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Von leiser Hoffnung, Angst und Schmerz- Pränataldiagnostik auf das Ullrich Turner Syndrom

Von leiser Hoffnung, Angst und Schmerz- Pränataldiagnostik auf das Ullrich Turner Syndrom · Sachbücher

Eine in 400 Schwangerschaften. So viele erhalten für ihr Kind die Diagnose "Turner Syndrom". Und stehen damit oft, zu oft, alleine da.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Es geht vordergründig darum, Schwangere in einer unmöglichen Situation aufzufangen, und ihnen die Informationen zu geben, die so oft fehlen. Dem Drängen auf Abtreibungen etwas entgegenzusetzen, und aus Sicht einer Betroffenen und Medizinstudentin, realistisch, und hoffentlich hilfreich, aufzuklären. Dafür werde ich andere Betroffene, Mütter und Ärzte mit ins Boot holen. Jedoch geht es, in zweiter Linie, auch um Themen, die unsere Gesellschaft generell angehen. Um die, in Schwangerschaften, vermutlich zweithäufigste Diagnose aus der Humangenetik, die leider noch immer allzu unbekannt ist. Aber auch darum, in einer Welt der sich ständig weiterentwickelnden Gentechnik, darüber zu philosophieren, was "genetische Gesundheit" eigentlich bedeutet. Wie weit wollen wir gehen? Wie können wir in der Medizin Menschen sehen, statt Diagnosen?

Über den/die Autor:in

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Ich bin 18 Jahre alt, Medizinstudentin im 2. Semester. Leseratte, mittelmäßige Gitarrenspielerin. Mit einer Schwäche für Logik, Philosophie und Schwarzwälder- Kirschtorte.

Lesepr1.1.Das Ullrich Turner Syndrom- eine Kurzbeschreibung

 

Viele Texte beginnen damit, zu beschreiben, was die Diagnose UTS denn bedeute. Dieser beginnt mit dem genauen Gegenteil. Was also bedeutet das Ullrich Turner Syndrom (UTS) nicht?

Das UTS ist nichts, woran die Eltern eines Kindes irgendeine Schuld tragen, keine „Erbkrankheit“ im klassischen Sinne, mit wenigen Ausnahmen liegt also auch keine familiäre Häufung vor. Das UTS ist nicht mit einem höheren Alter der Mutter bei der Geburt assoziiert.

Die Diagnose UTS steht uns Betroffenen nicht auf die Stirn geschrieben, körperliche Stigmata sind in den meisten Fällen gerade für medizinische Laien wenig auffällig.

Das UTS ist für die Mehrheit von uns keine Sache, die unseren Alltag massiv prägt. Es ist kein Stempel, den man uns aufdrücken kann oder sollte. Denn zunächst einmal sind wir Menschen und Persönlichkeiten, nicht Patienten. Und das UTS muss nicht das große Thema sein, um das unser Leben sich dreht.

Das UTS ist keine Rechtfertigung für ungefragtes Zur- Schau- Gestellt werden vor Ärzten und Medizinstudenten, für fehlende Aufklärung über bestimmte medizinische Sachverhalte. Genauso wenig für herabwürdigendes Auftreten gegenüber Betroffenen in jeglichem anderen Kontext. Und es nimmt uns, selbstverständlich, nicht das Recht, unsere privaten medizinischen Informationen zu teilen wann und mit wem wir es für richtig befinden.

Die Diagnose UTS ist kein medizinischer Notfall. Um sich einzulesen, soweit nötig, Entscheidungen zu treffen, und Akzeptanz zu erreichen, hat man alle Zeit der Welt.

Als vom UTS Betroffene braucht man selten eine „Sonderbehandlung“ oder herabgesetzte Erwartungen irgendeiner Art.

Des Weiteren ist das UTS in der Realität nicht annährend so schlimm, wie man das nach dem Überfliegen einiger Auflistungen möglicher Komplikationen und Symptome denkt. Glücklicherweise gehört es zu den Diagnosen, die mit der Zeit einiges von ihrem ursprünglichen Schrecken verlieren.

Das UTS ist keine Diagnose, bei der sich gut vorhersagen lassen würde, in welchem Maße eine bestimmte Person von welchen Problematiken betroffen sein könnte. Und während es nicht immer einfach ist, mit dieser Unsicherheit umzugehen, lässt das UTS doch gerade deshalb alle Möglichkeiten offen. Es gibt nicht eine Sache, die man aufgrund des UTS schon von vorneherein nicht erreichen könnte. Und Grenzen sind dazu da, sie auszutesten und zu verschieben.

In praktisch allen Fällen bedingt das UTS keine unterdurchschnittliche Intelligenz.

Für sich genommen ist das UTS auch keine Behinderung, obwohl es durchaus bestimmte Einschränkungen in verschiedenen Bereichen zur Folge haben kann.

Mit dem UTS ist man nicht alleine. Egal, in welcher Lebenssituation man sich gerade befindet- es gibt immer andere Menschen, die vor denselben Herausforderungen stehen.

Vor allem jedoch macht unsere Diagnose unser Leben nicht weniger lebenswert, nicht bemitleidenswert.


 

 

1.1 Das Wichtigste in Kürze

 

-Ursache

Im Biologieunterricht lernt man irgendwann, dass die meisten Menschen 46 Chromosomen, angeordnet in 23 zusammengehörigen, homologen, Paaren, besitzen, auf denen ihre Erbanlagen liegen. 44 der Chromosomen sind Autosomen oder Körperchromosomen, das 23. Paar besteht aus zwei Gonosomen, Geschlechtschromosomen. XX bei einer Frau, XY bei einem Mann. Als Karyotyp (also Chromosomensatz) schreibt man dann 46XX beziehungsweise 46XY. Es gibt jedoch Ausnahmen, die nicht in eine dieser Gruppen passen.

Wir mit dem UTS sind eine solche Ausnahme. Wir haben eine Genommutation, eine Abweichung im Chromosomensatz, die circa eines von 2500 lebend geborenen Mädchen betrifft (jedoch eine von 400 Schwangerschaften). Eines der Geschlechtschromosomen ist dabei strukturell verändert, beziehungsweise fehlt ganz oder teilweise. Das verbleibende Gonosom ist ein strukturell unauffälliges X- Chromosom. Dieses ist nötig, damit die betroffene Person überlebt (denn auf einem X- Chromosom liegen deutlich mehr Gene, als auf einem Y- Chromosom). Eine Vielzahl von möglichen Karyotypen führen zum UTS, entscheidend ist das Fehlen bestimmter Gene, die auf dem kurzen Arm von X- Chromosomen, aber genauso auch auf Y- Chromosomen liegen. Der häufigste Karyotyp ist dabei (zumindest bei denjenigen, die diagnostiziert werden) 45X0, die vollständige Monosomie X. Betroffene sind fast ausnahmslos Mädchen.[1]

 

-Symptome

Das UTS kann verschiedenste Auswirkungen haben- die häufigsten sind eine relativ geringe Körpergröße (durchschnittlich 1,46 m ohne Behandlung mit Wachstumshormon, mit Spritzen im Mittel 5 bis 10 cm mehr, wobei das Somatropin sehr unterschiedlich gut anschlägt). Dazu kommen gerade im Kindesalter häufige Mittelohrentzündungen, und in den meisten Fällen Unfruchtbarkeit/ Fehlen funktionstüchtiger Eierstöcke. Wenn die Eierstockfunktion fehlt, werden die wichtigsten normalerweise von den Ovarien produzierten Hormone (Östrogene und Gestagene) von der Pubertät an beginnend, bis zum Zeitpunkt der Wechseljahre, oft durch Tabletten, ersetzt, im Rahmen einer HRT (Hormone Replacement Therapy). Einer der typischeren Gründe für eine Diagnose des UTS wären übrigens auch Lymphödeme bei Neugeborenen, also schmerzlose Schwellungen an Hand- und Fußrücken. Diese treten auf, da das Lymphsystem seine Arbeit erst verspätet aufnimmt (weshalb ja auch Flüssigkeitsansammlungen im Nacken, in Form einer vergrößerten Nackentransparenz/ Nackenfalte, auffallen können). Meistens bilden sich die Lymphödeme zügig von selbst zurück, später im Leben können sie unter Umständen wieder auftreten.

Seltener sind zum Teil nicht schwerwiegende, zum Teil ernsthafte angeborene Herzfehler (nach Häufigkeit geordnet, gibt es dabei zunächst die bikuspide Aortenklappe (in ca. 25% der Fälle). Die Aortenklappe hat also zwei statt normalerweise drei Taschen. Dieser angeborene Herzfehler kommt auch in der Allgemeinbevölkerung relativ häufig vor, und birgt gewisse Risiken, verursacht allerdings oft auch in keiner Weise Probleme. In manchen Fällen schwerwiegender ist die Aortenisthmusstenose (die in etwa 10% der Fälle vorliegt), also eine Verengung der Hauptschlagader, welche oft operativ behandelt werden muss. Und eines der extrem seltenen Probleme, auch für jemanden mit dem UTS, wäre das Hypoplastisches Linksherzsyndrom, welches gerade im Zusammenhang mit dem UTS mit einer ungünstigen Prognose einhergeht, und in allen Fällen spätestens direkt nach der Geburt auffällt.

Ebenso hat jemand mit dem UTS ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen (gerade die Hashimoto- Thyreoiditis, eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, die langfristig zur Schilddrüsenunterfunktion führt, aber auch Arthritis und chronisch entzündliche Darmerkrankungen, also Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa), Fehlbildungen der Nieren und Harnwege (z.B. eine Hufeisenniere, wobei beide Nieren zu einer zusammengewachsen sind, im Allgemeinen jedoch auch so gut funktionieren), Osteoporose, Skoliose sowie Übergewicht mit allen damit zusammenhängenden Komorbiditäten, die aber auch unabhängig vom Gewicht bei UTS etwas häufiger sind (Typ 2 Diabetes, Fettleber, Herzinfarkt, Schlaganfall). Auch Schwerhörigkeit (unter anderem, aber nicht nur als Folge der Mittelohrentzündungen), Schielen und Weitsichtigkeit[2], sowie eine Aortendissektion, also ein lebensgefährlicher Riss in der Gefäßwand der Aorta (2% Lebenszeitrisiko) sind bei uns mit UTS häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.

Das alles ist natürlich zunächst einmal beängstigend. Ich würde auch niemals auf die Idee kommen, jemandem, der zum ersten Mal vom UTS hört, alle diese Informationen in einer solchen kühlen Auflistung zu präsentieren. Die meisten der oben angeführten Probleme sind entweder auch in der Allgemeinbevölkerung häufig, oder auch in der UTS Bevölkerung selten. Viele stellen im Alltag kaum eine Beeinträchtigung dar. Außerdem hat niemand mit dem UTS je mehr als eine Handvoll dieser Probleme auf einmal, und fast ausnahmslos sind die gesundheitlichen Komplikationen, falls sie denn auftreten, gut behandelbar. Oft genug muss man nicht abwarten und Einschränkungen akzeptieren, sondern kann die eigene Gesundheit wie jeder andere Mensch auch durch sinnvolle Vorsorgeuntersuchungen und einen aktiven Lebensstil positiv beeinflussen. Immer deutlich von diesen handfesten gesundheitlichen Risiken zu trennen, sind körperliche Stigmata, also äußerliche Merkmale, die für ein geschultes Auge auf das UTS hindeuten können, jedoch eben häufig nicht zu körperlichen Beschwerden führen.

 Körperliche Stigmata des UTS sind oft für die Durchschnittsperson wenig auffällig, vielleicht mit Ausnahme des Flügelfells (Pterygium colli) und hängender Augenlider (Ptosis), die nur in einer Minderheit (ca. 10%) der Fälle vorliegen, beinhalten aber weiterhin u.a. viele Leberflecken (Naevi), einen kurzen, breiten Hals, einen Schildthorax, also einen flachen und breiten Brustkorb, die Madelung- Deformität, oder den Cubitus Valgus. Die Madelung- Deformität ist eine Fehlbildung des Handgelenks, bei der sich eine Wachstumsfuge zu früh schließt. Sie wird operativ behoben. Der Cubitus Valgus beschreibt ein (in den meisten Fällen) eher kosmetisches Problem, nämlich, dass sich die Arme, wenn man sie gerade an seiner Seite zu halten versucht, am Ellenbogen nach außen abspreizen, in einem Winkel von mehr als zehn Grad. Andere äußerlich sichtbare Zeichen können zum Beispiel sein, dass, wenn man eine Faust macht, der vierte Fingerknöchel (der des Ringfingers) nicht auf einer Linie mit den anderen liegt, sondern darunter. Dies zeigt einen kurzen vierten Ossis Metacarpale, bzw. Mittelhandknochen an, den allerdings auch viele Menschen ohne UTS haben (im Röntgenbild spricht man von einem „positiven Metakarpal- Zeichen“). Der Haaransatz im Nacken ist bei uns mit dem UTS oft tief und eher ungewöhnlich geformt, ein Überbleibsel der häufig während der Embryonalentwicklung mehr oder weniger stark vorhandenen Flüssigkeitsansammlungen im Nacken. Ebenso können die Ohren eine ungewöhnliche Form haben, und Finger- wie auch Zehnägel können leicht nach oben gebogen sein (man bezeichnet dies dann als „hypoplastische Nägel“).

Neben gesundheitlichen Risiken und körperlichen Stigmata existiert ein typisches neurokognitives Profil des UTS. Dieses ist definitiv kein Thema, mit dem man sich unbedingt beschäftigen muss, besonders nicht gleich zu Beginn, im weiteren Verlauf des Buches wird es jedoch noch einmal genauer erläutert. Ganz grob gesagt, sprechen wir von relativen Schwächen im Bereich des räumlichen Orientierungsvermögens, des Multitaskings und der Interpretation von Körpersprache, gleichzeitig jedoch auch relativen Stärken im sprachlichen Bereich. Am genauesten beschreibt meist die, nicht allgemein anerkannte, Diagnose einer NVLD („Non- verbal Learning Disorder“) diese Beobachtungen, bestimmte Überschneidungen gibt es mit der Autismus Spektrums Störung („Autism Spectrum Disorder“) und der AD(H)S („Aufmerksamkeitsdefizit- (Hyperaktivitäts-) Syndrom“). Keinesfalls geht es dabei um eine „Störung“, „kognitive Einschränkung“ oder „geistige Behinderung“ (obwohl die Fachtermini dies leider suggerieren). Wie immer unterscheiden sich die Erfahrungen verschiedener vom UTS Betroffener enorm, aber Schwächen werden, wie gesagt, tendenziell genauso von bestimmten Stärken begleitet. Die schulischen Leistungen und Bildungsabschlüsse, die wir als Gruppe erreichen, sind deutlich überdurchschnittlich, die Arbeitslosenquote ist nicht erhöht (wobei gewisse Schwierigkeiten damit, einen Beruf auf dem eigenen Ausbildungsniveau zu finden, durchaus beschrieben sind). Ein verminderter Selbstwert, gerade bezüglich romantischer Partnerschaften, und Depressionen sind am klarsten mit der Unfruchtbarkeit assoziiert, tatsächlich mit dem neurokognitiven Profil des UTS zusammenhängen können jedoch eine Tendenz zu Ängstlichkeit, und zu bestimmten sehr unflexiblen Verhaltensmustern. Eine klinisch relevante Angststörung, oder eine OCD („Obsessive Compulsive Disorder“/ Zwangsstörung) sind aber in den meisten Fällen nicht gegeben.

 

… Und ein paar einordnende Worte

Das UTS tritt, wie bereits mehrfach betont, auf einem breiten Spektrum möglicher Manifestationen auf. Doch wenn man sich schon für eine genetische Problematik für sich oder sein Kind entscheiden müsste- wäre das UTS aus meiner, nicht ganz objektiven, Sicht heraus betrachtet keine schlechte Wahl. Viele von uns haben außer der Unfruchtbarkeit keine weiteren „Probleme“, sind vielleicht etwas kleiner als andere. In den Fällen ohne schwerwiegenden angeborenen Herzfehler sprechen wir auch von einer annährend normalen Lebenserwartung. Ebenso ist die immer gegebene Variation zwischen verschiedenen Betroffenen mit demselben genetischen Fehler beim UTS deutlich größer, als bei fast allen anderen genetischen Problemen.

Wir sind typischerweise „erfolgreich“ nach den Maßstäben einer Leistungsgesellschaft- arbeiten als Architektinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, oder in jedem anderen nur vorstellbaren Beruf. Für mich und die meisten anderen Frauen mit UTS ist unser Leben außerdem genauso lebenswert, wie jedes andere auch- es unterscheidet sich über weite Strecken tatsächlich fast nicht von dem Leben jeder anderen Person.

Und was wir uns in den Kopf setzen, das erreichen wir.


 

 

 

1.3. Von Versuchskaninchen bis Praenatest: Historisches

 

Nachdem wir nun die wichtigsten Fakten zum UTS abgehandelt haben, lohnt sich ein kurzer Blick auf die ersten Beschreibungen und die darauffolgende Geschichte dieser Diagnose. Einerseits ist das, für diejenigen mit einem Interesse in diese Richtung, ein interessantes Stück Medizin- und Gesellschaftsgeschichte. Zweitens werden natürlich Fragen aufgeworfen, wie „Was fällt einem an Betroffenen als erstes auf, wenn man noch keine fertige, lange Liste mit möglichen Symptomen des UTS hat?“, oder „Wie sehr profitieren wir eigentlich von der modernen Medizin?“

Fälle des UTS gibt es schon solange es Menschen gibt, bereits aus dem Jahre 1761 stammt die erste bekannte Darstellung einer Frau mit typischen Symptomen durch den Arzt und Anatom Giovanni Battista Morgagni.

Einer der ersten noch heute bedeutsamen Ärzte, der einen Fall des UTS um 1930 herum genauer beschrieben und publiziert hat, ist der deutsche Kinderarzt Otto Ullrich (1894-1957), seine Veröffentlichung nennt sich „Über typische Kombinationsbilder multipler Abartungen“. Auch Kristine Bonnevie (1872-1948), die erste Professorin Norwegens, lieferte eine Fallbeschreibung.

Die wichtigste Veröffentlichung zum UTS ist jedoch ohne Zweifel dr. Henry Turners Artikel "A syndrome of infantilism, congenital webbed neck and cubitus valgus[3] von 1938. Darin beschreibt der amerikanische Endokrinologe sieben Patientinnen im Alter von 15 bis 23 Jahren, welche alle typische Symptome des UTS aufweisen. Eben die in der Überschrift genannten drei Symptome sind dabei die, welche dem Mediziner besonders auffallen. „Infantilism“ bezeichnet die fehlende Entwicklung sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale (nicht etwa eine geistige Behinderung), der „webbed neck“ das pterygium colli (also das Flügelfell) und „cubitus valgus“ die nach außen abgespreizten Ellenbogen. Turner beschreibt bei seinen Patientinnen keine Herzfehler, keine anderen besonderen Auffälligkeiten, abgesehen von einer Retardierung des Knochenalters (welche im Zeitalter der Wachstumshormontherapie für uns durchaus von Vorteil sein kann)[4]. Da bisher nur einzelne Fallberichte bekannt waren, vergleicht Turner seine Beobachtungen mit anderen Krankheitsbildern, etwa dem Kleinwuchs aufgrund einer Unterfunktion der Hypophyse (die Wachstumshormon ausschüttet). Wobei Turner die möglichen, davon abweichenden, Skelettmerkmale des UTS abgesehen vom cubitus valgus ebenfalls nicht wirklich erwähnt. Jedoch kommt er durchaus zu dem Schluss, dass diese spezielle Symptomkonstellation bisher, außer in vereinzelten Fallberichten, noch nicht beschrieben worden sei. Einmal geht der Arzt sogar auf die möglichen emotionalen Auswirkungen des UTS ein, als er über eine 23 jährige Patientin berichtet: “She (…) was considerably disturbed because of the fact that her associates treated her like a little girl and because she feared she would never be able to marry and have a home.”[5]Sie war sehr mitgenommen davon, dass ihr Umfeld sie wie ein kleines Mädchen behandelte und sie fürchtete, dass sie niemals würde heiraten und einen Hausstand gründen können“. Ihr Äußeres fasst Turner mit den Worten zusammen: „She presented a typical picture of somatic and genital retardation with a rather oldish face. She had a very short, broad neck, with folds of skin extending from the mastoid to a point just proximally to the acromion. The hairline extended well down the back of the neck…”[6] . „Sie zeigte ein typisches Bild von den Körper und die Genitalien betreffender Unterentwicklung, mit einem ältlichen Gesicht. Sie hatte einen sehr kurzen, breiten Hals, mit Hautfalten, die sich vom Mastoid (processus mastoideus, dem Höcker hinter der Ohrmuschel), bis zu einem Punkt knapp oberhalb des Acromions (des Knochenvorsprungs an der Außenseite des Schulterblattes) erstreckten. Der Haaransatz reichte weit an der Rückseite des Halses herunter“. Weiterhin wird genauestens auf die Behaarung verschiedener Körperteile, und die Form der Geschlechtsorgane eingegangen. Röntgenbilder von Kopf, Wirbelsäule, Hand und Ellenbogen werden beschrieben, wie auch viele unauffällige Bluttests, und schon beim Durchlesen unangenehme körperliche Untersuchungen. Manche dieser Dinge dürften uns durchaus bekannt vorkommen, anderes hat sich zum Glück nicht bis heute gehalten. Daneben startet Turner bereits erste Behandlungsversuche, von denen ich ehrlich überrascht war. Einerseits injiziert er einigen seinen Patientinnen regelmäßig Somatropin („anterior- pituitary growth hormone“), wie man sich vorstellen kann, war das in diesem Fall sicherlich nicht ungefährlich, brachte aber durchaus einen Größenzugewinn, andererseits spritzte er vergeblich hypophysäre Gonadotropine („anterior pituitary gonadotropics“), ein Überbegriff für verschiedene Hormone wie FSH und LH aus der Hypophyse, welche die Produktion von Geschlechtshormonen stimulieren. Allerdings nur bei funktionstüchtigen Gonaden (Eierstöcken). Daneben wird, wohl etwas erfolgreicher, auch bereits mit Östrogen (progynon B) experimentiert.

Mehrmals betont Turner im Verlaufe seines Artikels: “There was no mental retardation.“ Bei seinen Patientinnen liege keine geistige Behinderung vor, er stellt sogar die besonderen schulischen Leistungen zweier Betroffener heraus. Aus irgendeinem Grund hat sich gerade diese Information in medizinischen Fachkreisen jedoch, zumindest in den folgenden Jahren, anscheinend kaum verbreitet.

Bevor wir zu dem Zeitpunkt kommen, an dem dieses sich noch heute haltende Vorurteil wirklich gefährlich wird, müssen wir aber noch kurz betrachten, ab wann das UTS plötzlich eine diagnostizierbare „Behinderung“ ist. 1959 beschreiben Ford et al, dass eine Veränderung der Geschlechtschromosomen für das UTS ursächlich sei, darauf folgen verschiedene Möglichkeiten der sicheren Diagnose (auf die ich an anderer Stelle genauer eingehen werde), zunächst post- und dann auch pränatal (nach/ vor der Geburt). Östrogentabletten gab es bereits seit Anfang der 1940er Jahre, erst in den 1960er Jahren wurde Somatropin häufiger therapeutisch eingesetzt. Mit einem großen Hacken an der Sache, denn es musste aus den Hypophysen von Leichen gewonnen werden, und bei unserer doch relativ hohen Endgröße, erschien eine Therapie bei UTS zunächst zu risikoreich. Wenn man heute ältere Frauen mit dem UTS fragt, sind noch diese, selbst bei einer frühen Diagnose, häufig nicht mit Somatropin behandelt worden, wobei nach 1985 vollkommen auf synthetisch hergestelltes Somatropin umgestellt wurde. Und von noch etwas anderem werden ältere Betroffene mit einer traurigen Regelmäßigkeit berichten. Im Allgemeinen wurde ihren Eltern mit großer Überzeugung vorhergesagt, ihr Kind werde geistig behindert sein, und die beste Lösung sei die Unterbringung in einem Heim. Man hört nur von denjenigen Frauen, deren Eltern dies entschieden abgelehnt haben- aber es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es auch die anderen Fälle gegeben haben muss.

Die Geschichte von uns mit dem UTS beginnt, je nachdem, wie viel Glück man hatte, als Ausstellungsstücke in amerikanischen Zirkussen, oder als ziemlich unauffälliges Mitglied der Gesellschaft, mit einigen unbeantworteten Fragen. Und oftmals sicherlich unter einem immensen psychischen Druck, denn noch unsere Urgroßeltern (und Großeltern) sind fraglos in einer Welt aufgewachsen, in der jegliche Andersartigkeit deutlich weniger toleriert wurde als heute, und Familie und Familiengründung eine deutlich größere Rolle spielten. Wenn wir uns einmal in anderen Ländern umschauen, dann sind wir Europäer noch heute eher die Ausnahme als die Regel, und nicht in allen Bereichen sollten wir uns zu unserer Kultur gratulieren.

Jedenfalls haben Turner, Ullrich und Bonnevie allesamt dem von ihnen beschriebenen Syndrom ihren Namen verliehen, je nach Land wird mal die eine mal die andere Bezeichnung vorgezogen („Ullrich Turner Syndrom“, „Status Bonnevie Ullrich“, „Turner Syndrome“). Ford hat das Syndrom diagnostizierbar gemacht. Wachstumshormontherapie und Hormonersatztherapie sind mittlerweile in den Leitlinien empfohlene, sichere Behandlungsmethoden. Für alle, die dies benötigen, existieren deutlich bessere Therapien für alle möglichen kardiovaskulären Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, aber auch eher kosmetische Operationen. Zumindest offiziell, ist auch Andersartigkeit zu akzeptieren mittlerweile eine Selbstverständlichkeit.

Dafür stehen wir heute vor einer ganz neuen Auswahl ethnischer Probleme. Wie gehen wir mit den neuen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik um (erst 2012 wurde der Praena- Test als erster NIPT Europas auf dem Markt eingeführt)? Wie vermeiden wir es, dass aus einer Diagnose zu früh ein Stigma wird, bevor irgendwelche Aussagen über die Entwicklung eines Kindes möglich sind? Übertreiben wir es womöglich damit, Kindern Zugeständnisse zu machen und diese überzubehüten, wo diese möglicherweise auch ohne diese zusätzliche Aufmerksamkeit sehr gut klarkommen würden? Wer ist „behindert genug“, um moralisch und rechtlich Anspruch auf bestimmte Unterstützungsleistungen zu haben? Ab welchem Punkt schadet medizinisches Screening mehr als dass es nützt?

Und, nicht zuletzt, ist unsere Welt wirklich toleranter geworden? Je nachdem, in welcher bubble man sich bewegt, mag es so scheinen. Politisch korrekter ist sie, keine Frage. Vor allem jedoch ist sie vermutlich schnelllebiger und extremer als früher. Über social media kann man sich untereinander vernetzen und unterstützen, aber ist auch in einem nie gekannten Maße mit ungesunden Schönheitsidealen und perfekten Fassaden konfrontiert. Die Welt ist extremer, nicht zwangsläufig besser, strahlende Vorbilder finden sich so leicht wie abschreckende Beispiele. Und die Schere dazwischen geht immer weiter auf.

Doch eine Sache hat sich für uns alle ohne jeden Zweifel verbessert, und diese weiß ich allmählich immer mehr zu schätzen. Zumindest hier in Deutschland hat jeder Mensch eine Stimme. Beim Arzt, in der Gesellschaft, in der Politik. Das einzelne Individuum kann mehr bewirken, als man das jemals hätte für möglich halten können. Und genau diese Stimme werden wir im Folgenden nutzen. Um anderen Menschen laut und stolz ein Stück von unserer Welt, von dem was uns bewegt näherzubringen.

Für echte Aufklärung, gegen das Abgestempelt- werden und gegen gefährliches Halbwissen.

In der vagen Hoffnung, dass jemand da draußen uns hört.


 

2.1. An unsere Mütter

 

Am Schlimmsten ist es wohl, von der Diagnose UTS zu einem Zeitpunkt zu erfahren, an dem noch niemand vorhersehen kann, welche Probleme das Kind einmal betreffen könnten, oder auch nicht. Der Schock angesichts der Diagnose und die Sorge um die Zukunft des Kindes wirken zunächst einmal überwältigend. Und doch bleibt mehr als nur etwas Hoffnung...

Dieses Kapitel beginnen wir mit einigen Worten von Betroffenen und Eltern, an Mütter, deren Töchter gerade mit dem UTS diagnostiziert wurden. Insbesondere richten wir uns dabei an Schwangere, um ihnen, in der schwierigsten Zeit, hoffentlich etwas von ihren Ängsten zu nehmen.

„Es ist nicht einfach nur ein Fötus mit UTS, sondern es ist Deine Tochter und es ist ihr Leben. Sie hat das UTS, aber sie wird auch lieben, lachen, weinen, Freundschaften schließen, arbeiten, Dich manchmal beeindrucken und überraschen und Dich manchmal wahnsinnig machen und anzicken, wie jedes andere Kind auch."

„Ich selbst habe den Verwandten immer gesagt: Kritisch ist nur die Zeit im Bauch alles andere kann auftreten wie bei anderen Kindern auch (Klar ist manches wahrscheinlicher). Denn wenn der kerngesunde Nachbarsbub plötzlich schwere Epilepsie bekommt oder mir einer Unverträglichkeit zu kämpfen hat, kann man sich genauso wenig drauf vorbereiten .... man wusste es vorher auch nicht."

„Schließt bitte nicht von anderen Betroffenen auf Eure Tochter, und versucht, nicht alles zu ernst zu nehmen, was Google Euch sagt."

„Es gibt kein perfektes Kind! Wenn dein Kind die Chance auf ein Leben bekommt, kannst du es lieben, es unterstützen, eigene Einschränkungen anzunehmen und Stärken zu fördern, genau wie bei jedem anderen Kind! Jedes Kind hat eigene Herausforderungen, bei UTS sind es vielleicht ein paar mehr. Aber in den allermeisten Fällen machbar! Und für dich als Mutter ist es sowieso dein perfektes Kind, das UTS tritt in den Hintergrund, versprochen!“

„Jede einzelne Betroffene ist einzigartig und verdient dieselbe Zuwendung und denselben Respekt wie andere Kinder auch!“

„Mach dich nicht zu verrückt und versuch die Schwangerschaft zu genießen. Wenn die Kleine es nicht schafft, dann geht sie sowieso. Aber ansonsten hat sie die Chance auf ein tolles, erfülltes und weitestgehend normales Leben. Schenk ihr diese Chance."

„Ihr lacht über mich weil ich anders bin...Ich lache, da ihr alle gleich seid.“

„Mir geht sofort durch den Kopf, dass niemand voraussagen kann, wie sich das UTS auf das Kind auswirken wird. Leider habe ich schon einige erschreckende Beispiele in der Facebook-Gruppe gelesen, wie Ärzte den Schwangeren das absolut Schlimmste schildern, was vorkommen kann, oder sogar direkt fragen, wann der Termin für die Abtreibung gemacht werden soll. Darum würde ich sehr gerne betonen wollen, dass nicht alle möglichen Probleme auch auftreten müssen und die meisten, wenn sie auftreten, recht gut behandelbar sind. Ich finde, die werdenden Mamis und die werdenden Mädels haben es verdient, dass man ihnen viel mehr Mut macht.“

„Wenn jetzt mir eine Schwangere mit einem UTS-Baby gegenüberstehen würde, würde ich ihr als erstes erzählen, was für einen riesengroßen Kampfgeist wir alle irgendwo in uns haben und ihr den Tipp geben, auf jeden Fall Kontakt mit anderen netten Betroffenen aufzunehmen z.B. über die UTS-Vereinigung oder die Facebook-Gruppe etc. gerade der Austausch mit anderen Betroffenen tut nämlich unheimlich gut.“

„Ich würde folgendes mit auf den Weg geben, diese Worte haben mir selbst viel geholfen: Vertraut auf euer Bauchgefühl - nicht nur auf die Worte der Ärzte oder Halbwissen und dem Meer an Informationen, sondern vertraut auch auf Mutternatur, sie wird Entscheiden und egal wie sie entscheidet seht immer das Positive darin. Für alles gibt es einen Grund. Aber der Grund bist nicht du selbst. Und ja es kommt durchaus etwas Großes auf einen zu, aber nichts, was nichts zu meistern wäre. Es gehört sicher etwas Angst dazu, vllt. auch etwas Wut, die verschiedensten Emotionen und Gedanken. Diese sind normal und für diese sollte man sich nicht schämen. Und egal wie steinig oder schwer die Zukunft erscheint, sie bringt dennoch so viel Wunder und Schönes mit sich. Denn das strahlen der Augen, das Lächeln des Kindes, die wahnsinnige Lebenslust und Energie unserer Töchter lassen alles andere drumherum vergessen und verblassen.“

Meine Tipps wären:

Erstens: Durchatmen. Alles, was Sie im Moment fühlen, ist vollkommen in Ordnung und verständlich, aber diese Diagnose ist kein Weltuntergang. Auch, wenn keiner so genau sagen kann, wie sich das UTS bei einer bestimmten Betroffenen auswirkt, ist das, was Sie sich momentan vorstellen, definitiv deutlich schlimmer, als alles, was jemals rein aufgrund des UTS tatsächlich auftritt.

 Zweitens: Sie haben absolut nichts falsch gemacht. Das UTS ist in den allermeisten Fällen das Resultat einer vollkommen zufälligen Mutation, nicht einmal eine Assoziation mit einem höheren Alter der Mutter ist bekannt. Und, bei allem verständlichen Schmerz, auch daran denken: Wir Betroffene sind Individuen, und keine "Diagnosen", die man bemitleiden müsste. Drittens: Kontakt zu Betroffenen aufnehmen, zum Beispiel über Facebook, und alle Fragen stellen, die einem so auf dem Herzen liegen.

Viertens: Nicht allen „Experten“ (nicht einmal allen Ärzten), und erst recht nicht allen Informationen im Netz blind vertrauen. Vieles was gesagt wird, ist irgendwie richtig, aber so missverständlich formuliert, dass es nicht wirklich weiterhilft. Und es kursieren auch genügend Informationen, die einfach nur rundheraus falsch sind. Leider werden Sie ab jetzt damit beginnen müssen, allmählich Ihre eigene Expertin zu werden, aber viele andere Betroffene und Eltern unterstützen Sie gerne dabei.

Fünftens: Durchatmen, Zeit lassen, alles erst einmal auf sich zukommen lassen. Sich nicht zu viel Information auf einmal zumuten, keine überhasteten Entscheidungen treffen. Auch, wenn es sich im Moment vielleicht nicht so anfühlt, weil so vieles gleichzeitig auf einen einprasselt: Nachdem eure Tochter es bis zur Geburt geschafft hat, habt ihr alle Zeit der Welt.  Die Mehrheit von uns wird irgendwann im Laufe der Kindheit und Jugend diagnostiziert, manche auch erst als Erwachsene. Es gibt in den meisten Fällen überhaupt keinen Druck, irgendetwas „jetzt“ und „sofort“ veranlassen zu müssen.

„Es ist das Ende der Welt sagte die Raupe. Es ist erst der Anfang sagte der Schmetterling“.

Für jeden, der sich von der Diagnose UTS überwältigt fühlt, sollten die ersten Ansprechpartner Betroffene und deren Eltern sein. Kontakt bekommt man zum Beispiel über die größte deutsche Facebookgruppe „Für Eltern, Mädchen & Frauen Ullrich Turner Syndrom*UTS“. Ein weiterer wichtiger Kontakt ist natürlich die Turner Syndrom Vereinigung Deutschland. Diese bietet ein Beratungstelefon sowohl für Betroffene, als auch für Eltern an, die Nummern dazu, ein ausführlicheres FAQ und viele hilfreiche medizinische Informationen findet man auf der Website  unter https://turner-syndrom.de/. Es finden sich immer Menschen auch aus der eigenen Region, mit denen sich ein persönliches Treffen organisieren lässt, vielleicht gibt es in der Nähe des eigenen Wohnortes sogar eine Regionalgruppe. Denn das UTS ist lange nicht so selten, wie man glauben mag. Und ihr seid nicht alleine.  

2.2. Unterstützung in der Krise

„Genießt die Zeit, so gut es geht“

Wiebke

Ich kannte das Ullrich-Turner-Syndrom aus meinem Medizin-Studium. Ich hatte es als Lernkarte folgendermaßen notiert: „45, X0 (zu 60%, sonst Mosaik); weibl Phänotyp mit Kleinwuchs, verminderter Brustentw, multiplen Nävi, Hufeisenniere, Pterygium colli; normaler IQ“. Hängengeblieben war für mich vor allem die Grundaussage, dass es ziemlich harmlos ist. Menschen wie du und ich, nur eben etwas kleiner. Kinder zu bekommen, ist in aller Regel auch nicht möglich. Ansonsten eine beinahe positive Diagnose, wenn man sie mit vielen anderen genetischen Erkrankungen vergleicht.

Als ich dann im Mai 2018 schwanger wurde und in der 12. Schwangerschaftswoche zum ersten Mal damit konfrontiert wurde, dass mein Baby vermutlich das UTS hat, stellte sich meine nüchterne Lernkarte plötzlich als ziemlich unvollständig heraus. Mein Baby-Mädchen war schwerkrank. Sie hatte Wassereinlagerungen im Nacken, Rücken, in der Bauchhöhle, im Brustraum. Sie kämpfte um ihr Leben. Und nach langem Kampf starb sie dann, wie ich hoffe friedlich, in meinem Bauch.  Ich war in der 21. SSW als Norinas Herz aufhörte zu schlagen. In der Zeit zwischen der Feststellung, dass etwas mit meinem Baby nicht stimmt und der stillen Geburt in der 21. SSW, fand ich Hilfe und Informationen in einem Selbsthilfeforum des Vereins „Weitertragen e.V.“. Hier gab es viele Frauen, die bereits das gleiche wie ich erlebt hatten und so konnte man jede meiner Sorgen verstehen und jede Frage kompetent beantworten. Ich war sehr dankbar für diese Hilfe in einer Zeit, in welcher ich mich völlig überfordert fühlte.

Ich bin nun selbst im Forum aktiv und nach mir kamen und kommen weiterhin viele Frauen, die ebenfalls ein Baby mit UTS erwarten. Fast alle Babys kämpfen mit schweren Wassereinlagerungen. Leider ist es so, dass die meisten dieser Babys irgendwann im 2. Trimester diesen Kampf verlieren. Aber manchmal passiert es doch, dass die Wassereinlagerungen Stück für Stück zurückgehen, und das Baby beinahe „gesund“ geboren wird. Ich freue mich jedes Mal, wenn dieses Wunder geschieht. und alles gut geht. Natürlich wird es dann auch weiterhin manche Sorgen geben. Manche Babys mit UTS haben Herzfehler, welche noch behandelt werden müssen. Und was es bedeutet seiner Tochter im Laufe des Großwerdens zu erklären, dass sie niemals selbst Kinder auf die Welt bringen wird, kann ich auch nur erahnen. Aber im Großen und Ganzen ist ein Kind mit UTS so wie jedes andere Kind auch, mit Stärken und Schwächen und Besonderheiten, so wie jeder Mensch besonders ist. Aber eben nicht eingeschränkt, was Körper und Geist betrifft.

Was mir durch meine Schwangerschaft mit Norina und dem Kontakt zum Forum auf eine ganze besondere Weise bewusstgeworden ist, ist Folgendes: Das Leben, egal wie kurz es ist, ist kostbar.  Und das Leben beginnt bereits im Bauch. Norina hatte ein viel zu kurzes Leben. Sie wurde aber zu jedem Zeitpunkt in ihrem Leben geliebt, umsorgt und angenommen, so wie sie war. Ich liebe sie, so wie ich auch meine Erdenkinder liebe und auch wenn ich sie nie habe lachen oder laufen sehen, ist sie mir präsent. Ich kann nun, mit Abstand von einigen Jahren, mit Freude an sie denken.  Und auch wenn mir hin und wieder natürlich auch noch die Tränen kommen, weil ich sie vermisse, so ist es doch vor allem Liebe die ich empfinde, wenn ich an sie denke. Norina ist nicht irgendetwas aus meiner Vergangenheit, was ich wegwischen und ausradieren möchte – ganz im Gegenteil. Ich bin froh und stolz, ihre Mama zu sein. Und ich bin dankbar für jede Minute, die wir zusammen hatten, bevor sie ging. Ich habe es keinen Moment bereut, ihr diese Zeit gelassen zu haben – nicht nur einmal war mir von den Ärzten eine Abtreibung angeboten worden.

Das Thema Abtreibung bei auffälligem pränatalen Befund ist grundsätzlich nicht einfach und kann ganz sicher nicht schwarz-weiß betrachtet werden. Das Thema Abtreibung bei UTS sehe ich aber tatsächlich sehr schwarz-weiß. Für mich gibt es keinen vernünftigen Grund, wieso man sein Baby aufgrund der Diagnose UTS abtreiben sollte. Es ist nicht angenehm, wochenlang zu hoffen und zu bangen und in den meisten Fällen muss man sich leider sowieso von seinem Baby noch während der Schwangerschaft verabschieden. Manchmal, so wie in meinem Fall, ist die Prognose der Ärzte so düster und eindeutig, dass man zur Abtreibung nahezu gedrängt wird nach dem Motto „Was bringt es denn, sich weiter zu quälen. Das Baby stirbt doch sowieso“. Ich habe aber damals entgegnet und sage es auch weiterhin: Das kann man nicht wissen! Es gibt Fälle, wo man niemals erwartet hätte, dass die Wassereinlagerungen zurückgehen und dann sind sie plötzlich doch verschwunden. Und selbst wenn nicht, dann ist auch das Warten keine verlorene Zeit. Ganz im Gegenteil. Das Leben beginnt schon im Bauch. Babys haben auch im Bauch bereits Gefühle, können Stimmen und Stimmung wahrnehmen. Ich bin davon überzeugt, dass Norina meine Liebe gespürt hat. Wieso hätte ich ihr das nehmen sollen? In unserem Selbsthilfeforum raten wir den Schwangeren dazu, möglichst viele Erinnerungen an die Schwangerschaft zu schaffen. Schöne Ausflüge mit vielen Erinnerungsfotos, ein schönes Essen, den Bauch bemalen. Wichtig ist auch, bereits früh einen Namen auszusuchen und diesen zu nutzen, wenn man über sein Baby spricht. Viele Eltern scheuen sich, eine starke Verbindung zu ihrem ungeborenen Baby aufzubauen, um sich vor zu großer Trauer zu schützen. Ich glaube allerdings, dass man das nicht kann. Man kann die Trauer und den Verlust ein stückweit verdrängen und das funktioniert besonders gut, wenn man während der Schwangerschaft keinerlei Erinnerungen schafft und dem Baby keinen Namen gibt. Aber verdrängte Trauer kommt irgendwie und irgendwann zurück. Und dann vielleicht sogar heftiger als erwartet.

Ich selbst hatte den Rat, viele Erinnerungen zu schaffen, nicht so wirklich berücksichtigt. Umso wichtiger sind mir aber die wenigen Erinnerungsstücke, die ich dennoch von dieser besonderen Zeit habe: Ein besonders schönes Ultraschallfoto, ein Foto von mir mit Babybauch im Tierpark und die Fußabdrücke nach Norinas Geburt erinnern mich daran und beweisen, dass sie wirklich da war. Ich schrieb bereits, dass ich mittlerweile vor allem mit Liebe an Norina denken kann und die Trauer nur noch einen kleinen Platz einnimmt. Tatsächlich kann das Schaffen von schönen Erinnerungen dafür sorgen, dass man viel schneller und leichter mit Freude und Dankbarkeit an diese Zeit der Schwangerschaft zurückdenken kann. Da sind dann nicht mehr nur die unangenehmen Arzttermine, die schweren Diagnosen, an die man denkt, sondern auch die Ausflüge und die Zeit, die man gemeinsam mit seinem Baby im Bauch genießen konnte. Eine wertvolle Zeit und vielleicht die einzige gemeinsame Zeit, die man hat.Was hat mir noch geholfen, heute so positiv an Norina zu denken? Mein Glaube an Gott und an ein Leben nach dem Tod. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Norina eines Tages in die Arme schließen werden. Nicht als kleines Baby mit Wassereinlagerungen, sondern in einem gesunden Körper – und dennoch klar erkennbar als unsere geliebte Tochter. Sie lebt jetzt schon bei Gott und wartet auf uns. Ihr geht es gut. Und mir deshalb auch. Ich freue mich, sie kennen zu lernen und habe doch das Gefühl, dass ich sie eigentlich schon lange kenne. 

Daher mein Rat an alle, die ein Baby mit UTS erwarten und aktuell hoffen und bangen, so wie ich es auch getan habe: Genießt die Zeit so gut es geht. Euer Baby lebt bereits jetzt bei euch und ist bereits euer Kind und ihr seid bereits Eltern – auch wenn euer Mädchen noch nicht geboren ist. Vielleicht bleibt euch nur diese gemeinsame Zeit der Schwangerschaft. Dann macht das Beste daraus (ohne Stress natürlich, so wie es euch guttut!).  Die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit sind kostbar, falls euer Baby bereits im Bauch sterben sollte. Und falls ihr am Ende euer Baby vielleicht doch lebend in den Armen halten dürft, dann ist es auch wertvoll und wunderschön, wenn ihr die Schwangerschaft trotz aller Sorgen gemeinsam genießen konntet. Es ist also in keinem Fall eine verlorene Zeit.

Für diejenigen, bei denen das Wunder tatsächlich geschieht und deren Babys es schaffen, sei noch gesagt: Herzlichen Glückwunsch! Auch wenn vielleicht nicht alle Sorgen vorbei und noch manches auf eurem Weg liegt, ist das Leben mit UTS genauso schön und lebenswert wie jedes andere Leben auch. Ich hoffe, daran besteht bei keinem mehr ein Zweifel, der dieses Buch hier liest. 

 Von der Sorge und der Zuversicht

 

Nicht nur aus meiner Erfahrung als Hebamme und Pädagogin, sondern auch als Frau weiß ich: Alle Vorgänge rund um Schwangerschaft, Geburt und das Leben mit einem Kind sind begleitet von Phasen der Sorge und Angst. Wird es mir gelingen, (wieder) schwanger zu werden? Wird die Schwangerschaft halten, das Kind gesund sein? Werde ich die Geburtsschmerzen meistern? Sind diese schlaflosen Nächte, in denen wir das weinende Kind stundenlang auf dem Arm herumtragen, normal? Und der Hautausschlag, das Fieber, die seltsamen Atemgeräusche? Diese Aufzählung könnte ich endlos weiterführen und ergänzen durch die Sorgen einer Mutter zweier junger Männer, die Auto und Motorrad fahren … Ich sage „meinen“ Schwangeren gerne: „Die Angst um Dein Baby beginnt mit dem positiven Schwangerschaftstest und endet … gar nicht 😉!“ Mütter (und Väter) möchten natürlich, dass es ihren Kindern gut geht, wollen sie (be-)schützen vor den Schwierigkeiten, die das Leben und diese Welt so mit sich bringen, können es schwer ertragen, ihre Tochter, ihren Sohn leiden zu sehen. Mir fällt niemand ein, der oder die solche Gefühle nicht kennt, sie gehören zum Elternsein dazu wie alle anderen auch: Freude, Stolz, Glück, Ungeduld, Ärger und so weiter.

Wenn solche belastenden Gefühle in jeder Schwangerschaft - in unterschiedlichen Schweregraden - üblich sind, so treten sie unter besonderen Umständen sogar verstärkt auf. Frauen, die (ungewollt) alleinstehend sind und (ungeplant) schwanger werden, können sie erleben. Schwangere, denen aus ganz individuellen Gründen die Kraft und Ressourcen fehlen, um sich auf das Leben mit einem Baby zu freuen. Oder Paare, die eine von der „Norm“ abweichende vorgeburtliche Diagnose erhalten, wie z.B. das Ullrich-Turner-Syndrom. Unsere Schwangerschafts- und Geburtsmedizin ist sehr gut darin, an sich natürlich ablaufende Prozesse kontrollieren und in der Folge optimieren zu wollen. Werdenden Müttern und Vätern steht eine Vielzahl von Untersuchungsmethoden zur Verfügung, deren Anwendung die Betroffenen in existentielle Krisen stürzen kann. Denn was, wenn nicht - wie erwartet - „alles gut“ ist, sondern Auffälligkeiten entdeckt werden? In der Folge müssen Schwangere und ihre Partner oder Partnerinnen mitunter Entscheidungen treffen, die eigentlich unzumutbar sind. Im schlimmsten Fall: eine an sich gewünschte Schwangerschaft abzubrechen, weil das ungeborene Kind Behinderungen oder Erkrankungen aufweist. Für die meisten vorgeburtlich zu diagnostizierenden Beeinträchtigungen stehen nämlich keine kausalen Therapien zur Verfügung. Zudem sind die wenigsten Krankheiten und Behinderungen angeboren und nur ein kleiner Teil vor der Geburt zu erkennen.

Wie nun umgehen mit Unsicherheiten, Ängsten und Sorgen? Was kann helfen, lindern, Zuversicht schenken? Vielen Menschen helfen in Krisenzeiten Gespräche mit anderen, die Erfahrung haben: entweder mit diesem bestimmten Thema, das mich gerade bewegt oder ganz allgemein damit, andere in der Klärung ihrer Fragestellungen zu unterstützen. In der Schwangerschaft kann dies die Hebamme sein, der Frauenarzt, die Beraterin in einer Schwangerenberatungsstelle (am Ende dieses Beitrags habe ich eine Liste mit aus meiner Sicht hilfreichen Informationen und Adressen zusammengestellt). Es gibt aber noch eine andere mögliche, universelle Betrachtungsweise des Phänomens „besorgt sein“. Ich kann anerkennen, dass sich meine bangen Gedanken immer auf eine (wie auch immer geartete) Zukunft beziehen. Ich kann nicht wissen, wie es sein wird … dann irgendwann, später, morgen, in einem Jahr. Das, was ich einschätzen und bewältigen kann, ist der aktuelle Moment, mein Hier und Jetzt. Wenn ich mich auf den Augenblick besinne, d.h. meine Aufmerksamkeit auf ihn lenke, ihn mit allen Sinnen wahrnehme, merke ich zumeist: Es ist auszuhalten, es ist ok, vielleicht sogar angenehm oder schön. Es kann unglaublich befreiend sein, die Gedanken von möglichen Schreckensszenarien in einer ungewissen kommenden Zeit abzuziehen und mich in Achtsamkeit zu üben, d.h., den gegenwärtigen Moment bewusst und bewertungsfrei wahrzunehmen. „Üben“ impliziert, dass es mir womöglich nicht auf Anhieb gelingt, sondern einer regelmäßigen Praxis bedarf.

Nach und nach (bei einigen Menschen recht unmittelbar) kann sich durch dieses Üben ein Gefühl der Zuversicht einstellen. Zuversicht, dass ich immer nur diesen einen Tag leben muss (und kann), dass Hilfe und Unterstützung in Reichweite sind, wenn ich meine Hand ausstrecke, dass ich wachsen werde an den Schwierigkeiten und Belastungen meines Lebens. Eventuell halten einige Beziehungen den Herausforderungen nicht stand, die das Leben mit meinem Kind (vermeintlich) mit sich bringt, möglicherweise werden die Probleme lange nicht so zahlreich und gravierend sein, wie sie mir momentan erscheinen. Mit Gewissheit jedoch werde ich neue Kontakte knüpfen und hilfreiche Menschen kennen- und schätzen lernen. Die Turner-Syndrom-Vereinigung e.V. bietet eine Möglichkeit, sich zu vernetzen, auszutauschen und gemeinsam zuversichtlich zu sein. Vielleicht schließe ich mich auch einer Gruppe an, in der ich mich mit anderen Menschen gemeinsam in Achtsamkeit üben, meditieren oder Yoga machen kann.

Und von all dem einmal ganz abgesehen: Jedes einzelne neugeborene Kind, jedes Baby ist ein unbeschreibliches Wunder und vollkommen liebenswert.

 

 

Hilfreiche Broschüren, Adressen und Bücher:

•             Eine sehr informative Broschüre der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung:

o             BZgA (Hrsg.): Pränataldiagnostik. Beratung, Methoden und Hilfen. Ein Überblick (2020)

o             Als pdf unter https://shop.bzga.de/praenataldiagnostik-beratung-methoden-und-hilfen-13625100/

•             Eine Übersicht über Schwangerenberatungsstellen, die auf Beratung rund um Pränataldiagnostik spezialisiert sind:

o             http://www.familienplanung.de/beratungsstellensuche

•             Hebammen, die freie Betreuungskapazitäten haben:

o             https://www.ammely.de

•             Bücher zum Thema Achtsamkeit und Leben im „Hier-und-jetzt“:

o             Kornfield, Jack: Wahre Freiheit (2018)

o             Schneider, Maren: Ein Kurs im Selbstmitgefühl (2016)

o             Tolle, Eckhart: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart (2010)

 

 

Die Autorin: Dr. Anita Becker, Hebamme & Diplom-Pädagogin, www.blauka.de 

Schwangerschaftsberatung bei UTS

 

„Ihr Baby hat eine Chromosomenstörung und ist nicht lebensfähig. Gehen Sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus, um die Schwangerschaft abzubrechen. Das ist der übliche Weg.“ Die Worte des Frauenarztes sind für die schwangere Frau wie ein Schlag in die Magengrube. Ihre heile Welt ist zerstört, denn ihr Baby, das sie liebt und auf das sie sich freut, wird wahrscheinlich nicht leben können. Dabei ist sie nur zur üblichen Ultraschalluntersuchung gegangen, um etwas „Babyfernsehen“ zu genießen! Dass etwas nicht in Ordnung sein könnte, daran hat sie nie gedacht.

 

Das ist ein persönliches Erlebnis, aber kein Einzelfall. Wird im Rahmen einer vorgeburtlichen Untersuchung eine genetische Besonderheit beim Baby diagnostiziert, etwa eine Monosomie X (Ullrich-Turner-Syndrom), bei dem in 95–99% das Baby bereits im Mutterleib stirbt, wird schwangeren Frauen oft sehr schnell zum Abbruch der Schwangerschaft geraten. Die natürliche Möglichkeit, die Fortführung der Schwangerschaft, das „Weitertragen“, wird den werdenden Eltern in vielen Fällen gar nicht angeboten. Während in Deutschland eine psychosoziale Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch in Anspruch genommen werden muss und eine vorgeschriebene Bedenkzeit von drei Tagen besteht, ist das in anderen Ländern nicht geregelt. Nicht selten wird die Schwangere nach der Diagnose gleich im Krankenhaus behalten und die Geburt eingeleitet.

Dabei brauchen Frauen bzw. Paare viel Zeit, um sich an die veränderte Situation zu gewöhnen und bewusst, nicht im Schock, zu entscheiden! Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie das Leben mit ihrem Kind aussehen könnte, aber auch, was bei einem Abbruch auf sie zukommen würde und wie sie die Geburt ihres Babys gestalten könnten. Sie verdienen eine gute Hilfestellung, um sich auf die nächsten Schritte vorzubereiten, egal wie diese aussehen. Deshalb sollten alle Paare nach einer solchen Diagnose psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen.

Als psychosoziale Beraterin und Beraterin für Pränataldiagnostik im „Nanaya – Zentrum für Schwangerschaft, Geburt und Leben mit Kindern“ begleite ich seit 15 Jahren Paare in solchen und ähnlichen Situationen.

Die psychosoziale Beratung dient dazu, die Handlungskompetenz zu erweitern, die Selbstbestimmung zu fördern und die Entscheidungsfähigkeit zu stärken. Informationen, die die Eltern durch die ärztliche Aufklärung und aus anderen Quellen (Internet, Erzählungen, Erfahrungen,...) erworben haben, werden hier zu ihren Gefühlen, Werten und Lebensperspektiven in Beziehung gesetzt. Das Ziel ist es, dass die Klient*innen ihre eigene Entscheidung treffen, mit der sie auch in Zukunft gut leben können.

Wie kann so eine Beratung nach der Diagnose UTS aussehen, bei dem in etwa 95–99% der Fälle das Baby bereits im Mutterleib stirbt?

 

Beim ersten Kontakt, also kurz nachdem die Eltern von der Diagnose ihres Babys erfahren haben, geht es in erster Linie um Krisenintervention und Beruhigung. Die Eltern sind außer sich und haben den Boden unter den Füßen verloren. Ich sehe es als meine Aufgabe, diesen Boden wiederherzustellen, damit sie wieder zu sich kommen können. Hilfreiche Methoden dafür sind v.a. Körper-, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen. Wenn die ganze Welt in Aufruhr geraten ist, findet der Mensch Ruhe durch den Zugang zum eigenen Körper und durch die Konzentration auf den Augenblick.

Ebenso wichtig ist es, den Eltern Zeit zu geben, auch wenn das manchmal bedeutet, Aussagen der Ärzteschaft zu hinterfragen. Viele betroffene Eltern sind mit Aussagen konfrontiert wie „Sie müssen nicht länger schwanger sein als notwendig!“ oder „Je früher Sie sich entscheiden, desto besser“. In Wirklichkeit besteht aber kein Zeitdruck. Die Entscheidung zwischen einem späten Schwangerschaftsabbruch und der Fortführung der Schwangerschaft mit einem Baby mit UTS verändert das gesamte Leben der Familie. Es ist nicht ratsam, diese wichtige Entscheidung überstürzt zu treffen.

Menschen, die unter Schock stehen und sich handlungsunfähig/passiv fühlen, müssen wieder ins Handeln gebracht werden. Es ist hilfreich, in der Beratung Ziele und Aufgaben zu erarbeiten, die betroffene Eltern erfüllen können. Einige dieser Aufgaben könnten sein, möglichst viele Informationen über das ungeborene Kind zu sammeln, mit unterschiedlichen Menschen (Hebammen, Kinderärzt*innen, aber auch Freund*innen und Verwandten) zu sprechen oder Kontakt zu Familien aufzunehmen, die eine ähnliche Entscheidung bereits getroffen haben.

Der Kontakt zum Baby im Bauch ist in meiner Arbeit besonders wichtig. Nach der Feststellung einer Auffälligkeit oder Behinderung unterbrechen die Eltern oft intuitiv ihre Beziehung zum Ungeborenen, um sich vor einem eventuellen Trennungsschmerz zu schützen. Wir sprechen dann von einer „Schwangerschaft auf Probe“. Es erfordert Mut und oft Unterstützung von außen, um die Beziehung bewusst wieder aufzunehmen und zu fördern. In meinen Beratungen spreche ich mit den Eltern sehr viel über ihr Baby, über dessen Gefühle, über die Bilder und Gedanken, die die Eltern mit ihm verbinden, über die bisherige Schwangerschaft, schöne Erlebnisse usw. Wenn die Eltern ihrem Baby bereits einen Namen gegeben haben, verwende ich diesen im Gespräch, wenn nicht, spreche ich gerne vom „Sohn“ oder von der „Tochter“. So kann bereits nach kurzer Zeit die Beziehung wieder wachsen und allen Halt geben: dem ungeborenen Baby ebenso wie seinen Eltern. Das gilt übrigens auch dann, wenn der Entschluss für den Schwangerschaftsabbruch bereits feststeht oder im Verlauf des Beratungsprozesses getroffen wird.

Um Eltern auf die Geburt eines sterbenden Babys vorzubereiten, biete ich ihnen gerne eine Einheit zur Geburtsvorbereitung an. Dabei kommt mir meine Ausbildung zur Geburtsvorbereiterin und meine langjährige Erfahrung als Leiterin von Geburtsvorbereitungskursen zugute. Indem ich den Eltern den Geburtsvorgang erkläre und Geburtspositionen und Atmung mit ihnen übe, vermittle ich Normalität,

andererseits gehe ich natürlich auf die Besonderheiten und Wichtigkeiten dieser (eingeleiteten) Geburt ein. Ich ermutige sie, viel Zeit mit ihrem Baby zu verbringen und viele Fotos zu machen, und erwähne auch die Möglichkeit, dass dieses lebend zur Welt kommen könnte.

Es ist ein großer Vorteil für den Beratungsprozess, wenn ich betroffene Eltern bereits in der Schwangerschaft kennenlerne. Nach der Geburt des Babys, wenn es um eine weitere Begleitung und die Intergration ihrer Trauer geht, habe ich die Aufgabe, durch meine Arbeit Eltern in ihrem Schmerz und in ihrer Trauer aufzufangen. Alle Gefühle dürfen da sein – auch Schuldgefühle, Zorn auf das Baby und ähnliches. Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Beraterin und Klient*innen ist Voraussetzung dafür. Lernen mich die Eltern erst neu kennen, braucht der Beziehungsaufbau natürlich etwas länger.

 

Die Pränataldiagnostik wird immer genauer und immer selbstverständlicher. Im Fall eines auffälligen Ergebnisses bringt sie Eltern in die schwierige Situation, sich entscheiden zu müssen zwischen einem Leben mit einem Kind mit bestimmten Auffälligkeiten, und einem späten Schwangerschaftsabbruch. In jedem Fall haben sie ein Recht auf die bestmögliche medizinische und psychosoziale Begleitung und Unterstützung, auch noch nach der Geburt ihres Babys. Unter diesen Voraussetzungen werden sie diesen Schritt gut verarbeiten und in ihr weiteres Leben integrieren können.

 

Petra Hainz

Geburtsvorbereiterin, Lebens- und Sozialberaterin, Beraterin für pränatale Diagnostik

Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin von „Nanaya – Zentrum für Schwangerschaft, Geburt und Leben mit Kindern“, 1070 Wien

www.nanaya.at



[1] Sie haben einen weiblichen Phänotyp, dabei beinhaltet der Phänotyp alle von außen wahrnehmbaren Eigenschaften, während der Genotyp die Gesamtheit der genetischen Anlagen einer Person umfasst

[2] Die Kurzsichtigkeit oder Myopie ist zwar der häufigste Sehfehler bei UTS, aber einfach in der Allgemeinbevölkerung extrem häufig. Die Rot- Grün- Schwäche ist als X- Chromosomal rezessive Erbkrankheit beim UTS so häufig, wie in der Allgemeinbevölkerung. (Ein zweites X ohne mutiertes Gen würde verhindern, dass sich die Eigenschaft im Phänotyp ausprägt. Daher sieht man solche Erkrankungen bei 46XX Frauen nur sehr selten).

[3] Turner 1938, https://sci-hub.se

[4] Das Knochenalter wird danach bestimmt, wie weit die Wachstumsfugen noch offen sind, typischerweise aus einem Röntgenbild der linken Hand. Es zeigt also an, wie viel Zeit ein Kind noch zum Wachsen hat.

[5] Vgl. ebd.

[6] Vgl. ebd.

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