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Schwesterherz

Schwesterherz · Romane

Obwohl Johanna Stein es nie zugeben würde, ist sie noch nicht über den Tod ihrer Zwillingsschwester Lisa hinweg gekommen.

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Schreiben tue ich schon, seit ich ein kleines Kind bin. Angefangen habe ich auf unserem alten Röhren-PC im Wohnzimmer. Ich habe über alles geschrieben, was mich beschäftigt hat. Einmal - im Alter von ungefähr 10 Jahren - hatte ich großen Heißhunger auf Süßigkeiten und ich schrieb über ein Buffett, dass sich durch meine ganze Wohnstraße streckte. Je älter ich wurde, desto ernster und düsterer wurden meine Manuskripte. Ich schrieb über Liebe und Verlust, über Burn-Out und Depressionen und nun schreibe ich über einen (selbstverständlich frei erfundenen) Mordfall und zwei Schwestern, die brutal voneinander getrennt wurden.

Über den/die Autor:in

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Weltenbummlerin, Pferdeliebhaberin, Buchhalterin - ich habe viele Namen und mindestens genau so viele Interessen. Wenn ich nicht gerade die Buchhaltung für ein Krankenhaus mache, male, schreibe und re...

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Seine Arme und Beine wurden auf der Arbeitsplatte fixiert, damit der Körper nicht verrutschen konnte. Knapp oberhalb des Anus und dem Ausgang der Harnröhre setzte Johanna den ersten Schnitt. Die Epidermis wurde von dort aus bis knapp unterhalb des Gebisses aufgeschnitten. Die stumpfe Seite des Sezierbesteckes musste dabei unbedingt zum Körper zeigen, sonst könnte man Blutgefäße verletzen. Dann nahm Johanna ein Messer von der Ablage und trennte die Epidermis von der Dermis, auch Lederhaut genannt, ab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch keine inneren Organe verletzt, es blutete nicht. Doch bald setzte der unangenehme Geruch ein. Je fetter der Körper, desto unerträglicher der Geruch. Bevor Johanna weitermachen konnte, rieb sie sich einen mentholhaltigen Balsam unter die Nase, um den Gestank etwas zu mindern. Danach setzte sie einen Schnitt von der Brust bis zwischen die Schenkel und legte so die inneren Organe frei. Sie löste die Unterhaut von den Organen, setzte Schnitte unterhalb des Brustkorbes und klappte die Hautfetzen zur Seite, um den Bauchraum zugänglich zu machen. Johanna konnte die dunkelrot gefärbte Leber erkennen, den Magen und die Milz. Der Darm schlängelte sich wie ein runzliger Wurm durch den Bauchraum. Die Harnblase und die Prostata waren ebenfalls zu sehen. „Fertigen Sie nun eine genaue Zeichnung mit Beschriftung an. Sie wird Teil ihrer Gesamtnote in diesem Kurs sein. Dazu haben sie noch ca. dreißig Minuten Zeit. Viel Erfolg!“, verkündete der Professor. Eifrig holten die jungen Studentinnen und Studenten der Salzburger Naturwissenschaftlichen Fakultät Zettel und Bleistift heraus und begannen, die vor ihnen liegende, tote Ratte in all ihre Einzelheiten aufzuschlüsseln und zu Papier zu bringen. Johanna setzte die feinen Bleistiftstriche gezielt und war bereits nach zwanzig Minuten fertig. Während der Rest des Kurses noch konzentriert und mit gerunzelter Stirn abwechselnd auf die Ratte und das Papier starrten, begann sie bereits, ihre Sachen in ihrem Rucksack zu verstauen. „Hey“, flüsterte ihr das Mädchen zu, mit dem sich Johanna den Arbeitstisch und die Ratte teilte. „Hey, Jo, bist du etwa schon fertig?“ Johanna, eigentlich nur von ihr namentlich bekannten Personen auch Jo1 genannt, sah das Mädchen skeptisch an. Ihr fiel die perfekte Frisur des Mädchens ins Auge, dazu das perfekte Makeup, abgerundet mit perfekten kreisrunden Perlenohrringen. Wieviel Zeit sie wohl morgens im Bad benötigte, um wie eine von Heidi Klums Mädchen auszusehen? „Weißt du, was das für ein ekelhaft glitschiges rotes Ding das ist?“, setzte sie nach und zeigte auf die Niere der Ratte. „Wenn du das nicht weißt, sitzt du im falschen Kurs. Wir studieren hier nämlich alle Biologie und nicht die Verunstaltung des Gesichts mit dekorativer Kosmetik.“ Mit diesen Worten stand Jo auf, schulterte ihren Rucksack und ließ das stumme Mädchen mit offenem Mund zurück. Wortlos reichte sie ihrem Professor die Zeichnung und verließ den Raum, bevor er ihr auch noch einen dummen Kommentar an den Kopf werfen konnte, so nach dem Motto: „Ach, Frau Stein, mal wieder als allererste fertig. Haben Sie auch nicht vergessen, alle Blutgefäße einzeln zu beschriften?“ Dazu ein sarkastisches Grinsen. Johanna seufzte genervt. Allein der Gedanke brachte sie in Rage. Wütend stapfte sie die Treppen ins Erdgeschoß hinunter und verließ die Universität durch den Hintereingang. Obwohl es kalt war und schneite, war Jo immer mit dem Rad in der Stadt unterwegs. So konnte sie sicher gehen, genug Sport zu treiben, auch während langer Tage an der Universität oder in der Bibliothek, wenn sie für Prüfungen lernte. Mit dem Saum ihrer Jacke wischte sie den Schnee vom Fahrradsitz, bevor sie sich darauf setzte. Obwohl sie auf direktem Wege in fünfzehn Minuten zuhause gewesen wäre, machte Jo einen Umweg. Sie radelte an der Salzach entlang bis zu den Salzachseen, umrundete diese und fuhr erst dann in Richtung Bahnhof, wo sich ihre Wohnung befand. Völlig verschwitzt und außer Atem – denn sie hatte die Strecke in Rekordtempo zurückgelegt – stieg Jo vor ihrer Wohnung vom Rad. Obwohl ihre Mutter renommierte Ärztin auf ihrem Gebiet war, hatte Jo immer darauf bestanden, nicht wie eines dieser verwöhnten Kinder behandelt zu werden. Ihre Wohnung, welche von ihrer Mutter Marie Luis finanziert wurde, war zwar renoviert, aber überschaubar groß. Mit ihren zwei Zimmer, ohne Balkon und ohne Kellerabteil sparte Jo viel Geld bei der Miete. Sie fummelte in ihrem Rucksack nach dem Wohnungsschlüssel, als ihr Handy klingelte. Eine Nummer, die sie zwar nicht in ihrem Adressbuch gespeichert hatte, doch mittlerweile auswendig kannte, erschien auf dem Display. Zögernd nahm Jo den Anruf entgegen. „Guten Abend, Justizvollzugsanstalt Salzburg, Sellner am Apparat. Spreche ich mit Frau Stein?“, säuselte eine überaus freundliche Frauenstimme. Jo schluckte. „Ja“, krächzte sie. „Gut, gut. Ich wollte mich nur vergewissern, dass sie ihren Vater morgen abholen, wenn er entlassen wird, so wie wir es besprochen haben?“

Kapitel 2

Der Weg ins Gewerbegebiet Sam hatte sich noch nie so lange angefühlt wie heute. Jo trat so schnell in die Pedale, wie sie nur konnte, ihre Lungen brannten schon nach wenigen Minuten. Keuchend erreichte sie den Gebäudekomplex aus zu vermietenden Lagerhallen. Eine davon gehörte Jo. Und zwar nur aus einem Grund. Sie schloss die Tür zu ihrem Eingang der Lagerhalle auf, betrat sie und zog sie schnell wieder hinter sich zu. Es sollte möglichst niemand bemerken, dass sie jemals hier gewesen war. Niemand durfte sie sehen. Beim Betrachten dessen, was Jo hier drinnen geschaffen hatte, wurde sie gleich etwas ruhiger. Bei den Fenstern hatte sie darauf geachtet, dass diese Doppelverglasung hatten, und hatte sie dann mit Holz abgedichtet, sodass niemand herein oder hinaus sehen konnte. Die Wände wurden mit Akustik-Schaumstoffplatten abgedichtet. Jo hatte sie einfach auf Amazon bestellt, selbst zugeschnitten und auf alle Wände, die Tür, und die Decke geklebt. Danach hatte sie noch eine weitere, massive Holzfassade aufgebaut und mit Dämmwolle abgedichtet. Den ganzen Raum zusätzlich noch mit Eierkartons auszukleiden, war ihr dann doch zu übertrieben gewesen. Außerdem konnte niemand so viele Eier essen. Zusätzlich hatte sie oberhalb der Eingangstür eine Überwachungskamera angebracht, die das Bild mit einer App auf ihr Handy übertrug. Sie checkte die App und sah ein Mädchen mit dunklen Haaren in dunkler Kleidung, die in einer Lagerhalle stand und auf einen Handybildschirm starrte. Außerdem befand sich in der Mitte des Raumes eine Metallpritsche, die ein wenig an einen OP-Tisch erinnerte. Eine Plastikplane war auf dem Boden ausgebreitet. Daneben stand ein Metalltischchen mit allerlei OP-Besteck. Scheren, Pinzetten, Klammern, Skalpelle und Zangen lagen fein säuberlich sortiert nebeneinander. Sie hatte einen Besenstiel und sogar eine Fritteuse mit Öl gelagert. Interessant wurde es jedoch erst, wenn man sah, was neben dem Metalltisch lag. Ein Bunsenbrenner, eine Bohrmaschine und eine Kettensäge. Zufrieden steckte Jo das Telefon in ihre Jackentasche zurück und atmete tief durch. Das war gut. Sie war bereit.

Kapitel 3

Das Wetter spiegelte Jos Stimmung an diesem Tag akkurat wider. Dicke Flocken bildeten ein Schneegestöber der außerirdischen Art. Der Wind pfiff um Jos Auto und hüllte sie in einen weißen Vorhang aus Schnee, der undurchdringbar schien. Nur mit Mühe konnte sie das Gebäude der Justizvollzugsanstalt erkennen, auf dessen Parkplatz sie sich mittlerweile seit zwanzig Minuten den Arsch abfror. Um fünf Uhr abends war die Entlassung ihres Vaters geplant gewesen. Jo war zur Sicherheit früher dort gewesen. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte jedoch bereits 17:04 an. Nervös rutschte sie auf ihrem Autositz hin und her. Eigentlich war es gar nicht ihr Auto. Sie hatte die innovative Geschäftsidee von Car-Sharing genutzt und sich einen kompakten VW-Polo für ein paar Stunden ausgeliehen. Deshalb musste sie umso vorsichtiger sein, keine verdächtigen Spuren zu hinterlassen, sollte es brenzlich werden. Zum wiederholten Male warf sie einen Blick auf die Stofftasche auf dem Rücksitz. Hatte sie auch ganz sicher an alles gedacht? Handschellen aus einem Sexshop, Klebeband aus dem Schreibwarenladen, ein alter Fetzen aus ihrem Putzschrank. Und sie hatte das Chloroform, das war das wichtigste. Es herzustellen war ganz leicht, wenn man Biologiestudentin war und über Basiswissen in Chemie verfügte. Jo brauchte lediglich Bleichmittel zu kaufen, Aceton hatte sie aus dem Universitätslabor heimlich abgefüllt und nachhause mitgenommen. Das wichtigste war, die beiden Komponenten zu kühlen und langsam zu vermischen, damit sie nicht bereits zu sehr miteinander reagierten. Das Chloroform hatte sich nach einigen Minuten unten im Messbecher angesammelt, so konnte Jo es mit einer Pipette absaugen und in eine kleine, dunkle Flasche geben. Sie ging ihren Plan noch einmal durch, als endlich Bewegung in den Eingangsbereich der Justizvollzugsanstalt kam. Eine Frau im Hosenanzug trat aus der Tür, gefolgt von einem breit gebauten, großen Mann mit Dreitagebart und einer Sporttasche in der Hand. Er trug lediglich eine Lederjacke und machte sich trotz des Schneesturms nicht die Mühe, den Reißverschluss zuzuziehen. Stattdessen breitete er die Arme aus und ließ sich die Schneeflocken um die Ohren wehen, so als wolle er sagen: „Danke für die Begrüßung!“. Das war er. Das war Paul Stein. Ihr Vater. Das größte Arschloch, das auf dieser Erde wandelte. Auch die Dame im Hosenanzug schien von der harten Sorte Frau zu sein, denn sie kam ohne Jacke und in hochhackigen Schuhen auf Jos geliehenen Polo zu und öffnete die Beifahrertür. „Frau Stein nehme ich an?“, grüßte sie Jo und steckte den Kopf in den Wagen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Sellner mein Name, wir haben gestern telefoniert. Vielen Dank, dass sie sich die Mühe gemacht haben, ihren Vater abzuholen. Er freut sich schon sehr darauf, sie zu sehen.“ Jo versuchte, sich ein Grinsen abzugewinnen, es konnte jedoch maximal nach einem Schlaganfall ausgesehen haben. Etwas irritiert zog Sellner den Kopf wieder zurück und machte Paul Platz. Er trat an ihre Stelle, während Sellner sich schon wieder zurück in die Anstalt kämpfte, der Wind zerrte unerbittlich an ihrer Kleidung. Nun stand er da. Ihr Vater. Sie hatte sich seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet. Nun durfte nichts schief gehen. Sie musste sich zusammenreißen. An den Plan halten. Sie hatte nur diese eine Chance. „Hi“, sagte er. „Hi.“ Pause. „Steig ein“, sagte Jo. „Es ist kalt.“ „Verdammt kalt, da hast du wohl recht“, erwiderte Paul. Er stieg ein und legte seine Sporttasche auf den Rücksitz, ohne Jos Stofftasche dort zu entdecken. Jo legte den Rückwärtsgang ein und parkte aus. Sie fuhr vom Parkplatz und entschied sich für den Weg über die Autobahn zurück in die Stadt. Einige Augenblicke lang herrschte eisiges Schweigen. Jo fuhr langsam, da sie kaum zehn Meter weit sehen konnte. „Danke, dass du mich abgeholt hast, Johanna“, brach Paul das Schweigen. „Ich hätte nicht gewusst, wo ich sonst hin soll.“ Jo schwieg, obwohl ihr bei dem Klang ihres vollen Namens aus dem Mund ihres Vaters ein eisiger Schauer über den Rücken gelaufen war. „Doch sobald ich wieder einen Job gefunden habe, suche ich mir eine eigene Wohnung, versprochen“, fuhr ihr Vater fort, er wich ihrem Blick aus. Jo wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie hatte sich vorgenommen, eine Konversation aufrecht zu erhalten, um ihren Vater in falscher Sicherheit zu wiegen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, wenn sie auch nur ein weiteres Wort sagen würde, würde er erkennen, dass nichts so war, wie es schien. Sie waren noch nicht weit gekommen, doch auch Paul schien der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein. Er starrte aus dem Fenster und sah die Gegend an sich vorbeiziehen, sofern der Schneesturm es zuließ. Jo versuchte ein paar Mal unbemerkt tief Luft zu holen, da sie das Gefühl hatte, ihr Herzschlag hatte sich auf das doppelte beschleunigt, seit ihr Vater neben ihr Platz genommen hatte. Sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervor traten. Atmen, ging ihr Mantra innerlich unaufhörlich wie ein Wecker, einatmen, ausatmen. Obwohl es die Fahrbahnverhältnisse eigentlich nicht zuließen, drückte sie aufs Gaspedal. Sie konnte es kaum erwarten, endlich anzukommen. Ihr Vater schien davon fast nichts mitzubekommen, er war hypnotisiert von der Außenwelt. Paul schien erst zu bemerken, wo sie waren, als sie von der Straße auf die Parkplätze vor den Lagerhallen abbog. Er sah sich um, und sah Jo dann fragend an. „Das ist eine Überraschung“, säuselte Jo und versuchte zu Lächeln. Schlaganfallgefahr. „Mach die Augen zu.“ Paul zögerte und sah sie immer noch skeptisch an. „Bitte“, setzte sie nach und sah ihrem Vater zum ersten Mal in die Augen, seit er eingestiegen war. Es schmerzte sie mehr als alles andere, doch sie hielt seinem Blick stand. Einige Sekunden nur, denn dann schloss er seine Augen. Es fiel ihr nun leichter, ihn zu betrachten. Paul. Die Tatsache, dass er ihr Vater war, musste sie vorerst beiseiteschieben. Seine Haare waren kurz geschoren, daher fiel es nicht auf, das der Haaransatz schütterer geworden war. Er hatte mehr Falten bekommen, auf der Stirn und um die Augen. Und er machte sich immer noch nicht die Mühe, seinen Bart zu rasieren. Es wirkte ungepflegt. Das machte es leichter für Jo. Sie fummelte hinter sich in einer Stofftasche und holte einen alten Putzfetzen und ein kleines Fläschchen Chloroform hervor. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte sie. Mit einer Pipette tropfte sie etwas Chloroform auf den Putzfetzen. War das auch wirklich genug? Sie kippte den gesamten Inhalt darauf. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen. In ihrer rechten Hand hielt sie den in Chloroform getränkten Lappen, mit ihrer linken nahm sie die Handschellen. Einatmen, ausatmen. Eins, zwei, drei. Mit der rechten Hand presste sie den Lappen auf Mund und Nase von Paul, gleichzeitig schnellte ihre linke Hand nach vorne und lies die eine Handschelle um die rechte Hand ihres Vaters einrasten, die andere um den Griff der Autotür. Nach einer Schreckenssekunde riss ihr Vater die Augen auf und begann bereits sich unter ihrem Griff zu winden. Er versuchte, beide Hände in Richtung des Gesichts zu führen und bemerkte dann, dass seine rechte Hand an die Autotür gefesselt war. Ungläubig starrte er zuerst auf die gefesselte Hand, dann in die Augen seiner Tochter. Vehement presste sie weiterhin den Lappen auf sein Gesicht. Mit einem kräftigen Griff versuchte er ihre Hände von seinem Gesicht wegzuzerren. Er war stark, doch Jos Wille war stärker. Sie kniete sich auf ihren Sitz und nutzte zusätzlich die Schwerkraft, um den Lappen an Ort und Stelle zu halten. Seine Augenlider begannen bereits sich zu senken, also lockerte Jo den Griff ein wenig, zumal ihre Kräfte sie langsam verließen. Da riss er plötzlich an Jos Hand und schaffte es, den Lappen unterhalb der Nase zu ziehen. Er sog die Luft tief durch die Nase ein und zerrte stärker an ihrem Arm. Aufgrund des Schreckens mobilisierten sich ungeahnte Kräfte in Jos Innerem und sie schaffte es , den Lappen wieder über die Nase zu ziehen. Paul zog weiterhin an ihrem Arm, doch seine Kräfte ließen bereits nach. Verzweifelt wand er sich wie ein Fisch auf dem Trockenen unter Jos Gewicht. Pauls Augen weiteten sich, er sah ihr erneut in die Augen und kratzte sie mitten im Gesicht. Jo wich zurück, doch seine Lider schlossen sich bereits und sein Kopf fiel auf die Seite. Sie presste den Lappen noch gut dreißig Sekunden lang auf Pauls Gesicht, um absolut sicher zu sein, dass er sie nicht schon wieder eine Ohnmacht vortäuschte. Doch er blieb regungslos. Erleichtert atmete Jo aus, um gleich darauf die Kratzer in ihrem Gesicht im Spiegel ihres Autos zu begutachten. Genervt stieß sie die Luft zwischen den Zähnen hervor. Er hatte sie ganz schön erwischt. Blut rann an ihrem Gesicht herab. Drei Schrammen zierten ihre rechte Gesichtshälfte. Er hatte knapp ihr Auge verfehlt. „Dreckiger Mistkerl“, murmelte Jo und tupfte das Blut mit einem Taschentuch von ihrem Gesicht. Tief durchatmen, weiter im Plan. Sie fuhr den Wagen so, dass die Beifahrerseite knapp auf Höhe der stählernen Eingangstür lag. So konnte sie Paul direkt vom Autositz in die Lagerhalle schleifen mit dem geringsten Risiko, von jemandem gesehen zu werden. Bei diesem Sauwetter würde sich sowieso niemand aus dem Haus wagen. Jo zog Paul über den Boden der Lagerhalle, bis sie am Metalltisch angelangt waren. Endlich hatte sich das Krafttraining jeden Abend ausgezahlt. Trotzdem war sie außer Atem. Sie legte eine kurze Pause ein, bevor sie begann, ihren Vater auszuziehen. Zuerst knöpfte sie das Hemd auf, öffnete den Gürtel und zog die Hose nach unten. Sie zog ihm die Socken aus, die Lederjacke, das Hemd und zuletzt die Unterhose. Diese Sachen würde sie später verbrennen. Keine Beweise zurücklassen. Jo trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr unvollendetes Werk. Wenn sie ihn da so daliegen sah, würde sie am liebsten gleich damit beginnen, seinen Körper zu verstümmeln. Doch damit würde sie ihm nur einen Gefallen tun, solange er ohnmächtig war. Leider hatte Jo das Chloroform nicht im Vorhinein getestet, also wusste sie nicht genau, wie lange die Wirkung anhalten würde. Daher musste sie sich beeilen, so sehr sie den Anblick ihres hilflosen Erzeugers auch genoss. Sie griff ihm unter die Achseln und zog ihn mit einem Ruck von vorne nach hinten auf den Metalltisch. Paul gab ein Grunzen von sich. Jo beeilte sich und schnallte ihn am Tisch fest. Die Gurte zog sie enger als nötig. Alleine das schaffte schon ein klein bisschen Befriedigung. Fast hätte sie das Paketklebeband vergessen, dass sie ihm auf den Mund klebte, um ihn für eine Weile zum Schweigen zu bringen, auch wenn die Halle so gut es ging schalldicht gemacht wurde. Sie würde es ihm vom Mund reißen, bald. Denn sie wollte ihn schreien hören. Jo betrachtete die Rückwand der Lagerhalle. Diese hatte für sie eine ganz besondere Bedeutung. Denn sie war über und über mit Fotos, Zeitungsausschnitten und anderen Zettelchen beklebt. Jo nannte es bei sich ihr „Motivationsboard“. Der Grund, warum sie das alles tat, warum sie diese Eskapaden auf sich nahm, war hier in allen Einzelheiten abgebildet. Instinktiv wanderte ihre rechte Hand an ihr linkes Handgelenk, dort, wo das geknüpfte Freundschaftsarmband ihrer Schwester neben ihrem eigenen gebunden war. Jo sah sich das Foto ihrer geliebten Zwillingsschwester an. Lisa war schon immer bildhübsch gewesen, viel hübscher als sie selbst. Groß, schlank. Und sie hatte diesen Glanz in den blonden Haaren und versprühte diesen blumig-holzigen Duft, der junge Männer verrückt werden ließ. Alle lagen ihr zu Füßen und vergötterten sie. Ihr Lachen war ansteckend. Ihr Lachen war ansteckend gewesen, bis es am 29. September vor sieben Jahren für immer verstummte. Und Schuld daran war ihr Vater. Jos Blick wanderte zu den vielen Zeitungsartikeln, die damals erschienen waren. Dick und fett schrie die Schlagzeile allen entgegen: „Mädchen verschwunden, Vater verhaftet!“. In Schwarzweiß ein Foto von Paul, wie er in Handschellen abgeführt wurde. Das Gesicht wurde unkenntlich gemacht und war verschwommen, doch jeder in Salzburg wusste, wer Paul S. (46) war. Die Geschichte machte die Runde. Zum Glück brachte niemand Jo mit dieser ganzen Sache in Zusammenhang, denn ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass Bilder von Lisa oder ihr aus den Medien ferngehalten wurden. Sie war erfolgreiche Ärztin mit guten Beziehungen zu einer hiesigen Anwaltskanzlei. Trotzdem schaffte Jo es erst ein Jahr später wieder, das Haus zu verlassen. Der Tag an dem ihr Vater des Mordes an ihrer Schwester verurteilt wurde. „Tochtermörder verurteilt.“ Dieser Mistkerl hatte von Anfang an auf Unschuldig plädiert. Er wollte aufgrund von mangelnden Beweisen freigesprochen werden. „Ich habe keine Ahnung, wie ihr Blut und ihre Haare in meinen Wagen kommen, aber ich habe nichts damit zu tun“, hörte Jo seine Stimme noch heute in ihrem Ohr. Doch sie hatte ihm niemals geglaubt. Man hatte ein Tagebuch ihrer Zwillingsschwester gefunden, in dem sie schon Monate vor dem Vorfall beschreibt, dass sie Angst vor ihrem Vater gehabt hat und sich bedroht fühlte. Ihr Blick wanderte zu Kopien eben dieser Einträge. Die Handschrift war makellos. Jo sah die Fotos vom vermeintlichem Tatort, dem Wagen ihres Vaters. Die Menge an Blut, die in seinem Kofferraum gefunden wurde, deutete auf eine sehr geringe Überlebenschance hin. Und das Blut hatte die Blutgruppe ihrer Schwester, die Haare aus dem Wagen, verklebt mit dem getrockneten Blut, hatten die DNA ihrer Schwester. Ihre Schwester wurde ermordet. Erstochen, erschlagen, wie auch immer. Sie war tot. Ein Stich ins Herz, ganz kurz. Dann tief durchatmen. Jo hatte gar nicht gemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte, bis ihr Gesicht tränennass war. Sie wischte die Tränen weg. Weitermachen. Jo wandte den Blick vom „Motivationsboard“ ab und ging auf den Ausgang der Lagerhalle zu. Ihr Vater schien langsam wach zu werden, also wollte sie ihn erst mal für ein paar quälende Stunden im Dunkeln alleine lassen. Alleine und im Ungewissen. Sie drehte die Deckenleuchten ab und schloss die Tür auf. Bevor sie hinaustrat, betrachtete sie ihr Werk. Sie hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Die Spiele konnten beginnen.

Kapitel 4

Manches Mal kann man freudige Aufregung über ein tolles Ereignis nur schwer verbergen. Wenn man frisch verliebt ist zum Beispiel, möchte man sofort jedem von seinen wuscheligen Haaren oder seinen nussbraunen Augen erzählen. Wenn man ein neues Haustier bekommt, kann man nicht genug Fotos oder Videos dieser entzückenden kleinen Viecher auf Instagram und Co. verbreiten. Doch Jo spürte diese freudige Aufregung aus einem Grund, den sie unter allen Umständen geheim halten musste. Sie hatte wenig Sozialkontakte an ihrer Universität und somit niemanden, der ihr sagen hätte können, dass sie heute besonders frisch und fröhlich aussah. Jedoch hatte ihr ein Mädchen, dem sie auf dem Weg zur Bibliothek im ersten Stock begegnete, zugelächelt. Und niemand lächelte Jo je zu. Das Lächeln des Mädchens erstarrte jedoch abrupt, als Jo genervt zurück starrte. Alles wieder im Lot. Trotzdem konnte Jo sich kaum konzentrieren, als sie über ihrem Mikrobiologiewälzer brütete und versuchte, den Zitronensäurezyklus in all seinen Einzelheiten in ihr Gehirn zu hämmern. Wörter wie Pyruvat-Dehydrogenase und Succinat-Thiokinase wollten heute einfach nicht hängen bleiben. Zum tausendsten Mal war sie versucht, ihre App zu checken um zu sehen, wie Daddy sich heute machte. Er war nun seit fast 24 Stunden alleine. Er musste Hunger haben. Und Angst. Wenn Jo Glück hatte, hatte er sich sogar eingepinkelt. Doch Jo wollte auch vorsichtig sein und nicht riskieren, dass sie jemand dabei beobachtete, wie sie jemanden beobachtete, der nackt auf eine Pritsche gefesselt war. Vielleicht war sie ein bisschen paranoid, doch Vorsicht ist besser als Nachsicht. Und sie hatte heute Morgen bereits am Bildschirm gesehen, dass Paul sich keinen Millimeter bewegt hatte. Wie sollte er auch. Sie hatte die Gurte so fest gezogen, dass sie sich bereits in seine Haut eingeschnürt hatten, als sie gestern ging. Was, wenn er kein Gefühl mehr in seinen Armen und Füßen hatte, weil sie ihm alles abgeschnürt hatte? Dann würde er nicht mehr spüren, wenn sie ihm einen Zeh abschnitt? Jo merkte erst nach einer halbstündigen Überlegung und eingehenden Recherchen über „Arm ist abgeschnürt?“ auf www.gesundheitsfragen.net, dass sie mit ihren Gedanken nicht mehr ganz bei Krebs und seinem Zitronensäurezyklus war. Seufzend schlug sie ihr Buch zu und kapitulierte. In ihrem Bauch tobten die Schmetterlinge, als sie mit ihrem Fahrrad auf den Parkplatz des Lagerhauses abbog. Die Schmetterlinge gerieten in einen Wirbelsturm, als sie das Tür aufschloss und – hoffentlich ungesehen – ins Innere huschte. Da lag er. Der Mann, den sie von allen Männern auf der ganzen Welt am meisten hasste. Und er war ihr vollkommen ausgeliefert. Jo grinste. Langsam ging sie auf ihn zu und genoss den Anblick, der sich ihr bot. Er zitterte, denn es war Winter und die Lagerhalle war nicht beheizt. Er bewegte seine Arme und Beine, die jedoch fest mit den Gurten auf der Metallliege fixiert waren. Zudem hatte er seine Augen weit aufgerissen, als er Jo erblickte. Er gab ein paar panische Laute von sich. „Hallo, Daddy“, säuselte Jo, als sie die Pritsche erreichte. Sie beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Ich hoffe, du hast die Zeit im Gefängnis genossen, denn heute werde ich dir so viele Schmerzen zufügen, wie du sie noch nie in deinem ganzen erbärmlichen Leben gefühlt hast.“ Jo erwartete keine Antwort, da sein Mund immer noch mit Klebeband überklebt war, doch sein Atem ging hörbar schneller. Sein Körper bäumte sich unter den Gurten auf, als versuchte er, trotz seiner Fixierung zu flüchten. Auf seiner rechten Schläfe schwollen Adern an, so wie früher, wenn er wütend wurde oder sich anstrengte. Sie war zufrieden. Vorerst. Genüsslich wandte sie sich ihren Foltergerätschaften zu und überlegte, womit sie anfangen sollte. Vielleicht harmlos, und sich dann immer mehr steigern? Jo griff sich die Heckenschere aus Mutters Garten. Erst sollte er einen Daumen verlieren, dann ein paar Zehen. „Bist du bereit?“, fragte sie und hielt die bedrohliche Schere so, dass er sie sehen konnte. Er schrie auf und wandte sich wild hin und her. Als ob das noch irgendetwas nützen würde. Als ob er ihr noch entkommen könnte. Jo ging wieder auf ihn zu. Dieses Mal sah sie ihm direkt in die Augen. „Das ist dafür, dass du mir meine Schwester genommen hast“, stieß Jo hervor. Ohne Umschweife drückte sie die Heckenschere zu. Paul wimmerte und wehrte sich so heftig, dass Jo Mühe hatte, nicht zu verrutschen. So fest sie nur konnte, presste sie die Griffe zusammen. Es blutete bereits stark, doch sie schaffte es nicht, ihm den Daumen abzutrennen, da sie den Knochen nicht durchdringen konnte. „Verdammt“, rief sie und schleuderte die Heckenschere quer durch den Raum. Flehend und mit Tränen in den Augen suchte Paul ihren Blick, doch sie scherte sich nicht darum. Er blutete, doch das war noch lange nicht genug. Jo schnappte sich Zange und wandte sich seinen Füßen zu. Jetzt suchte auch sie seinen Blick, denn sie wollte sein schmerzerfülltes Gesicht sehen, wenn sie seine Zehen zerquetschte. Der kleine Zeh am linken Fuß musste als erstes daran glauben. Sie nahm all ihre Kräfte zusammen und drückte zu. Paul stöhnte und Jo glaubte, den Knochen brechen zu hören. Als sie seinen nächsten Zeh quetschte, zischte sie: „Das ist dafür, dass ich niemals sehen werde, wie meine Schwester ihren Schulabschluss macht.“ Der nächste Zeh. „Das ist dafür, dass ich niemals erleben werde, wie sie ihren Führerschein macht und katastrophal schlecht Auto fährt.“ Der nächste Zeh. „Das ist dafür, dass ich sie nie damit aufziehen kann, wenn sie ihren ersten Freund mit nachhause bringt.“ Der große Zeh. „Und das ist dafür, dass ich niemals Patentante ihrer Kinde werde sein können.“ Erst als Jo verstummte, wurde ihr bewusst, dass sie geschrien hatte. Sie keuchte, war außer Atem, ihr Hals tat weh. Sie betrachtete seine zerquetschten und blutenden Zehen. Der kleine war bereits beachtlich angeschwollen, morgen würden sicher alle grün und blau gefärbt sein. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, er keuchte und wimmerte, Tränen bedeckten seine Wangen. Jo ging um die Pritsche herum und riss ihm das Klebeband vom Mund. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, du feiges, mieses Schwein!“, schrie Jo ihm ins Gesicht. „Ich… ich war das nicht…“, stieß Paul hervor, drehte den Kopf zur Seite und hustete. Sabber rann aus seinem Mundwinkel „Lügner“, brüllte Jo und klebte Paul den Mund wieder zu, bevor er irgendetwas erwidern konnte. Wütend stieß sie gegen die Liege. Sie hatte sich mehr Befriedigung davon erhoffte. Hatte gedacht, es würde einfacher sein. Doch sie wollte – nein, sie musste die Wahrheit aus ihm heraus bekommen. Sie wollte alles wissen. Jedes einzelne Detail. Auch wenn es sie vermutlich für immer zerstören würde. „Offenbar muss ich zu einer anderen Methode übergehen“, überlegte Jo und schaltete die Fritteuse ein. Als das Öl kochte und blubberte, goss sie es über seinen gesamten Körper. Paul bäumte sich auf und gab erstickte Laute von sich. Doch Jo hatte kein Erbarmen. „Wieso hast du Lisa das angetan?“, brüllte sie ihn erneut an. Sie riss das Klebeband von seinem Mund. Paul schrie auf. „Bist du total übergeschnappt?“, keuchte er. Jo funkelte ihn böse an. „Bitte… bitte lass das sein, lass uns in Ruhe über alles reden, bitte…“, bettelte er gleich darauf. Er hatte große Schmerzen, das konnte Jo ihm ansehen. Doch den Teufel würde sie tun und ihn losbinden. Das erhitzte Fett tropfte auf den Boden und die Haut auf seiner Brust und den Beinen begann bereits zu röten. Er schrie sich die Seele aus dem Leib. „Wieso?“, wiederholte Jo ganz langsam, als würde eine Wiederholung des Gesagten plötzlich eine befriedigende Antwort zur Folge haben. „Ich…“, jammerte Paul, „ich schwöre dir, dass ich es nicht war!“ Jo verlor die Geduld mit diesem winselnden Haufen Elend. Sie nahm sich eine Metallstange vom Boden und schlug so lange auf ihn ein, bis sie heulend am Boden zusammenbrach.

Kapitel 5

Die Idee mit den Ratten kam ihr, als sie ihm Fernsehen eine Dokumentation über Foltermethoden aus dem frühen Mittelalter sah. Also ging sie in eine Tierhandlung und kaufte sich einen Käfig mit zwei weißen Albinoratten. Ohne Futter, das würde sie nicht brauchen. Aber dafür eine Wärmelampe. Paul sah schrecklich aus. Seine Haut war dunkelrot und es hatten sich überall Blasen gebildet. Zudem wirkte sein ganzer Oberkörper irgendwie geschwollen. Auch seine Zehen schimmerten in allen Farben. Das stimmte Jo gleich ein bisschen fröhlicher. Nachdem sie gestern die Beherrschung verloren hatte und heulend zusammengebrochen war, konnte sie etwas Aufheiterung gebrauchen. Und nichts heiterte einen mehr auf, als einen Mörder leiden zu sehen. „Hallo, Daddy“, sagte Jo und ging auf ihn zu. „Ich hab dir ein paar Freunde mitgebracht.“ Sie hielt den Käfig mit den Ratten hoch. Pauls Augenlider flackerten. Offenbar erwachte er gerade aus einer aArt Halbschlaf. Irgendwann musste er trotz aller Schmerzen vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Verwirrt sah er zuerst die Ratten, dann seine Tochter an. Jo zog ihm das Klebeband vom Mund. Paul atmete tief ein und aus und schloss die Augen wieder. Erst zwei Tage auf freiem Fuß und schon so ausgepowert. „Wasser…“, flüsterte Paul. „Der durchschnittliche Mensch kommt mindestens drei Tage ohne Wasser aus“, entgegnete Jo kalt. „Es ist kalt, du schwitzt nicht, also solltest du es auch vier oder fünf Tage durchstehen. Sieh es als Experiment, so wie ich.“ Paul begann zu wimmern wie ein kleines Baby. „Jo, ich…“, schluckte er. „Fang jetzt nicht schon wieder damit an!“, meinte Jo aggressiv. „Ich will nichts mehr davon hören.“ Sie atmete tief durch und sammelte sich. Mit einem Verlängerungskabel schloss sie die Wärmelampe an den Strom an. „Was… was tust du da?“, murmelte Paul, als er Jo beobachte, wie sie den Käfig mit der Öffnung nach unten auf seinen Bauch platzierte. Ihr Grinsen nahm eine diabolische Form an. Die Ratten tapsten auf seinem nackten, verbrühten Körper auf und ab. Schmerzerfüllt hielt Paul die Luft an, sein Gesicht verkrampfte sich. Sie fixierte den Käfig an seinem Körper und an der Pritsche mit Paketklebeband. Auf der oben liegenden Seite des Käfigs befestigte Jo die Wärmelampe. „Die Ratten werden instinktiv versuchen, vor der Hitze zu fliehen. Rate mal, was sie tun werden, wenn es ihnen zu heiß wird.“ Jo trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Ihr Vater, dieses Schwein, hilflos und nackt, mit Verletzungen am ganzen Körper an eine Metallpritsche gefesselt, ausgestattet mit ein paar Ratten, die sich bald in seinen Bauchraum fressen werden. Wieder versuchte Paul sich zu wehren und zerrte an seinen Fesseln, doch nun schon viel weniger beherzt als gestern. Als wüsste er schon, dass es nichts bringen würde. Tränen liefen ihm über die Wangen. „Johanna, ich…“, schluchzte er. „Ich bin doch dein Vater. Ich habe dich aufgezogen, mich um dich gekümmert…“ Jo lachte auf. „Sich um deine Kinder kümmern heißt also eine deiner Töchter kaltblütig zu ermorden? Du hast nichts als qualvolle Schmerzen verdient!“ „Ich habe sie nicht ermordet!“, brüllte Paul zurück. Seine Geduld schien nun am Ende zu sein. Er versuchte nicht mehr, sie mit sanften, einfühlsamen Worten zu überzeugen. „Ich weiß nicht, wie das Blut und die Haare in meinen Wagen gekommen sind, aber ich habe nichts mit dieser Sache zu tun!“ „Du lügst!“, schrie Jo ihn an. „Denkst du, Lisa sei einfach so vom Erdboden verschluckt worden, oder was?“ Die Ratten im Käfig wurden zunehmend unruhiger. Sie liefen im Käfig hin und her, kratzten an den Gitterstäben und versuchten, zu entkommen. Doch es gab kein Entkommen. Paul musste Schmerzen haben, wenn sie auf seiner verbrannten Haut umher liefen, doch in seinem Gesicht konnte Jo nichts als blanke Wut erkennen. „Vielleicht wurde sie entführt? Vielleicht hat sie jemand anderes getötet und wollte es mir in die Schuhe schieben?“, antwortete Paul. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es nicht war!“ „Leugnen hilft dir jetzt auch nicht weiter, Vater!“, seufzte Jo. „Ich werde dich nicht gehen lassen. Nie mehr. Du hast mir mein Leben geraubt, meine beste Freundin. Und jetzt nehme ich dir dein Leben weg und verwandle es in die Hölle.“ „Dummes Miststück“, stieß Paul zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mehr schaffte er nicht mehr, denn eine Ratte hatte bereits damit begonnen, an seinem Bauch zu knabbern. Jo hatte alle Geduld mit diesem Mann gehabt, doch für heute war es genug. Sie konnte seinen erbärmlichen Anblick nicht länger ertragen. Seine Schmerzensschreie erstarben hinter der geschlossenen Tür, als Jo ins Freie trat. Die Sonne ging gerade unter. Orange und rosa Farben spiegelten sich in der weißen Fassade des gegenüberliegenden Industriegebäudes wider. Und Jo wurde genau in diesem Moment bewusst, wie sehr sie ihre Schwester vermisste. „Bist du heute zuhause?“, fragte Jo. Sie rief ihre Mutter gleich am nächsten Tag an, nachdem sie ihr Frühstück, bestehend aus einem Haferbrei mit frischen Beeren und einer starken Tasse Kaffee, hinuntergeschlungen hatte. „Nein, leider, mein Liebling, ich hab Tagdienst und bin außerdem mitten in der Morgenvisite auf Station, wieso fragst du?“, sprach Marie Luis Stein gehetzt in ihr Telefon. Jo hatte sie bildlich vor Augen, wie sie mit wehendem, weißen Arztkittel den Krankenhausflur schnellen Schrittes entlang ging, gefolgt von ihrem Visitenteam samt Rolltischchen mit Patientenunterlagen. „Nur so, alles klar“, Jo legte auf, bevor ihre Mutter noch irgendwelche Fragen stellen konnte. So weit, so gut. Jo hatte also das Familienhaus auf dem Land für sich alleine, wenn sie heute dorthin fahren würde. Denn zum einen hatte sie keine Lust, mit irgendjemandem zu sprechen. Zum anderen wollte sie auf gar keinen Fall, dass ihre Mutter sah, wie nah ihr der Verlust ihrer Schwester immer noch ging. „Du tust dir nur selber weh, wenn du in der Vergangenheit lebst“, hörte sie ihre Mutter im Geiste predigen, „sie fehlt mir auch sehr, aber wir müssen weitermachen.“ Blödsinn. Womit weitermachen? Jos Leben hatte vor vielen Jahren an jenem Tag aufgehört. Sie hatte aufgehört zu existieren. Auf dem Weg zu ihrem alten Familienhaus in Mattsee hatte Jo ein mulmiges Gefühl. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto unwohler fühlte sie sich. Nicht, weil sie Angst hatte oder nicht dort sein wollte. Sondern weil dieser Ort mit so vielen schmerzlich schönen Erinnerungen verbunden war. Sie fuhr 15 vorbei am Kindergarten, den Lisa und sie gemeinsam besucht hatten, und sah den leeren Sandkasten und die trostlosen, unbesetzten Schaukeln in dessen Garten. Danach kam die Volksschule, auf deren Schulhof sie das Spiel „Schattenspringen“ erfunden hatten: Niemand durfte auf den Schatten der anderen treten – es entstand jedes Mal eine wilde Verfolgungsjagd. Jo atmete die bösen Erinnerungen weg, bog links ab und durchfuhr ein kleines Waldstück. In diesem Wald, hinter diesem Baum auf diesem Hügel hatten Jo und Lisa das erste Mal eine Zigarette geraucht und sich dann geschworen, es nie wieder zu tun. Doch das Schlimmste stand ihr noch bevor. Jo wusste es und steuerte dennoch darauf zu. Am Ende der gewundenen Straße sah sie das stattliche Familienhaus stehen, umsäumt mit großem Garten und wild wuchernden Blumen. Alleine dieser Anblick hätte Jo vor einigen Wochen schon gereicht und sie wäre im Handumdrehen wieder umgekehrt. Doch nicht heute. Sie musste zurück, musste sich daran erinnern, warum sie das alles tat. Was er ihr genommen hatte. Sie parkte das Auto in der Einfahrt, in der auch sein Wagen stand, als die Polizei kam und nach Spuren suchte und schließlich auch welche fand, und stieg aus. Das Haus sah noch genauso aus wie damals, als wäre nichts geschehen. Wenn man davon absah, dass der Garten mit Unkraut und wildem Gewächs überwuchert wurde, hatte sich nichts geändert. Die große Eiche im Vorgarten, der Gartenteich, allerdings ohne Seerosen, dafür mit Schnee bedeckt. Sie sah sich um, nahm jedoch weder die angenehm kühle Landluft noch die leichten Schneeflocken wahr. Alles, was sie wahrnahm, war Schmerz. „Himmel, warum tue ich mir das an?“, fragte sie sich im Stillen. Jo trat die Stufen zur Eingangstüre hinauf und zögerte dann einige Momente, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Zweimal herum drehte. Die Tür öffnete. Staubkörner tanzten im hereinfallenden Licht. Sie atmete tief ein, als müsste sie für eine Weile die Luft anhalten, und trat über die Schwelle. Ein muffiger Geruch stieg ihr in die Nase. Wie ein Eindringling tastete sie sich im Halbdunkeln heran. Sie wagte es nicht, das Licht einzuschalten, sie wollte diese Atmosphäre nicht zerstören. Denn hier hatte sie nicht nur ihre schlimmsten, sondern auch ihre schönsten Momente erlebt. Sie schlich durch den Flur. In der Küche ließ sie ihre Finger über die Staubschicht auf der Kücheninsel gleiten. Im angrenzenden Esszimmer war der Tisch immer noch dekoriert mit weißen Kerzen in hohen Kerzenhaltern und einem Tischläufer. Bei diesem Anblick stieg ihr der Geruch von Hähnchenbrust mit Rosmarinkartoffeln in die Nase. Das übliche Sonntagsessen, wenn Mama nicht arbeiten musste und die Küchenhilfe in ihren Kochkünsten überbieten wollte, so nach dem Motto: Ich bin eine gute Ärztin und eine gute Hausfrau. Ihr wurde alleine bei dem Gedanken daran schlecht. Seit diesem Tag hatte sie nie mehr Hähnchenbrust mit Rosmarinkartoffeln gegessen. Die Stufen der renovierten Holzstiege knarzten, als Jo in den oberen Stock hinaufging. Die Tür zu ihrem eigenen Kinderzimmer war nur angelehnt. Darin war es fast leer. Sie hatte alles entsorgt und nur Weniges in ihre Wohnung in der Stadt mitgenommen. Nur einen leeren Kleiderkasten und ein Bettgestell ohne Matratze hatte sie zurückgelassen. Das Zimmer ihrer Zwillingsschwester lag gleich neben dem ihren, daneben das Schlafzimmer der Eltern. Da im Haus genug Platz gewesen war, hatten sie beide von Anfang an getrennte Zimmer gehabt. Und ein eigenes Zimmer nur für ihre Spielsachen, was sich später irgendwann als Abstellkammer des oberen Stockwerks nützlich erwiesen hatte. Als sie trotz ihrer langsamen Schritte vor der Zimmertüre ihrer Schwester angelangt war, hielt Jo inne. Es war eine Sache, das Haus zu betreten, und eine ganz andere, in ihr Zimmer zu gehen. Jo machte entschieden auf dem Absatz kehrt und steuerte auf die Treppe zu. Sie war schon auf halbem Weg nach unten, da hielt sie an. „Nein, wenn, dann schon richtig“, ermahnte sie sich selbst. „Ich bin nicht hier hergekommen, um einmal durchzulüften und dann wieder zu verschwinden.“ Sie brauchte die volle Dosis Trauer um weitermachen zu können. Also kehrte sie um. Stellte sich wieder der Tür. Und öffnete sie schließlich. Sie war sicher, dass sie es sich nur einbildete, denn es konnte gar nicht anders sein. Nach so vielen 16 Jahren. Unmöglich. Und dennoch war Jo felsenfest davon überzeugt, Lisas Duft wahrzunehmen. Blumig, leicht, sehr schwach. Doch er war da. Genauso wie der Rest des Zimmers „Lisa!“ zu schreien schien. Alles erinnerte Jo an sie. Das Britney Spears-Poster an der Wand über ihrem Bett, unzählige Bücher in ihrem Regal, nebst Notizbüchern und Tagebüchern, die sich über die Jahre angesammelt hatten, Fotos von Ausflügen mit Freunden an der Pinnwand über ihrem Schreibtisch, fein säuberlich sortierte Ordner mit verschnörkelter Aufschrift. Biologie 1. Klasse, Deutsch 2. Klasse, Mathematik. Daneben ein trauriger Smiley. Jo musste unweigerlich grinsen. Lisa. So war sie gewesen. Ordentlich, zielstrebig, klug und dennoch von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Erst jetzt fiel Jo der Papierkarton ins Auge, der auf dem Bett stand und so gar nicht ins Bild passte. Zögernd öffnete sie ihn und bereute es sofort wieder. Oben auf lag Lisas grauer Hoodie mit getrockneten Blutflecken darauf. Sie hatte diesen Pullover an jenem Tag getragen. Am ersten letzten Tag. Jo nahm den Pullover behutsam heraus und legte ihn beiseite. In dem Karton, der Beweismaterial enthielt, das von der Polizei damals beschlagnahmt wurde, fand Jo außerdem das alte Tagebuch ihrer Schwester. Sie öffnete es und sah erneut ihre makellos geschwungene Schrift. Sie wusste es, und dennoch las sie die letzten Einträge noch einmal. Sie hatte sie schon einmal gelesen. Bei der Befragung auf der Polizeistation hatte man ihr Kopien vorgelegt, auch bei den zahlreichen Gerichtsverhandlungen. Kopien von Einträgen aus den letzten Monaten, bevor ihre Schwester ermordet wurde, die zeigten, was sie beschäftigte. Selbige Kopien hingen an ihrem „Motivationsboard“. 09. September 2013 Ich kann seine Gegenwart kaum ertragen. Sobald er den Raum betritt, möchte ich ihn wieder verlassen. Ich habe das Gefühl, dass er mich manchmal so komisch ansieht. Und sobald er in meiner Nähe schnelle Bewegungen macht, zucke ich unwillkürlich zurück. Und dann wird er wütend. „Du wirst doch keine Angst vor deinem Vater haben, oder?“ Danach nimmt er mich in den Arm, ein bisschen zu fest um es als liebevoll bezeichnen zu können. Und dann muss ich gehen. Mich umziehen und seinen Geruch von mir abwaschen. 30. Oktober 2013 Meine blauen Flecken kann ich gut verstecken, wenn es kälter wird. Lange Pullover und längere Jeans helfen dabei. Ich mag es nicht, dass die Sommersaison wieder endet. Und zwar nicht, weil die langen Tage im Freibad aufhören, Eis essen auf einmal nicht mehr auf der Tagesordnung steht und man nicht bis Mitternacht draußen am Lagerfeuer sitzen kann. Sondern weil Papa dann nicht mehr aufpasst, dass man die Striemen, Flecken und Wunden nicht mehr sieht. Er schlägt mich nicht nur auf den Rücken oder im Bauchbereich, sondern dann verbrennt er mich auch wieder an den Armen und Beinen. Jo klappte das Tagebuch wieder zu. Sie spürte die Wut, die sich in ihrem Bauch zu einem heißen Knoten geformt hatte. Noradrenalin und andere chemische Substanzen wurden soeben in ihren Blutkreislauf ausgeschüttet. Das war gut. Der Besuch hatte seinen Zweck erfüllt. Jo räumte das Tagebuch und den Pullover wieder zurück und verließ das Zimmer. Die Dielen knarzten. Beinahe wäre sie über ein loses Brett im Boden gestolpert. Jo hielt inne, kniete sich hin und versuchte, das Brett aus dem Boden zu lösen. Moment. Es ließ sich tatsächlich heraus nehmen und eröffnete den Blick auf ein Loch im Boden. Das gibt es doch nicht. Der Klassiker. Hatte Lisa etwas hier versteckt? Und hatte es die Polizei beim Durchsuchen des Hauses tatsächlich übersehen? Blind griff Jo hinein und ertastete einen eckigen Gegenstand. Und eine Menge Staub und Dreck. Sie holte es heraus. Eine Digitalkamera. Sie war sich sicher, dass sie diese noch nie zuvor gesehen hatte. Ihre Mutter hatte zwar kleine Momente aus ihrer Kindheit immer per Video festgehalten, doch mit einer alten Videokamera. Jo drückte auf den Power-Knopf. Tatsächlich begann die Kamera zu blinken, der Bildschirm zeigte ein Menü an. Der Akku leuchtete jedoch bereits rot auf. Jo startete die letzte Aufnahme. Zuerst sah man nur schwarz und sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich schon auf Play gedrückt hatte. Doch dann sah sie, wie jemand die Kamera zurecht rückte. Das war Lisa. Jo hielt unwillkürlich die Luft an. Rechts unten stand das Datum der Aufnahme. 20. September 2013. 9 Tage vor dem Mord. Auf dem Bildschirm war jetzt ein Ausschnitt von Lisas Zimmer zu sehen. Genau das Zimmer, in dem Jo jetzt stand. Lisa stand dort, wo Jo jetzt stand. An der Wand das Bett, die Bücherregale, der Schreibtisch mit ihren Lernunterlagen. Es sah fast gleich aus wie in diesem Augenblick. Mit dem kleinen Unterschied, dass Lisas Schulrucksack neben dem Schreibtisch lag und ihre Bücher auf dem Schreibtisch ausgebreitet waren. Die Lisa aus dem Video schloss die Vorhänge, legte sich ins Bett und schaltete das Licht ab. Durch einen kleinen Spalt konnte etwas Mondlicht ins Zimmer dringen, doch viel war nicht zu sehen. Jo saß auf dem Holzboden und starrte den Bildschirm an. Wartete. Spulte vor und wartete wieder. Sie sah, wie sich Lisa ein paar Mal im Bett hin und her drehte, mehr passierte nicht. Wieso hatte Lisa sich beim Schlafen gefilmt? Ein Schulprojekt für den Psychologieunterricht vielleicht? REM-Phasen von Non-REM-Phasen unterscheiden oder was. Jo wartete noch ein paar Minuten ab, ohne großen Erfolg. Gerade als sie die Digitalkamera beiseitelegen wollte, nahm sie eine Bewegung am Bildschirmrand wahr. Jemand öffnete die Tür im selben Moment, als Lisa in ihrem Bett hochschreckte. Eine große Gestalt betrat das Schlafzimmer. Sie sah, wie Lisa in ihrem Bett zurückwich. Je näher die Gestalt kam, desto mehr versuchte Lisa, eins mit der Wand zu werden. Sie rückte immer weiter zurück und zog sich die Decke hoch bis zum Kinn. Was Jo dann sah, überstieg ihre schlimmsten Vorstellungen. Die Gestalt, sie war sich mittlerweile relativ sicher, dass es sich um einen großen, breitschultrigen Mann handelte, kam näher und riss Lisa die Decke weg. Diese kauerte nun, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, in der letzten Ecke ihres Bettes. Grob packte der Mann sie an den Füßen und riss sie zurück aufs Bett. Vergewaltigte sie. Als Lisa Anstalten machte sich zu wehren und nach Hilfe zu rufen, hielt er ihr den Mund zu. Jo starrte den Bildschirm an, wollte wegsehen und konnte es dennoch nicht. Ihr Körper gehorchte ihr plötzlich nicht mehr. Jo weinte nicht, schrie nicht, bewegte sich nicht. Sie konnte nur in Lisas Augen fixieren, welche wiederum genau in die Linse der Kamera zu blicken schienen. Der Mann ließ nach einer gefühlten Ewigkeit von Lisa ab, zog seine Hose hoch und wandte sich zum Gehen. In diesem Augenblick konnte Jo im Licht des Mondes das Gesicht des Mannes erkennen. Sie wollte es nicht wahrhaben und wusste es dennoch, seit der Mann den Raum betreten hatte. Die Art und Weise, sich erhobenen Hauptes durch einen Raum zu bewegen und volle Präsenz in diesem einzunehmen, war Jo nur allzu gut bekannt. Paul.

Kapitel 6

Im Nachhinein konnte sich Jo nicht erinnern, wie sie in die Lagerhalle gekommen war. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war das Gesicht ihres Vaters auf dem Bildschirm der Kamera. Und das löste eine Wut in ihr aus, die sie nicht kontrollieren und nicht bändigen konnte. Sie stand vor ihm, die Heckenschere in der Hand und brüllte. Ihr Hals schmerzte bereits, so viel musste sie geschrien haben. „Es tut mir so leid, Jo“, wimmerte Paul, der erbärmlicher aussah, als sie zu träumen gewagt hatte. Die Ratten hatten bereits begonnen, sich in seinen Körper zu fressen. Plötzlich war sie ganz ruhig. „Du weißt, ich kann das nicht einfach so hinnehmen, Paul“, hörte Jo sich mit gemäßigter Stimme reden. „Du hast ihr alles genommen, und das muss Konsequenzen haben.“ Jo ging einen weiteren Schritt auf ihren Vater zu. „Ich werde dir die Fähigkeit nehmen, jemals wieder irgendjemandem diese… Sache anzutun.“ Sie trat noch einen Schritt näher und setzte die Heckenschere an. In diesem Moment schnellte Paul mit seinem Oberkörper von der Liege hoch. Jo war so überrascht, dass sie ihn nur mit großen Augen und offenem Mund anblickte. Ehe sie sich versah, packte er sie mit einer Hand an der Gurgel. Jo begann zu würgen, sich zu wehren. Sie taumelte nach hinten und riss Paul samt seiner Metallpritsche mit sich, doch seine Hand war eisern um ihren Hals gelegt. Jo ließ die Heckenschere fallen und umfasste seine Hand mit beiden Händen. Sie strauchelte erneut zurück, als könnte sie ihm so entkommen. Dabei geriet die Metallpritsche samt Paul ins Ungleichgewicht und kippte seitlich über. Jos rechter Fuß war unter dem Gewicht der Pritsche und ihres Vaters eingeklemmt. Sie schrie auf, doch aus ihrer Kehle kam nur ein leises Stöhnen. Gleichzeitig verschob sich der Käfig mit den Ratten so, dass eine kleine Lücke entstand. Die weißen Albinoratten nutzten diese Gelegenheit und flohen aus ihrem heißen Gefängnis. Paul musste unendliche Schmerzen haben, als sie sich unter dem Käfig hindurch ins Freie zwangen und dabei seine offene Bauchwunde malträtierten, doch seine Hand ließ nicht locker. Jo wurde panisch. Sie spürte, wie sie immer wieder versuchte, Luft zu holen, und es ihr nicht gelang. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen und der Griff ihrer Hände um die seine wurde schwächer. Ihre Hände glitten zur Seite, sie fühlten den kalten Betonboden der Lagerhalle. Das wars, dachte sie. Er tötet mich auch. Doch da ertastete sie einen länglichen, metallenen Gegenstand mit ihrer rechten Hand. Sie packte ihn mit letzter Kraft und feuerte ihn die Richtung, wo sie ihren Vater vermutete. Sie hörte ein Stöhnen. Der Griff um ihren Hals wurde für einen kurzen Moment lockerer. Gierig sog sie die Luft in ihre Lungen, würgte, hustete. Sie versuchte weiter nach hinten zu rutschen, doch ihr Fuß war immer noch unter der Metallpritsche eingeklemmt. Von ihrer Angst getrieben zerrte sie ihr Bein unter der Pritsche hervor, auch wenn es höllisch weh tat. Sie kroch so weit zurück, bis sie an der Wand auf der anderen Seite der Lagerhalle angelangt war. Atmete, obwohl ihre Lunge schmerzte und es sich immer noch so anfühlte, als hätte sich eine Hand um ihren Hals gelegt. Jo schluckte immer wieder, was die Schmerzen nur noch verschlimmerte. Vorsichtig tastete sie ihren Hals ab. Er fühlte sich geschwollen an und jede noch so zarte Berührung löste eine Welle des Schmerzes in ihr aus. Erst nach einigen weiteren, tiefen Atemzügen blickte Jo auf. Sie sah ihren Vater, der mitsamt der Liege umgekippt war, noch immer mit seinen beiden Füßen in den Lederlaschen an die Pritsche gefesselt. Er musste es irgendwie geschafft haben, eine seiner Hände zu befreien. Mittlerweile hatte er auch seine andere Hand losgebunden und machte sich daran, seine Fußfesseln zu lösen. Aus einer Wunde an seinem Kopf triefte Blut. Die Heckenschere lag ein paar Meter neben ihm. Damit musste sie ihn in letzter Sekunde getroffen haben. Jo versuchte aufzustehen, doch ein höllischer Schmerz durchfuhr ihren rechten Fußknöchel, sodass sie wieder auf ihre Knie fiel. Auf allen vieren hechtete sie nun auf Paul zu. Dieser bemerkte, dass Jo auf ihn zusteuerte und fummelte hektisch an der Fußfessel. Als sie bei ihm angelangt war, steckte sie instinktiv ihre Faust in seine offene Bauchwunde. Paul schrie auf und ließ von seinen Fußfesseln ab. Jo nutzte den Moment, packte sein rechtes Handgelenk und drückte es zurück auf die Pritsche. Mit zitternden Händen versuchte sie, den Gurt wieder darum zu binden und schaffte es schließlich. Er versuchte noch, sich zu wehren, aber seine Kräfte verließen ihn. Jo nutzte die Gelegenheit, fixierte auch seine linke Hand und zog die Lederriemen so fest sie konnte. Jetzt keuchte und wimmerte Paul nur noch. Jo krabbelte auf die andere Seite der Liege und versuchte, diese wieder aufzurichten, doch sie rutschte immer wieder weg. Einmal hatte sie es fast geschafft, doch dann entglitt sie ihr und krachte zurück auf den Boden. Paul jammerte auf, was Jo amüsierte. Doch auch sie merkte, dass ihre Kräfte sie verließen. Momentan schaffte sie es nicht, die Liege wieder aufzustellen, das musste warten. Jetzt musste sie sich erst einmal um Paul kümmern, dann um ihre eigenen Verletzungen. Denn sie hatte bemerkt, dass die Wunde an seinem Kopf nicht aufhörte zu bluten. Außerdem war er in einem miserablen Zustand. Lange würde er so nicht mehr überleben, doch Jo wollte ihn noch ein bisschen länger unter den Lebenden und Leidenden behalten. Auch wenn es ihr etwas missfiel, sie musste seine Wunde nähen, die Bauchwunde versorgen, vermutlich brauchte er auch Antibiotika. Schmerztabletten würde sie ihm keine gönnen, aber entzündungshemmende Medikamente und wundheilende Verbände. Leider hatte Jo nicht daran gedacht, Verbandsmaterial, Salben oder ähnliches hier aufzubewahren. Verdammt, alles was sie hier hatte waren diverse Folterinstrumente. Sie musste improvisieren. Aus ihrem Pullover und einem ihrer Handschuhe fertigte sie einen Druckverband an, um die Blutung vorübergehend zu stillen. Doch das würde nicht lange reichen. Ihr kam ein Gedanke, der ihr so zuwider war, dass sie ihn gleich wieder beiseiteschob. Doch eigentlich war diese Idee gar nicht so schlecht. Sie konnte funktionieren. Riskant, aber mit einem Hauch Erfolgschance. „Ich würde gerne mit Frau Dr. Stein sprechen.“ Jo befand sich mittlerweile in der Empfangshalle des Unfallkrankenhauses in Salzburg, wo ihre Mutter arbeitete. Es herrschte wie für gewöhnlich Hochbetrieb in der Anstalt. Das Wartezimmer war gerammelt voll, Pfleger und Krankenschwestern hasteten von einem Behandlungszimmer zum nächsten. Sie rückte ihren Schal zurecht und versuchte, einen Klagelaut zu unterdrücken. Ein Glück, das Winter war und es nicht ungewöhnlich auffiel, denn nur so konnte sie die geschwollene und verfärbte Stelle verstecken. „Haben Sie einen Termin?“, fragte die genervte Empfangsdame. Jo wusste, dass diese Frage kommen würde, und sie war vorbereitet. Langsam schob sie ihren Ausweis über den Tresen. „Mein Name ist Johanna Stein, ich bin ihre Tochter“, entgegnete Jo. Die Frau starrte entsetzt auf Jos Hand. Diese war mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Schnell zog sie ihre Hand wieder zurück. Mist, das hatte sie ganz vergessen. Plötzlich wurde ihr heiß und die Röte stieg ihr ins Gesicht. Niemand durfte auch nur den geringsten Verdacht auf ein Gewaltverbrechen schöpfen, sonst war sie Polizei schneller hier, als dass sie auf die Toilette humpeln könnte. „Ich habe nicht ewig Zeit, also machen Sie gefälligst schnell“, herrschte Jo die entgeisterte Frau an, die daraufhin mit eifrigen Fingern eine Nummer auf dem Festnetztelefon wählte. Bitte nicht den Sicherheitsdienst, schickte Jo ein Stoßgebet zum Himmel. „Frau Dr. Stein, ihre Tochter steht hier bei mir…“, stammelte die nervöse Frau ins Telefon, bevor sie offenbar von der Person auf am anderen Ende der Leitung unterbrochen wurde. „Keine Ahnung, ich…“, stotterte sie, zuckte zusammen, als die Stimme aus dem Telefon deutlich lauter wurde. „Umgehend in die Zwei, alles klar!“ Sichtlich erleichtert beendete die Frau das Gespräch. „Behandlungsraum zwei“, sagte sie zu Jo und deutete auf die geschlossene Tür zu ihrer rechten. Sie nickte, nahm ihren Ausweis und humpelte auf die Schiebetüre zu. Sie war schon oft genug hier gewesen um zu wissen, dass der Schalter neben der Tür kein Lichtschalter war, sondern dazu diente, die Türe zu öffnen. Denn dies war sonst eigentlich nur von innen möglich, um ungeduldige und unerwünschte Patienten fern zu halten. Zu ihrem Glück stellte sie fest, dass der Behandlungsraum noch leer war, doch es konnte sich nur noch um wenige Minuten handeln, bis ihre Mutter eintreffen würde. Bis hierher war Jos Plan aufgegangen, doch was nun? Sie eilte zu den Schränken, die so aussahen, als würde man darin Medikamente aufbewahren. Verschlossen. Die Schubladen waren offen, doch darin befanden sich nur Pflaster und Verbände. Obwohl Jo in ihrem Erste-Hilfe-Kasten davon bereits genug hatte, steckte sie ein paar davon in ihre Manteltasche. Im nächsten Kasten hatte Jo mehr Erfolg. Er war offen und enthielt eine Reihe von trockenen und feuchten Wundauflagen. Hastig griff sie sich mehrere Packungen Paraffingaze, zudem mehrere Packungen mit medizinischen Schaumstoffverbänden. Sie hörte bereits, wie sich die Schritte einer Person in hochhackigen Schuhen näherten und rechnete jeden Augenblick damit, dass ihre Mutter in den Behandlungsraum stürmen würde. Jo widerstand dem Drang, nach den Kochsalzlösungen zu greifen und schloss die Schranktür in dem Moment, in dem sich die Schiebetür zum Zimmer öffnete und ihre Mutter hereinkam. „Was ist passiert?“, fragte Marie Luise Stein besorgt. Keine Begrüßung, gleich zu den wichtigen Fakten. Jo hatte sich auf dem Weg hier her bereits eine Geschichte zurecht gelegt und hoffte inständig, ihre Mutter würde diese nicht durchschauen. „Ich hatte einen Unfall mit dem Fahrrad, dabei bin ich ausgerutscht und mit dem Fuß umgeknickt, als ich mich abfangen wollte“, erklärte sie und deutete dabei auf ihren rechten Knöchel. Marie Luise nickte. „Und wieso ist deine Hand voller Blut?“, fragte sie. „Nun ja, ich bin mit einem anderen Radfahrer zusammengestoßen, der hatte eine blutende Wunde am Kopf und ich wollte ihm helfen, doch er ist einfach davon gefahren.“ Jo war etwas überrascht, dass ihr diese Lüge so einfach über die Lippen ging. Ihre Mutter ließ die Erklärung unkommentiert. Stattdessen öffnete sie die Tür zum Wartebereich erneut und rief: „Ich brauche hier eine Schwester und einen Rollstuhl, und zwar pronto!“ Keine zehn Sekunden später hastete ein Mann mit einem Rollstuhl in den Raum, gefolgt von einer jungen, ängstlich wirkenden Krankenschwester, die sich an ihr Klemmbrett klammerte, als würde sie sonst auf der Stelle umkippen. „Röntgen vom oberen und unteren Sprunggelenk rechts“, befahl ihre Mutter und drückte Jo gleichzeitig in den Rollstuhl, bevor sie protestieren konnte. Als ginge es um Leben und Tod hechtete der Mann mit ihr aus dem Raum, den Gang entlang auf eine Tür zu, welche die Aufschrift „Röntgen 1“ trug. Jo glaubte schon, der Mann würde mit ihr in die Tür krachen, doch er riss den Rollstuhl im letzten Moment noch herum und hielt an. Die Lampe über der Tür leuchtete nicht auf, also war im Moment kein Patient im Raum. Er öffnete die Tür und sagte: „Röntgen für Frau Dr. Stein, darf ich reinkommen?“ „Was für eine dumme Frage, Tom“, hörte Jo eine weibliche Stimme aus dem Inneren. „Hab schon gehört, dass sich die Hexe in unser Stockwerk verirrt hat.“ Tom schob sie mitsamt dem Rollstuhl hinein und deutete ihr, auf der Liege Platz zu nehmen. „Besteht die Möglichkeit, dass Sie schwanger sind?“, fragte die Röntgenassistentin, deren blondes Haar in einem strengen Zopf nach hinten gebunden war. Jo verneinte. Die Frau nickte und platzierte das Röntgengerät über ihrem rechten Fußknöchel. „Stillhalten“, befahl sie und ging in den kleinen, abgetrennten Raum, von dort aus sie die Röntgenbilder schoss. Insgesamt machten sie zehn verschiedene Bilder von ihrem geschwollenen Sprunggelenk in verschiedenen, mehr oder weniger schmerzhaft verdrehten Positionen. Als Jo wieder zurück in den Behandlungsraum Zwei gerollt wurde, saß ihre Mutter bereits vor dem Bildschirm und betrachtete ihre Bilder. „Das sind grauenhafte Bilder, wer hat sie gemacht?“, herrschte sie Tom an, der sich soeben aus dem Staub machen wollte. „Brigitte, Frau Doktor“, stotterte er. „Richten Sie ihr meine Grüße aus“, meinte Marie Luise, ohne den Blick von den Bildern abzuwenden. „Brigitte sollte besser ihre Berufswahl überdenken!“ Mit einem Grinsen wurde Jo plötzlich bewusst, von wem sie ihre forsche und unfreundliche Art geerbt hatte. Tom ergriff die Flucht, bevor ihre Mutter noch etwas sagen konnte. „Einen Bruch kann ich nicht erkennen“, kommentierte ihre Mutter die Röntgenaufnahmen. Zum ersten Mal, seit Jo hier war, wandte sie sich ihr zu. Sie tastete ihr Sprunggelenk ab. „Tut das weh?“, fragte sie, ohne jede mütterliche Fürsorge. „Ja, ein wenig“, erwiderte Jo. „Machen Sie einen straffen Verband mit Schmerzgel“, rief Marie Luise der Krankenschwester zu, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte, seit Jo den Raum vorhin verlassen hatte. Das junge Mädchen schien die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt zu haben und begann, in den Schränken nach Verbänden, Tuben und Bandagen zu wühlen. „Dazu 500mg Paracetamol, bei Bedarf bis zu vier weitere Tabletten am Tag“, diktierte Marie Luise weiter. Sie drückte Jo das Rezept in die Hand, als ihr Telefon zu läuten begann. „Ich muss los, Johanna“, sagte sie und verließ mit wehendem Arztkittel den Raum, den Anrufer bereits am Ohr. Dann drehte sie sich doch noch einmal in der Tür um und sagte: „Dünn siehst du aus.“ Jo blickte ihr nach, lauschte den Schritten, die sich immer weiter entfernten. Nicht gebrochen. Davon war Jo auch nicht ausgegangen. Sie war aus einem anderen Grund hergekommen. Geduldig wartete sie, bis die Krankenschwester ihr den Verband angelegt hatte. Jo wartete, bis diese den Schrank zu den Medikamenten aufschloss, um ihr die Schmerztablette zu verabreichen. „Ich fühl mich nicht so gut“, hauchte Jo. „Könnte ich einen Schluck Wasser haben?“ „Aber natürlich“, flüsterte die Krankenschwester und huschte aus dem Raum. Jo zögerte keinen Moment lang. Sie stemmte sich aus ihrem Rollstuhl hoch und humpelte zu dem Medizinschrank. Ibuprofen, Diclofenac, Buscopan, Aspirin, Voltarengel. Da. Telavancin, Dalbavancin, Oritavancin, Tedizolid. Jo kannte sich nicht genug mit Antibiotika aus um zu wissen, welche am besten bei offenen, entzündeten Wunden durch Tierbisse halfen, also nahm sie von allem eine Packung. Zudem nahm sie sich aus dem unteren Schrank noch die Flasche Kochsalzlösung und eine mit Desinfektionsmittel. Ein letzter, schneller Handgriff erlaubte es ihr, eine Brand- und Wundsalbe aus dem Medizinschrank zu entwenden, bevor die Schwester mit einem Becher Wasser zurückkehrte. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass ich auch auftreten kann“, erklärte Jo den Umstand, dass sie mitten im Raum stand, weil sie es nicht geschafft hatte, sich rechtzeitig wieder in ihrem Rollstuhl zu platzieren. „Sie sollten sich schonen, Frau Stein“, erklärte die Krankenschwester mit piepsiger Stimme und reichte ihr das Wasser. „Ich gebe ihnen Krücken mit, bitte benutzen Sie sie.“ Die nette Krankenschwester zeigte Jo noch, wie man mit den Krücken richtig umging, und begleitete sie dann zurück ins Wartezimmer. „Gute Besserung“, wünschte sie und verschwand im Chaos der herumstehenden und eilenden Menschen. Jo wollte sich schon auf den Weg zum Ausgang machen, als sie von einer Hand auf ihrer Schulter zurückgehalten wurde. Die Empfangsdame war ihr nachgeeilt. „Frau Stein, sie haben ihre Krankmeldung vergessen“, sagte sie und wedelte mit einem Zettel in der Luft herum. Obwohl Jo dergleichen nicht benötigte, bedankte sie sich und machte sich erneut auf, mit ihren Krücken das Krankenhaus zu verlassen. „Frau Stein…“, setzte die Empfangsdame an. „Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber vorhin hat sich eine junge Frau nach ihnen erkundigt. Sie wollte mir ihren Namen nicht nennen, aber es bestand eine gewisse Ähnlichkeit, wissen Sie. Zwischen Ihnen und der jungen Frau.“

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