Aurora nahm gedankenverloren den Zylinder vom Biedermeier-Hutständer im Hinterzimmer und staubte ihn ab.
Was die Arzthelferin gestern zu ihr am Telefon gesagt hatte, verfolgte sie immer noch.
Sie ging nach vorne in den Antiquitätenladen und wischte mit dem Straußenfederwedel über einen schweren Barock-Holzsekretär mit geschwungenen Intarsien. Dann zupfte sie lange, weiße Haare aus dem Federbüschel.
Ich haare schlimmer als jeder Hund, dachte sie und betrachtete das Knäuel in ihrer Hand. Im gelblichen Licht des Jugendstil-Kronleuchters über ihr schimmerten sie leicht grünlich. Sie warf sie in den Abfalleimer in der Ecke.
Sie müssen eine neue Hautprobe abgeben, hatte die Arzthelferin gesagt. Angeblich wären irgendwie Echsenhaut und andere Verunreinigungen in die Probe geraten.
Sie ging zu einer Art-Deco-Kommode und wischte über die Platte.
Echsenhaut. Dabei wollte sie doch nur ihren Leberfleck auf ihrem Unterarm untersuchen lassen. Er hatte schon immer eine grünliche Färbung. Das konnte schließlich Hautkrebs sein.
Sie beugte sich nach vorne. War da ein Kratzer auf der Kommode? Nein, nur eine Schliere.
Ihre Tante hatte ihr gesagt, sie hätte den Leberfleck schon vom Arzt untersuchen lassen. Damals, als Aurora noch klein war. Fünfunddreißig Jahre lang hatte sie gedacht, alles wäre in Ordnung.
Sie starrte auf ein Bild mit schwerem Goldrahmen, das über der Kommode hing. Tante Lola hatte dieses Bild überhaupt nicht gemocht. Es zeigte den heiligen Georg, wie er auf einem Pferd sitzend einen Drachen mit einer Lanze tötete. Ihre Tante hatte immer nur den Kopf darüber geschüttelt, wenn sie im Laden war und gesagt, wie grässlich sie das Gemälde doch fand.
Aurora wischte über die Kommoden-Türen mit den glänzenden Perlmutt-Intarsien.
Jetzt kam Tante Lola nie mehr zu Besuch. Die Beerdigung erschien ihr wie ein schlechter Traum, über dem ein trüber Schleier lag, der alle Geräusche und Gefühle verstummen lies.
Die Türglocke riß sie jäh aus ihren Gedanken.
„Lieferung für den besten Antiquitätenladen der Welt!“, rief Max fröhlich.
Sie fuhr herum, ihr Herz machte einen Hüpfer. „Ich hab doch gar nichts bestellt.“
„Irgendwann musst du wieder etwas essen“, sagte er und sah sie ernst an. „Hier: gebackener Karpfen mit Kartoffelsalat.“
Aurora seufzte leicht. „Danke. Was bekommst du?“
Max marschierte ins Hinterzimmer und legte die Plastiktüte mit dem Essen auf dem ramponierten Bauernholztisch ab.
„Geht auf's Haus“, sagte er. „Dafür isst du das auch, verstanden?“ Er lies sie nicht aus den Augen.
Aurora nickte lustlos. „Musst du heute nicht arbeiten?“
Er hing sein Jackett über eine Stuhllehne und krempelte die Hemdsärmel bis zum Ellenbogen hoch. Darunter kamen seine gebräunten, tätowierten Arme zum Vorschein. „Doch, aber der Chef macht jetzt mal kurz Pause. Extra für die Frau mit der schönsten Nase der Welt.“ Er grinste.
Aurora fasste sich an ihre Nase. „Das ist nicht lustig.“
„Ich mein' das ernst.“ Sein Grinsen verschwand. „Wirklich.“
„Ich hab vielleicht die längste Nase der Welt.“ Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihre Nase noch nie gemocht. Dieses lange, dünne, spitze Ding – wie eine Hexennase. In der Schule hatte sie einiges an Hänseleien dafür einstecken müssen. Schon sehr lange fragte sie sich, von welcher Seite der Familie diese Nase eigentlich stammte. Von der Seite ihrer Tante jedenfalls nicht. So viel sie wusste.
„Du isst das jetzt und ich mache mir einen Kaffee. Ich hatte heute erst zehn Tassen.“ Max war schon auf dem Weg zum zweckentfremdeten Nierencouchtisch, auf dem eine Kaffee-Maschine und einige bunt zusammengewürfelte Tassen standen.
„Geht heute Abend nicht dein Flieger nach Manila?“ Aurora holte sich Besteck aus einer kleinen Holzbox, die neben der Kaffee-Maschine stand. Dann setzte sie sich und hob den in Alufolie eingeschlagenen Fisch und den Kartoffelsalat im Styroporbecher aus der Tüte. Sie machte den Deckel vom Becher ab und öffnete die Alufolie. Der warme, fettige Geruch von frittiertem Karpfen schlug ihr entgegen. Dann matschte sie lustlos mit der Gabel im Kartoffelsalat herum.
„Ich hab' das auf nächsten Monat verschoben. Die Verwandtschaft kann warten.“ Er drückte auf den Knopf für eine Tasse. Für einen kurzen Moment war nur der Lärm des Geräts zu hören, bis duftender Kaffee in die Tasse lief.
„Warum daff denn?“ Sie kaute auf einem Happen Kartoffelsalat herum. Erst jetzt merkte sie, dass sie wirklich Hunger hatte. Sie machte sich daran, mit den Zinken der Gabel das Fleisch von den Gräten zu ziehen.
Max drehte sich zu ihr um, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie streng an. „Was denkst du, hm?“