Kapitel 1
„Hi. Es ist wirklich wichtig“, fiel Jasmin sofort mit der Tür ins Haus.
Sophie gähnte ins Telefon, das sie unsanft aus ihren Träumen gerissen hatte. „Verrät‘s du mir auch warum? Oder ist das ein Test, wie schnell mein Hirn vom Schlaf- in den Wachmodus schaltet?“
„Also um ehrlich zu sein …“ Jasmin seufzte sichtlich entnervt. Sophie stopfte sich ein weiteres Kissen unter den Kopf, um es bequemer zu haben. Sie kannte ihre Freundin. Das konnte dauern.
„Es ist so. Simon ist für eine Woche dienstlich in der Schweiz. Er hat Fotos von dem Hotel geschickt. Echt krass der Schuppen. Na ja, eigentlich halbdienstlich. Er hängt noch ein oder zwei Tage dran. Er will sich mit einem alten Freund treffen, der inzwischen dort lebt. Möchte mal wissen, wie der das geschafft hat? Ist doch für Deutsche gar nicht so einfach, dort hinzuziehen. Jedenfalls trifft er sich mit dem heute und fährt dann erst morgen zurück. Das ist ja auch in Ordnung, ich gönne es ihm. Wirklich!“
Sophie stöhnte innerlich. Sie versuchte, Jasmins geballter Informationsfülle zu folgen und vor allem, nur das Wichtigste herauszufiltern. Und das alles ohne Kaffee. Ihre Freundin würde zweifellos jeden Schnell-Rede-Wettbewerb gewinnen.
„Es ist nur so, dass Isabel sich irgendeinen Magen-Darm-Virus eingefangen hat, soll ja gerade wieder rumgehen. Ich glaube, ich kaufe mir noch eine große Flasche Desinfektionsmittel. Vor allem für die Türgriffe, allerdings auch Einkaufswägen oder die Tastaturen beim Geldautomaten, da wimmelt es nur so von Bakterien. Wusstest du das? Wo war ich stehen geblieben?“ Eine rein rhetorische Frage, denn Jasmin würde keineswegs eine Atempause einlegen, die ihrem Gesprächspartner auch nur ansatzweise die Möglichkeit zum Kontern gäbe. Sophie überlegte, wer noch mal Isabel war. Dann fiel es ihr ein. Das Aupairmädchen.
„Ausgerechnet heute“, plapperte Jasmin weiter, „wo ich doch diesen wichtigen Termin in Augsburg habe. Der ist wirklich wichtig. Richtig, richtig wichtig! Extrem wichtig, um nicht zu sagen, es geht um Leben oder Tod! Und dass, obwohl in meinem Horoskop stand, dass heute ein ausgesprochen günstiger Tag für Geschäfte sei, aber …“
„Jasmin“, unterbrach Sophie den Redeschwall, „um sechs ist Redaktionssitzung. Wenn du bis 17 Uhr wieder da bist, geht es in Ordnung. Wir wollen doch dein Horoskop nicht enttäuschen.“
„Weißt du, du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn du dich um Emily-“ Jasmin brach ab. „Was hast du gesagt?“
„Bring sie her“, wiederholte Sophie geduldig. „Wann musst du denn in Augsburg sein?“
„Um halb elf.“
„Na, dann“, entgegnete Sophie mit einem Blick auf ihren Wecker, „würde ich sagen, du beeilst dich besser.“
„In dreißig Minuten sind wir da. Spätestens. Und es macht dir wirklich nichts aus?“
„Nein! Hurry up, sonst verpasst du deinen Termin noch.“
Und sie ihren, wenn Jasmin nicht rechtzeitig wieder hier erschien.
Mist, eigentlich hatte sie geplant, nochmals ihre Vorschläge für neue Artikel durchzugehen. Aber sie konnte so schlecht Nein sagen. Eigentlich gar nicht. Musste sie wirklich üben. Aber nicht heute.
***
Sophie quälte sich aus dem Bett und schlurfte in die Küche. Zuallererst brauchte sie einen Kaffee. Ohne ging gar nichts. Während der Kaffee durch die Maschine lief und seinen angenehmen Duft in der Wohnung verbreitete, ging sie ins Bad. Sie begnügte sich mit Katzenwäsche und schlüpfte in ihre Klamotten.
Den Kaffee trank sie im Stehen. Auf der Arbeitsplatte in der Küche lag die gestrige Ausgabe einer Tageszeitung. Sie überflog die Überschriften, blieb beim Anzeigenteil hängen. Eine halbseitige Werbung für ein Antiquitätengeschäft in der Münchner Innenstadt. Schien sich zu lohnen, denn so eine bebilderte Anzeige war teuer. „Inhaber M. von Bernsdorf“, murmelte sie, holte ihr Handy und gab den Namen in die Suchmaschine ein. Das Ergebnis war enttäuschend. Sie riss die Seite aus der Zeitung heraus, holte einen Stift aus einer Schublade und kritzelte eine kurze Notiz darauf. ‚Adelige Familien in München‘, oder nur ‚Adel in München‘. Sie trank den letzten Schluck Kaffee, kaute auf ihrem Becher herum. Fehlte nur eine Gelegenheit, eine dieser Adelsfamilien kennenzulernen. Ein Interview machte sich immer gut in einem Zeitungsartikel, wirkte authentisch. Vielleicht sollte sie sich in dem Antiquitätengeschäft der Familie Bernsdorf einmal umsehen?
***
Zwanzig Minuten nach Jasmins Anruf klingelte es. Sophie sparte es sich, die Gegensprechanlage zu befragen. Sie drückte den Türöffner und kurz darauf stürmte Jasmin die Treppe hoch. Die fünfjährige Emily im Schlepptau.
„Hallo Prinzessin!“ Sophie ging in die Hocke. Die kurzen Arme der Kleinen schlangen sich ihr um den Hals. Das Mädchen schmiegte sich vertrauensvoll an die Patentante. Sie roch nach Shampoo und Creme, wie frisch gebadet. Sophie durchströmte ein warmes Gefühl und sie musste lächeln. Jasmin umarmte die Freundin ebenfalls, doch nur kurz.
„Sorry, aber ich muss los!“ Sie verabschiedete sich von ihrer Tochter. „Tschüss, mein Schatz. Sei brav. Und dir schon mal danke. Wenn ich Erfolg habe, gehen wir beide schick essen. Auf meine Kosten natürlich. Isabel hat die Nacht heute auf der Toilette verbracht und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Nicht zu fassen, was für Geräusche Menschen machen können.“
„Ich glaube nicht“, unterbrach Sophie, die sich an die abrupten Gedankensprünge ihrer Freundin gewöhnt hatte, „dass ich an weiteren Einzelheiten interessiert bin. Ganz davon abgesehen, verstehe ich nach wie vor nicht, wie du ein Aupairmädchen einstellen kannst, das jederzeit Germanys next Topmodel gewinnen würde.“
„Ach was!“ Jasmin winkte lachend ab. „Die ist echt lieb. Sie hat noch nie versucht, Simon anzumachen, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Mein, zugegebenermaßen ganz gut aussehender Mann nimmt auch nicht allzu viel Notiz von ihr. Ansonsten stände das Mädchen ganz schnell wieder auf der Straße.“ Sie grinste.
Ganz gut aussehend. Sophie schüttelte den Kopf. Sie kannte keinen Mann, der so attraktiv und gleichzeitig charmant war wie Simon. Ihre Freundin konnte sich wirklich glücklich schätzen.
„Übrigens steht in deinem Horoskop, dass du diese Woche eine interessante Begegnung haben wirst. Und du brauchst gar nicht die Augen zu verdrehen.“
Sophie war immer noch in der Hocke bei Emily und hatte Jasmin den Rücken zugekehrt. Das musste die Intuition einer Mutter sein. Sophie grinste und zwinkerte Emily zu.
„Das war genau der Satz, der damals bei mir drinstand, als ich Simon kennengelernt hab‘. Das beweist …“
„…, dass sich alles in regelmäßigem Turnus wiederholt“, ergänzte Sophie. „Da hat jemand einmal für jedes Sternzeichen ein, zwei oder von mir aus auch drei Horoskope erstellt und lässt sie einfach rotieren. Spart einen Haufen Arbeit und kein Mensch merkt es.“
„Hast du auch schon Horoskope geschrieben, oder woher willst du das wissen?“ Jasmin wurstelte ihre blonde Haarpracht nachlässig mit einem Tuch zu einem Dutt.
Sophie musste grinsen. Was bei anderen schlampig aussah, wirkte bei Jasmin stylisch elegant. „Nein, hab‘ ich nicht. Könnte ich aber sicherlich. Apropos schreiben. Heute ist wie gesagt Redaktionssitzung und da ich nicht festangestellt bin …“
„… sondern nur freie Mitarbeiterin, die jeden Auftrag braucht. Ja, ja, weiß ich. Auch wenn ich glaube, dass du dein Talent bei dieser Zeitung vergeudest.“ Jasmin wandte sich zur Tür. „Und nur weil du nicht an die Sterne glaubst-“
„Jasmin, du musst los, jedenfalls wenn du auf alle Fälle pünktlich erscheinen willst.“
„Oh Gott, so spät schon!“ Jasmin warf einen panischen Blick auf ihre Armbanduhr, dann verschwand sie endgültig.
Aufatmend schloss Sophie die Tür hinter Jasmin, die, wenn sie aufgeregt war, sie mit ihrem Gequassel in den Wahnsinn treiben konnte. Das würde sie ihr niemals sagen, nicht so direkt jedenfalls, dazu mochte sie sie viel zu sehr.
„So meine Süße“, wandte sie sich an Emily, die abwartend im Flur stand. „Was möchtest du heute machen?“
„Tierpark“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„In Ordnung.“ Sophie nickte. „Gehen wir in den Tierpark.“
Sie steckte zwei Wasserflaschen in eine Umhängetasche. Aus einer Schublade kramte sie die Digitalkamera hervor. Sie schlüpfte in ihre Lieblingsstiefel und die Lederjacke. Im Gehen wickelte sie sich noch einen dünnen Schal um den Hals. Sie fasste das Mädchen bei der Hand, das ungeduldig an der Tür wartete, und sie verließen die Wohnung. Emilys Turnschuhe quietschten auf dem Steinboden und als sie das merkte, zog sie die Füße gezielt flach über den Boden, um es zu verstärken. Sophie grinste. Als Kind fand man das lustig. Später versuchte man, geräuschlos durch die Gegend zu schleichen, und noch viel später war es einem peinlich. Genau wie klackernde Absätze in einer Kirche, wenn der Gottesdienst bereits begonnen hatte.
Dort war Sophie allerdings schon ewig nicht mehr gewesen.
Kapitel 2
Erik fuhr sich mit dem Handtuch über Gesicht und Nacken, dann hängte er es auf den Lenker des Hometrainers in seinem Fitnessraum. Der Timer seiner Uhr erinnerte ihn daran, dass es Zeit war, Tim zu wecken. Er zog seine verschwitzten Sportklamotten aus und warf sie in der Waschküche vor die Waschmaschine.
„Guten Morgen, Sportsfreund!“, rief er ins Kinderzimmer.
„Ich bin müde“, murmelte Tim und drehte sich zur Wand.
„Nützt nichts“, sagte Erik. „Ich hab heute ein total wichtiges Meeting.“
„Ich nicht“, murrte Tim.
Erik grinste. „Doch. Erst mit dem Kindergarten, dann mit der Monika.“
„Keine Lust.“
Erik beugte sich über ihn und wuschelte ihm durch die Haare. „Draußen scheint die Sonne. Da passt schlechte Laune überhaupt nicht.“
„Papa“, sagte Tim und hielt sich die Nase zu, „du stinkst.“
„Ich geh duschen, wollte dich nur vorher wecken.“
Tim brummte etwas, strampelte aber die Bettdecke weg.
Erik ging ins Bad, duschte und rasierte sich. Mit den Gedanken war er beim heutigen Treffen. Wenn sie den Auftrag bekämen, würde ihr Architekturbüro endlich Gewinn machen. Sie waren zwar aus den roten Zahlen der Anfangsjahre heraus, aber es ging meist gerade so auf.
Vielleicht wäre dann endlich mal ein Urlaub mit Tim drin. Nur er und Tim. Die letzten beiden Jahre war er über ein verlängertes Wochenende mit seinen Eltern in ihr Haus in Südfrankreich gefahren. Ein großes Haus, umgeben von Weinbergen und mit Swimmingpool. Tim gefiel es dort. Für Erik anstrengend. Er hatte ständig Angst, Tim könnte in den Pool fallen. Das war auch der Grund, warum er Tim genötigt hatte, einen Schwimmkurs zu machen. Auch, wenn man nach einem Kurs nicht sicher schwimmen konnte. Vielleicht sollte er mit Tim öfter ins Schwimmbad gehen, um es zu üben. Nicht, dass er es wieder verlernte. Oder war das wie Fahrradfahren? Einmal gelernt, vergaß man es nie wieder.
Kurz vor neun standen sie vor dem Kindergarten. Merkwürdig ruhig war es um diese Zeit.
„Da ist niemand“, stellte Tim fest, nachdem Erik einige Male erfolglos die Gruppenklingel gedrückt hatte.
Eriks Blick fiel auf einen Zettel, der von innen am Glasfenster der Eingangstür klebte.
„Zur Erinnerung“, las er. „Heute findet unser Betriebsausflug statt. Der Kindergarten ist ab Montag wieder für euch geöffnet.“
„Was ist ein Betriebsausflug?“, wollte Tim wissen.
„Shit!“, fluchte Erik und erntete prompt ein „das sagt man nicht“ von seinem Sohn.
Jetzt fiel es Erik wieder ein. Vor einigen Wochen hatte er einen Zettel unterschrieben, wo die Schließungstage bis zu den Sommerferien aufgelistet waren. Alles Fenstertage. Bis auf heute. Der Betriebsausflug war eine Ausnahme. Ziemlich unverschämt, fand er. Schließlich zahlte er für den Platz, und zwar nicht zu wenig. Verflixt, was sollte er nun machen?
„Was ist ein Betriebsausflug?“, wiederholte Tim seine Frage.
„Erklär ich dir später. Ich muss nachdenken, was wir jetzt machen.“
Er zog sein iPhone aus der Hosentasche und suchte die Nummer von Tims Tagesmutter.
„Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar“, verkündete die Mailbox.
Vielleicht hatte sie das Handy ausgeschaltet.
„Komm“, sagte er zu Tim, „wir fahren bei der Monika vorbei. Vielleicht kannst du da ausnahmsweise vormittags bleiben.“
Sie stiegen ins Auto und er ließ sich vom Navi durch das Gewirr kleiner Straßen leiten.
Er parkte den Wagen und drehte sich zu Tim um. „Du wartest hier. Ich frag schnell, ob es in Ordnung geht.“
„Warten ist langweilig“, beschwerte sich Tim.
„Ich bin in einer Minute wieder da. Ach was. In dreißig Sekunden.“
Tim verschränkte die Arme vor der Brust. „Glaub ich nicht.“
Erik deutete auf die Uhr am Armaturenbrett. „Siehst du die Zahlen?“ Tim nickte.
„Jetzt ist es neun Uhr fünfunddreißig“, erklärte Erik. „Erst die Neun, dann eine Drei und eine Fünf. Wenn aus der Fünf eine Sechs wird, dann bin ich wieder da.“
Er stieg aus. In dem Moment kreischte Tim: „Gelogen!“
Verwirrt steckte Erik den Kopf ins Wageninnere. „Was ist gelogen?“
Tim zeigte nach vorn. „Da ist schon die Sechs.“
Erik seufzte. „Okay. Dann halt die Sieben.“
„Und?“, wollte Tim wissen, als Erik tatsächlich innerhalb einer Minute zurück war. „Darf ich hierbleiben?“
Erik schüttelte den Kopf. „Die Monika ist krank.“ Er trommelte auf dem Lenkrad herum und dachte nach. Eriks Eltern, die liebend gern auf ihren Enkel aufpassen würden, waren noch zwei Tage am Achensee. Er hatte wirklich Pech.
Zunächst müsste er John Bescheid geben, dass er sich verspätete. Erik holte abermals das iPhone aus der Tasche.
„Mir ist langweilig.“ Tim rutschte unruhig auf seinem Kindersitz herum. „Ich will was spielen.“
„Könntest du mal kurz ruhig sein?“, fragte Erik genervt und suchte Johns Nummer.
Im Rückspiegel sah Erik, wie Tim die Lippen zusammenkniff und abermals die Arme vor der Brust verschränkte. Schien momentan seine Lieblingspose zu sein.
„Heute scheint die Sonne“, wiederholte Tim seine Worte von heute Morgen. „Da passt schlechte Laune überhaupt nicht.“
Erik seufzte. Das war heute nicht sein Tag. Bisher jedenfalls nicht. „Okay, eins zu null für dich. Ich muss telefonieren. Wir sind vorhin an einem Spielplatz vorbeigefahren. Du kannst schaukeln und ich in Ruhe telefonieren.“
Tim nickte mit einem zufriedenen Grinsen. Erik fuhr dieselbe Strecke zurück.
„Da!“, schrie Tim. „Da ist der Spielplatz.“
Es dauerte eine Weile, bis sie einen Parkplatz gefunden hatten.
Kaum hatte er den Wagen verlassen, sauste Tim davon. Erik hatte Mühe, hinterherzukommen. Aber Anzug und Halbschuhe waren für einen Spurt denkbar ungeeignet.
Tim lief zur Rutsche und Erik widmete sich seinem iPhone. Er suchte die Nummer von John. Da sein Geschäftspartner den Anruf nicht entgegennahm, sprach Erik ihm auf die Sprachbox.
„Ich bin`s Erik“, sagte er. „Kann sein, dass ich mich etwas verspäte. Tims Tagesmutter – egal. Ich versuch` später noch mal.“
Erik nutzte die Notizfunktion des Handys und tippte einiges hinein.
Er sah sich nach Tim um. Der saß neben einem anderen Kind im Sand. Beide hatten eine Schaufel in der Hand und gruben ein Loch. Wenigstens einer, der glücklich über die Planänderung war.
Erik scrollte seine Kontaktliste am Handy durch, auf der Suche nach jemanden, der ihm mit Tim helfen konnte.
Die meisten Leute hatten einen Nine-to-five-Job. Anita fiel ihm ein. Die hatte bestimmt Zeit. Auch bei ihr hatte er heute kein Glück. Das roch fast nach Verschwörung. „Shit happens“, murmelte er und versuchte abermals, John zu erreichen.
„Hi, Erik“, meldete der sich diesmal prompt.
Erik schilderte ihm in knappen Worten seine Misere und dass er noch etwas Zeit benötigte, um einen geeigneten Platz für Tim zu finden. Gott sei Dank zeigte sich John verständnisvoll und versprach, sich um die amerikanischen Gäste erst einmal allein zu kümmern.
Erik grinste. „Du kannst ja ins Hofbräuhaus, zum Weißwurstfrühstück.“ Es war als Scherz gedacht, aber John schien begeistert.
Das verschaffte Erik zumindest etwas Luft, um einen Babysitter zu finden. Die Auftraggeber waren zwar Amerikaner, aber das Projekt sollte in München gebaut werden oder besser am Stadtrand. Es würde ein Wohn-Geschäftshaus werden, daneben ein Hotelkomplex. Naturnah, nur mit einheimischen Baumaterialien, Solardach, Wiederverwendung von Regenwasser. Ein Traum für jeden Architekten.
Mit den Plänen hatte Erik bereits begonnen.
Die meisten ihrer Projekte waren weiter weg, manche noch nicht einmal in Deutschland. Um die kümmerte sich in der Regel John.
Darum war dieser Auftrag für Erik so wichtig. Er rieb mit Daumen und Zeigefinger über die Nasenwurzel. Als er es bemerkte, steckte er die Hand in die Hosentasche. Er wusste, dass er zu wenig Zeit für Tim hatte. Entweder hatte er ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen oder John gegenüber, weil der permanent auf Achse war.
Kapitel 3
Sophie beschloss, zu Fuß zur U-Bahn zu laufen. Man konnte den Bus nehmen, doch das schöne Wetter lockte sie nach draußen. Die Aussicht, sich in einen überfüllten Bus quetschen zu müssen, Seite an Seite mit schwitzenden, oft unangenehm riechenden oder ständig niesenden und hustenden Fahrgästen, fand sie weniger prickelnd.
Langsam spazierten sie in Richtung U-Bahn-Station, als Emily auf der anderen Straßenseite einen Spielplatz entdeckte.
„Ich will schaukeln“, erklärte sie bestimmt. Sie fügte ein zuckersüßes „Bitte, Tante Sophie!“ hinzu und blinkerte tatsächlich mit den Wimpern. Sophie konnte sich das Lachen nicht verbeißen. Sie überquerten die Straße und betraten durch ein kleines Türchen den Spielplatz. Im Gebüsch raschelte es und Sophie drehte sich um.
„Emily!“, rief sie das Mädchen zurück, das bereits im Sandkasten stand. „Komm mal schnell!“
Neugierig näherte sich die Kleine. Sophie deutete auf den Boden und drückte einige Äste auseinander.
„Ein Igel“, flüsterte Emily und starrte das stachelige Tier entzückt an. „Darf ich den auf den Arm nehmen oder wenigstens streicheln?“
„Besser nicht. Igel haben oft viele Flöhe und die können auch auf Menschen hüpfen.“ Dessen war sie sich nicht hundertprozentig sicher, aber es wirkte. Unwillkürlich schüttelte sich das Mädchen, kratzte sich an den Armen und stürmte auf die Schaukel zu.
Auch Sophie juckte es plötzlich. Was man sich nicht alles einbilden konnte. Sie sah sich um.
Ein schöner Spielplatz. Obwohl sie schon einige Zeit hier wohnte, war er ihr bisher nie aufgefallen. Wenn sie joggen ging, lief sie allerdings in die andere Richtung, weil man dort nach wenigen Minuten den Wald erreichte.
Zur Straße hin trennte ein hoher Zaun die spielenden Kinder von den fahrenden Autos, während rechts und links dichtes Gebüsch und einige Bäume die Wohnhäuser abschirmten. An die vierte Seite grenzte eine große Wiese mit vereinzeltem Baumbestand. Sophie staunte. Inmitten der Großstadt eine Oase für Kinder. Okay, nahm man es genau, so wohnte sie in einem Außenbezirk von München und keineswegs mitten in der City. Münchner Spielplätze – wäre auch eine Idee für einen Zeitungsartikel.
„Sophie“, riss Emilys Stimme sie aus ihren Gedanken, „schubst du mich an?“
„Klar!“
Sie kam dieser Aufforderung nach und betrachtete dabei die anderen Erwachsenen. Nur wenige Kinder spielten hier um diese Uhrzeit. Einige junge Mütter standen in der Nähe ihrer Kinder, unterhielten sich, hatten jedoch ein wachsames Auge auf den Nachwuchs. Der einzige Mann kehrte ihr den Rücken zu. Während er mit der einen Hand sein iPhone ans Ohr hielt, fuchtelte er mit der anderen gestikulierend herum. Welches der Kinder wohl zu ihm gehörte?
„Höher!“, rief Emily und Sophie erfüllte ihr diesen Wunsch, immer darauf bedacht, die Schaukel nicht zu fest anzuschubsen. Sie wollte schließlich keinen Unfall riskieren. Ihre Gedanken wanderten zur bevorstehenden Redaktionssitzung. Hoffentlich gefielen einige ihrer Vorschläge. Sie wollte endlich ihren Namen regelmäßig in „La Vera Vita“ lesen, und zwar nicht nur einmal im Monat unter der Kolumne oder als Rezensentin von Büchern . Das war sie nicht nur sich selbst schuldig, sondern vor allem ihrem Vater. Er glaubte fest daran, dass sie die geborene Journalistin war.
„Fang mich auf“, rief eine andere Kinderstimme von irgendwoher.
Da Emily ziemlich hochschaukelte, konzentrierte sich Sophie ausschließlich auf ihr Patenkind.
Lautes Geschrei veranlasste sie, sich umzudrehen. Am Boden lag ein kleiner Junge im Sand und weinte herzzerreißend. Sophie schätzte ihn in Emilys Alter. Sie hielt Emilys Schaukel an und lief zu dem Unglücksraben. Anscheinend war er vom Klettergerüst gefallen.
„Hast du dir wehgetan?“, erkundigte sie sich besorgt. Der Junge warf sich heulend in ihre Arme und verteilte dabei eine Mischung aus Tränen, Rotz und Sand auf ihrer Jacke.
„Was haben Sie mit meinem Jungen gemacht?“, herrschte sie in diesem Augenblick eine barsche Stimme an. Sophie blickte hoch und schaute in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte. Allerdings blitzten die sie gerade ziemlich wütend an.
„Aber ich“, versuchte Sophie die Situation zu erklären, doch der Junge fiel ihr ins Wort: „Die Frau sollte mich auffangen. Hat sie aber nicht.“ Er schluchzte und dicke Tränen liefen ihm über die Backen.
„Wie können Sie ein kleines Kind einfach fallen lassen?“, fuhr der Vater sie an.
Sophie platzte der Kragen.
„Jetzt hören Sie mir mal gut zu“, fauchte sie und erhob sich, um wenigstens ansatzweise mit dem Unbekannten auf Augenhöhe zu sein. So fühlten sich Kinder dauernd, wenn sie zu den Erwachsenen hochsehen mussten. „Sie sind mir vorhin schon aufgefallen. Sie haben die ganze Zeit telefoniert, ohne sich eine Sekunde um ihr Kind zu kümmern. Sehen Sie, Sie tun es ja noch immer!“ Erbost deutete sie auf sein iPhone, dann riss sie es ihm aus der Hand. „Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie zu dem Anrufer, „ein Notfall! Er ruft nachher zurück.“ Sie drückte das Gespräch weg.
„Sind Sie wahnsinnig?“, schrie der Mann. „Sie können nicht einfach …“ Angesichts so viel Frechheit fehlten ihm anscheinend die Worte, aber Sophie hatte ihre Strafpredigt noch nicht beendet.
„Sie sehen doch, dass ich kann“, gab sie ungerührt zurück. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor, aber sie wusste nicht woher. Wahrscheinlich nur Einbildung. „Wenn Sie das nächste Mal mit ihrem Sohn auf einen Spielplatz gehen, sollten Sie sich ihrem Kind widmen und nicht ihrem Handy. Schalten Sie es ab. Man muss nicht immer erreichbar sein. Hätten Sie ihn wenigstens beobachtet, wäre Ihnen wahrscheinlich aufgefallen, was er vorhat. Und jetzt stecken Sie das blöde Teil weg und trösten Ihren Jungen endlich.“ Sie schob das noch immer heulende Kind zu seinem Vater, der es in die Arme schloss, ängstlich darauf bedacht, sein iPhone nicht zu beschmutzen.
Stirnrunzelnd sah ihm Sophie zu, dann nahm sie ihm sein elektronisches Spielzeug aus der Hand und steckte es in seine Sakkotasche. Er zog fragend die Augenbraue hoch.
„Jetzt haben Sie beide Hände frei“, erklärte Sophie lapidar, bevor er etwas sagen konnte.
„Das Gespräch war sehr wichtig“, machte er einen erneuten Ansatz. „Sehr, sehr wichtig. Man könnte sagen, es geht um Leben oder Tod.“
Das hatte sie heute Morgen schon einmal gehört.
„Betonung auf ‚war’!“, konterte sie frech und musste grinsen. „Männer sind nicht multitasking. Also widmen Sie sich jetzt ihrem Sohn und später wieder Ihren wichtigen Geschäftsgesprächen.“ Die Art und Weise, in der sie das sagte, ließ keinen Zweifel aufkommen, wie sie das meinte. Sophie konnte ihm ansehen, dass er sich maßlos ärgerte, und es freute sie. Sie rief nach Emily, die den verbalen Schlagabtausch der Erwachsenen langweilig gefunden und die Zeit zum Rutschen genutzt hatte. „Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag.“ Sophie beugte sich zu dem Jungen. „Wenn du das nächste Mal jemanden rufst, der dich auffangen soll, fragst du vorher nach dem Namen. Dann weiß die Person, dass du sie meinst. Einverstanden?“ Der Kleine nickte eifrig und versuchte, sich den Dreck aus dem Gesicht zu wischen. „Ich bin Sophie“, fügte sie noch lächelnd hinzu und wandte sich zum Gehen.
„Moment mal!“, rief der Mann. „Sie hätten nicht zufällig Zeit, auf Tim aufzupassen?“
„Sie würden einer völlig Fremden Ihr Kind anvertrauen?“, fragte Sophie fassungslos.
„Na ja, ganz fremd sind Sie nicht mehr“, verteidigte er sich. „Immerhin weiß ich, dass Sie Sophie heißen.“
„Na und? Der Name könnte ja falsch sein.“
„Aber“, mischte sich Emily ein, „du heißt doch Sophie, Tante Sophie.“
„Na, also!“
„Ich könnte zum Beispiel mit Ihrem Sohn verschwinden.“
„Würden Sie?“ Erstaunt blickten seine blauen Augen Sophie an.
„Nein, natürlich nicht“, gab sie zu. „Aber ich meine doch nur. Sie kennen mich gar nicht und ich Sie im Übrigen auch nicht.“
Er streckte ihr die Hand hin. „Wenn es weiter nichts ist. Erik Hartmann.“
Zögern ergriff sie die ihr angebotene Hand. „Sophie! Sophie Sternbacher.“
Sein Händedruck war fest- und sandig. „Verzeihung“, murmelte er, als Sophie sich den Sand wegwischte. Er holte tief Luft. „Ich stecke wirklich in der Klemme. Normalerweise ist Tim im Kindergarten oder bei einer Tagesmutter. Kindergarten ist zu und die Tagesmutter krank. Irgendein Magen-Darm-Virus.“
„Dann kennt sie bestimmt Isabel“, brummte Sophie.
„Wie bitte?“ Verwirrt sah er sie an.
„Unwichtig“, nuschelte Sophie.
„Jedenfalls habe ich einen Termin. Ein wichtiges Meeting. Ich kann Tim aber nicht mitnehmen. Ich bezahle Sie natürlich. Ich kann Sie auch nach Hause fahren. Mein Auto steht ganz in der Nähe.“
„Woher weiß ich, dass Sie mich und Emily nicht entführen wollen?“
„Herrgott noch mal“, fuhr er sie an. „Kein normaler Mensch würde Sie entführen wollen.“
„Emily“, sagte sie so ruhig, es ihr im Moment möglich war, auch wenn sie wesentlich lieber eine dieser Schaufeln genommen, und dem Kerl drübergezogen hätte, „möchtest du Tim vielleicht den Igel zeigen?“
Das Mädchen nickte begeistert und der Junge strahlte über sein verschmiertes Gesicht.
„Aber nicht …“
„… anfassen.“ Emily grinste verschmitzt. „Weiß ich doch. Wegen den Flöhen.“
Sophie wartete, bis die Kinder außer Hörweite waren. Ihre Arme verschränkte sie vor der Brust. Am liebsten hätte sie sie wie Emily in die Hüften gestemmt, aber was bei einer Fünfjährigen putzig aussah, wirkte bei einer Erwachsenen lächerlich.
„Wenn Sie mich so unerträglich finden“, sagte sie empört, „muss ich mich doch schon sehr wundern, dass Sie mir Tim anvertrauen würden.“
„Glauben Sie mir“, entgegnete er genervt, „wenn ich irgendeine Alternative hätte, bräuchte ich Sie nicht um Hilfe bitten und würde auf Ihre Dienste gerne verzichten.“
„Erstens kann ich mich nicht daran erinnern, dass Sie ‚bitte’ gesagt hätten und zweitens haben Sie etwas Entscheidendes vergessen?“
„Und das wäre?“ Irritiert blickte er sie an.
Nicht zu fassen. Begriffsstutzig auch noch. Sie rollte mit den Augen. „Sie haben vergessen, Tim zu fragen, ob er überhaupt bei mir und Emily bleiben möchte.“ An seiner verdutzten Miene konnte sie ablesen, dass er darüber bisher noch gar nicht daran nachgedacht hatte. „Wir sind Fremde für ihn. Vielleicht will er den Tag mit seinem Vater verbringen?“ Was für den Kleinen sicherlich stinklangweilig wäre. Wahrscheinlich setzte er seinen Sohn vor den Fernseher, damit er in Ruhe telefonieren konnte. „Wo wohnt eigentlich die Tagesmutter?“, wechselte sie das Thema.
„Hier in der Nähe“, sagte er. „Zwei Straßen weiter. Aber ich sagte doch bereits, dass die Frau Reis …“
„Monika Reis?“
Er runzelte die Stirn. „Ja, warum?“
„Die wohnt im Nachbarhaus. Ich seh‘ sie manchmal, wenn sie mit ihren Tageskindern spazieren oder einkaufen geht. Außerdem …“ Sie überlegte und jetzt fiel es ihr wieder ein. Als sie nach den Faschingsferien Monika den Schlüssel zurückgebracht hatte, war sie mit einem Mann zusammengestoßen, der seinen Sohn abgeholt hatte. Das war er gewesen. „Eine nette Frau“, stellte Sophie fest.
„Sonst wäre sie kaum Tagesmutter.“
Ihre Antwort ging im Gelächter der Kinder unter, die angerannt kamen. Der Igel hatte sich anscheinend im Unterholz verkrochen oder war weitergezogen.
Sophie scrollte ihre Kontakte durch. Nachdem sie bereits zweimal Monikas Blumen versorgt und die Post rausgeholt hatte, als die Familie im Urlaub gewesen war, hatte sie die Telefonnummer gespeichert. Sie rief an und erkundigte sich nach Erik Hartmann.
„Total netter Mann“, erklärte Monika, „immer im Stress, nicht immer ganz pünktlich, aber ein liebevoller Vater.“ Im Hintergrund hörte sie ein Rauschen, wie … Sophie überlegte. Eine Toilettenspülung? Schnell beendete sie das Gespräch.
„Und?“, fragte Erik. „Machen Sie’s?“
Sophie schnaubte und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit dem Jungen zu sein. „Möchtest du mit mir und Emily in den Tierpark?“
Tims verdrecktes Gesicht strahlte und er nickte eifrig. „Darf ich?“, fragte er seinen Vater.
„Sie würden mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn Tim mit Ihnen gehen dürfte.“
Sophie erhob sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und brachte ihr Gesicht nahe an seines. „Aber nicht, um Ihnen einen Gefallen zu tun“, raunte sie.
„Botschaft angekommen!“ Er nickte grinsend. Sie musste sich eingestehen, dass er ausgesprochen nett aussah, wenn er lächelte.
„Zwei Bedingungen“, erklärte sie bestimmt.
„Nämlich?“, erkundigte sich Erik vorsichtig.
„Erstens zeigen Sie mir Ihren Ausweis und zweitens müssen Sie Tim spätestens um halb fünf wieder abholen.“
„Das Meeting ist bis 13 Uhr angesetzt, danach noch Mittagessen im Bayerischen Hof.“
Angeber. Musste ja ein lohnendes Geschäft sein, wenn man in einem Münchner Grandhotel mit seinen Gourmetrestaurants essen gehen konnte. Aber sie verzog keine Miene, während er seinen Ausweis aus dem Geldbeutel zog, sowie eine Visitenkarte. Sophie nahm den Ausweis entgegen und fotografierte ihn mit ihrem Handy.
„Telefonnummer?“
„War aber keine Bedingung.“
„Gehört zur Adresse. Ist auch nur für den Notfall.“
„Gut, dann geben Sie mir Ihre auch. Nur für den Notfall“, fügte er hinzu und seine Mundwinkel zuckten. „Steht übrigens auch auf der Visitenkarte. Die können Sie behalten.“ Er tippte ihre Nummer in sein iPhone. Anschließend wandte er sich Tim zu. „Ich muss jetzt in die Arbeit und du darfst mit Sophie und Emily in den Tierpark.“
Er zog erneut seinen Geldbeutel hervor und holte einen Schein heraus. Sophie betrachtete ihn stirnrunzelnd.
„Für den Eintritt“, erklärte er hastig, als er ihre düstere Miene sah. „Ich habe keine Ahnung, was das kostet.“
„Scheint mir auch so. Sie waren noch nie mit ihrem Sohn dort, sonst wüssten Sie, dass Kinder unter sechs frei sind.“
„Na, dann geben Sie es halt für etwas anderes aus“, versuchte er es erneut.
„Stecken Sie Ihr Geld ein“, zischte Sophie böse. „Sonst überlege ich es mir doch noch.“
„Aber-“
Mit eisigem Blick brachte sie ihn zum Schweigen.
„Und wenn ich alle danach zum Eisessen einlade?“, startete er einen letzten Versuch.
„Oh ja!“, riefen Emily und Tim unisono und begannen, um die Erwachsenen herumzutanzen.
So viel kindliche Freude war ansteckend und lächelnd stimmte Sophie zu.
„Wann und wo?“
Sophie überschlug schnell, wann sie spätestens hier sein musste, damit sie rechtzeitig zur Sitzung käme. „Halb vier? Passt das? Vorne an der U-Bahn? Ganz in der Nähe gibt es eine nette Eisdiele mit unverschämt großen Kugeln.“ Sie zwinkerte den beiden Kindern verschwörerisch zu.
„Einverstanden! Na dann“, er reichte ihr die Hand, „wünsche ich viel Spaß im Zoo.“
„Danke! Kommt ihr?“ Sie hängte sich ihre Tasche um, nahm die Kinder an die Hand und ging hinter ihm zur Straße.
Bevor er in seinen BMW stieg, drehte er sich noch einmal um. „Bis um halb vier. Ich bin pünktlich. Garantiert!“
Hoffentlich. Vielleicht hätte sie besser drei Uhr gesagt? Oder sich gar nicht darauf eingelassen. Wäre eine gute Gelegenheit gewesen, das Nein-Sagen zu üben.
„Ich verlasse mich auf Sie.“ Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich hab‘ später noch einen Termin.“
Die Chefredakteurin konnte Unpünktlichkeit nicht leiden und vergab Aufträge nach Sympathie, nicht nach Können. Jedenfalls war das Sophies Eindruck. Und sie wusste, dass sie auf der Beliebtheitsskala ziemlich weit unten stand. Aber vielleicht ließ sich die Chefredakteurin von der einen oder anderen Idee überzeugen, die Sophie sich überlegt hatte.
Der Ausflug in den Tierpark kam Sophie gerade recht, er lenkte von zu viel Grübelei ab. Und zwei Kinder ließen garantiert wenig Zeit zum Nachdenken. Ändern konnte sie ohnehin nichts. „Abwarten und Tee trinken“, sagte ihre Mutter in dem Fall immer. Blöder Spruch.
Die Kinder winkten Erik nach und zu dritt spazierten sie in Richtung U-Bahn-Haltestelle.
Kapitel 4
Die Fahrt mit der U-Bahn dauerte nicht lange und in Thalkirchen stiegen sie aus. Da keine Ferienzeit war, hatte der Tierpark nur eine Kasse geöffnet.
Sophie stellte sich in die Reihe der wartenden Besucher. Sie betrachtete die Leute, ohne Emily und Tim aus den Augen zu verlieren. Eine Weile kletterten die Kinder auf den Steinbockskulpturen in der Nähe des Eingangs herum. Sophie beobachtete gerne ihre Umgebung, dachte sich Geschichten zu den Menschen aus. Hauptsächlich standen Familien mit kleineren Kindern an. Großeltern mit ihren Enkeln. Einige Pärchen und eine japanische Reisegruppe, deren Mitglieder schon vor dem Eingang zahllose Fotos machten. Spaziergänger und Radfahrer, die von der Isar hochkamen und sich mit den Tierparkbesuchern mischten. Hin und wieder unter lautem beidseitigem Geschimpfe. Immer wieder wanderte Sophies Blick zu Emily und Tim. Sie konnte sich sehr gut an den Tag von Emilys Geburt erinnern. Jasmin hatte ihr den wenige Stunden alten Säugling mit den Worten „Darf ich bekanntmachen? Sophie, das ist Emily. Emily, deine Patentante“ in den Arm gelegt. Vor Rührung waren Sophie die Tränen gekommen. Die Aussicht, Patentante zu werden, hatte sie total überrumpelt, aber selbstverständlich hatte sie angenommen. Sie konnte gar nicht anders. So ein süßes Baby. Diese winzigen Finger, alles war klein und wirkte so zerbrechlich. Sophie grinste. Nicht alles. Die Stimme war von Anfang an ausgesprochen kräftig gewesen.
„Sophie, schau mal!“, krähte ihr Patenkind, wie um das zu bestätigen, quer über alle Leute hinweg. „Die sieht ja lustig aus.“
Sophie drehte den Kopf und sah in die angedeutete Richtung. Sie wusste sofort, welche Person Emilys Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Eine Zigeunerin. Sophie überlegte. Der Ausdruck war heutzutage politisch inkorrekt. Aber sie erinnerte sich an einen Artikel, in dem der Verfasser sich selbst Zigeuner nannte, während er die Begriffe „Sinti“ oder „Roma“ ablehnte.
Zu einem langen, bunten, mit glitzernden Steinchen bestickten, Rock trug die Frau eine weiße Bluse im Carmenstil und ein schwarz glänzendes Schultertuch. Ihre Ohren zierten lange, goldene Gehänge und um den Hals trug sie eine goldene Kette mit einem auffälligen roten Stein. Ihre Blicke trafen sich und die Frau kam zielstrebig auf Sophie zu.
„Ich lese dir aus Hand“, sagte sie mit einem markanten Akzent. Vor allem das ‚r’ betonte sie, sodass es wie mehrere hintereinander klang. „Du hast starke Aura.“
„Nein, danke.“ Sophie lächelte die Frau freundlich an. „Ich glaube nicht an so etwas.“
„Musst du nicht! Seinem Schicksal kann niemand entrinnen“, prophezeite die Zigeunerin und mit rauchiger Stimme, die Sophie eine Gänsehaut verursachte. „Dein Schicksal ist verbunden mit der sieben.“
Bevor Sophie nachfragen konnte, was das zu bedeuten hatte, drehte die Zigeunerin sich um und verschwand in der Menschenmenge. Nur ihren Schmuck hörte Sophie klimpern. Oder bildete sie sich das ein?