Einleben – Eine Frau erzählt uns ihre Beobachtungen, Gedanken und teilt ihre Fragen. Im Mittelpunkt: ein Paar, das sich verliebt und verlebt. Als Obdachlose sind es nur Fragmente der beiden Leben, die sie mitbekommen kann. Sie versucht dennoch zu entschlüsseln, wie es um das Paar und jeden einzelnen steht – und um sich. Der konkrete Blick auf die beiden erweitert und verklärt sich bisweilen durch eigene Erinnerungen, Einsichten und Erkenntnisse einer eigenen Beziehung. Wir winden uns mit ihr durch ein sich entwickelndes Miteinander aus gemeinsamem Zweifel und individuellen Krisen und in die Geschichte einer Frau, die aus einer vergangenen, sehnsuchtsvollen Zeit in einem Leben auf der Straße angekommen ist. Dabei schneidet sie Fragen und Themen der Gesellschaft, der Liebe und des Individuums der Moderne an. Wir erleben, wie eng alles verwoben scheint, obwohl unsere Zeit mehr und mehr zersprengte und scheinbar isolierte Lebens-, Gedanken, Gefühls- und Entscheidungsprozesse hervorbringt. In Teilen verschwimmen Beobachtung und Allwissen; Projektion und Fakten, Hoffnung und Wirklichkeit werden unbemerkt Komplizen. Im Verlauf begleiten wir die Entwicklung des Paares, Stück für Stück bekommen wir ein Gefühl, eine Ahnung, warum die Erzählerin dort ist, wo sie heute ist. Wir leben uns in ihr Leben ein, wie sie sich in das Leben der beiden einlebt und die beiden womöglich in die Möglichkeit einer Paarbeziehung.
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Jeder hat nur ein Leben – Leicht hochgezogene Augenbrauen versuchten ihm Bestätigung abzuringen. Ein sicherer Auftritt, der die Worte noch zu betonen schien und im selben Moment ein klarer Blick in ein nicht anwesendes Publikum meinten fast eine lehrreiche Erkenntnis zu vermitteln. Diese Art ist ihr eigen. Unsicherheit, überlagert von kaum anzufechtendem Heldeneifer. Ich weiß nicht, ob es damals die Melodie des Satzes oder der Inhalt war, der mich aufhören ließ, oder das Scheppern ihrer Blechstimme. An irgendetwas bleibe ich hängen. Es lässt mich im Klang ihrer Worte verweilen. Eine kleine Szene, wie ich sie doch jeden Tag sehe und dennoch: Szene eins, Auftritt – in diesem Moment öffnete sich ein Vorhang, von dem beide wohl nie erfahren würden. Keiner würde je erfahren, was ich sehe. Wie kommt es dazu, dass man morgens um drei Uhr eine solche Prosa von sich gibt und in die noch leicht belebten Straßen postuliert, was anderen in keinem Leben über die Lippen geht. Alkohol? Sie wirken nicht betrunken. Nur müde. Existenzialismus? Nicht an einem Dienstag. Es ist doch Dienstag? Ein einfaches Zitat? Ich weiß nicht, wen ich fragen sollte, ob das je schon mal gesagt wurde. Sie ist auf eine besondere Art schön. Nicht üblich. Vielleicht ist Normalität manchmal von besonderer Schönheit. Ich spüre, wie ein Lächeln auf meinen Lippen entsteht. Fast erschrecke ich mich. Wie lang ist das her? Und was ist es für eine Art von Lachen? Zynismus fühlt sich schmerzhafter an, aber Freude? Belustigung steht mir nicht zu. Ich merke, es ist ein Vermissen. Ich fühle, wie ich Normalität vermisse. Es ist ein Lachen der verdrossenen Vergangenheit, wie die Erkenntnis alter Menschen unter großer Gelassenheit, das Grinsen von Wissenden, die mit angrenzender Überheblichkeit zeigen, dass man schon noch seine Lehre ziehen wird. Aber wie ist das, wenn man keinen Weg gegangen ist, der zu diesem Punkt führt? Ich bin nicht alt – nicht üblich alt. Aber ich fühle mich, als sei ich älter als alle, die an mir vorbeilaufen. Auf jeden Fall bin ich älter als sie – vielleicht. Es könnte sogar sein, dass wir gleich alt sind; oder zumindest ein ähnliches Alter haben. Sie stolpert fast. Er fängt sie auf eine bezaubernde Art, indem er einfach standhält und sie wie eine Billardkugel an der Bande sachte wieder in auf ihre Bahn schickt. Wie kannst Du nur so sachte sein, Du der es kaum schafft ihre Hand zu halten? Es ist ein Aufblitzen von echten Emotionen, von echtem Mitgefühl, es ist fast höflich, wie er sie nicht auslacht, nicht fallen lässt, sich nicht unsicher erschrickt, oder ihr zu spät zu Hilfe kommt. An seinem schwarzen Mantel prallt sie einfach sachte ab. Zwischen Pfützen aus dreckigem Regenwasser und altem Bier, neben Scherbenhaufen von Flaschen und den nicht gelebten, zerbrochenen Leben dieser kleinen Großstadt, lässt sie sich fallen, als läge vor ihr kein grauer, kalter Asphalt, sondern eine weiche Decke, die ein Bett noch einladender macht, als es in der kältesten Nacht sein kann. Sie könnte auch einfach liegen bleiben an seinem Arm, in diesem Moment, in seinem Herz.
Ich erinnere nicht, wann ich zuletzt in einem Bett geschlafen habe, ohne Angst. Ich erinnere mich nicht daran, wann ich ohne Angst eingeschlafen bin. Ich erinnere mich vielleicht daran, aber es ist nicht auszuhalten, diese Bilder zuzulassen; als er mir über mein Haar streichelte und ich nicht wusste, ob ich sauer sein soll, dass er mich weckte oder nie wieder anders geweckt werden wollte. Denn es war egal, was ich wollte. Seine Hand passte perfekt an meinen Hinterkopf, oder andersherum. Keine Hand wusste je so sehr mein Haar entlangzufahren, als würde es sich unter den Fingern erst entscheiden, wie es fällt. Das Knistern der Strähnen in meinem Ohr, wie letzte Holzscheite eines Lagerfeuers kamen in mein Ohr und ich schreckte aus tiefem Schlaf. „Dein Zorn am Morgen ist unvergleichlich schön.“ Oft wusste ich nicht, ob er mich schon so früh am Morgen ärgern wolle, oder wie er in meinem verschlafenen Gesicht Schönheit sehen konnte. Der Zorn oder allemal ein kleines Grummeln folgte spätestens nach Sätzen wie diesen. Irgendwann merkte ich, dass ich eine kleine zarte Falte zwischen meinen Augen formte, wenn ich die Augen aufmachte. Kinder, die noch nicht aufstehen wollen, die aus einem schönen Traum gerissen werden oder einfach keinen Grund darin sehen, den Tag zu beginnen, haben diese Falte. Es ist kein Zorn. Es ist der vage Zweifel, warum etwas aufhören muss, wenn es doch so bedingungslos gut ist. Zu spät merkte ich das. Da war es schon nicht mehr seine Hand, die mich morgens aus dem Schlaf riss. Keine Hand weckte mich mehr. Eigentlich weiß ich gar nicht, ob da noch jemand neben mir lag. Das Loch in meinem grünen Samt-Kissen, das ich lange schon genäht haben wollte, stattdessen aber immer weiter mit dem Finger aufbohrte, schien das Einzige, was mir Beweis war, dass es eine andere Zeit gab. Die Naht ging auf, als er mich verlassen wollte und ich mir das Kissen vor den Mund hielt, um mit meinem Weinen die Nachbarn nicht zu erschrecken. Und vielleicht auch, damit ich die Tränen nicht spüren müsste, die dieser Situation zu viel Realität eingehaucht hätten.
Heute ist Realität wohl das einzige, an das ich mich halte. Aber heute weine ich auch nicht mehr. Und heute hat mein Kissen auch kein Loch mehr. Heute gibt es das Kissen nicht mehr. Doch weiche Schultern, an die andere schmiegen können, gibt es noch. Das ist doch wie ein kleines Stück Hoffnung, das mit den beiden in mein Leben schwenkt – in dieses eine, in mein Leben.
Nachts ist man einfacher schön und einfach schöner – Im ersten Augenblick klingt es wie ein Kompliment und im nächsten wächst es zu einer Rechtfertigung in meinem Kopf. Sie strahlt ihn an, wie ein Kind, das darauf wartet, eine Belohnung für ein schön gemaltes Bild zu bekommen. Erwartungsvoll sind ihre Augen. Manchmal schaut sie, als kämen ganze Sätze aus ihrem Blick. Mehr als tausend Worte, denke ich mir. Ein Bild ist sie dann, sind sie.
Ich schaue oft in die Straße, aus der sie häufig gelaufen komme und frage mich, wie sie wohl heute auf meiner Bühne erscheinen, auf ihrer Bühne – auf der dieser Stadt. Wer sind die Zuschauer? Werden sie auch von anderen Menschen bemerkt? Sitzt vielleicht eine Straßenecke weiter der stille Mann auf diesem kleinen verlorenen, grauen Balkon und fährt sich durch sein dünnes weißes Haar, grübelnd, was die beiden bereden. Bis hoch zu ihm, wird man sie nicht verstehen können, so sehr die Nacht auch Stille über Straße legt. Er kann sie höchstens sehen. Bemerkt er sie überhaupt? Bemerkt er mich, wenn ich fast reflexartig meinen Kopf hebe, wenn ich bei ihm vorbeistreife? Er ist jede Nacht auf diesem Balkon. Er findet keinen Schlaf. In der schlecht ausgeleuchteten Straße wirft der leicht orange-gelbe Schein der einzigen Laterne einen Lichtkegel, der den Balkon streift; und sein Gesicht. Konturen weichen sich auf und sein Teint wirkt weniger blass als am Tag. Seine Gesichtszüge nehmen eine Milde an, die ich sonst nur schwer beschreiben kann. Etwas zwischen Zweifel und Zorn, ein wenig Trauer und Vermissen zeichnen die Falten um seine Augen. Vielleicht ist es aber auch der Tag, der ihn so fühlen lässt und nur deshalb ist er nicht im Bett, wenn alle anderen lange schon schlafen und sich in den Rhythmus einer Stadt legen, die Menschen wie ihn, wie schiefe Töne nicht erträgt. In dem Zwielicht dieser Straße sieht er aus, als hätte er seinen Frieden. Er ist fast schön, dieser Mensch, diese ruhige, leise, aber doch fühlbare Lebendigkeit, eingelassen in ein graues Mauerwerk aus altem Beton. Schön ist er, klingt es wie ein Echo in meinem Kopf und ich erinnere mich an ihren Satz. Vielleicht haben sie ihn auch gesehen. Vielleicht waren ihre Worte nicht älter als die wenigen Meter von seinem Balkon bis zu mir an die Ecke, an der sie, wie Scheinwerfer eines Autos in der Kurve auftauchen, kurzzeitig deutlich zu grell blenden und dann meinen dunklen Platz unter ein schöneres Licht stellen.
Sie will vielleicht doch gar kein Lob von ihm für ihre gewonnene und in schöne Worte verpackte Erkenntnis. Zumindest fühlt er sich nicht gemeint und sie scheint ihm das nicht übelzunehmen. Sein Blick liegt wieder mal in der Ferne auf einem Ziel, das es nicht zu geben scheint. Ihr strahlendes Auge trifft seines nicht mal, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass man diesen Blick nicht spürt, wenn er auf einem ruht. Ihre Augen blenden, denke ich mir. Ja, sie blendet im Blicken. Seine Augen hingegen wandern leer über die Bildfläche, vor ihm. Sie nimmt zärtlich und sogar vorsichtig seine Hand und er erschrickt sich halb, halb wacht er auf. Und wie er sie neben sich erkennt, legt sich Verwunderung und Zufriedenheit in sein Gesicht. Kleine Falten an den Augenwinkeln bilden sich dann, die in seinem harten Ausdruck ein Gefühl zeichnen, das ihr Angst nimmt und mir die Zuversicht gibt, dass er doch begreift, was für ein Mädchen er da gefunden hat. Mädchen. Wie alt wird sie schon sein? Ich fühle mich immer älter als jede Person, die ich sehe. Und wenn ich mich in einem Schaufenster spiegele, ahne ich, woher das kommt. Ich bin nicht mehr jung und vor allem nicht mehr schön. Auch nicht nachts.
Man kann kein anderes Leben führen – murmelt sie, als sie morgens aus seinem Haus taumelt. „In was bin ich hier reingeraten? Was ist das?“, grämt sie sich weiter. In etwas geraten. Das ist eine Perspektive auf das Leben, die ich nie verstanden habe. Ich gerate allerhöchstens in das Leben und damit in eine Geschichte, die verläuft und dann komme ich wieder raus – nie lebend. Aber im Leben, in all seinen Momenten und Facetten und in jede Begegnung – vielleicht wird man mal verwickelt oder ist in etwas verstrickt – aber in etwas hineingeraten, das kann man nicht. Denn dann gäbe es einen Ausweg und ein Zurück, man könnte hinausgeraten in Form von Erlösung.
Wenn ich mir sie angucke, wünsche ich mir, dass genau das möglich wäre. Seit Wochen sehe ich ihr zu, wie sie aufblüht, verwelkt, runzelt, strahlt und wieder verdirbt. Es ist ein seltsamer Prozess, den ich bei ihr beobachte und frage mich, ob es nicht mein eigener Prozess ist, den ich wiedererkenne. Es ist als würden Energien bei den beiden vom einen auf den anderen übergehen. Während es ihm besser geht und er zu Kräften kommt, friedlicher und fröhlicher wird, fängt sie an zu rauchen, verliert sich in Nächten ohne Schlaf und kommt aus all ihren Routinen, die sie mittlerweile als überzogene Kontrolle definiert. Vor kurzem waren es noch Ruheinseln. Sie war stolz auf ein bisschen Disziplin und Struktur. Es schaffte ihr Freiräume, die sie ausgestalten konnte mit Kunst, Meditation und dem Treffen von Freunden. Nun, als söge sie alles auf, was ihren Lieben ein Laster ist, ist wenig davon übrig und sie fragt sich häufig, ob das dieses Leben sei, was sie führen wollte, ob es diese Menschen sind, die ihre Zeit bestimmen. Und immer wieder kommt sie zu dem Schluss, dass es eben so ist, dass es kein anderes Leben gibt, gerade. Was würde sie in dem Moment tun, wenn sie ein anderes Leben hätte, wie verbrächte sie ein Wochenende anders, als mit ihm auf der Couch, backend, kochend, trinkend, essend, rauchend, wenn sie nicht in dieses geraten wäre? Wie? Eine Frage, die niemals einen Sinn findet. Es gibt eben kein anderes Leben. Sie füllt sich mit diesen fremden, ihre neuen Angewohnheiten, gibt ihre Gesundheit und ihren Frieden denen frei, die an ihr teilhaben und stößt an die Grenzen dessen, was sie fassen kann. Ein schlechtes Tauschgeschäft. Für sie aber kaum erkennbar. Sie sieht, wie in ihrer Anwesenheit ihre Freunde und Freundinnen energetisch und glücklich wirken. Nicht bemerkt sie, dass sie auch ihretwegen, durch sie strahlen und sie derweilen in Teilen auseinanderfällt. Du bist die Summe der drei Menschen, mit denen Du Dich am meisten umgibst. Dieser mir immer schon bekannte Satz wird in ihr schiere Evidenz. Sie trinkt zu viel, nach sechs Jahren hat sie das Rauchen wieder angefangen und keine Woche vergeht, in der sie sich nicht an eine Theke ziehen lässt, ohne dass es geplant war und es dann aber so unverhofft lustig wird oder zumindest so, dass sie am nächsten Tag darüber reden, schmunzeln oder grübeln kann. Erlebnisse in ihrem Leben, die zu ihrer Geschichte werden, einzig, weil sie sich mit Menschen umgibt, die eben so ihre Tage verbringen. Und so entsteht das Gefühl in ihr, dass nicht sie die ist, die alles gibt, sondern eben sie die ist, die ein kleiner Parasit in den Leben der anderen ist. Immer wieder kommt die Frage: Will ich das, oder will ich die Menschen, die Teil dessen sind? Ist das eine Phase? Hört sie auf? Wie komme ich zurück? Kein Zurück. Das Leben verläuft nur vorwärts. Einziger Ausweg wäre Veränderung. Aber sie lebt ja gerade mitten in einer Veränderung, in der sie sich einlebt, und wenn auch zweifelnd dennoch wohlfühlen lernt. Es ist Angst, das Neue zu verändern, Angst, dass es dann anders würde, weniger schön und dass die anderen ihre Veränderung ablehnen könnten. Als gäbe es Regeln für diese Zeit und diese Momente; als dürfe sie nicht mehr an ihnen teilhaben, wenn sie nur etwas besser auf sich aufpassen würde. Und immer auch das Gefühl, dass es sich doch eigentlich ziemlich schön anfühlt, wie es ist. Wo ist ihre Sicherheit entschwunden, dass sie jede Situation zu dem verändern kann, was sie von ihr wünscht? Wie ist sie zu all diesen Bedingungen gekommen, die ihr Leben neu strukturieren? Manchmal fühlt sie sich wieder wie zwanzig, als so viel egal war und jeder Tag einfach nur in den nächsten führte. Wenn er dann anbrach, erinnerten nur noch Kopfschmerzen und vielleicht ein laues Gefühl, gestern Dinge gesagt haben zu können, die man wohl dann und wann zu bereuen haben würde, an den Tag davor. Sie fühlt sich wie in einer Zwischenzeit und dieses Gefühl schon macht ihr Angst, dass sie alles, was sie gerade erlebt und sich zu eigen macht, wieder gehen lassen müsste. Denn ewig könnte es ja nicht so weitergehen. Ihren Job könnte sie nicht für immer so wenig ernst nehmen. Sie könnte Projekte doch wirklich nicht ewig einfach aufschieben. Sie ist sich bewusst, dass das schon möglich wäre, doch sieht sie im gleichen Moment vergeudete Leben und verlebte Menschen, die sich ohne Ziel und Fokus einfach irgendwann auflösen. Mal ganz abgesehen von der Gesundheit, die sicher nicht unbegrenzt mitmachen würde, was sie so ohne Hadern anstellt.
Ich verstehe ihre Zweifel gut, denn ich hatte sie nie und bin nun in etwas geraten, aus dem ich, weil es einfach nicht möglich ist, nicht raus geraten kann. Es geht einfach weiter, nur die Abzweigungen, die man nehmen kann, sie werden weniger und unauffälliger. Fast schon muss ich Glück haben, eine zu entdecken und dann Mut und Muße haben, sie zu gehen. Ich habe mich zu lange in Sicherheit gewiegt. Er hat mir auch nie ein Warnsignal gegeben, indem wer seine Zweifel mit mir geteilt hat. Hätte ich seine Zweifel gewusst, hätte ich vielleicht früher darüber nachgedacht, ob das wirklich Leben ist, was wir tun oder ob wir warten. Sie trägt den Zweifel schon immer in sich. Nie hat sie so bewusst gezweifelt, doch auch hat sie den Zweifel nie so bewusst gehen lassen.
Er spricht ab und zu über seine Unsicherheiten. Das gibt ihr die Chance zu verstehen, wo er ist und hinwill, was für ihn normal ist und wo er sich einzuleben vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, was das für ein Glück ist. „Du beruhigst mich. Sobald Du zur Tür raus bist, werde ich fahrig und habe keine Impulskontrolle mehr.“ Ein schönes Kompliment und gleichzeitig eine große Verantwortung; vor allem für ihre eigene Entwicklung. Eine freundliche Bühne, fast ein Angebot, dass sie sich nicht fürchten muss, wenn sie sich entscheiden würde, sich zu verändern oder mit neuen Beschäftigungen ihre Zeit zu verbringen. Er würde mitgehen. Und wenn er nicht mitmachen wollte, würde er sich einfach in seine Bahnen fallen lassen und warten, bis sie wieder andockt.
Was ist Lust und was ist Sucht – Ich kann sie gut verstehen. Ich habe mich das auch häufig gefragt – über sie und über mich damals noch häufiger. Habe ich mir nicht wahnsinnig oft eingeredet, dass ich etwas aus großer Lust mache, das Leben und den Moment genießen? Und immer war es auch eine Ausrede, dass ich es brauchte, um nicht still werden zu müssen. Ein Thema, das man in vielen Geschichten findet: Der Drahtseilakt zwischen Genuss und Verhängnis und wie man es schafft, sich selbst zu betrügen. Wen lügt man dabei eigentlich wirklich an? Welche Angst hat man? Von anderen verurteilt zu werden, für seine Laster? Ich war immer gerne lasterhaft, aber ging beschämt damit um. Weder habe ich ihm davon erzählt, wenn ich über die Stränge geschlagen hatte, noch konnte ich antworten, wenn er mich zur Rede stellte. Selbst seine Neckereien am Morgen über meine Augen, die aussähen wie Pantoffeln, schmeichelten mir nie. Ich hatte wohl nicht das Problem, dass er mich kommentierte oder wie er es tat – ich fühlte mich schlicht und einfach ertappt. In einer Sekunde war der ganze Spaß, den ich empfunden hatte, passé und ich schämte mich. Ausdruck bekam meine Scham durch Zorn. Er war viel erwachsener und sagte immer, ich müsse doch Rückgrat, zu dem Unfug, den ich anstellte, beweisen können – oder es lassen. So einfach war sein Leben. „Verantwortung übernehmen“ leuchtete dann, wie die Handfläche meiner Mutter, über seinem Kopf, wie ein Heiligenschein. Und ich war die Sünderin.
Bei den beiden stellt es sich ganz anders dar. Sie leben und lieben ihre Eskapismen. Wenn sie abends doch an der Theke hängen blieb, schmiegt sie morgens in gespielter Demut ihren Kopf an seine Brust. Er gibt kurzen Zorn vor, der in seinen Augen aber eher eine Mischung aus kindlichem Neid und Stolz ist. Er kann sich mit ihr freuen. Deshalb erzählt sie ihm auch alles; nicht direkt. Aber sie erzählt ihm, wer da war, was sie tat und trank und dass sie Spaß hatte. Er schickt ihr Nachrichten voller Liebe und Ehrlichkeit und der Fußnote, dass er gerade zu Hause eine Flasche Wein getrunken hat. Es ist wie der offene Diskurs über die Fehlbarkeit von Menschen. Was gibt es schon zu verschweigen? Oder ist es doch immer ein Beichten? Und ist es vielleicht sogar verhängnisvoll, so ganz ohne Restriktion oder zumindest eine Art Realitätsabgleich, der auch mal verlauten lässt: Nein, das ist nicht normal, es ist zu viel oder zu wenig. Sie nehmen sich gemeinsam vor weniger zu rauchen und bestätigen, dass man morgens vor dem Laufen nicht unbedingt eine Zigarette anzünden muss. Sie gehen gemeinsam laufen, spazieren und planen Aktivitäten, aber zelebrieren es nach dem Abendessen und einer Pause noch mal in der Küche in die Töpfe zu gucken. Sie beschließen auch einen Abend keinen Wein mehr aufzumachen, nachdem sie den Kochwein leer getrunken hatten. Und auch fragt sie ihn, ob es wirklich gut ist, dass sie seine Freude am Daydrinking unterstützt. „Schlecht kann nicht sein, was Dir auch Spaß macht.“, antwortet er gelassen. Und sie fühlt sich nicht ertappt. Sie lächelt verschmitzt und wundert sich abermals darüber, wie schnell Vernunft über Bord geworfen werden kann. „Alles eine Phase.“ Das sagt er dann mehr zu sich als zu ihr. Und dennoch beruhigt sie das, denn seine Vergangenheit ist geprägt von weitaus mehr als Wein und Zigaretten. Aber selbst das erzählt er ihr und ist gleichzeitig verblüfft, wie wenig Angst und Zweifel oder Widerstand es in ihr auslöst. „Von Dir zu wissen, ist etwas wert, über Dich zu richten oder zu urteilen nicht. Was soll ich Dich verändern? Dann bist Du nicht mehr Du. Und Deine Vergangenheit ist doch eh schon vorbei.“ Und ja, es bewegt sie. Sie mag ihn und hat Sorge um Alkoholismus und Drogenmissbrauch. Bewusstsein ist dafür da, was passiert und wo es herrührt. Aber sie kennt auch sich. Sie ist in manchen Angelegenheiten keinen Deut besser; also was soll sie ihn verändern wollen? Nie wieder ohne Augenhöhe. Ein Schwur, den sie sich gab und hält. Nichtsdestotrotz irritiert mich das gegenseitige Verständnis manchmal ungemein. Sie sind wie Fische in einem Schwarm aus zwei. Bewegen sich miteinander, wiegen sich in Wellen des Lebens und des Exzesses und der Ruhe. Fast ein Tanz der Aushandlung über sich und ihr Miteinander. Ein gemeinsames für und wider. Und so beneidenswert ich es finde und großartig und schön zu beobachten, weiß ich dennoch nicht, wie dieser Frieden halten kann.
Was bringt uns heim und wo soll das sein? - Ihre Worte verstummen in einer noch nicht fertig gestellten Frage. Ich bekomme nicht mit, ob der Satz weitergeht, oder ob sie tatsächlich abbricht. Ihre Augen sind traurig. Ich habe das Gefühl, dass sie keine Worte hat, heute, aber so sehr darum ringt. Was hätte er schon zu tun, damit sie ihn nach Hause bringt? Ihre Worte klingen, wie ein Halm, an dem sie sich noch festzuhalten versucht. In seinen Augen sieht man, dass ihre Traurigkeit nichts mit ihm zu tun hat. Sie ist erschöpft. Ihre ewige Energie scheint Grenzen zu berühren. Ich erinnere mich, wie anstrengend es sein kann in einer Beziehung das Level der Liebe aufrechtzuerhalten, wenn man selbst kämpft. Sich preiszugeben in der Schwäche ist fast schwieriger, mit einem Menschen, den man mag. Ja, sich fallen lassen ist zwar möglich, aber kann sie das? Wenn sie die Treppe vor ihm rauf läuft und im ersten Stock am Fahrrad zusammenbricht in Tränen, er ihr aufhilft und sie stützt. Kann er das ertragen? Hält sie durch auf dem Weg mit ihm, auf dem sie mit Vorsicht ihre kleinen Ecken und Kanten in langsamem Vertrauen lebt; hält sie hier aus, was sie mit ihrem besten Freund in Leichtigkeit erleben durfte? Einfach zusammenbrechen und hoffen, dass er da ist und sie wenigstens für den Moment wieder zusammenflickt. Wenigstens so kurz, dass sie ohne Schmach durchs Treppenhaus in die Wohnung kommt. Wie entsteht das Vertrauen, sich fallen zu lassen? Hier ist es ein sehr vorsichtiges Versuchen. Das ist doch kein Vertrauen. Was kann man von einer Beziehung verlangen? Sie kriecht die Treppe hoch und schaut ihn mit leeren, roten Augen an. Nie war er so nüchtern wie heute. „Ich kann das nicht.“ Der Satz hätte von beiden stammen können, aber er kommt aus ihrem zitternden Mund. Er fragt sich, ob das nun die Stelle ist, an der alles andere nur ein Spiel, ein Schauspiel war. Die Erinnerung wird aber wach, dass das Maß an Verrücktheit, an Sensitivität und Labilität so viel größer war, als es ihn damals übermannte, in der Nacht als er sie entdeckte. Schließlich habe ich mir das ausgesucht. Was erwarte ich schon, wenn ich diese Frau meine nennen mag? Dass alles immer einfach ist und wieso soll sie sich immer im Griff haben, wenn ich jede Woche an Theken hänge, um aus dem Wahnsinn einen Modus zu machen? „Ich denke, wir können das.“, antwortet er zuversichtlich. Das Licht der kaputten Lampe im Hausflur flackert, wie ihr zitterndes Herz. Sie hat Angst, ihn genau jetzt zu verlieren. So war es schließlich immer. Sie zeigt Herz und Verstand, macht sich frei und kämpft tagein, tagaus dagegen an, jemand zu sein, der sie nicht ist. Immer auf der Hut, dass genau das die Falltür sein könnte. Ist das nicht die selbsterfüllende Prophezeiung? Wenn man es befürchtet, wird es kommen. Doch wie wird man gelassen und vertraut, dass nichts passieren wird, wenn man das ganze Leben erfahren hat, dass eben doch etwas passiert, vergeht und nicht mehr ist. „Und wie? Wie soll das gehen? Wie willst Du mich jetzt ertragen?“ Ihre Stimme überschlägt und sie ist weit weg aus der Realität. Sie ist im Drama; mittendrin. Sie blickt die Treppen runter und weiß nicht, ob wegrennen oder runterstürzen. „Du musst das nicht ertragen – es ist meins und nicht deins.“ Sie proklamiert mit Wille und Wehr, ihn von sich zu stoßen. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sie zu verlieren. Er wusste vom ersten Augenblick mit ihr, dass es nicht einfach werden würde. Das war es nie. Und doch war das so sehr – bis hier. Vielleicht war es viel zu einfach und vielleicht hätte er längst mal ein paar Knöpfe drücken sollen, um zu sehen, was sie gemeinsam aushalten. Aber hat er das nicht?
In seinen letzten Jahren war er immer einfach er. Seit sie sich kennen, hat er nie in Erwägung gezogen, dass sie dieses eigenbrödeln schlecht auffassen könnte. Es galt: Er, wie er eben ist, oder gar nicht. Und wie er das denkt, schaut er sie an und versteht, dass nichts passiert in diesem Moment. Nur ist sie jetzt einfach mal an der Reihe. Sie, wie sie ist, oder gar nicht. Und dazu gehört diese unendliche Traurigkeit, die sie an anderen Tagen strahlen ließ, dass er sich in ihr sonnte und wärmte. „Was Deins ist, ist aber auch meins – zumindest, wenn wir beieinander sind. Also bleibst Du jetzt bitte noch etwas bei mir, lässt mich Dir zeigen, dass wir das können, dass ich das kann, dass ich Dich trage und ertrage und dass mich das sogar stolz macht, endlich jemand sein zu dürfen.“ Die letzten Sätze bekommt sie nicht mehr mit. Sie bricht in Tränen aus, die ich noch Wochen in mir hallen hörte. Es sind keine Tränen, die ihm gelten, nicht dem Tag und vielleicht nicht mal ihrem Leben. Es sind Tränen, die sie für die Menschheit weint, echter Weltschmerz. Im ersten Stock auf einer knarrenden Holztreppe gelehnt an ein Fahrrad, das schon so lang nicht mehr fuhr; dort zerbricht eine Welt und wächst eine Blume. Er wird ganz weich um die Augen. Nicht voller Mitleid, sondern voller Dankbarkeit. Er nimmt sie unter Armen und Knien hoch – nie hätte er gedacht, dass er so viel Kraft haben könnte. Aber Not macht stark; oder Liebe. Die Treppen sind zu nehmen. Wie er die Tür öffnen könnte, weiß er nicht, aber es ist ihm egal. Sie auf den Armen zu haben, sicher, das war das einzige, was zählt. Und dass sich morgen niemand schämen müsste um das, was passiert. Es war noch nicht vorbei – diese Situation. Er nimmt sich vor, ihr morgen ein Korsett zu sein, eine Stütze, damit sie sich nicht aus der Art gefallen fühlen muss. Aber morgen. Erstmal muss er sie ins Bett legen und seinen Herzschlag, der etwas ist zwischen Aufregung, Angst und Stolz, wieder zur Ruhe bringen. Aber wie? Er hatte gerade ein Leben gerettet. Seins.
Du musst die Sachen wachsen lassen, statt sie großzuziehen – Ihre Stimme klingt anklagend am Telefon. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie sich meint, oder einen Ratschlag gibt. Doch es ist eigentlich egal. Die Worte hallen in mir; nein eher beißen sie mir in der Milz. Ein Konflikt in ihrem Leben, den sie schon eine geraume Zeit mit ihm austrägt. Ihre Überzeugung ist es, dass sie Menschen um sich herum allem zum Trotze so lässt, wie sie gewachsen waren. Schließlich ist sie wie kaum jemand interessiert an Menschen und ihrem Erwachsen und Geraten. Ja, sie ist sogar neugierig und kitzelt durch ihr einfaches So-Sein Eigenheiten der sie Umgebenden hervor, die jene selbst überraschten, wenn sie sich ohne Willen und Kontrolle preisgaben. Sie liebt es sich in der Dusche des Menschseins zu wärmen und sich von dem Schauer der Geschichten und des Benehmens umschmeicheln zu lassen. So duldet sie die Leute und nur durch dieses sich wie ein Zugestehen anfühlendes Anerkennen, lassen auch sie sich so sein.
Doch immer wieder eckt sie in ihren eigenen Gedanken an. Lässt sie ihn so, wie er ist, mündet ihre unerschöpfliche Geduld in ein Aushalten, das sie schmerzt. Die Stille zwischen ihnen, wenn er in seinem Kopf hängt und wahrscheinlich so laute Gedanken in sich hat, dass sie einen Saal zum Echo zwingen könnten, diese Stille ist so laut und fast unerträglich für sie. Haben wir uns nichts zu sagen? Langweile ich Dich? Wieso redest Du mit allen mehr als mit mir? Diese und solche Fragen schallen in ihrem Kopf und es ist kaum auszuhalten, sie nicht zu stellen. Einzig ihr Wille, Menschen nicht zu ändern und die Erinnerung an seine Worte, er spreche mit niemandem so viel, wie mit ihr, hält sie jedes Mal zurück. Oder die Angst vor seiner kurzen, nicht hinreichenden Antwort. Sie beruhigt sich dann. Lass es wachsen, zieh es nicht groß. Alles hat seine Zeit. Vertrau dem Prozess. Es wird der Moment kommen, der Deine Frage beantwortet. Du musst das nicht forcieren. Doch sie weiß auch, dass aushalten ungesund ist. Und sie fragt sich zuhauf, wie etwas aus all dem werden soll, wenn sie so einfache Fragen nicht zu stellen in der Lage war. Und wieder schallen Worte wie ein Mantra in ihrem Kopf. Es wird die Zeit kommen, dass Du das kannst. Wenn es noch nicht geht, ist noch nicht die Zeit. Du musst noch Vertrauen fassen. Manchmal ist es sonderbar, wie ängstlich sie in dieser ihr nahekommenden Beziehung agiert und in anderen, ohne jede Scham und vollen Mutes, offenen Herzens die Menschen mit Fragen und Aussagen anfasst, dass es nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, in physische Bredouillen zu geraten. Sich und ihre Zweifel zu zeigen ist nun mal etwas anderes, als anderen die Hose runterzuziehen. Er scheint diesen Diskurs nicht zu kennen. Für ihn ist es normal, zu schweigen und nach ein paar Bier oder in geselligen Runden etwas, aber nur etwas, von sich preiszugeben. Sie grämt sich derweil darüber, ob und wie viele dieser Situationen sie noch mitmachen muss, damit sie immer wieder ein paar seiner Puzzleteile einsammeln kann. Eher ist es ein Memory aus Fragen, die sie sich stellt und in einer seiner redseligen Nächte das gegengleiche Bild finden kann. Kleine Spuren, auf der Suche nach der Person, die sie unter seiner Fassade aus Kontrolliertheit und Widerstand zu sehen meint.
Dass er mit ihr in Begleitung Dinge erzählte, die er noch niemals vorher über die Lippen brachte, beruhigt einerseits ihre fortwährenden Zweifel, bringt ihn aber in anderen Momenten noch mehr zum Schweigen. Er hat keine guten Erfahrungen machen können, zu sagen, was er meint und fühlt. Sie auch nicht. Es ist, als würden sich Wasser und Feuer oder zwei gleich gepolte Magnete annähern. Eigentlich müssten sie, voller Zutrauen in den anderen, unbelangt reden. Doch ihre Erfahrungen stehen ihnen im Weg.
Ich war damals blind für diese eigentlich besänftigend wirken könnende Fügung zweier Pole. Der Mann, der mir, ohne dass ich es merkte, eine Wattewolke war, die mir eine weiche Leitplanke hätte sein können, wenn ich wieder mal in alten Mustern, bar jeder Impulskontrolle, verbal und emotional um mich schlug, hatte weniger dieser Erfahrungen machen müssen. Seine Kapazität war größer, mich geduldig auszuhalten und mir so eigentlich die Chance zu geben, damit aufzuhören und den biografischen Bann zu brechen. Doch ich merkte es nie. Ich schaute mal mitleidig, mal neidisch auf ihn und dachte: Du weißt nicht, wie das ist. Heute ist mir wenig klarer, als dass ich ein borniertes, kleines Kind war und er mehr wusste „wie das ist“, als ich es vielleicht je würde. Denn er sah es klar. Er sah meinen Kampf. Und sein Herz war so gütig, nicht zu urteilen, dass ich im Nebel stehe.
Und so ist es immer wieder ein Einatmen und Ausatmen und Warten, das wohl auch sie noch eine Weile warten lässt. Ihr Nebel ist schon etwas lichter. Und in diesem Zustand ist es nahezu unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, ohne ihm sofort zu misstrauen. Alles, was einfach ist, alles, was still ist, alles, was nur so da ist, wie es ist, wirkt bedrohlich. Kleine Nebensätze wirken hier, wie Indizien, dass der Zweifel gerechtfertigt war. Ein einfaches gelangweiltes Pfeifen von ihm bricht sich in ihr Bahn und sagt: Ihm ist langweilig, siehst Du. Ihr habt euch nichts zu sagen. Doch sie ist schon weiter in ihrer versuchten Entwicklung. Sie rennt nicht weg. Sie sagt sich vor, dass sie erstmal ein bisschen Strecke machen müssten, bis sie ständig Geschichten zu teilen hätten. Und sie weiß auch, dass er nur schwer an diese Themen in ihm rankommt, die ihren eigenen Kopf und ihre Worte zum Sprudeln bringen würde.
Sie ist sich nicht sicher, ob er lieber spricht, oder lieber schweigt. Vielleicht ist das eine Frage, die sie zu klären hat. Die sie, wie alles andere auch, wachsen lassen würde. So, dass sie in die Antwort hineinleben würde, ohne die Frage laut gestellt haben zu müssen. Und vor allem schläft es sich besser ein mit dieser Frage; abends, wenn der Kopf meint, er müsse vor der Nacht noch Diskurse klären und Fakten schaffen, die nicht mal am nächsten und auch nicht am übernächsten Tag zu klären wären.
Ich habe mich nie darum gekümmert, meine Fragen zu sortieren. Ich habe nie verstanden, dass eine Antwort, die vor meinen Augen so laut leuchtete, als könnte sie nicht weniger als die einzige echte Wahrheit sein, lediglich ein kleines, altes Foto meines Lebens war, das auch aus ganz anderen Perspektiven hätte aufgenommen werden können. Will man die Wahrheit zu einer Situation wissen, will man wissen, dass die Antwort, die man sich auf Zweifel gibt, die richtige ist, so muss man alle Fragen zu ihr kennen. Das weiß ich heute. Und genauso weiß ich, dass das wohl eine echte Unmöglichkeit darstellt. Und so sehr wünsche ich ihr, die er mit Augen ansieht, die ich bei ihm seit acht Jahren nicht mehr gesehen habe, nicht aufhört, Fragen wachsen zu lassen. Wenn auch nur in sich.
Wer zweifelt, detoniert – Erst lässt mich diese Erkenntnis schmunzeln, weil sie doch genau das aussagt, was sie beide auszuleben schienen. Die immer wiederkehrende Bestätigung des Moments, kein Zurückschauen, ein wenig Planung, aber doch immer wieder der Fokus auf das Jetzt, mit einem kleinen Angelwurf der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Ein bisschen, als hätten sie Angst, in der Vergangenheit schönere Zeiten und in der Zukunft Banalität zu finden. Vielleicht war das auch so. Schau ich in die Vergangenheit, erinnere ich nichts oder alles und zumal immer die Wendepunkte, an denen es dazu kam, wie es jetzt ist. Schon eigenartig, denk ich bei mir, sage es vielleicht sogar laut, denn er dreht sich in diesem Moment flüchtig zu mir um. Schon eigenartig, dass ich hier sitze und weiß, an welchen Abzweigungen meines Lebens, der Weg genau hier hinführte; in den Momenten aber nie auf die Idee hätte kommen können, mich anders zu entscheiden. Denn wer zweifelt, detoniert.
Ich möchte aufstehen und sie warnen, doch sie sind schon weitergegangen. Ich höre nicht mehr, was sie sagt, aber sie steht im Hauseingang unter dem Baugerüst, das schon so lange dort steht, dass ich mich frage, ob es vergessen wurde, ob es irgendwann wieder abgeholt wird, oder ob es nun einfach dort bleiben wird, das Haus verdeckend, das Straßenbild verschandelnd und den Menschen im Weg. Über wen denke ich hier nach? Über ein Gerüst oder über mich? An manchen Tagen, vor allem wenn das Wetter milder ist, erinnert das Gerüst an eine Pergola oder Torbogen, unter denen sie sich noch mal umarmen, bevor jeder seiner Wege geht in einen Feldzug, von dem der andere nichts weiß; man sich aber mit einem Kuss versichert, dass unter allen Umständen und in jedem Chaos, hier der Ort sein würde, an dem sie sich spätestens wieder begegnen würden. Er verbietet sich allzu oft genau dann romantisch zu werden.
Er weiß genau, dass es eine der unmöglichsten Dinge ist, diese Situationen aus dem Kopf und vor allem aus dem Herz zu bekommen, die Bilder, wenn sie mal nicht mehr mit ihm heim läuft, die dann einschlagen wie ein Blitz. Eben noch haben wir uns hier geküsst und uns auf morgen verabredet. Heute sehe ich einen Schatten, der sich in meinem Bett noch mal auf die andere Seite dreht. Es ist Einbildung.
Ich hasse die Zeit noch heute, in der ich jeden Morgen aufwachte und nicht anders konnte, als Mangel und Verlust zu empfinden. Die Bettwäsche schon etliche Male gewaschen, meint meine Nase immer noch seinen Nachtschweiß zu riechen. Die Bettwäsche hatte er ausgesucht, vielleicht war es das. Vielleicht bleibt ein Charakter in den Objekten und Orten hängen, wenn diese von einer Person gewählt und besetzt wurden. Wird eine Bettwäsche nicht nur Eigentum, sondern auch man selbst Besitz ihrer? Spinn’ ich jetzt? Ist aber eventuell die Auflösung des Hausrats bei einer Trennung so kompliziert und kriegesgleich, weil jeder doch noch ein bisschen des anderen behalten möchte, um sich später müde zu ärgern, dass der andere einfach nicht aus der Wohnung verschwindet – auch nicht durch modernen Exorzismus – durch Ausräuchern mit Stäbchen und Hölzern, die an Urlaub und Einklang erinnern. Eine Tätigkeit, die im Tun ihre Kraft entfaltet? Das Räuchern oder gar der Rauch selbst verspricht, sich über die Sorgen, Wut und den Zweifel und alle Erinnerungen zu legen und ihn unter sicherer Last und trübem Nebel auf den Boden zu drücken und dort zu halten. Bereit, beim nächsten Staubsaugen einfach mit den Wollmäusen zu verschwinden. Ein verlogenes Versprechen. Am Ende riecht es nur für ein paar Stunden nach Sandelholz.
Er hasst Sandelholz. Sie liebt den warmen Geruch. Manchmal scheint mir, als hätten sie es fair aufgeteilt. Alles Unwichtige finden sie unterschiedlich gut. Er liebt Panzer, sie hasst Militär und Waffen. Sie liebt Lakritz, er küsst sie nicht, wenn sie davon genascht hat. Er hasst den Geruch von Sandelholz, sie liebt es, in seichtem Dunst eines Räucherstäbchens ihre Yogastunde zu beginnen. Doch sie teilen beide die gleichen Urlaubsziele, die gleiche Idee von Nähe und Distanz und die gleiche Theke. „Dein Haar reicht nach Erleuchtung.“, sagt er als er von der Toilette kommt, sich müde auf den Barhocker fallen lässt und seinen Kopf in ihrem Nacken vergräbt. Die Poesie, die sie scheinbar mit jedem Schluck aus dem Bierglas finden, ist beachtlich. „Du meinst nach Yoga.“ Sie insistiert. Er rollt üblich die Augen, mit einem Maß an Verliebtheit. Nach kurzer Zeit habe ich schon verstanden, dass sein Augenrollen echte Zuneigung ist. Es ist ihm nicht egal, was sie sagt und es ist ihm auch nicht egal, was das in ihm auslöst. Noch vor Kurzem saß er hier fast regungslos und ohne Mimik. Ab und an ein höfliches Lachen mit dem Kellner und je später der Abend wurde auch ausufernde Diskussionen, ohne jedes Aufsehen an Gefühl. Wo sind nur seine Emotionen, wenn sie nicht bei ihm ist? „Nein, nicht nach Yoga. Yoga stinkt. Du riechst nach Sandelholz. Das ist wie Brechmittel.“, postuliert er und gräbt sich noch weiter in ihre Halsbeuge. Sie will nicht diskutieren. Sie geht auch nicht mehr auf diese Kommentare ein, seit sie verstanden hat, dass es seine Art ist, in die Welt zu schauen und Empfindungen auszudrücken, für die er keine anderen Worte gelernt hat.
Glück war ihm nie zuteil. Ewiges Einlassen, immer fortwährender Kampf um das Gute und Vertrauen und ein schon früh begonnenes Verstecken in Sozialräumen, die ihn langweilten, ihm aber immer Sicherheit boten. Das Ergebnis ist, dass er von der Welt nicht weniger denkt, als dass sie aus Widerständen besteht, oder diese zumindest leichter zu ertragen sind, als ewig enttäuschte Hoffnung. Erfahrungen prägen die Sprache und das, wie man von Erlebtem erzählt. Er scheint in der absoluten Negation angekommen, wenngleich er hier und da vor Euphorie und Laune sprudelt, sich Mühe gibt, letzte Energien zusammenzusammeln, um den ihm wichtigen Menschen wenigstens ein wenig zeigen zu können, dass er sich über sie freut – wirklich freut. Seine Sicht auf die Welt ist also eine Art allgemeine Kapitulation vor dem Versuch, immer wieder Anlauf zu nehmen, gegen ein Echo, das nur einen Klang kennt: den Bass von schierem Widerstand, das ewige Nein.
Bei ihr ist es, als würde sie sich ab und an in Melancholie und Selbstzerstörung werfen, nur um im nächsten Moment in Liebe und Zuversicht zu strahlen. Sie muss bereits am Rande des Lebens gewesen sein, so groß ihre Gelassenheit über die Schmach der Dinge ist. Wenn ich sie zusammen sehe, glaube ich manchmal Liebe und Hass liefen nebeneinander. Zu plakativ sind die Worte, denn sie trägt eine Tiefe mit sich, die jede naive und kitschige Vorstellung von Liebe auflöst und in ihm brodelt eine Energie, die an ein unvoreingenommenes spielendes Kind erinnert, voller Hoffnung, Aufbegehren und Trotz und weit entfernt von Aggression und Ablehnung. Dennoch trägt sie ein „Ja“ in den Augen und er dieses „Nein“. Er hat begonnen, sein Echo aufzunehmen und wiederzugeben. Er ist der Widerhall seiner Erfahrungen. Wie hat sie es geschafft, neue Antworten zu finden? Oder andere Fragen zu stellen? Wie kann er einfach hinnehmen, was ihm das Leben vorsetzt? Und noch schlimmer: wieso wiederholt er den schlechten Zauberspruch. Vielleicht sind es nicht Liebe und Hass, die nebeneinanderher laufen; vielleicht sind es Vertrauen und Zweifel. Vielleicht Mut und Angst.
In der Anonymität wird der Mensch zum Schwein – Die beiden geben sich nicht viel in ihrer Schwermut zur Morgenstunde. Ich glaube, ich habe sie zum ersten Mal bemerkt, als sie an mir vorbeigelaufen sind, mich anschauten und er sie fragte: „Wie sowas wohl passiert?“ Und sie antwortete: „Was meinst Du? Obdachlosigkeit, oder dass eine normale Frau auf der Straße landet?“ Normal – dachte ich mir damals. Normal. Wann habe ich das letzte Mal Normalität erlebt? Wann ist meine Normalität so weit von der, der anderen entgleist?
Ich mochte sie von der ersten Minute an. Einfach aus Sympathie, aber auch weil sie eine eigentümliche Dynamik haben. Er ist schnell, laut und fokussiert. Manchmal weiß ich gar nicht, ob er ihr zuhört, aber er tut es doch. Er ist fast hart. Seine Weichheit, auch ihr gegenüber, liegt in seinen Augen und vor allem in seiner Beruhigung. Dass er sich mit ihr wohlfühlt, merkt man, weil er mit ihr ruhig atmet. Kein leichtes Unterfangen. Sie hat anfangs versucht, Schritt zu halten mit seinem Kopf und seinen Worten. Eines Tages – wer weiß schon, was passiert ist – hatte sie sich einfach in seinen Rhythmus gelegt. Sie hörte zu, dachte viel, und genießt seinen Geist. Es war schnell kein Wettstreit mehr, wer mehr zu sagen hatte oder wer klüger daherreden konnte. Es gleicht einem Tanz, wenn man ihnen zuhört. Er ist mit seinen Gedanken viel schneller, als seine Worte mitziehen können und so kommt nicht alles an die Oberfläche, was sein Kopf fabriziert. Das hat sie wohl recht schnell verstanden. Und so wiegt sie sich einfach in seinen Bildern und vor allem in seinen Phrasen, die wie Inseln für seine wirklichen Fragen wirken. Und diese unendliche Freiheit beruhigt ihn. Es ist als würde man einen jungen Hund laufen lassen. Während er über eine für ihn scheinbar endlose Wiese jagt, wird er langsamer und langsamer, bis er selbst nicht merkt, wie er an einem Grasbüschel stehen bleibt und mit der Schnauze im frischen Grün versinkt. Ihr Wille zur Aufmerksamkeit, zwischen seinen Worten Sinn zu erfassen und auch noch zu verstehen, wer er ist, und was er ihr sagen möchte, bricht immer erst und dann, wie eine Welle, wenn sie sein Haus verlässt. Sie atmet dann sehr eigentümlich auf und aus und es scheint, als würde alles, was in den Stunden mit ihm geschehen war, genau in diesem Moment zu Boden fallen. Auf den Boden, in ihr Herz. Es kann auch Erleichterung in ihren Augen erkennbar gewesen sein. Wie, wenn sie sich verabschieden. „Ich muss jetzt wirklich dringend schlafen.“, sagt er so oft, dass ich mich frage, ob er glaubt, dass sie ihn davon abhalten würde. Oder ob er es zu sich sagt, damit er nicht in die Verlegenheit gerät noch weiter Zeit mit ihr zu verbringen, oder sie gar mit hoch zu bitten. Es kommt ungefragt und doch wie eine Antwort. Doch sie insistiert nicht. Sie küsst ihn, grinst, freut sich wirklich. „Dann schlaf gut.“ Gleichgültigkeit und Gelassenheit liegen oft nah beieinander. Doch ihre Worte klingen absolut ehrlich und erleichtert. Sie meint, was sie sagt. Aber wieso meint sie nicht mehr dazu? Ist sie vorsichtig? Oder geht es ihr wirklich nicht näher? Ich bettelte früher fast darum, noch fünf Minuten Aufmerksamkeit zu bekommen. Mit den Augen flehte ich, irgendwann auch mit den Worten und manchmal war es keine Bitte, sondern schiere Verzweiflung, wieso er mich nicht einfach mit zu sich nehmen oder einfach in den Arm nehmen kann.
Der erste Schritt ist wesentlich und weltbewegend und keiner geht ihn. Sie nicht, er nicht, ich ging ihn nie. Ich hatte immer Angst, mich zu zeigen. Ich hatte immer Sorge, dass ich zu viel preisgeben könnte und eine nicht gewünschte Reaktion ernten könnte. Viel wahrscheinlicher wäre gewesen, dass er mich einfach in den Arm genommen hätte, wenn ich mich einmal getraut hätte darum zu bitten, einmal einfach gefragt hätte, wonach ich mich sehne. Ich hätte ja nie etwas verlangt, was außerhalb unseres Verhältnisses stand. Aber es war mir schon zu viel, um das Mindeste zu fragen, was mir ein bisschen Sicherheit gegeben hätte.
Und nun steht sie da, sagt, was sie nicht meint in einem Ton, der ihm zu verstehen gibt, dass sie nicht braucht, was beide wollen. Ich könnte verzweifeln über den beiden. Ich möchte sie schütteln. Ich will aufstehen und einschreiten und sagen, dass er sie doch einfach in den Arm nehmen soll, egal ob er danach schlafen muss oder nicht; dass ich nie wieder sehen möchte, wie sie sich zwar innig küssen – aber beide die Hände in ihren Manteltaschen. Dass sie endlich aufhören sollen, vorsichtig zu sein und dass sie sich einfach trauen sollen, einmal verletzlich voreinander zu stehen im Wissen, dass der andere nichts damit anstellen würde. Doch sie hat Angst und er Druck. Sie will weder sich zu nahe kommen, noch ihm. Und er will ihr gerecht werden und allem, was er je aus einer Beziehung gelernt zu haben meint. Wann verstehen sie endlich, dass es nun was anderes ist; dass nichts Gelerntes gilt, außer dass es manchmal hilft, alles Wissen und mithin alle Ahnung, wie man etwas kaputt macht, über Bord zu werfen?
Ich möchte sie schütteln. Ich möchte zurück in den Moment, in dem ich ihm einen einfachen Wunsch hätte zumuten können und damit vielleicht sogar ein ganzes Leben hätte retten können. Meines. Ich möchte sie schütteln und möchte, dass sie ihre Leben retten. Oder meins. Ich möchte nicht noch einmal dabei zusehen, wie Vorsicht, Scham und die Sorge, einen bestehenden nicht realen Rhythmus aus dem Takt zu bringen, eine kleine Melodie verstummen lässt und am Ende zwei Menschen da stehen und jeder für sich beginnt Argumentationen zu finden, die bestätigen, dass es anders nicht hätte kommen können.
Es kann immer anders kommen, wenn man einmal aus der Deckung geht. Wenn man es schafft in einer Beziehung den ersten Ton anzuschlagen, der nicht auf dem Blatt steht, ist das der Auftakt für eine Symphonie. Doch dem muss man sich hingeben, denke ich mir. Höre ich meine weisen Gedanken soufflieren, nach welchen ich nie zu handeln bereit war, und auch jetzt nicht bin. Sonst ginge ich nun auf die beiden zu. Welch absurde Situation: Sie kennen mich nicht. Sie kennen meinen Schlafplatz, vielleicht wissen sie, wann ich hier bin und wann unterwegs. Vielleicht reden sie manchmal über mich und haben mir, wie so manche, einen Namen gegeben. Würde ich aber auf sie zugehen, ja, würde ich sie wirklich schütteln – was dann? Vielleicht wäre ja tatsächlich das der erste Ton einer Symphonie. Aber ich tu es nicht. Ich bin immer noch genauso ängstlich, wie damals. Ich traue mich immer noch nicht aus der Deckung, auch nicht im Wissen, dass ich eine entscheidende Rolle spielen könnte in der Klaviatur ihrer Geschichte. Er hat so recht! In der Anonymität wird der Mensch zum Schwein.
Du hast mich verlacht und zerlächelt – Sie schrie ihn so laut an, wie noch nie. Und dennoch ließ sie keine Chance aus, ihre Gefühle in Pathos zu packen. Zerlachen. Wie oft habe ich mich in den letzten Jahren zerlacht gefühlt. Menschen schauen mich an und grinsen beschämt, verlegen und wissen nicht genau, wohin mit ihrem Unwohlsein.
Zerlachen. Ein schrilles Lachen aus übersteigerter Euphorie und Unsicherheit, sodass Gläser springen. Mein Lachen, wenn ich mit ihm unterwegs war, wir Freunde trafen und ich immer nur mehr seine Frau wurde, als dabei ich zu sein. Ich lachte über Witze, die keine waren und am meisten über meine. Große Geschichten erzählte ich, wie ein Zampano, der die Welt gesehen und nicht ausgelassen hatte. Und das Einzige, was mir wirklich vertraut war, war das fahle Gesicht im Spiegel, das von Tag zu Tag trauriger schaute.
Sie hingegen ist heute ernsthaft enttäuscht. Nicht mal sauer. Tiefe Trauer liegt in ihrer Stimme. Ich erinnere mich daran, wie groß der Schmerz in der Brust pochte, den er mir zufügen konnte. Ein Schmerz, der durch Mark und Bein fährt und sich nicht aufzulösen scheint. Es ist ein Leiden, das sich festsetzt und Angst macht. Jedes Mal, wenn er seine Stimme erhob, bebte jede Stelle in mir wieder und zitterte, als ob der Orkan gleich wieder über mich fahren würde. Diese Gefühle kann man nur fühlen, wenn man liebt. Ich rede mir ein, dass es okay ist, dass sie so verletzt ist. Es ist ein Zeichen, für echte Liebe. Aber was hat er gemacht, was ihr so weh tut? Er hat sie verlacht. Das, was ihn so schmerzt, was ihn nur schwerlich durch die Abende mit Freunden bringt und er ihr anvertraut hatte.
Er hasst es, wenn Freunde ihn zur Schau stellen und vor versammelter Mannschaft vorführen. Es geht nicht in meinen Kopf, wie er es fertigbringt, selbiges mit ihr anzustellen. „Das war so nicht gemeint.“, sagt er kleinlaut und noch im letzten Wort bricht sie diesen nicht ernst zu nehmenden Satz ab. „Spar dir das. Spar dir alles. Ich habe Dich nur um eines gebeten in all der Zeit. Ich habe einzig gewünscht, dass Du auf meiner Seite spielst. Was ist so schwer daran, einfach mal die Klappe zu halten? Warum muss man immer auf alles eingehen und auf jeden schlechten Witz noch einen draufsetzen?“ „Wer ist man..?“, murmelt er und ihr fallen erschrockene Tränen aus den Augen. Doch sie hat in aller Erschütterung keinen Wert vergessen, dem sie sich verschworen hat und lässt ihn in seiner Art, keine Möglichkeit zur Impulskontrolle zu haben. Immer muss er das letzte, ein schlechtes letztes Wort haben. Sie staunt. Und weint. „Du hast mich auch gebeten, dass ich mir eine Entschuldigung aufheben soll, für Momente, in denen sie notwendig ist. Ich meine, nun ist wohl so ein Moment.“ Das kann nicht sein Ernst sein. Das ist keine Entschuldigung. Nicht mal eine schlechte. Das kann er nicht so stehen lassen. Und doch, er tut es. In seinem Blick ist Angst und ich kann ihn, wenngleich ich mich unfassbar darüber ärgere, verstehen. Oft hat er einen Abend verschusselt und sich in Nöte gebracht, die er am nächsten Tag nur durch zu viel Alkohol und manchmal durch Drogen erklären konnte. Nie war ein Mensch beteiligt, von dem er echte Bange hatte, dass er verloren gehen könnte.
Es ist nicht das erste Mal, dass er sich ärgerte, sich so sehr auf sie eingelassen zu haben. Er war immer allein. Immer schon. Seit seiner Kindheit. Egal, welche Frau an seiner Seite war, egal, mit welchen Freunden er Zeit verbrachte; niemand fand Platz hinter seiner Stirn und noch weniger in seinem Herz. Und jetzt das. Er hatte sie an sich herangelassen und keine Peinlichkeit, keine Depression und keine Erbärmlichkeit vor ihr ferngehalten. Und alles, was sie von ihm sah, brachte sie nun näher zu ihm. Kein Urteil und keine Wertung. Im Gegenteil: Alles, was sie von ihm kennenlernte, saugt sie auf und weiß noch ein Stück besser, wie sie auf seinem emotionalen Minenfeld Tango tanzen konnte. Hat er in den letzten Jahren eigentlich zugehört? Ja. Er weiß Dinge über sie, von denen sie mitunter überrascht ist, je etwas davon erzählt zu haben. Und doch war er heute nachlässig. Eine Eigenschaft, die sie hasst, wie keine Zweite. Gewöhnung. Nicht Gewohnheit. Gewöhnung, dass etwas unfassbar Besonderes vor einem steht und man es nicht mehr als das solche wahrnimmt.
Man. Wer ist „man“?! Alle. Alle, außer die kleine Menge an Menschen, die eben anders ist. „Man“, das sind jene, über die man nicht „die“ sagt. Ich bin nicht „man“. Ich bin „die“. Aber andere „die“. Ich bin die, die nicht mal zu „man“ zählen.
Sie hasst Selbstverständlichkeit. Kein Vertrauen ist selbstverständlich, keine Person. Nicht mal, dass sie morgens aufwacht. Alles ist wertvoll. Und zwar nicht, weil alles auch schnell vorbei sein kann. Ihre Wertschätzung basiert nicht auf Pessimismus. Sie fußt darauf, dass sie ganz tief in sich weiß, dass nichts selbstverständlich ist, alles Arbeit und nur durch Zutun auch Bestand hat. Selbstverständlichkeit bedeutet für sie, dass das Denken aussetzt und vor allem die Achtsamkeit. Und genau das hat sich heute wieder gezeigt. In der Sicherheit und dem Selbstverständnis um sie hat er sich gehen lassen und sie in den Ring geworfen – seinen Freunden zum Fraß. Sie blieb stark. Sie erstarrte bis zum Moment, in dem sie den Laden verließen und alle außer Sichtweite waren. Dann brach sie zusammen. Abermals in seine Arme. Aber seinetwegen. „Du hast mich verlacht und zerlächelt! Ich habe Dich um nichts gebeten. Nur, dass Du auf meiner Seite bleibst.“ Selbst im größten Vorwurf durchdringt tiefe Liebe ihre Worte. Sie wollte nicht mehr, als nicht allein dazustehen. Nicht, weil sie allein nicht klarkäme. Sondern weil sie an seiner Seite sein will – ohne Zweifel. Selbstverständlich.
Bewusstheit schützt vor Trunkenheit; oder verhindert es – Sie war seit über einem Monat nüchtern und das Wort an sich beschreibt, was ich in ihren Augen sehe. Sie ist ernüchtert. „Ich würde nie merken, wie betrunken ich bin, wenn ich Dich nicht dabeihätte.“ Es scheint mir, als wäre das der Satz gewesen, der sie dazu veranlasste, keinen Tropfen mehr zu trinken. Das, und das Buch, das sie seit einigen Wochen unter dem Arm geklemmt hielt. „Nüchtern“ von Daniel Schreiber. Man kann sich auch durch Lektüre in schlechte Stimmung versetzen. Jedes Mal, wenn ich sie irgendwo sitzen sehe, wie sie in dem Buch schmökert, hat sie Sorgenfalten auf der Stirn. Es nimmt sie mit. Verständlich. Sie hadert schließlich schon länger damit, dass sie wieder so unachtsam mit Wein und durchzechten Nächten umgeht. Ich glaube, ich wäre nicht, wo ich bin, wenn ich nicht einfach zu spät verstanden hätte, dass Alkohol, auch in dem scheinbar gesellschaftsverträglichen Rahmen, mein Leben bestimmt. Ihres nicht. Nicht mehr. Manchmal vielleicht. Aber die Bewusstheit, mit der sie das Leben zu betrachten gelernt hat, verhindert einerseits, dass sie richtig abschmiert – sie hat noch die Entscheidung. Und andererseits führt es dazu, dass sie jeden Floh husten hört. Früher hätte sie nichts Schlimmes an Nächten gefunden, in denen sie ausgelassen durch die Stadt zieht, neue Leute kennenlernt und sich dem Flow hingibt, den der Abend zu bieten hat. Im Gegenteil: Das treiben lassen war, was sie immer liebte. Das war der Moment, in dem sie fühlte und flog. Auch, dass sie dann im Rausch mit jemandem im Bett landete, war für sie weder verwerflich noch alarmierend. Heute ist es, als leuchtete ein riesiges Alarmschild über all dem. Alles wird seziert, bewertet und beurteilt. Kann er nur mit Alkohol Spaß haben, braucht er ihn, nutzt er sie für die Rechtfertigung? Warum schläft er nur mit ihr, wenn er getrunken hat? Fragen, die sie sich früher nie gestellt hätte, sogar eher hätten ihr gestellt werden können. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass einer ihrer Freunde in ihr eine reine Bar-Begleitung sah. Wie würde sie wohl aus diesem Bewusstseinskreis ausbrechen können? War das überhaupt der Plan? Ja. Und nein. Die Bewusstheit beibehalten, aber das Bewerten danach lassen.
Was ist es also, was sie wirklich stört? Ist es der Alkohol? Es reibt wohl viel eher in ihr, dass er es zu brauchen scheint, um an seine Gefühle zu kommen. Wenn ich so recht überlege, habe ich die beiden selten nüchtern vor seiner Tür gesehen. Jetzt ist sie nüchtern. Und traurig. Sie ist gerade blind dafür, was er sonst für sie ist. Sie sieht nicht das Gute. Sieht nicht, wie er sie liebt, wie er sich öffnet, wie er ihr vertraut, wie er an seiner Seite strahlt. Wie er nicht mehr will, als etwas mehr Zeit. Was ist es, was ihren Fokus so unermesslich klar auf alle Defizite lenkt? Vielleicht reicht der Rest nicht. Ich stand oft vor der Frage, was eine Beziehung ist und ausmacht. Einfach eine gute Zeit? Die hat sie so nicht. Ein gemeinsames Wissen unter Unwissenden? Das existiert in ihrer Komplizenschaft. Ein gemeinsames Bild von der Zukunft? Dafür sind beide nicht der Typ. Es gibt schließlich andere Wege, sich vor Verletzung fernzuhalten, als sich an Hoffnung zu klammern. Zum Beispiel sein absoluter Widerstand oder ihre absolute Akzeptanz. Eigentlich doch eine großartige Ergänzung. Vielleicht ist ja einfach alles gut und einmal kann sie eben nicht einfach akzeptieren.
Wie war es damals, als ich meinen Mann kennenlernte? Monate habe ich mich darin gegrämt, Situationen auszuhalten, die nicht meine waren. Später konnte ich stolz sein, nein zu sagen, zu Verabredungen oder Plänen, auf die er Lust hatte, aber ich nicht. Das war ein großer Fortschritt. Er bittet sie sogar offen darum. Alles steht zur Wahl, alles darf angenommen und abgelehnt werden. Doch entscheiden wird er nicht für sie. Wie viele Abende schlief ich schlecht? Weil ich so Angst hatte, dass ich etwas sagen könnte, was mich betrifft und ihn verärgert. Anpassung in Reinform. Ich löste mich auf und gab ihm gar keine Chance mich kennenzulernen. Und das machte ich ihm zum Vorwurf. Aber ich war auch nie nüchtern. Ich hatte Angst, er würde mich nicht mehr mögen, wenn ich den Genuss aus unserem Leben eindämmen würde. Absurd diese Gedanken. Und wie leicht sie doch aufzulösen sind, wenn man sie teilt. Doch dazu braucht es Mut und Selbstvertrauen. Trunkenheit gibt Mut. Aber schürt allen Selbstzweifel, den man in sich finden kann. Er verkleidet sich zwar in Leichtigkeit und Formulierbarkeit, manchmal sogar in Witz, doch die Fehlbarkeit des Selbst strahlt in jedem Weinglas. Abhilfe schafft der Griff zur Zigarette – ein Atemzug, wo sonst keiner möglich ist.
Wie sich diese schlechten Angewohnheiten doch wirklich alle bedingen, ist erstaunlich. Und übrig bleibt, dass man völlig fahrig ist, leicht besaitet und labil. Nicht nur mit sich und anderen – auch mit der Umwelt. Es fehlt Energie, achtsam zu sein. Eine Spinne an der Wand wird einfach erschlagen, Müll nicht mehr aufgehoben, Menschen nicht mehr angelacht. Der Kreisel kreist um den einen Gedanken und der Knoten in Kopf und Herz zieht sich enger und enger.
Ich hatte damals unglaubliches Glück, dass er immer wieder auf mich zukam und mit mir zu reden begann. Das ist bei den beiden nicht der Fall. Sie verstummt, er verstummt. Er lacht, sie beruhigt sich. Sein „Juhu“ ist ihr zartes Lachen, das sie vermeiden lässt zu sagen: So gar nichts ist juhu. Ihr „Alles okay“ auf seine Frage, ob alles okay ist, lässt ihn misstrauen und schiebt ihn noch weiter in die Ecke, in der sie ihn nicht zu sehen erträgt.....