallen auslegen? Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass ich es nicht kann.“

„Ha, so, dass ich es nicht kann? Ha, dann wirst du es ein für alle Mal lernen, anstatt dich deinen Perversitäten hinzugeben. Sieh dich doch mal an, wie du aussiehst, ein Hintern wie ein Bügelbrett. Meinst du, du könntest dir damit noch irgendeinen Kerl angeln? Glaubst du, ich bin zurückgekommen, um die Drecksarbeit zu erledigen? Nein, das machst du schon mal selbst. Aber gut, wenn ich das auch noch machen soll, dann packe ich doch lieber meine Koffer und du kannst sehen, wie du hier zurechtkommst.“

Magdalena musterte die Ratte eingehend. Plötzlich wurde sie eins mit ihr, vergaß Raum und Zeit. Wahrscheinlich hatte ihre Schwester recht. Sie hatte in der kurzen Phase, in der sie in der Stadt gewohnt hatten, einmal ein Praktikum in einem Hospiz gemacht. Der Tod war manchmal eine Erlösung. Und es war ein Akt der Nächstenliebe, eine gequälte Kreatur nicht länger leiden zu lassen …

Draußen strich der Sturm um die Ecken und ließ das Haus ächzen. Die alten verstaubten Jagdtrophäen hier an der ebenso vergilbten Rispentapete an der Wand, das alte unmoderne Telefon auf dem Garderobenschrank. All diese vertrauten Gegenstände waren ihr plötzlich zuwider und wirkten wie Bollwerke aus einer längst vergessenen Zeit. Hier kam sie sich mit einem Mal vor wie in einem Gefängnis.

Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, bückte sie sich und fasste die Rattenfalle an. Das Fell der Ratte fühlte sich weich und feucht an.

Das Tier schnellte mit ihrem Kopf herum und versuchte, sie zu beißen. Es machte ihr nichts mehr aus. Sie streichelte über ihr blutiges Fell. Dann nahm sie sie auf, zog die Feder zurück und holte die Ratte heraus und drückte das zappende Tier sanft auf das Garderobenschränkchen. Sie begann, die Ratte zu beruhigen, indem sie leise mit ihr sprach. „Gleich wird es vorbei sein.“

Ihr Fiepen war herzzerreißend und schrecklich. Ein dünner Blutstrom quoll aus der klaffenden Wunde und dem Maul. Sie hörte Katharinas Stimme wie aus der Ferne. „Nun nimm den Brieföffner.“

Sie gehorchte. Sie tat es. Sie nahm den Brieföffner, sie ließ all ihre Kraft in ihre Hände fließen, presste sie Ratte auf den Weichholzschrank nieder und holte aus.

Nun führte Katharina ihre Hand. Nahm sie, hielt sie fest, drückte sie hinunter. Der dolchartige Brieföffner drang in den Körper der Ratte ein. Plötzlich erschlaffte die Ratte. Es war vorbei. Katharina hatte bereits den Eimer geholt. Mit einmal klopfte es. Jemand stand unten an der Haustür. So spät noch? Magdalena erschrak. Wer konnte das sein?

Ohne Katharina noch einmal eines Blickes zu würdigen, lief sie aus dem Zimmer. Sie stolperte die Treppe hinunter zum Flur und knipste das Licht unten an, eilte den Korridor entlang. Dann fischte sie nach dem Schlüssel am Hacken neben der Haustür. Sie schloss auf und blickte in die tief verschneite Nacht hinaus.

2 Kapitel

Verdammt. Jan schlug aufs Lenkrad.

Wo kam denn jetzt plötzlich dieser schreckliche Sturm her? Und der viele Schnee.

Sein alter Micra wurde durchgeschüttelt wie eine Nussschale im Wind und die Straße vor ihm glich nur noch einer weißen Linie, die sich den steilen Berg hinaufschlängelte.

Moment mal, steiler Berg?

Er konnte sich gar nicht mehr an diesen steilen Berg erinnern. Auch nicht an diesen dichten Wald.

Als er diese Strecke das letzte Mal gefahren war, war auch Wald gewesen, aber nicht so dicht. Das war allerdings im vergangenen Herbst. Und da hatte die Sonne geschienen und er war am lichten Tag in Wald-Michelbach eingetroffen. Aber jetzt nach sechzehn Stunden Autofahrt und verkrampften Knochen hinter dem Lenkrad und auch noch in einem Schneesturm war er erschöpft und todmüde.

Aber an den steilen Berg und den dichten Wald konnte er sich trotzdem nicht erinnern.

Doch das sollte er sich jetzt.

Erinnern.

Und mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein, wenn gleich recht verschwommen, wie er vor einer halben Stunde an die Kreuzung gekommen war und sich entscheiden musste.

Ja, das war es, er hatte in dem wilden Schneesturm die falsche Straße genommen.

Und jetzt war er hier, der Teufel wusste wo, und es schneite und stürmte, was das Zeug hielt, und es war stockdunkel.

Aber jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.

Nein, es sollte jetzt nicht in Angst und Panik verfallen. Das Schlimmste war doch schon vorbei.

Ja, das Schlimmste war gestern passiert, als er den Container mit den drei Millionen Euro gestohlen hatte.

Er hatte im Tresorraum von B&B Security gestanden und die Banknoten abgepackt.

Immer wieder derselbe Ablauf: Bündeln, Banderole drum, zukleben, in die Geldtaschen packen, diese in den Rollcontainer legen, dann die Anzahl in die Software des Computers vor ihm eingeben.

Immer alles unter den Argusaugen des Vorarbeiters, den er immer heimlich die Bulldogge nannte. Tätowierte, gegelte Bulldogge. Ein schwerfälliger Typ, dessen Oberarme im Gegensatz zu seinem Hirn überentwickelt waren, davon hatte er sich schon oft überzeugen können. Und unter den Videokameras, die überall im Raum verteilt von Decke und Wand hingen und der nichts entgingen.

Er war bereits müde und ausgelaugt gewesen, als er das xte Bündel bearbeitete. Als plötzlich der PC anfing zu flimmern.

„Was ist?“, wollte Petra von der Workstation neben ihm wissen. „Krank?“

„Nein. Irgendetwas mit dem PC.“

Das war das Schlüsselwort. PC. Denn von da an reihte sich alles hübsch fein aneinander wie Perlen an einer Kette.

„Du musst das melden“, wieder Petra. „Du weißt doch, wie scharf sie sind.“

Er hatte genickt.

Petra, der er im Nachhinein die Füße küssen könnte, hatte schon der Vorarbeiterbulldogge zugezwinkert, die sich von der Wand abstieß und schwerfällig auf sie zu wackelte. Dabei hatte er das Gefühl gehabt, er hätte Rasierklingen unter den Armen, nach der Körperhaltung zu urteilen.

Petra wieder: „Mario, der Jan hat Probleme mit seinem Computer. Da der Hartmann.“

„Was für Probleme?“ Bulldogge stand nun neben ihm und er konnte ihren Atem riechen. Mettbrötchen mit Zwiebeln von der Mittagspause.

„Mal weg“, befahl Bulldogge und machte sich an seinem PC zu schaffen.

So ging das eine Weile, schließlich: „Ok, ok. Hartmann, du gehst jetzt mal eine rauchen.“

Das hatte er sich „der Hartmann“ natürlich nicht zweimal sagen lassen. Schnell war er nach draußen geeilt und hatte seine kleine Zusatzerholung genossen. Als er wiedergekommen war, hatte sich die Situation geändert.

Nun stand nicht nur die Bulldogge vor dem PC, sondern auch noch der EDV-ler Geron. Geron hantierte jetzt an dem Computer herum.

„Dauert länger“, meinte der. Und deswegen wurde er von der Bulldogge nach hinten an den hintersten Arbeitsplatz geschickt. An diesen tollen Arbeitsplatz.

Von dort aus hatte er dann weiter gearbeitet. Immer dieselbe Handbewegung: Bündeln, Banderole drum, zukleben, in die Tachen, in den Computer eingeben, dann die Taschen in den Rollcontainer legen. Dabei waren seine Gedanken auf Reisen gegangen.

Er hatte an Viola gedacht, und wie er sein ganzes Geld ausgegeben hatte. Und an Stephanie und an ihr kleines Café, und daran, wie wohl die Frau hatte acht Millionen stehlen können. Genauso aus einer Sicherheitsfirma heraus, in der das Geld mehrerer Banken lagerte. Genauso eine Firma wie B&B. Eine Sensation, die unlängst die Zeitungen füllte. Die Frau hatte angeblich das Geld im Container unbehelligt von Aufsicht und Kameras hinausgerollt. Wie nur hatte sie das gemacht?

Die Heizung brummte, die Luft war stickig.

Mit einem Mal waren seine Blicke auf den Container mit dem Packpapier gewandert. Irgendetwas hatte ihn davon nicht mehr losgelassen.

Beim nächsten Toilettengang hatte er den Altpapiercontainer näher zu sich herangezogenen.

Da war ihm eine Idee gekommen, ganz langsam, sie hatte sich innerhalb von fünf Minuten entwickelt.

Was wäre, wenn er den Altpapiercontainer …? Und noch ein wenig später machten sich seine Hände selbstständig. Nicht alles, immer schön abwechselnd. Geldcontainer und Altpapierwagen.

Um sechzehn Uhr war Feierabend. Es war Freitag Nachmittag. Jetzt wurde das Geld nur noch per Transporter in die Geldautomaten verteilt. Das war nicht mehr seine Sache, das machten die Fahrer. Das Problem war nur die Schleuse. Es war unmöglich, unbehelligt an den Schleusern vorbeizukommen. Aber er hatte ja den Altpapierwagen. Er kannte den Schleuser. Paul. Ein drahtiger Typ. Sie hatten schon einmal nach Feierabend ein Bier miteinander getrunken. Irgendwann, als er solche Magenschmerzen gehabt hatte, hatte er mal eine Dose Cola und Bretzeln hineingeschmuggelt, was man normalerweise nicht durfte, aber Paul hatte Mitleid mit ihm gehabt.

Sein Herz hämmerte, als er mit beiden Wägen zu ihm fuhr.

Vielleicht hatte Paul gesehen, dass es ihm nicht gut ging. „So blass heute?“

„Ich hab’s wieder mal im Magen.“

Paul lächelte süffisant. „Ah so, verstehe. Willst ne leere Coladose hinausschmuggeln?“

Er nickte. „Ich soll auch den Altpapiercontainer mit hinausnehmen.“

„Ok.“ Paul nickte.

Und dann fuhr er, Hartmann, der kleine Angestellte, der bald nicht mehr klein und arm sein würde, zuerst den offiziellen Container durch und dann den anderen, den Altpapiercontainer, so als wäre das in bester Ordnung.

Auf dem Vorplatz warteten die Transporter.

Da musste er erst einmal durchatmen. Erst jetzt hatte er gemerkt, dass er am ganzen Körper zitterte. Niemand beachtete den Papiercontainer.

Nachdem seine letzte Tätigkeit, die Übergabe der Geldtaschen aus dem Container abgeschlossen war, rollte er seelenruhig den Altpapiercontainer nach hinten zum Müllplatz. Und wie durch ein Wunder kümmerte sich niemand mehr um ihn. Also konnte er den Wagen zum Abfallbereich fahren.

Dann nahm er die zwei Taschen heraus. Der nächste Punkt.

Er kannte ein Loch im Zaun. Alles fügte sich zusammen. Dort versteckte er die Taschen in Richtung Parkplatz.

Er brauchte nur noch außen herum zu gehen und die Taschen in seinen Wagen einzuladen.

So einfach war das.

Als er sie im Auto hatte, hatte er erst einmal gejubelt.

Das erste Mal in seinem Leben hatte er Glück gehabt.

Ansonsten hatte es ihn eher verlassen.

Als Viola in seinen Armen starb wie ein Baby, hatte er sein ganzes Vermögen für ihre Krebstherapie ausgegeben.

Er hatte seinen Beruf als freier Grafiker an den Nagel gehängt, und sich etwas Verlässliches gesucht. Einen Brotjob. Tagsüber ging er arbeiten, nachts kümmerte er sich um Viola, die im Sterben lag.

Aber es war nichts gegen die unheilige Krankheit zu machen gewesen. Schließlich war der Tod eine Erlösung gewesen.

Aber er war untröstlich. Er hatte das Gefühl gehabt, dass sein Leben zerstört war; und das mit dreißig, wenn normalerweise das Leben erst anfing.

Als er an dem Tag der Beerdigung in den Spiegel schaute, blickte ihm ein alter Mann mit tiefen Geheimratsecken entgegen.

Sein Bruder Rolf war klasse gewesen, er hatte ihn getröstet und war jeden Sonntag zu ihm zu Besuch gekommen.

Lange ging das so. Er hatte sich eingeigelt wie ein Eremit.

Eines Tages nahm ihn sein Bruder zur Seite.

„Wie lange willst du das noch so durchhalten? Viola wird nicht mehr lebendig. Mach doch mal Urlaub.“

Dann hatte er die Italienreise gebucht. Die mediterrane Luft hatte seine Falten geglättet.

Und als er wieder zurückkam, sah er nicht nur aus wie ein junger Mann, sondern vor allen Dingen wie ein junger Mann, der sich verliebt hatte.

Er hätte sie sofort geheiratet. Aber dann hatte Stephanie ihm Folgendes erzählt. „Weißt du, mein Mann und ich haben es einmal gekauft. Dieses Café. Aber irgendwann war ich im offensichtlich nicht genug. Er hat mit anderen Mädchen …, ist ja auch egal. Aber weil mein Herz so sehr an dem Café hing, habe ich es übernommen. Und die Schulden eben auch. Und die muss ich abbezahlen.“

„Ich könnte zu dir ziehen, hat er geantwortet. Ich könnte auch bei dir eine Arbeit aufnehmen.“

„Es tut mir leid“, hatte sie weiter gesagt, „aber wenn wir zusammenziehen, möchte ich, dass ich von meinen Altlasten befreit bin. Hab Geduld, Liebling.“

Also gedulde der er sich. Aber erst, nachdem er sie gebeten hatte, das nächste Jahr seine Frau zu werden.

Das war der Status quo letzten Jahres gewesen.

Immer wieder hatte er sie besucht, hatte sich von dem Geschmack ihres guten Kuchens überzeugt und sich sagen lassen, dass es mit den Zahlen aufwärtsging.

„Bald bin ich so weit“, hatte sie stets erklärt. „Warte noch ein halbes Jahr.“

Ein halbes Jahr. In einem halben Jahr würde er fünfundvierzig sein. Er wollte einfach nicht mehr warten. So eine Frau wie Stephanie war ein Glücksgriff und er hätte niemals mehr so eine wie sie finden können. Aber sie ließ sich nicht erweichen. Also biss er die Zähne zusammen, nickte und fuhr wieder nach Hause zurück.

Und ging weiter seiner Arbeit im B&B Security nach. Sah zu, wie sich die Chefs eine goldene Nase verdienten. Nicht die Bulldogge, sie war selbst ein kleines Licht, sondern auch noch die Brüder Peter und Julian, denen die Firma gehörte. Nicht nur das Geldgeschäft, sondern auch noch dem Makeln von Immobilien, was die Firma noch mit hinzugenommen hatte. Dafür kauften sie leer stehende Wohnungen auf und vermieteten sie zu einem horrenden Preis, nur um den Rachen noch voller zu bekommen. Dabei behandelten sie ihre Angestellten als seien sie Sklaven. Speisten sie mit dem Mindestlohn ab, erlaubten nicht einmal, dass man sich eine Dose Cola mit hineinnahm. Die beiden Brüder leisteten nichts, was ihr Dasein gerechtfertigt hätte. Und trotzdem waren sie reich.

Jan hasste sie. Eigentlich mussten sie keinen Finger mehr krumm machen. Im Gegenteil zu ihm. Er vergaß nie, wem die Welt gehörte. Nämlich den Bonzen.

Also hatte er es versucht. Hatte einfach den Container mit dem vermeintlichen Altpapier mithinausgerollt. Denn sein Unterbewusstsein musste schon lange auf eine solche Gelegenheit gewartet haben.

Und an diesem Freitagnachmittag, da fügte sich eben alles eins zu eins zusammen, wie Puzzleteile.

Es war Wochenende. Sie würden also nicht vor Montag Verdacht schöpfen. Und Rolf war heute Vormittag nach Holland zu seinen Segelfliegerkumpels gefahren. Er würde erst Anfang der Woche wieder zurück sein und ihn auch erst am Montag vermissen.

Nach seinem Dienstschluss war er erst einmal nach Hause gefahren. Auf seinem Schrank bewahrte er eine Reisetasche auf. Die holte er herunter und stopfte alles hinein, was ihm in den Sinn kam: einen Pyjama, frische Unterwäsche, Socken, Zahnbürste und Zahnpasta. Das genügte fürs Erste, den Rest konnte er sich unterwegs kaufen.

Er stellte das Wasser ab, brachte den Müll hinunter, damit er nicht stank, und drehte die Sicherung heraus. Er hätte Rolf gerne eine Nachricht auf dem Handy hinterlassen, aber das war ihm zu gefährlich. Rolf standen schwer Tage bevor, das war jetzt nicht zu ändern. Vielleicht konnte er ihm später etwas von dem Geld abgeben.

In einer Keksdose bewahrte er einen Ring auf, den er einmal auf einem Flohmarkt an der Alster gekauft hatte. Er hatte ihm gleich so gut gefallen. Ein Bernstein. Ein Stein, der Steff so gut gefiel. Er nahm ihn heraus und steckte ihn in die Hosentasche.

Gegen sieben ließ er die Rollläden herunter und verließ die Wohnung. Er holte seinen alten Micra heraus.

Eine Stunde später hielt er an einer Autobahnraststätte an und verzehrte einen Hamburger.

Zwei stunden später war er in Soltau.

Dann war ihm das mit dem Handy eingefallen, und dass sie ihm heutzutage verfolgen konnten. War von der Autobahn herunter, machte in einem kleinen Ort halt und warf das Gerät in einen Fluss. Es war wichtig, es zu tun, um nicht nach verfolgbar zu sein. Für einen Moment hatte er sogar darüber nachgedacht, sich einen Leihwagen zu nehmen, aber dann hätte er Namen und Adresse eingeben müssen. Das war also auch keine gute Idee gewesen.

Egal, wie auch immer, er musste so schnell wie möglich zu Stephanie fahren. Das hatte er vor, mit Stephanie ein Leben in Freude und Saus und Braus zu verbringen, vielleicht nicht in Deutschland vielleicht irgendwo in Bulgarien oder Rumänien, wo es sich gut bis zum Lebensende leben ließ.

Er würde alles tun, um zu der Frau fahren, die er liebte und die circa siebenhundert Kilometer von ihm entfernt von ihm lebte. Im Odenwald.

Ihr gegenüber würde er behaupten, dass er seine Eigentumswohnung verkauft hätte, aber das würde sie möglicherweise nicht glauben, vielleicht sollte er lieber sagen, dass er geerbt oder im Lotto gewonnen hätte.

Vielleicht nicht drei Millionen, vielleicht die Hälfte. Aber selbst das würde sie wahrscheinlich nicht annehmen. Zumindest genau wissen wollen, woher das Geld käme.

Gut, es würde ihm schon irgendetwas einfallen. Es musste einfach. Dann würde er behaupten, seinen Job gekündigt zu haben. Sein Entschluss stand fest: Er würde Steff überraschen.

Das Gute war, nur Rolf wusste von Stephanie.

Natürlich würde die Polizei zu einem Bruder kommen und ihn ausfragen und er hoffte inständig, dass Rolf nichts sagen würde. Jedenfalls nicht, bevor sie sich beide unterhalten hätten.

Allerdings würde er Rolf reinen Wein einschenken müssen. Damit er ihn nicht bei den Behörden verriet.

Aber das dürfte an sich kein Problem sein, wenn er ihm erklärte, wie lieb er Stephanie hätte. Dass er nicht wieder eine Frau verlieren mochte.

Außerdem würde er ihm etwas von dem Gewinn abgeben. Möglicherweise würde er es auch nicht annehmen, wie Steff, aber dafür würde es auch eine Lösung geben, soweit im Voraus hatte er nicht geplant. Eins nach dem anderen.

Der nächste Schritt bestand darin, Wald-Michelbach zu finden. Das war ohne Navi oder Smartphone in dem Schneesturm gar nicht so einfach.

Vielleicht war es doch nicht so klug, das Handy weggeworfen zu haben.

Trotzdem konnte er sich die Route auf dem Navi vorstellen. Es war nur ein kleiner Strich.

Aber er hatte immerhin sechzehn Stunden bis hierher gebraucht. Weil er schleifen gefahren war, um mögliche Verfolger zu verwirren.

Sechzehn Stunden war er durchgeschüttelt worden. Sechzehn Stunden hatte er in kaltes Scheinwerferlicht, grelles Tageslicht und in Fernlicht geschaut. Sechzehn Stunden hatte er sich an das Lenkrad geklammert. Bei eisigen Temperaturen, Mitten in einem Schneesturm.

Und jetzt hatte er bei allem die richtige Abfahrt verpasst.

Er musste zugeben, er hatte sich verfahren und war in einem abgelegenen Waldstück gelandet, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.

Jan erhaschte kurz einen Blick Rückspiegel.

Das markante Gesicht mit der hohen Stirn und dem dichten schwarzen Haar war ihm bekannt. Aber das Lächeln war verschwunden und seine Mine angestrengt.

Wo hatte er solch ein verkniffenes Gesicht zum letzten Mal gesehen? Natürlich, bei Violas Tod.

Und dabei hatte er die ganze Zeit über geglaubt, er wäre gelassen und entspannt. Aber der Spiegel log nicht.

Die Wahrheit war, er war ziemlich am Ende, seine Nerven lagen blank, und er wusste sich keinen Rat mehr.

Er würde anhalten und irgendwo nach dem Weg fragen müssen. Nur wo? Er war hier mutterseelenallein. In einem Wald. Nichts als der Ruf eines Käuzchens, der Wind und der Schnee.

Es war mittlerweile so finster und der weiße Vorhang vor seinem Wagenfenster so dicht, dass er nicht einmal die Hand vor seinen Augen sah.

Er fragte sich, warum man überhaupt die Hand vor die Augen legen wollte, wenn es so finster war.

Nein, er brauchte jetzt alle Sinne, um durch diese schreckliche Nacht blicken zu können.

Er musste überlegen. Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste zurück zu der Gabelung fahren, an der er sich verfahren hatte. Er wollte gerade wenden, als er im Zwielicht vor ihm etwas auftauchen sah.

Ein Geweih. Es schien in der Luft zu hängen.

Jetzt sah er die Umrisse im Dunst der Schneeverwehung hervortreten.

Er stoppte, kniff die Augen zusammen und schaute zur Windschutzscheibe hinaus.

Und erkannt schemenhaft die Umrisse eines Hauses. Eines Hexenhauses.

Jetzt mach aber mal halblang.

Glaubte er an Gespenster?

Es war offensichtlich ein Fachwerkhaus. Höchstwahrscheinlich eine alte Jagdhütte.

Doch irgendjemand musste darin wohnen, denn er glaubte, einen Lichtschein gesehen zu haben. Und zwar aus dem oberen Stock, aus eines der Fenster.

Möglicherweise war es nur eine Fata Morgana, aber wenn doch, dann konnten doch der oder die, wer auch immer dort wohnte, ihm helfen.

Er trat aufs Gas und rollte zu der Ausbuchtung gegenüber des Anwesens. Er schaltete den Motor aus und ließ noch für einen Moment das Radio laufen. Er musste hören, ob schon eine Fahndung nach ihm lief. Aber es waren nur die ganz normalen Nachrichten. Er zog endgültig den Schlüssel aus dem Schloss, schnallte sich ab, öffnete die Autotür und stieg aus. Sofort blies ihm der Wind unter die Jacke, der Schnee peitschte ihm ins Gesicht. Die Bäume bewegten sich im Wind hin und her und sahen im Dunkel der Nacht aus wie skurril tanzende Gespenster. Er versuchte, gegen den Wind und den schneidenden Schnee anzulaufen, und überquerte den schmalen unasphaltierten Waldweg.

Das Anwesen war umzäunt, aber der Zaun wirkte alt und die Latten ragten unter der Schneedecke heraus und sahen aus wie spitze Zähne. Alles wirkte sehr unordentlich. Und jetzt, als er noch näher kam, bemerkte er, dass auch das Haus nicht gut in Schuss war. Teile des Verputzes zwischen dem Fachwerk waren abgebröckelt. Neben der Haustür befand sich ein Anbau, der überhaupt nicht zu dem Haus passte. Eine Art Wintergarten aus altem gewelltem Plexiglas. Die Umrisse einer Metzgerswaage zeichneten sich verschwommen dahinter ab. Davor ein Holzklotz mit einem Schlachterbeil. Er erschauderte.

Jetzt bemerkte er auch die Scheune und das alte komische Backsteingebäude hinten. Vor der Scheune stand ein riesiges Ungetüm. Ein riesiger Schneepflug, so einer wie sie ihn in den Alpen hatten.

Er öffnete die Gartentür, die halb in den Angeln hing. Sie ächzte. Etwas flatterte auf. Ohne Umschweife kämpfte er sich gegen Wind und Schnee weiter, bis zur Haustür. Dabei wäre er beinahe über irgendetwas gestürzt, es schepperte. Am Eingang suchte er die Klingel, es war keine da. Er klopfte.

3 Kapitel 3

„Ja?“

Er hätte beinahe lächeln müssen, als er der Frau ansichtig wurde, die dir Tür aufgerissen hatte. Das war die Hexe zum Hexenhaus. Aber nein, sie war viel zu jung. Er schätzte sie auf höchstens Mitte Ende fünfzig, dünn, fast hager, die grauen langen Haare hinten zu einem Knoten gebunden. Bekleidet war sie mit einem grauen Rüschenkleid, über das sie eine verwaschene Schürze gebunden hatte, die früher einmal ein Blumenmuster aufgewiesen haben musste.

Alles zusammen sah fast ein wenig drollig aus. Und er fasste den Entschluss. Was immer hier auch war, der Frau konnte er vertrauen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit heller filigraner Stimme, während sie ihn musterte.

„Ja Bitte. Ich fürchte, ich habe mich verfahren.“

„Wo wollten Sie denn hin?“

„Nun, nach Wald-Michelbach.“

„So?“, antwortete sie. „Da sind sie hier völlig verkehrt. Sie sind hier auf der Tromm. Von wo kommen Sie denn?“

„Nun ja. Von der Autobahn.“

„Oh, da sind Sie hier ganz falsch. Da hätten sie schon viel früher abbiegen müssen. Fahren Sie einfach den Waldweg zurück, dann rechts dann wieder rechts.“

Er bemerkte, wie sie rot wurde und dann zögerte. „Nun, Sie können aber auch reinkommen.“

„Nein. Schon gut. Danke.“

„Gut, gute Fahrt, passen Sie auf die Wildschweine auf. Und auf den Wolf. Da hat sich erst vor Kurzem einer angesiedelt.“

Er dankte und ging zum Wagen zurück.

Er fühlte sich wesentlich besser, seit er den Weg wusste. Den Waldweg zurück, dann rechts dann wieder rechts.

Er schloss den Wagen auf, setzte sich hinein und steckte den Schlüssel ins Schloss.

Er drehte ihn um. Aber nichts geschah.

Er versuchte es noch einmal. Wieder, nichts.

Verdammt, was war das nur?

Plötzlich fiel es ihm ein. Tatsächlich, es konnte die Batterie sein. Er war inzwischen schweißgebadet.

Mittlerweile war die Frau nachgekommen. Sie hatten eine alte Stola übergeworfen. „Will es nicht?“

„Ach verdammt.“ Er konnte nicht anders. „Sagen Sie, haben Sie ein Überbrückungskabel?“

„Ein Überbrückungskabel?“

„Ja, so ein Hilfsmittel, womit man die Batterie überbrücken kann.“

Sie zuckte die Schultern.

„Sagen Sie, wohnen Sie alleine hier? Gibt es vielleicht jemanden hier, der …?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Das heißt doch, natürlich, meine Schwester, aber die kennt sich mit Autos auch nicht aus. Aber sehen wir doch in der Scheune nach. Vater hatte allerlei Werkzeug.“

Sie führte ihn zu dem alten windschiefen Gebäude, von dem er glaubte, es könne jeden Moment in dem starken Sturm und unter der Last des Schnees wie ein Kartenhaus zusammenfallen und zwängten sich an dem Schneeschieber vorbei.

Sie knipste das Licht an und deutete auf eine alte Werkbank im Eck. Aber da war nichts Verwertbares.

„Sagen Sie, und in Ihrem Auto?“

Sie dirigierte ihn hinaus hinter die Scheune zu ihrem Wagen, ein alter Suzuki. Er bat sie, den Kofferraum aufzumachen.

Nichts. Er spürte, wie sein Puls raste.

„Ach, kann ich bei Ihnen telefonieren?“

Sie wurde wieder rot und ihre Augen begannen zu leuchten. „Telefon? Das haben wir. Kommen Sie mit.“

Für einen Moment dachte er an die Geldtasche. Sollte er sie mit hineinnehmen? Er hatte zwar vorhin Vertrauen zu ihr gefasst, aber schließlich kannte er sie nicht wirklich. Anderseits hätte es komisch ausgesehen. Er entschied sich dagegen und stapfte stattdessen im Schnee hinterher ihr her. Bis sie wieder am Hauseingang waren.

Sie stieß die Tür auf und ließ ihn eintreten.

Nachdem er hineingegangen war, erschauderte er. Von hinten von der Wand starrte ihm ein Wildschwein aus glasigen Augen entgegen. Es sah so real aus, dass er für einen Moment geklaubt hatte, es sei echt.

„Oh, unser Vater war Jäger.“, entschuldigte sie sich.

Aber auch der Rest sah etwas schaurig und düster aus. An dem alten Leuchter an der Decke brannte nur eine einzige Birne. Die Tapete mit Blumenmuster; die dunkle, kunstvoll verschnörkelte, alte Garderobe, der Läufer in Türkischrot, alles wie aus dem letzten Jahrhundert. Hier war wohl niemals etwas verändert oder modernisiert worden. Für einen Moment fragte er sich, ob man nicht in Depressionen verfiel, wenn man den ganzen Tag von so etwas umgeben war.

Sie führte ihn rechts in die Küche.

Hier sah es nicht anders aus. An den Wänden deckenhohe, milchverglaste Geschirrschränke um einen altmodischen Kühlschrank gruppiert, der wie ein Motor vor sich hin summte.

In einer Ecke stand ein großer Holzofen, der eine anheimelnde Wärme ausstrahlte.

An einem Eck ein alter Resopaltisch mit einer rot-weiß karierten Tischdecke und einer mit Gobelin überzogenen Eckbank.

Ihm kam kein einziger Augenblick der Gedanke, sich über dieses Idyll zu amüsieren. Noch nicht einmal über das unvermeidliche handgestickte Bild an der Wand: Gott segne unser täglich Brot.

„Setzen Sie sich“, sagte sie. „Aber ziehen sie doch erst ihre Jacke aus. Sie ist ja ganz nass vom Schnee. Kommen Sie, wir hängen sie über den Ofen.“

Er folgte, zog die Jacke aus.

Im gleichen Moment merkte er, wie müde er war.

„Möchten sie etwas trinken? Ach Sie Armer.“

Er schüttelte den Kopf.

„Gut, wen soll ich anrufen?“

Für einen Moment überlegte er, Steff anrufen zu lassen, aber was hätte sie tun können?

„Die Pannenhilfe“, antwortete er.

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