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Feilkode 418

DER KUSS

DER KUSS · Romane

Beziehungsunfähigkeit hat häufig mit dem Fehlen von Geborgenheit und Nähe in der Kindheit zu tun. Magdalena stellt sich dem Problem.

Hva vil du med boka?

Manchmal sind es nur kurze Beobachtungen, die mich lange nachdenken lassen. Was wäre wenn ... und dann wächst eine Geschichte. Es war Johannes Paul ll, der im Bad in der Menge einem Kind einen Kuss auf die Stirn drückte. Was könnte das auslösen? Drei Frauen.Drei Generationen. Mutter, Tochter, Enkelin. Frida, Anna, Magdalena. Frida, ein Nachkriegskind verliert früh die Mutter. Eine Kindheit darf auf dem Bauernhof, den der Vater alleine bewirtschaftet, nicht stattfinden. Frida flüchtet sich in eine übertriebene Religiosität. Zähne zusammenbeißen, Leid ertragen. Das verlangt sie auch von ihrer Tochter und der Enkelin. So wird das Unvermögen für Nähe an die nächsten Generationen weitergegeben. Es ist die Enkelin Magdalena, der es gelingt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Urvertrauen wird in der Kindheit angelegt und ist unverzichtbar für die Entwicklung der Sozialkompetenz. Fehlt das Urvertrauen, mangelt es auch an Beziehungsfähigkeit. Ein Stück Urvertrauen läßt sich aber auch zurückholen.

Om forfatteren

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MARIA HELLMANN Jahrgang 56, dem Ehemann u.a. nach Madrid und Taipeh gefolgt, zwei Kinder in die Selbstständigkeit entlassen und in Italien ein altes Landhaus renoviert. „Abenteuer Landhaus“ gegen das...

DER KUSS (Arbeitstitel)

 

Rom, Juni 1985

 

»Da kommt er!« Meine Großmutter schrie, ohne dabei laut zu sein und dann riss sie mich hoch. Ich glaube, das war das einzige Mal in meinem Leben, dass sie mich auf den Arm genommen hat.

Nach der langen Warterei hinter der metallenen Absperrung, an der mir das Rumturnen verboten wurde, war ich froh, dass endlich etwas passierte. Und ich würde das Eis bekommen, das mir versprochen wurde.

Mit ausgestreckten Armen hielt mich meine Großmutter über das Gatter hinweg. Kraft durch Glauben.

»Magdalena!« Völlig außer Atem stellte sie mich wieder auf die Erde und strich mir die hellblonden Locken aus der Stirn, die an der Stelle vom Schweiß festklebten, auf die der Papst mir gerade einen Kuss gedrückt hatte.

Sie bekreuzigte sie sich in einem fort, als wollte sie nie mehr damit aufhören, fuhr dann aber doch mit ihren Händen über meinem Kopf herum, ohne ihn dabei zu berühren und sagte zu meiner Mutter: »Anna, ich glaube, der Liebe Gott hat gewollt, wie alles gekommen ist.«

 

 

Berlin, Hüttach, November 2019

 

Ich fand das Handy schließlich in der Küche, in der es noch nach Rosenkohl roch. Den hatte ich gestern Abend gekocht. Unser beider Lieblingsgemüse. Gegessen haben wir es nicht.

Die Hoffnung, dass es Leo war, zerschlug sich, als ich die Stimme meiner Mutter hörte: »Oma ist tot.« Keine Spur von Trauer im Tonfall und als ich ihr sagte, dass Leo weg ist, weinte ich.

Ich weinte nicht um Leo, auch nicht um Großmutter, ich weinte über die Unfähigkeit, mein Leben in den Griff zu bekommen. Vor Leo hatte es einige Männer gegeben, aber bei ihm hatte ich gedacht, dass es klappen könnte.

»Wann?«, fragte ich und wischte mir die Tränen mit der Papierserviette weg, die gefaltet neben Leos Teller lag.

»Gestern.«

»Ich komme morgen.«

 

*

 

Ich hatte nur eine kleine Reisetasche gepackt, so wie jedes Mal, wenn ich nach Hüttach fuhr. Der knappe Inhalt sorgte für einen kurzen Aufenthalt. Mehr als drei Tage hielt ich nicht aus.

Im Gegenzug hatte mich meine Mutter in den achtzehn Jahren, die ich in Berlin lebe, nur einmal besucht. Es sei ihr alles zu laut und zu groß. Ich glaube, sie ertrug es nicht, mich in dieser Freiheit erleben zu müssen, die sie sich nie genommen hatte. Dass ich mich bis heute noch nicht wirklich frei fühle, das habe ich ihr nie erzählt.

Ich freute mich auf die Zugfahrt. Die monotonen Geräusche, derer man sich erst bewusst wird, wenn sie nicht mehr da sind, das Gefühl, dass sich jemand um mich kümmert, sobald ich meinen Platz eingenommen habe und wenn es nur darum geht, irgendwo anzukommen. Einmal bin ich von Berlin nach Bari mit dem Zug gefahren. Es gab nichts, was mich in Bari oder drumherum interessiert hätte, es waren die dreiundzwanzig Stunden Zugfahrt mit ihren kurzen Unterbrechungen, die die Reise lohnenswert gemacht haben.

Bis nach Braunschweig waren es nur eineinhalb Stunden, und gerade deshalb leistete ich mir die Erste Klasse und einen Fensterplatz in Fahrtrichtung. Im Abteil war es warm. Überheizt, meinte der ältere Herr, der sich mir gegenüber umständlich einrichtete.

Als hätten sie nur darauf gewartet, trieben Regentropfen schräg über die Scheibe, als der Zug aus dem Bahnhof ins Tageslicht fuhr. Es schüttete aus einem Himmel, der seit Tagen wie eine unverrückbare Betonplatte über der Stadt lag, die das üppige Grün des Sommers zu einem großen Teil schon abgelegt hatte, um sich über die Wintermonate von ihrer hässlichen Seite zu präsentieren.

Im traurigen November war’s. Ein Gedicht von Heinrich Heine und ich dachte, dass dieser Monat nicht nur für melancholische Lyrik taugte, sondern auch die passende Kulisse für ein Begräbnis liefern konnte, nebst bedrückender Stimmung, die bei solch einem Anlass erwartet wird.

Die gesamte Kirchengemeinde wird anrücken und der ausgefranste Chor, dem immer irgendeine Stimmgruppe fehlt, wird sich an Großer Gott, wir loben dich abarbeiten. Verwandte?

Meine Mutter und ich.

Ob meine Mutter in Hüttach bleiben wird? Es gäbe keinen Grund mehr. Ich versuchte, die Melodie von Großer Gott, wir loben dich hinzubekommen. Tonlos. In mir drinnen. Als Kind kannte ich alle elf Strophen auswendig. Meine Großmutter war eben keine Märchenoma. Großer Gott, wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.

Scheitern ist in diesem Liedtext nicht vorgesehen. Ich bin so gesehen auch ein Werk Gottes, aber alles andere, als bewundernswert!

Dabei war Großmutter felsenfest davon überzeugt, dass der liebe Gotte Großes mit mir vorhat, nachdem der Papst mich geküsst hatte. Von dieser Überzeugung rückte sie genauso wenig ab, wie von ihrer krankhaften Religiosität, die sich wie eine Geschwulst in sie hineingefressen hatte.

Ich war damals fünf Jahre alt. An den Kuss gab es keine Erinnerung, aber ich wusste drum. Das ließ sich nicht umgehen. Dafür sorgte meine Großmutter, wenn sie notorisch mit ihrem Finger auf die gesegnete Stelle tippte.

Das Eis, nach den Stunden des Wartens in der glühenden Sonne, das habe ich nicht vergessen, vor allem, weil ich untröstlich weinte, als ich mich kurz darauf auf der Spanischen Treppe übergeben musste. Erdbeer und Schokolade.

 

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die minimalen Erschütterungen die mich entschweben ließen. Ein schwereloser Zustand, ohne denken zu müssen. Ich spürte nur das dünne Lächeln in mir drinnen, das sich nach außen nicht zeigen wollte.

Der Absturz kam mit Leo. Mit geballten Händen in den Taschen sah ich ihn im Türrahmen der Küche stehen.

»Diese Kälte, die halte ich nicht mehr aus!«

Der spürbare Luftzug kam durch die geöffnete Schiebetür des Abteils: »Die Fahrkarten bitte!«

Leo habe ich eine WhatsApp-Nachricht hinterlassen, dass ich nach Hüttach zur Beerdigung fahre. Die beiden Häkchen waren blau. Vielleicht nutzt er meine Abwesenheit, um spurlos aus meinem Leben zu verschwinden.

Der Zug fuhr in Braunschweig ein.

Die Bummelbahn nach Goslar brauchte eine halbe Stunde, in der ich überlegte, was ich meiner Mutter als erstes sagen würde, wenn wir uns gegenüberstehen. Als ich später im Bus nach Hüttach saß, wusste ich immer noch nicht, was ich sagen sollte. Ich schaute aus dem Fenster. Der Regen schien nicht aufhören zu wollen. Ich betrachtete mein Spiegelbild in der Scheibe und zog die Mundwinkel nach oben. Wann regnet es hier nicht? Achte Klasse, Erdkundeunterricht bei Herrn Poldinger: Hat mit den Staueffekten zu tun. Die feuchten Westwinde regnen sich an der Westflanke des Gebirges ab. Das habe ich mir gemerkt, weil ich den Poldinger mochte. Ich stellte mir immer vor, er wäre mein Vater. Ich hatte mir ständig Männer ausgesucht, die ich gerne als Vater gehabt hätte. Mein Vater war gesichtslos. Den kannte nicht einmal meine Mutter, aber das habe ich erst viel später erfahren.

Ich sah meine Mutter an der Haltestelle stehen und eilte auf sie zu. Ich wollte nicht nass werden.

In unvertrauter Nähe standen wir unter dem aufgespannten Schirm.

»Scheiß Wetter!«, sagte ich und schaute dem Bus hinterher.

»Soll auch morgen noch ordentlich regnen.« Dann machten wir uns auf den Weg.

 

*

 

Trotz der strengen Mittelscheitelfrisur (ich kannte sie gar nicht anders), die im Nacken von einem Knoten kontrolliert wurde, strahlte meine Großmutter etwas Freundliches aus, was auch an den ungewohnt volleren Lippen liegen mochte. »Beiß die Zähne zusammen, ich tue mein ganzes Leben nichts anderes!« Ihr Leben war nun vorbei. Sie musste die Zähne nicht mehr zusammenbeißen, die ihre Lippen zu einem Strich verkommen ließen. Sie hatte es geschafft. Ich betrachtete ihren Tod als Erlösung, hatte sie mir doch stets von der Bürde erzählt, die ihr der Liebe Gott auferlegt hatte. Leben bedeutet Leiden. Meine Mutter und ich durften da keine Ausnahme machen.

Am offenen Sarg konnten wir uns verabschieden, bevor sich die kleine, ungeheizte Kirche füllen würde. Meine Mutter zupfte an Großmutters schwarzem Kleid, als müsste sie einen Fussel entfernen. Ich legte kurz meine Hand auf ihre Stirn. Reine Neugierde. Ich wollte nur wissen, wie sich ein kalter, menschlicher Körper anfühlt. Dann nickte ich dem Gemeindearbeiter zu, der teilnahmslos am Eingang stand. Der schloss den Sarg.

Großer Gott, wir loben dich.

Der Chor löste sich nach der Andacht auf und letztendlich standen wir zu sechst im Regen an der Grube. Ich fühlte mich ein bisschen schlecht, weil ich nicht traurig war. Jetzt an Leo zu denken, nur um traurig zu werden, empfand ich als Verrat. Ich schaute zur Seite, traf den Blick meiner Mutter und verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. Diesmal standen wir jeweils unter einem eigenen Schirm. Sie lächelte zurück. Sah aus, wie ein Alles-wird-gut-Lächeln. Kurz meinte ich daran glauben zu dürfen. Dann wurde der Sarg hinabgelassen, und ich dachte daran, dass wir jetzt nur noch zu zweit waren und dass man sich darum kümmern müsste.

Statt des üblichen Leichenschmauses im Wehrhaften Schmied, der einzigen Gaststätte in Hüttach, die sich auch nur wegen der Kegelbahn halten konnte, hatte meine Mutter ein großes Blech Streuselkuchen gebacken. Auf einen Kaffee, bei ihr zu Hause. Sofia Kowalski war die einzige, die der Einladung folgte. Da mag Dankbarkeit eine Rolle gespielt haben, denn meine Großmutter hatte ihr das Ehrenamt in der Kirchengemeinde überlassen, als das bei ihr mit der Arthrose immer schlimmer wurde. Sofia Kowalski erzählte mit vollem Mund, wie glücklich sie mit dieser Aufgabe sei und hatte Mühe, dabei die Krümel zurückzuhalten. Ob uns das Blumenarrangement gefallen habe, das rechts vom Altar stand? Zum Stolz gönnte sie sich einen kräftigen Schluck Kaffee. Ich hatte tatsächlich während der Andacht zu den Blumen geschaut. An dieser Stelle hatten schon immer Blumen gestanden, darum hatte sich meine Großmutter jahrelang gekümmert und es war eine von ihr angesagte Selbstverständlichkeit gewesen, dass ich sie dabei begleitete.

 

»Wirst du in Hüttach bleiben?«, fragte ich meine Mutter, die den Rest vom Streuselkuchen in Stücke schnitt, um sie einzufrieren.

»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.« Sie bewegte ihren Kopf hin und her und fuhr dabei mit den geschlossenen Lippen am Zeigefinger entlang. Eine Angewohnheit, die ich gut kannte. Dann grübelte sie, um danach doch alles beim Alten zu belassen.

»Du könntest das Haus verkaufen und irgendwo neu anfangen. Was hält dich in diesem Kaff, in dem es bis heute nicht zu einer eigenen Fußballmannschaft gereicht hat? Ganz zu schweigen von einer freiwilligen Feuerwehr …« Ich musste lachen.

»Es ist schon komisch, dass sie nicht mehr da ist.« Meine Mutter schaute auf den leeren Stuhl am Kopfende des Küchentischs. »Ich hatte es mir immer gewünscht … nein, vorgestellt hatte ich es mir, aber jetzt …«

Ich hatte Angst, dass sie anfangen würde zu weinen. Sie zu trösten, wäre mir zu viel Nähegewesen.

 

*

 

Das unerwartete Licht der Morgensonne in der Küche erhellte auch meine Stimmung etwas. Allerdings roch es nicht mehr nach frischgebackenem Streuselkuchen ‒ der Weihrauch hatte sich wieder durchgesetzt. Er wird noch Jahre in diesem Raum festhängen so wie der Zigarettengestank in so mancher Kneipe in Berlin. Eingenistet in jeder Pore.

»Das dient der Reinigung.«, hatte meine Großmutter jedes Mal gesagt, wenn sie das Teelicht unter dem Stövchen anzündete, damit die Harzkörner ihren Duft absondern konnten. Ich schaute zur Eichenkonsole in der Ecke, mit dem geschnitzten Jesus am Kreuz. Der Kopf mit der Dornenkrone befand sich in einem Neigungswinkel, der es dem Sohn Gottes erlaubte, uns bei jeder Mahlzeit zu beobachten. Ich mochte das nicht. Machte ich Hausaufgaben, setzte ich mich auf den Stuhl, auf dem ich ihm den Rücken zukehren konnte. »Der Sohn Gottes ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben.«, ermahnte mich meine Großmutter meine gesamte Kindheit lang. Als ich erfuhr, dass das schon so lange her war, fühlte ich mich auch nicht mehr so schuldig, weil er ja für meine Sünden gar nicht mehr sterben musste, er war ja schon tot. Aber ich musste immer daran denken, wie fürchterlich das wohl wehtat, wenn man Nägeldurch Hände und Füße geschlagen bekommt.

 

Meine Mutter kam ganz in Schwarz durch die Tür. Die Haare noch offen. Eine Kaskade dunkler Locken, die sie im Begriff war, mit einer Spange zusammenzufassen.

»Lass das so!«, rief ich. Sie sah damit so anders aus. Ich dachte, das könnte ein Anfang von etwas Neuem sein, aber dann klickte schon die Spange.

»Willst du jetzt den Rest deines Lebens Schwarz tragen so wie deine Mutter?« Ich war wütend wegen der Haare. Sie hatte so schön damit ausgesehen.

»Nur bis zum Sechswochenamt.«

»Du weißt doch, im Dorf …« hörte ich mich gehässig und mit verstellter Stimme sagen. Dann tat sie mir leid.

 

Nach dem Frühstück beschlossen wir, zum Friedhof zu gehen. Da die Novembersonne in unseren Gesichtern noch angenehm spürbar war, nahmen wir nicht den direkten Weg, sondern machten den Schlenker zur Kastanie mit der umlaufenden Bank. Wegen des Anstiegs kamen wir ins Schwitzen und knöpften unsere Mäntel auf. Auf die Bank setzten wir uns mit Blick Richtung Brocken, der nur bei klarem Wetter in der Ferne auszumachen ist. Und das war an diesem Morgen ganz besonders der Fall.

»Schau, der erste Schnee hat ihm eine Haube verpasst. Erinnerst du dich, dass ich als Kind immer hinwollte zum Schlittenfahren, wenn es hier bei uns bisher nur geregnet hatte?«

»Du wirst lachen, ich war noch nicht einmal oben, seit es möglich ist.«, sagte meine Mutter, ohne das Panorama aus den Augen zu lassen.

Ich hatte damals nie eine zufriedenstellende Antwort bekommen, wenn ich fragte, warum wir da nicht hinkonnten. Dann wird auf uns geschossen. Angst schien immer ein gutes Mittel, damit ich mich widerstandslos fügte.

»Wir beide könnten einen Ausflug zum Brocken machen, solange ich noch hier bin. Was meinst du?«

»Jetzt sollten wir erst einmal zum Friedhof aufbrechen, mir wird kalt.« Demonstrativ schlug sie ihren Mantel vor der Brust zusammen und stand auf.

»Wir könnten den Bus nach Schierke nehmen und dann mit der Schmalspurbahn nach oben. Also ich hätte richtig Lust dazu!« Und das stimmte. Ich hatte plötzlich sogar auch Lust auf meine Mutter, die vor mir herlief, groß, schlank und mit diesen wundervollen Haaren. Richtig jung sah sie von hinten aus, sie hätte eine Freundin sein können. Ich überlegte, einen Schritt zuzulegen und mich bei ihr einzuhaken. Aber dann dachte ich, dass ein gemeinsamer Ausflug zum Brocken als Anfang reichen sollte.  

 

Auf Großmutters Grab türmte sich kein gebundenes Grün mit breiten Schleifen, auf denen letzte Grüße und viele Namen gedruckt waren. Drei Gestecke und zwei Thuja-Kränze mit Trauerschleifen ließen reichlich von der frischen, feuchten Erde ausmachen, die sich erst setzen sollte, bevor der Grabstein seinen Platz einnehmen konnte. Das provisorische Holzkreuz neigte sich etwas zur Seite. Der vom Regen aufgeweichte Boden bot nicht genügend Halt.

 

 

Frida Schachmeier geb. Schuch    

*12.04.1940   † 09.11.2019

 

 

FRIDA - Koltenbach, Mai 1946  

 

Frida stand stumm und barfuß am Rande des Weihers, hinter dem auf der eingezäunten Weide seit Ostern die Kühe grasten. Sie hatte ihre Mutter noch gefragt, ob sie Schuhe und Strümpfe ausziehen dürfe, weil es doch schon Sommer sei. Zwar wusste Frida, dass der Mai nicht zum Sommer gehört, das hatte Fräulein Waldner erklärt. Frühlingslieder. Jeden Morgen vor dem Unterricht wurde den Jahreszeiten entsprechend gesungen. Komm lieber Mai

Frida hatte gar nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter die Erlaubnis geben würde. Zwar nickte sie nur, aber das reichte. Ihre Mutter war generell sparsam mit Worten. Und jetzt trieb sie mit ausgebreiteten Armen und dem Gesicht nach unten auf dem dunklen Wasserspiegel in der Mitte des Weihers, von dem die Pflanzenwelt noch nicht Besitz ergriffen hatte.

Frida wollte schreien, aber es ging nicht. Der Mund blieb tonlos offen, auch noch, als der Vater kam und sie ins Haus brachte.

 

*

 

»Deine Mutter kommt nicht in den Himmel!« Die meisten Kinder der kleinen Dorfschule hatten das boshafte Bedürfnis, Frida immer wieder daran zu erinnern. Dabei wusste sie das schon seit dem Tag der Beerdigung selbst. Nicht nur der Pfarrer verweigerte ihrer Mutter die letzte Ruhe in geweihter Erde. Es gab genug Gläubige in der Gemeinde, die auf der Nordseite der Friedhofsmauer bestanden, dort, wo auch die beiden ungetauften Kinder lagen.

Die Hölle stellte sich Frida genauso vor, wie es im Kindergottesdienst erzählt worden war. Vielleicht sogar noch schlimmer, jetzt, da sie wusste, dass ihre Mutter mit all den anderen Sündern schreiend in den Flammen sitzen würde. Das wollte Frida nicht, und deshalb fing sie in ihrer Verzweiflung an zu beten. Sie dankte dem lieben Gott jetzt nicht nur vor jeder Mahlzeit, sondern sie bat ihn auch immer wieder auf Knien und mit unzähligen Versprechen, ihre Mutter doch in den Himmel zu holen. Ob ihre Gebete erhört wurden, darauf gab es keine Antwort, und deswegen hörte sie mit dem Beten auch nie mehr auf.

 

Als hätte die Mutter mit dem Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen, darauf gewartet, bis Frida eingeschult wurde. »Jetzt bist du groß«, hatte sie gesagt und ihr zur Feier des Tages weiße Schleifen in die langen dunklen Zöpfe gebunden.

In der Zuckertüte steckte zwischen einem selbstgestrickten Pullover und Socken mit roten Kirschen, die an einer im Bündchen durchgezogenen, grünen Kordel baumelten eine Tafel Schokolade. Tagelang roch Frida nur daran, denn wenn sie erst einmal aufgegessen war, würde es sehr lange dauern, bis es wieder welche gab. Mit Verzicht kannte Frida sich aus. Sie war in den Mangel hineingeboren worden, der auch nach Kriegsende noch lange allgegenwärtig war. Zwar litten sie keinen Hunger auf dem Bauernhof mit den Kühen, den Schweinen und den Hühnern, es blieben aber genügend andere Entbehrungen. Und um zu all dem nicht auch noch frieren müssen, sammelte Fridas Mutter das ganze Jahr über Brennholz im nahegelegenen Wald.

So auch vor zwei Jahren, als der Bürgermeister am frühen Morgen vom Hochsitz aus auf den kapitalen Hirsch wartete, dann aber das Interesse daran verlor, als Fridas Mutter im Gesichtsfeld seines Fernglases auftauchte. Er beobachtete sie so lange, bis von einer Hemmschwelle nichts mehr übrig war, und Fridas Mutter kehrte dann ohne Holz aus dem Wald nach Hause zurück. Scham und die vielen Abzeichen auf dem Revers des Bürgermeisters hielten sie davon ab, sich irgendjemandem anzuvertrauen, auch nicht ihrem Mann. So behielt sie für sich, was ihr die nach Kriegsende neu erwachte Lebensfreude wie ein vernachlässigtes Pflänzchen verkümmern ließ.

Frida spürte die Veränderung ihrer Mutter, vergaß aber mit der Zeit, wie sie einmal gewesen war und nahm die tiefe Traurigkeit und die wenigen Worte, die sie an sie richtete, als gegeben hin.

Jetzt aber war sie nicht mehr da, und das spürte sie in allen Momenten, aus denen sich ein Tag zusammensetzt. Wenn sie weinte und nicht in den Schlaf finden konnte, klopfte sie beim Vater an der Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte sie die Klinke nach unten und stellte sich an das Fußende seines Bettes. Der schlug das Federbett der Mutter zur Seite und strich Frida kurz über den Kopf, bevor er wieder die monotonen Geräusche von sich gab, die auch Frida hinwegdämmern ließen.

Irgendwann war das Bett der Mutter zu ihrem Bett geworden. Sie durfte noch liegenbleiben, der Vater weckte sie, nachdem er die Kühe gemolken hatte.

»Wer lange schläft, muss auch was dafür tun.«, sagte er eines Tages, und von da an war es an ihr, sich um das Frühstück zu kümmern. Frida musste auf einen Stuhl klettern, um an die Tassen und Teller im Hängeschrank zu kommen.

 

 

 

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