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Feilkode 418

Carwash

Carwash · Romane

Was passiert, wenn das Leben ein inzwischen erwachsenes Auswandererkind ungefragt mit der Ursprungsheimat konfrontiert? Es gibt Ärger...

Hva vil du med boka?

Die Geschichte von Koko und Coralie ist eine stark autobiografisch beeinflusste Erzählung. Sie setzt sich mit den Schrecken und Herausforderungen auseinander, denen die Kinder in Auswandererfamilien ausgesetzt sind. Gleichzeitig will sie jedoch einen Schritt weiter schauen – auf das Leben danach, auf die Mühen der Integration und auf das Suchen und Finden einer eigenen Identität, die sich von der Kultur und dem Alltagsverständnis der Ursprungsheimat loslösen muss, um entstehen zu können. Was passiert, wenn ein solches Kind, den Identitätsverlust den eine Auswanderung zwangsläufig mit sich bringt, überwindet? Was wenn aus ihm ein ganz eigener Mensch wird, der gelernt hat das Beste aus zwei verschiedenen Kulturen zu einer unangepassten, und unabhängigen Persönlichkeit zu formen, die sich in keines der Heimatländer wirklich einfügt? Und was, wenn diese unabhängige Persönlichkeit plötzlich einer Rückwanderung ins Geburtsland ausgesetzt wird? Wie wird man unter den Härten des Lebens Mensch – und wie bleibt man trotz vieler Widerstände man selbst? Diese Fragen versucht die Geschichte von Koko und Coralie aus zwei völlig entgegengesetzten Perspektiven zu beleuchten und zu beantworten, ohne den Fokus zu sehr auf die dramatischen Ereignisse zu richten. Mit einer kräftigen Prise schnodderigen Hamburger Kiezhumors und Prager Gelassenheit entsteht ein Potpourri von überraschenden Entwicklungen und Bildern, wie sie nur das Leben selbst entwerfen kann.

Om forfatteren

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Geboren in Prag, aufgewachsen in Hamburg. In Katies Brust schlagen zwei Herzen, die sich mithilfe ihrer zwei Muttersprachen auszudrücken versuchen. Die Frau, die ihre Wurzeln im tiefsten Sozialismus d...

KOKO

 

‚Man! Keule, jetzt nerv nicht und steh endlich auf! Du weisst, dass wir jetzt Feierabend machen, wie jeden Sonntag morgen um diese Zeit.

Und… Lass!....Endlich!...Meinen!...Verdammten!… BH-Träger!....LOHOS!‘

Grunzte Koko mit bedrohlich erhobener Stimme, während sie jedem einzelnen Wort folgend Keule immer fester mit der flachen Hand auf den in ihre Schulter verkrallten Arm schlug.

Keule, der eigentlich Rüdiger hieß, und bis vor kurzem noch selig sein strähniges Haar in einer Bierlache auf dem Tresen wälzte, währen er laut vor sich hin schnarchte, sah Koko mit zusammengekniffenen Augen an.

‚Du solltest viel netter zu mir sein, Koko!‘ lallte er, ‚ich bin doch dein liebster alter Stammgast‘.

Sie stockte in der Bewegung, mit der sie ihn gerade vom Barhocker auf die Füße befördert hat, und sah ihn seufzend an.

‚Alter…weißt du was? Du hast Recht. Du bist seit 20 Jahren mein liebster Stammgast. Du kommst hier jeden Samstagabend angeschlurft und beteuerst, dass du diesmal früher abhauen willst, weil deine Alte keinen Bock mehr auf die einsamen Nächte am Wochenende hat. Und jeden Sonntag morgen kratze ich dich vom Tresen, weil du so besoffen bist, dass du noch nicht einmal mehr weißt, dass du eine Alte hast. Ich weiß bei dir wenigstens, was ich zu erwarten habe. Aber … es…NERVT….ufff….WIR…KLICH!‘ sagte Koko, während sie stöhnend vor Anstrengung Rüdiger ``Keule`` Himmelrath, einen der wenigen Stammgäste, deren Nachnamen sie noch aus Zeiten kannte, in denen nicht klar war, ob er schon volljährig ist, und sie deshalb seinen Ausweis verlangen musste, etwas anhob, um ihn über die die Tanzfläche in Richtung Ausgang zu schieben, wo sie ihn ohne weiteren Kommentar leicht ermattet in Richtung Sonnenaufgang hinauswarf.

Sie zog hinter ihm die vergitterte Tür zu, und lehnte sich für einen Moment dagegen, um nach Luft zu schnappen. Aus den Boxen dröhnte es schon viel leiser, als während der ganzen langen Nacht zuvor, und es war auch kein basslastiger Rock mehr, sondern besänftigende Klassik, mit der der DJ üblicherweise die letzten Gäste hinausgeleitete, und gleichzeitig den Angestellten den Feierabend ein wenig versüßte. So konnte sich der übermüdete Kopf ein wenig leichter an die leise, helle Welt das draußen gewöhnen, die sie auf dem Nachhauseweg jedes Mal aufs Neue schockierte.

‚Na, Koko? Machste schlapp?‘, grinste Marina vom Tresen herüber und holte dabei die übliche Feierabend Cola für die Türsteher aus dem Kühlschrank. ‚Komm rüber, was trinken. Für heute haste Feierabend, Izmet hat gerade die letzten zwei Gäste aus dem Damenklo geholt. Haben da wohl etwas die Zeit vergessen, die beiden Turteltäubchen. Und zwei benutzte Kondome auch…‘, verzog Marina beim Sprechen die Mundwinkel zu einer angewiderten Grimasse. Sie streckte ihren wohlgeformten, schlanken Körper gähnend in die Luft, und vollzog dabei eine derart komplizierte Dehnbewegung mit den Armen, dass es Koko einen Moment lang unmöglich war nachzuvollziehen, was Marinas Hals und was schon ihr Unterarm war. Sie stieß sich von der Eingangstür ab, und setzte sich in Richtung Tresen in Bewegung, um sich dort schwerfällig auf einen der festgeschraubten Barhocker sinken zu lassen. Sie wurde alt. Sie spürte jeden einzelnen Muskel und Knochen, in ihrem 1,85 cm langen, kräftigen Körper. Nicht dass sie nicht mehr mit den jungen Hüpfern an den Türen Hamburgs mithalten könnte, das nicht. Was die an Kraft und Ausdauer aus ihren stylischen Fitnessbunkern mitbrachten, machte sie immer noch durch jahrelange Erfahrung, eine gewisse Enthemmtheit und einem nach wie vor sehr gepflegten rechten Haken wett, den sie natürlich nur einsetzte, wenn es sich wirklich nicht mehr vermeiden ließ. Natürlich.

Aber im Laufe des letzten Jahres spürte sie immer häufiger, wie sie morgens, schon lange bevor es Zeit war die letzten Gäste nach draußen zu befördern, immer unruhiger auf die Uhr sah und die Müdigkeit eine Qualität annahm, die sie von früher nicht kannte. Es wurde ihr irgendwie immer egaler, was sie für einen Eindruck auf die Gäste machte, ob sie sie immer noch mit gebührendem Respekt ansahen und bestenfalls eine leichte Furcht im Blick hatten, wenn sie sie beim Betreten des Metall Tempels passierten.

Koko riss ihren Job nur noch ab. Es war ihr nicht mehr wichtig, ob ihr eine Welle von Ehrfurcht vorauseilte, wohin sie auf der Reeperbahn und St. Pauli auch trat. Sie scherte sich auch nicht mehr um die staunend aufgerissenen Augen, die die Leute bei ihrem Anblick auf sie richteten. Sie war auch längst nicht mehr die einzige Frau die auf dem Kiez an der Tür stand. Inzwischen war sie 42, und sie war nur noch ‚die seinerzeit erste‘ Frau, die es geschafft hat, sich in der Türsteher Liga durchzusetzen. Mehr aber auch nicht. Die Freude an ihrem Beruf verließ sie allmählich. Sie vermisste die ebenbürtigen Konflikte von früher, wo man sich in plattem Hamburgisch ankeifte und bedrohte, schlimmstenfalls mal eine Faust flog. Sie sind im Laufe der Zeit vom Herbeirufen der Polizei, Anzeigen wegen Körperverletzung und Rufen nach dem Geschäftsführer abgelöst worden. Die Gäste nahmen die Türsteher nicht mehr für bare Münze und sprachen ihnen ihre Allmacht am Eingang einer jeden beliebten Lokalität auf St. Pauli ab. Einmal hat jemand sogar den Metall Tempel auf die Rücknahme eines ausgesprochenen Hausverbots wegen Verstoßes gegen die Hausordnung verklagt. Verklagt! Man stelle sich das vor! Welcher Seemann hätte früher im Suff die Bardame begrapscht und anschließend auch noch hinter ihren Tresen gekotzt, ohne einzusehen, dass er sich in der besagten Bar nicht mehr blicken lassen darf? Nein, sowas gab es vor 20 Jahren nicht, und auch vor 10 noch nicht. Aber heute, da klagten die Leute und argumentierten mit irgendwelchen Gesetzesklauseln, als ginge es um einen hochdotierten Juristenball, und nicht um einen Abend im Heavy Metal Club mit lauter Musik und viel Bier.

Und dann waren da noch diese neuen Metalldetektoren. Seitdem es neuerdings Brauch war, dass irgendwelche kranken Dealergangs ihre Reviere nicht etwa nur in Straßen, sondern auch noch in Lokale aufteilten, war alles nur noch Mist. Koko und ihre Kollegen mussten plötzlich jeden Gast nach Messern, Totschlägern und Schusswaffen absuchen. Was war das nur für eine Welt, in der man seine Gäste nicht mehr mit Lebenserfahrung und geschultem Auge durchsortierte, sondern, sogar die ältesten Stammgäste eingeschlossen, jeden abtasten und mit diesem piependen Ding untersuchen musste, als sei man auf dem New Yorker Flughafen. Das hatte einfach Nichts mehr mit ihrem früheren Beruf zu tun, den sie wirklich geliebt hat. Sie hatte es gemocht, jeden und Alles zu kennen, wusste, wer Dealer und wer Zivilbulle war. Man arbeitete sogar zusammen und sowohl die Clubbesitzer, als auch die Gäste und Zivilfahnder vertrauten ihr und ihrem Urteil. Man verließ sich aufeinander, half sich unter Kollegen aus und morgens nach der Schicht traf man sich bei Lou in der Frühstücksbar auf der Kleinen Freiheit zu Speck und Eiern.

Bei dieser Erinnerung knurrte Koko lauthals der Magen. Ihre letzte Mahlzeit hatte sie kurz nach Schichtbeginn gegessen, als Björni, einer der Stammgäste, der meistens mehr Zeit bei ihr im Eingang, als drinnen auf der Tanzfläche verbrachte, ihr einen Döner mitgebracht hat. Einfach so. Weil er Koko mochte, und mit ihr zusammen an der Tür alt geworden war.

,Na koko, das war mal wieder eine Nacht, was?' Izmet legte von hinten seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie freundschaftlich. ‚Stell dir mal vor, dass die beiden letzten Knutscher vom Klo tatsächlich so breit waren, dass sie es wirklich und wahrhaftig auf dem letzten Meter nach draußen geschafft hat, mir auf die Stiefel zu kotzen! Und er steht nur glotzend daneben, und macht keine Anstalten sie wenigstens mit festzuhalten, damit die mir nicht da rein fällt. Ich dachte, ich guck nicht richtig! Der allerletzte Gast!‘ Während Izmet sich bei seiner Geschichte wenigstens noch ein müdes Lächeln abzuringen vermochte, gelang Koko keinerlei sichtbare Gemütsregung mehr. Sie war einfach zu müde, und – wie ihr soeben siedend heiß klar wurde – das zurecht, denn sie war in diesem Moment tatsächlich die älteste von allen Angestellten im Metall Tempel.

Sie knuffte Izmet aufmunternd in die Seite, zog in einem Zug die Colaflasche leer, und klopfte freundlich mit den Fingerknöcheln auf den Tresen. Da ihr noch nicht einmal mehr einer der üblichen Sprüche à la: so sind sie, unsere Kapeiken. Oder: wer rausschmeißen will, muss auch wischen!, einfiel, murmelte sie nur an Marina gewandt, und Izmet im Arm haltend: ‚Ich mach mich denn mal vom Acker. Wir sehen uns wieder am Donnerstag.‘, und sie ging Richtung Garderobe, wo es ein Hinterzimmer für die Angestellten gab. Dort packte sie ihre Türausrüstung, die aus einer zusätzlichen, dünnen Schicht Wollklamotten, einem schwarzen Schal und warmen Angorahandschuhen bestand, in ihren Rucksack, holte den Helm vom Garderobenregal und pulte die Motorradhandschuhe heraus. Dann schlüpfte sie wieder in ihre schwarze Lederjacke und zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch, setzte den Helm auf und schloss die Garderobentür hinter sich zu, als sie sich auf den Weg zum Hinterhof machte, wo ihre Maschine stand. Es war bitterkalt, der Februar hatte gerade begonnen, und brachte einen geradezu bösartigen Frost mit sich, der sich in der feuchten Hamburger Hafenluft in seiner alles versteifenden Wirkung noch verstärkte. Wenigstens waren die Straßen trocken, so dass Koko nicht mit den Füßen neben dem Motorrad fahren musste, damit sie sich beim Wegrutschen der Reifen auffangen konnte. Sie hob die schwere Maschine vom Seitenständer in die Senkrechte und setzte sich in den bequemen, aber eisig kalten Choppersattel, wobei ihr die Kälte im Schritt einen leidenden Zischlaut entrang. Dann zog sie die Klettverschlüsse an den dicken Lederhandschuhen enger und legte den Tankhebel um, um anschließend den Zündschlüssel ins eisstarre Schloß zu schieben. Natürlich war es mal wieder zugefroren, verdammt! Sie fummelte, die Hände immer noch in ihren dicken Handschuhen, in der Jackentasche rum, wo sie ein dickes, altes Benzinfeuerzeug verstaut hatte, das sich auch in Lederhandschuhen ganz gut bedienen ließ. Damit erhitzte sie den Anlasserschlüssel mehrfach, während sie ihn immer wieder ins Schloß schob, um es vom Eis zu befreien. Als sie dankbar das Klickgeräusch wahrnahm, mit dem der Schlüssel sein endgültiges Einrasten im Schloss anmeldete, durchflutete sie ein liebevolles Gefühl zu ihrer alten Maschine, die sie seit ihrem 18 Lebensjahr hegte und pflegte, wie eine alte, treue Freundin. Sie drehte am Schlüssel und zeitgleich am Gasgriff, und als der Motor brüllend ansprang, ohne auch nur einmal über die Eiseskälte zu mucken, klopfte sie auf den breiten, leicht angekratzten Tank, und sprach ihrem geliebten Motorrad ein paar Lobesworte zu. Auf das alte Mädchen war einfach Verlass. Koko lächelte vor sich hin, als sie mit am Boden schleifenden Füßen langsam anfuhr, um endlich den Kiez mit seinen trunkenen Düften und rauchenden Kanaldeckeln vor den auskühlenden Discos hinter sich zu lassen. Sie sehnte sich nur noch nach ihrem gemütlichen Bett, und dem warmen, schnurrenden Köper ihrer alten Katze Stevie, die sich immer auf ihren Beinen niederzulassen pflegte, als ahnte sie, dass Koko die Kälte, die sie immer nach Schichtende aus Übermüdung überfiel, nicht alleine zu bekämpfen vermochte.

 

Zuhause angekommen, ließ Koko ihre schwere Jacke noch im Flur einfach auf den Boden fallen und steuerte schnurstracks auf die Küche zu, um sich einen Ingwer-Zitronen Tee zu kochen. Sie hatte sich das zum Ritual gemacht, mit dem sie ihre Arbeitsnächte beendete, und den Schlaf einläutete, der ihr in den letzten Monaten scheinbar immer weniger Erholung brachte. ‚Steeevie! Koomm.‘, rief sie leise, während sie Wasser in den Kocher einlaufen ließ. Und beim Ingwerschneiden wiederholte sie: ‚Na kooomm Süße! Es gibt Frühstück!‘ Die alte Katze war ganz schön gemütlich geworden, und ließ sich mal wieder besonders ausgiebig bitten. Koko war sich noch nicht einmal mehr sicher, ob Stevie überhaupt noch etwas hören konnte. Sie war inzwischen komplett ergraut, und hatte ihre knochige Hüfte fast kahl geleckt, weil sie dort eine ausgewachsene Altersarthrose quälte, die mit Medikamenten nicht mehr richtig in den Griff zu kriegen war. Aber Koko war sich sicher, dass das freundliche, feingliedrige Tier ihre Anwesenheit spüren würde, und so wartete sie geduldig, bis sie ihren Tee fertig aufgebrüht hatte, ohne ein weiteres Mal zu rufen. Kaum hatte sie sich in ihrem gemütlichen Stuhl am Fenster niedergelassen, die Beine wie immer oben auf der Fensterbank abgelegt, kam Stevie auch schon auf leisen Sohlen, aber laut schnurrend um die Ecke in die Küche, und hüpfte mit einem entschlossenen Satz auf Kokos ausgekühlte Beine, die sofort von ihrer wohligen Körperwärme durchströmt wurden. Koko war so dankbar, für dieses kleine, freundliche Wesen, dass es ihr fast Tränen in die Augen trieb, und sie genoss jede Sekunde dieses kostbaren Augenblicks des wortlosen Verstehens, gegenseitiger Liebe und gemeinsamer Stille bei einem schönen heißen Tee.

Als der ausgetrunken war, und sie den Kiezmuff von ihrem Leib geduscht hatte, kroch sie unter ihre extra lange und breite, dicke Bettdecke, und noch ehe sich Stevie auf ihren Beinen zusammengerollt hatte, schlief Koko fest und traumlos ein.

 


 

Irgendwo in der Ferne ging ein lauter Feueralarm los. Koko nahm ihn kurz wahr, und sackte sofort wieder in den Schlaf, aber der Alarm schlug wieder an und gab einfach keine Ruhe, solange, bis Koko klar wurde, dass das laute Klingeln nicht vor draußen in ihre Wohnung drang, sondern von ihrem alten Hitchcock Telefon stammte, dass sie seit 20 Jahren in jede neue Wohnung mitgeschleppt hat, obwohl es im Handy Zeitalter fast schon unmöglich war die Leute davon zu überzeugen, doch bitte ihre Festnetznummer zu benutzen, wenn sie sie erreichen wollten. Diese Wohnung war auch gerade erst 3 Monaten Kokos Zuhause, ebenso, wie die neue Festnetznummer auch erst 3 Monate alt war, weil sie die alte nicht hatte mitnehmen könne, als sie aus der gemeinsamen Wohnung mit Maik ausgezogen war. 8 Jahre waren mit ihm zusammengekommen. Immerhin. Aber zum Schluss soff er soviel, dass Koko schlichtweg Angst bekommen hatte an seiner Seite mit unterzugehen. ‚Ein toller Mann, der sich nicht mehr im Griff hat ist am Ende auch bloß ein Mann, der sich nicht im Griff hat ‘, hatte sie ihm gesagt, und war gegangen, sobald sie eine kleine Wohnung gefunden hatte, die ihr gefiel. Dort hatte sie es sich mit Stevie gemütlich gemacht. Sie konnte das Leben mit sich selbst ganz gut aushalten, und hatte nicht das Bedürfnis dauernd jemanden um sich zu haben. Stevie, und die paar guten Freunde, die sie hatte, reichten ihr, um zufrieden zu sein.

Während sie nach dem Hörer tastete, sah sie kurz auf ihren Wecker und stellte fest, dass sie erst anderthalb Stunden geschlafen hatte. Ärgerlich darüber, dass sie mal wieder vergessen hatte den Telefonstecker aus der Dose zu ziehen hob sie ab und brummte: ‚Was ist?‘ in den Hörer.

Am anderen Ende erklang ein weit entferntes Knacken und die aufgeregte Stimme ihrer Mutter, die im nächsten Moment wohl ihr Handy fallen gelassen haben muss, denn auf einmal war die Leitung wieder unterbrochen. Koko richtete sich im Bett auf, um besser ans Telefon greifen zu können, als ihr auffiel, dass Stevie keine Anstalten machte, sich trotz ihrer plötzlichen Bewegung zu regen. Sie erstarrte in ihrer Bewegung und blickte auf das zusammengerollte Tier. Dann stupste sie es mit den Füßen unter der Decke an. ‚Stevie?‘, sie bewegte sich heftiger, erwirkte aber auch weiter keinerlei Reaktion der kleinen grauen Katze. ‚Stevie, nein! Stevie!! Das kannst du mir doch nicht antun, altes Mädchen…bitte…‘, Koko hob den noch warmen Körper ihrer treuen Gefährtin auf ihre Arme, und vergrub ihre Nase in ihrem weichen Fell, so wie sie es immer getan hat. Ein eiskalter Schauer glitt ihr den Rücken runter, und sie fing an mechanisch vor- und zurück zu schaukeln, also ob sie die kleine Katze trösten wollte. Nur das sich langsam die Trauer in ihren Augen ausweitete und anfing unter ihren Lidern zu drücken, während sie immer wieder ‚Bitte. Bitte nicht…bitte bleib bei mir. Bitte…‘ in das Stevies Fell flüsterte.

In dem Moment klingelte das Telefon erneut. Scharf, und unerhört laut schrillte es durch den Raum, so dass Koko den Hörer geradezu von der Gabel riss und hineinrief: ‚Was ist Mama? Ich hab jetzt keine Zeit, Stevie ist gerade gestorben!‘ Ihre Stimme überschlug sich bei der zweiten Satzhälfte gefährlich, und sie spürte einen verräterischen Schluchzer ihre Kehle hochkriechen. Ihre Mutter am anderen Ende der Leitung wirkte konsterniert und gab zunächst einige undefinierbare Laute vor sich, bevor sie sich fing und stotterte: ‚Oh. Äh, das tut mir leid…ich…oh Gott das ist Alles so furchtbar!‘ Dann brach sie in lautes Weinen aus, was Koko zutiefst irritierte. Ihre Mutter mochte Stevie zwar ganz gern, ja. Aber eine derart heftige Reaktion hätte sie jetzt von ihr doch nicht erwartet. ‚Mama? Ich wusste gar nicht, dass du so an ihr gehangen hast. Willst du sie nochmal sehen, bevor ich sie begrabe? Ich kann damit noch etwas warten, wenn du kommen möchtest. Ich weiß, der Weg ist doch etwas weit, aber wenn sie dir so wichtig…‘ ‚Opa ist tot!‘ , unterbrach sie ihre Mutter, und heulte dabei laut auf.

 ‚Wie bitte?!‘ Kokos Stimme klang jetzt hysterisch und schrill. Das war Alles einfach zu absurd. Es konnte doch nicht angehen, dass sie hier mit ihrer noch warmen toten Katze auf dem Bett saß, und erfuhr, dass ihr Lieblingsopa auch nicht mehr am Leben war. Er war alt, aber noch ganz gut beisammen gewesen. Gut, nachdem er Oma durch ihre gesamte Demenz bis zu ihrem Tod aufopferungsvoll gepflegt hatte, ließ auch seine Vitalität etwas nach. Aber er hatte immer noch Schneid, und einen wunderbaren Humor. Das letzte mal, als Koko ihn in der kleinen Wohnung in Prag besucht hatte, war er in der Küche verschwunden, um für seinen Gast ‚kochen‘ zu gehen. Kurz danach kam er mit einem Teller in Scheiben geschnittener Salami mit Zahnstochern zum Aufspießen zurück, und grinste dabei breit und verschmitzt wie immer. Er hieß Miloslav, hatte sich seine angeborene Zahnlücke selbst in seine dritten Zähne einarbeiten lassen, um er selbst zu bleiben, und er liebte Schrauben und Autos, die er niemals anders nannte, als ‚Wagen‘, denn er fand, dass einem derart komplizierten Gefährt einfach eine gewisse Ehre gebührte.

Koko wurde übel, und sie hatte das plötzliche Gefühl, dass sich der Boden unter ihrem Bett auftat, und sie nur noch ins Leere fiel ohne die geringste Aussicht auf Halt.

‚Koko? Koko, bist du noch dran?‘

‚Ja, Mama. Ich bin noch dran.‘

‚Er wird bald beigesetzt. Du musst nicht kommen, es ist doch so weit, und…‘

‚Mama! Hör auf damit!‘, schrie Koko jetzt ungehemmt in den Apparat. ‚Es ist wohl noch nicht genug damit getan gewesen, dass ihr mich nicht zu der Beerdigung von Oma gelassen habt, oder? Wenn unsere ach so tolle Familie meint, dass ich noch nicht einmal mehr einen Anspruch darauf habe, meine Großeltern beizusetzen, nur weil ich etwas ausgesprochen habe, was ihnen nicht in den Kram passt, dann können sie mich Alle mal, und du gleich mit! Das ist auch mein Opa, und er und Oma haben mich im Gegensatz zu den Anderen gemocht! Diesmal wirst du mich nicht von der Beerdigung fernhalten, nur weil du dir ihre blöden Kommentare nicht reinziehen willst. Diesmal nicht! Sonst hast du mal eine Tochter gehabt!‘ schnaubte sie scharf in den Hörer. Es folgte eine lange Stille, während der es im Hintergrund leise in der Leitung knackte.

‚Es ist schon gut, Koko. Du hast ja Recht. Ich gebe dir Bescheid, sobald der Termin feststeht. Es ist einfach nur Alles so traurig…sie sind so schnell hintereinander gegangen. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll!‘

‚Ja, Mama. Das finde ich auch‘ sagte Koko mit leerer, leiser Stimme. ‚Ich bereite hier Alles für meine Abreise vor, und warte auf deinen Anruf, ok?‘

‚Mach das, Kind. Und Koko? Es gibt ein Testament. Bring deine Papiere mit. Wir müssen zum Notar.‘

Nachdem sie aufgelegt hatte, saß die große, starke Frau vom Kiez noch lange wie ein kleines Häufchen Elend in ihrem Bett, wo sie sich zärtlich um ihre tote Katze schmiegte, und Blasen werfend weinte, wie ein verlorenes Kind. Irgendwann schlief sie sogar mit dem erkaltenden Tierkörper im Arm ein, und sackte zusammengerollt auf die Bettseite, wo sie sich bis zum späten Nachmittag nicht mehr regte.

Es war schon fast ein Jahr her, das Koko in Prag war. Sie hatte sich dort nicht lange aufgehalten, war aber trotz eines ziemlichen Unwillens, der aus den Problemen mit der restlichen Familie herrührte, hingefahren, denn sie hatte das zwingende Gefühl gehabt, dass sie Opa besuchen sollte. Seitdem sie in Deutschland lebte, waren in ihrer weitreichenden Familie 4 Menschen gestorben, die ihr alle sehr am Herzen gelegen haben. Sie hatte es nur mit Mühe geschafft, sich von 3 von ihnen noch zu verabschieden, obwohl sich ihr Tod relativ lange angekündigt hatte, ihr Opa war der letzte von ihnen. Die Entfernung zu ihrer ersten Heimat war noch nicht einmal so riesig. Jemand, der seine Verwandten in München hatte, war von Hamburg aus tatsächlich deutlich weiter weg von ihr, als sie von ihren Leuten in Prag und im böhmischen Hochland. Es war mehr die emotionale, als die tatsächliche Grenze, die sie von Tschechien fernhielt. Und die sie gleichzeitig gnadenlos festhielt und nie losließ. Sie liebte Tschechien. Sie liebte die Landschaft, die durchgeknallten Leute, den Gedanken an das Bisschen Kindheit, dass sie dort gehabt hat.

Jedesmal, wenn sie – wie heute wieder – mit ihrem Seesack auf der Schulter in die Bahn einstieg, und sich durch die engen Gänge zwängte, bis sie einen freien Platz in einem der Abteile fand, fing etwas in ihr an zu vibrieren. Eine spannungsvolle Erwartung, vielleicht sogar Vorfreude. Ihre Nase wurde wachsam und hielt nach einem vertrauten Geruch Ausschau, die Ohren spitzen sich in der Hoffnung die ersten bekannten Silben, oder wenigstens die leise Melodie ihrer Muttersprache zu erhaschen. Sie war die Strecke Hamburg – Prag schon gefühlte tausendmal gefahren, und jedesmal versuchte sie einen Platz in einem Abteil zu finden, denn die immer mehr eingesetzten Großraumwagons machten sie nervös. Dort konnte sie ihre geschärften Sinne währen der gesamten sechseinhalbstündigen Fahrt nie wirklich abschalten. Immerzu ließen sie Gesprächsfetzen von Mitreisenden aufhorchen, sie beobachtete neu dazugestiegene minutiös und versuchte alleine an ihrem Erscheinungsbild, oder an der Art, wie sie sich bewegten zu erkennen, ob es sich um Tschechen handelte. Ihre Nase forschte in der Luft nach bekannten Gerüchen, und sie sehnte sich nach der ersten tschechischen Mahlzeit im Zugrestaurant. Ihr ganzes Wesen verwandelte sich in einen großen, weichen Haufen aufgesparter Liebe, die während der gesamten Zeit, die seit ihrem letzten Tschechien Aufenthalt vergangen war in Form von Heimweh, das konstant gegen ihren Brustkorb drückte, Ausdruck fand. Ihr war sehr wohl klar, dass sie dabei ziemlich pathetisch auf die Dinge schaute, und viel zu emotional urteilte. Dass längst nicht Alles so toll war, wie es sich in diesen Momenten anfühlte. Aber sie konnte nicht anders, als dieses Gefühl von endlich-nach-Hause-fahren zu genießen. Selbst jetzt, als sie auf dem Weg zur Beerdigung ihres Opas war, flackerte es wieder in ihr auf. Trotz des überaus traurigen Anlasses war es irgendwie „richtig“ in genau diesem Zug zu sitzen, und zu warten, bis er der Elbe folgend irgendwann parallel zur Moldau in die Stadt mit der wohlbekannten Silhouette einfuhr. Die Stadt, die sich selbst als den Nabel Europas bezeichnete, oder als die hunderttürmige Mutter, die goldene Stadt, die so modern war, und dabei immer noch nach Braunkohleöfen stank, die ebenso von Pferdekutschen, wie von Autos verstopft wurde, die jedes Jahr Millionen von saufenden Touristen genauso gut zu versorgen wusste, wie die Hunderttausende derer, die tatsächlich aus Interesse an ihrer unfassbar reichen und vielfältigen Kulturgeschichte zu Besuch kamen. Die Stadt, in der sie geboren worden war, das Sprechen und Gehen erlernt hatte, in der sie bis zur 3. Schulklasse ihre riesige Familie und all ihre Freunde um sich hatte, und die sie mit noch nicht einmal 9 Jahren mit ihren Eltern vor den Kommunisten fliehend verlassen musste. Prag, ihre Heimatstadt. Das einzige Zuhause, das ihr in ihrem Leben geschenkt worden war, ohne dass sie einen hohen Preis dafür zahlen musste.

 

Als sie sich diese Mal aus der engen Zugtür schälte, um auf den leicht ranzigen 5. Bahnsteig des Prager Hauptbahnhofs zu hüpfen, war Alles genauso, wie immer. Und trotzdem wusste Koko, dass dieser Besuch eine Wende bedeuten würde. Ihr Opa war der letzte seiner Generation gewesen. Das letzte echte Familienoberhaupt, denn allein seine Präsenz hatte ausgereicht um Kokos Mutter und ihre Schwestern alle ihre Entscheidungen im Lichte seines möglichen Urteils zu fällen. Meistens wusste er noch nicht einmal etwas davon, denn sie besprachen längst nicht alles mit ihm. Zudem war er ja „bloß angeheiratet“, denn Kokos Großmutter hatte in ihm erst ihren zweiten Mann und somit Stiefvater für ihre drei Töchter gefunden. Es war also imgrunde das Urteil der Großmutter, das bei den drei Frauen gefürchtet war. Aber Kokos Großmutter war bereits vor drei Jahren gestorben, und so hatte sich ihre unsichtbare matriarchalische Macht auf wundersame Weise auf ihren Mann übertragen, und hielt seitdem ohne auch nur ein ausgesprochenes Wort die Stimmungsschwankungen der sich konkurrenzhaft liebenden drei Schwestern im Zaum. Nun war auch er tot. Und es war klar, dass die Karten von Grund auf neu gemischt werden mussten, wobei es zwei mögliche Ergebnisse zu erwarten gab. Entweder, die drei Schwestern rauften sich irgendwie derart zusammen, dass sie in Zukunft als eine geschlossene Einheit die Rolle des Familienoberhaupts zu dritt ausfüllen würden. Oder es gab Krieg. Um das weitreichende Erbe, um die Vormachtsstellung, um Respekt und darum, wer Recht hatte in was auch immer. Koko wagte gar nicht erst darüber nachzudenken, wie sich eine solche Auseinandersetzung auf ihre Generation auswirken würde. Alleine die Möglichkeiten, die ihr nur beim gedanklichen Vorbeistreifen der absehbaren Konflikte einfielen, ließen in ihr eine tiefe Dankbarkeit für die Möglichkeit eines Rückzugs nach Hamburg auflodern. Sie musste grinsen, wenn sie sich vorstellte wie es wohl bei ihren Kiezfreunden ankäme, wenn sie ihnen erzählen würde, dass sie dieses oder jenes nicht machen könne, weil ihre Mutter, oder gar Großmutter es nicht gutheißen würden. Eine solche Konstellation gab es in ihrer Hamburger Welt einfach gar nicht. Alle Leute, mit denen sie sich umgab, hatten bestenfalls ein paar Eltern und ein oder zwei Geschwister, mit denen sie noch Kontakt hatten, oder eben nicht. Niemand über 20 machte sich Gedanken über die Meinung seiner Familie, geschweige denn über die Ansichten seiner Großeltern. Hamburg war eben eine Hafenstadt, durchsetzt von Freiheitsgedanken und unabhängigen Meinungen, in deren Entwicklung man sich schon im Grundschulalter übte. Da war es keine Überraschung, dass junge Leute die Schule mit einem ganz eigenen Kopf verließen, und niemanden mehr fragten, was denn für sie, oder die gesamte Familie wohl das Richtige sein könnte. Sie wussten es eben selbst. Ebenso, wie Koko, die dieselbe Entwicklung durchlebt hatte. Nur mit dem Unterschied, dass sie auch noch diese andere Welt in sich trug, in die ihre Mutter und ihre Schwester bereits vor Jahren zurückgekehrt waren, und die sie genauso hassten, wie liebten, weil sie ihnen Sicherheit vermittelte, und die mit dem Tod von Großvater auf den Kopf gestellt worden war. Ob auch Koko in diese Welt gehörte, war nie wirklich klar geworden, denn sie fürchtete die dort herrschende Fremdbestimmung ebenso, wie sie sich nach ihr sehnte. Klar war eigentlich nur Eines, nämlich dass sie sich von niemandem mehr irgendetwas erzählen ließ, denn sie war der Meinung, dass sie mehr als hinreichend bewiesen hatte, dass sie auch alleine ganz gut zurecht kam.

 

Diese Frage spielte aber zu diesem Zeitpunkt, als sie ihre Mutter auf dem Bahnsteig umarmte und leise auf ihre Schulter weinen ließ, keine Rolle. Im Moment ging es nur um Trauer, und das pragmatische Abwickeln einer Beerdigung, und das mit einer Familie, für die Koko ein rotes Tuch war.

Wie auch immer das gelungen war, war am Ende des übernächsten Tages rätselhaft. Tatsache ist, dass es  trotz spürbarer Feindseligkeit in der Luft zu keinem Familieneklat am Grabe von Opa Miloslav gekommen war, dass man einander trotz Allem genug Raum für Trauer und Tränen gelassen hatte, und dass man tatsächlich auch ein gemeinsames Trauermahl eingenommen hatte, wenn auch wohl keiner der Beteiligten hätte später noch sagen können, was man eigentlich gegessen hatte. Es hat sich noch nicht einmal jemand darüber echauffiert, dass Koko länger am Familiengrab verweilt ist, um auch den Tränen für ihre Großmutter Raum zu geben, bei deren Beisetzung sie vor drei Jahren nicht hatte dabei sein dürfen, weil man sie ausdrücklich ausgeladen hatte. Und falls sich doch jemand darüber aufgeregt hat, so hat man es zumindest hinter vorgehaltener Hand getan, was Koko für´s Erste reichte, um nicht zu ihrer herzenstiefen Trauer auch noch stinkwütend zu werden.

 

Nach dem Essen eröffnete Kokos Mutter der Familie, dass sie noch für denselben Abend einen Termin beim Notar vereinbart hatte, zu dem ihre beiden Schwestern Alzbeta und Teresa, Kokos beiden Cousins Vitek und Martin, sowie Kokos Schwester Luzie, die alle nur Luka nannten, geladen waren. Koko war über diese Einladung mehr als verblüfft, denn sie hatte sich im Laufe der letzten 20 Jahre vollkommen daran gewöhnt die Persona non grata in ihrer Familie zu sein. Man lud sie nie zu irgendwelchen Feiern, Hochzeiten, Geburtstagen oder Familienbesprechungen ein. Selbst die Beerdigungen hatten sich offenbar zu einem diskussionsbehafteten Feld entwickelt, in dem sie um ihre Anwesenheitsberechtigung kämpfen musste. Man hatte sich zwar immer auf die große Entfernung, die sie hätte zurücklegen müssen herausgeredet, aber es war klar, dass es bei dieser Schneiderei um etwas ganz Anderes ging, und jeder wusste das.

Und nun sollte sie zum Familiennotar, was an sich schon ein Ding war, denn bis dato hatte die Familie in ihrer respektbehafteten Unterwürfigkeit gegenüber dem unsichtbaren Familienoberhaupt eigentlich immer alles ganz gut auch ohne irgendwelche Testamente und Notare geregelt. Koko wurde schlagartig nervös, und fürchtete, dass der Eklat, den sie bei der Beerdigung befürchtet hatte nun eine neue Bühne bekommen hatte, auf der ihn die Familie aufführen würde. Aber auch das bewahrheitete sich nicht.

Der Notar erwies sich als eine unerwartet junge, deutlich überschminkte Frau mit ostblocktypisch melierten Haaren, die eigentlich fast schwarz waren, aber trotzdem von irgendeinem Wahnsinnigen mit nahezu weißen Strähnen versehen worden waren, so dass der Kopf der Dame aussah, als wäre sie in eine Hühnerrupfmaschine geraten. Ihre Kanzlei war überaus geschmacklos eingerichtet, wobei klar war, dass sie sie von einem Vorgänger übernommen haben musste, der sein ganzes, sehr langes Notarleben dort verbracht hatte, und zwar mit immer ein und demselben Teppich. Sie hatte im Bemühen um einen frischen stylistischen Wind in ihrer Wirkungsstätte billige Möbelstücke aus grau gestrichenem Metall mit Glaselementen zwischen die überdimensionalen dunklen Holzmöbel ihres Vorgängers gequetscht, ohne sich darum zu scheren, ob einem bei dieser Kombination die Augen platzen, oder nicht.

Koko saß neben ihrer Mutter und Luka auf einem abgewetzten zierlichen Möbel, dass wohl mal ein barockes Chaise für zwei Personen gewesen sein mochte, heute aber einfach nur eine unbequeme Sitzgelegenheit in altrosa war, die jemand vergessen hat auf den Sperrmüll zu bringen. Alzbeta und Teresa hatten es da auf den unbequemen grauen Metallrohrstühlen mit Sicherheit komfortabler, denn sie mussten sich wenigstens nicht gegenseitig die Ellbogen aus den Rippen atmen. Vitek und Martin sind sicherheitshalber gleich neben der Tür stehen geblieben, als wollten sie sich für eine mögliche Flucht bereitstellen. Alle anwesenden fühlten sich sichtlich unwohl, zum einen, weil sie von Opas unerwarteter Inanspruchnahme einer außenstehenden Autorität verunsichert waren, zum Anderen weil dieses gesamte Notarbüro mitsamt der Notarin, Frau Dr. Dr. Puškvorcová, einfach nur grotesk auf sie wirkte.

Niemand wusste, wohin mit seinen Händen, oder was zu sagen, und so setzte Frau Dr. Dr. Puškvorcová eine professionell geschäftige Miene auf legte los. Sie seien hier im Auftrag des am 12.04. 2015 verstorbenen zusammengekommen um seinen Nachlas gemäß seiner Verfügung vom 31.10.2012 zu regeln, bla, bla, bla.

Wohl keiner der Anwesenden hörte, was sie nach dem zweiten Datum weiter sagte, denn ihnen war der Atem gestockt. Es war genau einen Tag nach dem Todestag von Oma datiert.

 

Alle wussten, dass dies nur eines bedeuten konnte: Opa hat etwas getan, womit Oma zu Lebzeiten NIEMALS einverstanden gewesen wäre. Oder er hatte ein anderes Geheimnis vor ihr, der unantastbaren Sippenanführerin, der Königin, der man niemals widersprach, dem weiblichen Familienoberhaupt ohne Fehl und Tadel, das stets Alles wusste und zu Allem entweder sein Einverständnis, oder seine Ablehnung äußerte, bevor irgendjemand in der Familie es auch nur aussprach. Revolution lag in der Luft. Und Koko fing an leise in sich hinein zu grinsen, was sie sogut wie möglich zu verbergen suchte, um sich von ihrer Mutter nicht auch noch einen gezielten Knuff mit dem Ellbogen einzufangen. Es war Koko egal, ob, und was ihr Opa ihr hinterließ. Sie war nur aus Respekt zu ihm hergekommen. Aber jetzt war sie über ihre Anwesenheit sehr froh, denn allein durch das Datum seines Testaments hat Opa auf den Tisch gehauen und für Rock´n Roll in der Familie gesorgt.

„Du alter Punker…“, dachte sie, während sich ihr Herz mit Liebe, und ihre Augen mit Trauer füllten.

Aber da hatte die zerrupfte Notarin bereits angefangen die erwarteten Güter mit den zu erwartenden Erbempfängern aufzuzählen. Natürlich war Koko keine von denen, die eines der Miethäuser zugeteilt bekommen hat, die wie zu erwarten an die drei Schwestern verteil wurden. Sie wurde aber auch nicht bei der Auflistung aller weiteren bekannten Besitztümer als Erbin erwähnt. Das kleine Ferienhaus am Stadtrand, die Wohnung der Großeltern, sowie die Datscha im böhmischen Hochland, Opas Auto, seine Sparbücher und das Bisschen relevanten Familienschmuck gingen an ihre Schwester, und die Cousins. Langsam fragte sich Koko, warum sie überhaupt zu diesem Termin erscheinen sollte. Alle anderen wirkten zufrieden, und auch durchaus beruhigt darüber, dass offenbar doch nichts Unerwartetes geschah. Frau Dr. Dr. Rupfhuhn, wie Koko sie inzwischen im Geiste umbenannt hatte, fummelte nun umständlich unter die drei zusammengetackerten Seiten des scheinbar vollständig verlesenen Testaments, und holte ein Blatt federleichtes Papier hervor, bei dessen Anblick ein Kloß in Kokos Hals stieg. Opas geliebtes Flugpost Briefpapier! Er dürfte wohl die letzte Person in der westlichen Welt gewesen sein, die einen schier unerschöpflichen Vorrat dieser hauchdünnen, extra leichten Blätter besessen hatte, die einem bei Briefen in ferne Länder etwas Porto einsparen sollten. Man hatte bei den darauf geschriebenen Briefen immer das Gefühl, das man eigentlich nur noch das Gewicht der verwendeten Tinte in der Hand hielt. Koko wusste das so genau, weil Opa ihr bis zum Schluss noch ab und zu einen Brief nach Hamburg geschrieben hatte. Sie hat sie alle sorgsam aufbewahrt, und auf jeden von ihnen geantwortet. So hatten Opa und sie sich trotz der Tatsache, dass sie einander kaum mal sahen irgendwie doch Alles voneinander erzählt.

Die Notarin neigte das Papier, durch das jedes Gegenlicht drang und das Lesen schnell unmöglich machte etwas zur Seite und las:

„Meiner Enkelin Koko hinterlasse ich meine Garage an der Nuselská 985/17 in Prag 4 mit ihrem gesamten Inhalt. Alle notwendigen Schlüssel sind in einem Briefumschlag beim Besitzer des Bierlokals U Berana an der Nuselská 915/3 ebenfalls in Prag 4 hinterlegt. Koko, frag dort nach Vilhelm, er sagt dir alles Notwendige.“

„Was denn für eine Garage?!“ platzte es aus Vitek heraus. Ratlose und höchst irritierte Blicke flogen quer durch den Raum, währen die Notarin weiter vorlas.

„Des Weiteren hinterlasse ich, ebenfalls meiner Enkelin Koko meine 90%, in Worten neunzig Prozent, Anteile an der SMA s.r.o mit Sitz in der Majaková Ulice 7003/27 in Prag 4, mit der Auflage, dass der im zugehörigen Wohntrakt gemeldeten Person ein lebenslanges Wohn- und Arbeitsrecht in der o.g. Firma eingeräumt wird, da diese Person die verbleibenden 10% Anteile an der s.r.o besitzt. Sollte es aus wirtschaftlichen Gründen zu einem Verkauf, oder einer Aufgabe der Firma kommen, so sind die Gründe hierfür Frau Notarin Dr. Dr. Puškvorcová zur gründlichen Wirtschaftsüberprüfung vorzulegen, und der zweite Anteilseigner nach bestem wirtschaftlichen Ermessen finanziell abzufinden.

Koko, ich weiß, dass du die Einzige bist, die verstehen wird. Mach bitte was daraus. In Liebe, Opa.“

Frau Dr. Dr. Rupfhuhn legte das dünne Papier zur Seite, und schaute triumphierend in die Runde, in der ohne auch nur ein einziges laut ausgesprochenes Wort ein Tumult losbrach.

 

Es war schon wirklich interessant zu beobachten, wie so eine große Familie damit umging, dass ausgerechnet dasjenige Familienmitglied, das man sich zum Abladen aller Ängste, Schuldfragen, Schutzbehauptungen und Erklärungen für das eigene Versagen auserkoren hatte, das größte Rätsel, das es in diesem Clan je gegeben hat, erbte. Koko war über die Tatsache an sich nicht weniger irritiert, als alle anderen. Zu ihrem Erstaunen über Opas offensichtlich jahrelang sorgsam gehütetem Geheimnis, dessen Tragweite noch nicht einmal im Geringsten erahnbar war, gesellte sich jedoch auch ein unverhohlenes Interesse daran, wie wohl alle anderen nun damit verfahren würden.

Die hatten jetzt nämlich ein unerwartetes Problem:

Einerseits wurmte es sie zutiefst, dass es offensichtlich zwischen Koko und Opa Miloslav eine Verbindung gegeben haben musste, von der sie alle keine Ahnung gehabt hatten, und sie hätten wirklich Alles dafür gegeben zu erfahren, was es denn mit diesen mysteriösen Erbteilen auf sich hatte, die nun ohne jegliche Erklärung, und mit einer so persönlichen Botschaft obendrein, auf Koko übergingen. Auf der anderen Seite war Koko nun einmal die Persona non grata, mit der man schon seit Jahren kaum ein Wort sprach, und die man deshalb um Nix in der Welt genauer ausfragen konnte, was es denn mit diesem geheimnisvollen Erbe auf sich hatte, und zwar selbst dann nicht, wenn man vor lauter Neugier verreckte.

CORALIE

 

Coralie wollten die Augen zufallen. Sie war unendlich müde und schwer. So schwer, dass sie kaum den Kopf halten konnte, und ihr Rücken an der Rückenlehne der Rücksitzbank der blauen VW Bulli langsam seitwärts hinunterglitt. Sie konnte auch dagegen Nichts tun. Sie spürte, wie sich ihr Mund zu öffne begann, und sich ihre Lider unaufhaltsam zu senken begannen. Sie konnte einfach nicht dagegen ankämpfen, doch schließlich riss sie unter Aufwendung aller Kraft die Augen doch weit auf und starrte aus dem kleinen, braun getönten Acrylfenster. Sie MUSSTE einfach alles genau sehen. Die flirrenden, gelben Straßenlaternen, die öden Landschaftsumrisse, die sie in der tiefen Dunkelheit dieser klaren Augustnacht nur als schwarze Schatten und Linien wahrnehmen konnte, die sich gegen den leisen, tiefblauen Schein des von nur wenigen Sternen erhellten Nachthimmels abhoben. Sie grauschwarze Straße aus rauem Asphalt, die so unebenmäßig war, dass der Bulli permanent einem leichten Rütteln ausgesetzt war, unter dem im vollgepackten Laderaum ständig irgendetwas klapperte, klopfte und manchmal auch hinunterfiel. Am meisten jedoch starrte Coralie auf das Verwackelte Spiegelbild, das die dunkle Nacht und die getönten Fensterscheiben aus dem Beifahrerraum zurückwarfen. Dort saß das Zentrum ihrer Angst vor dem Einschlafen. Ihre Mutter. Sie saß scheinbar entspannt auf dem Beifahrersitz, die Füße auf der Armatur, den Kopf etwas nach hinten geneigt zum Fahrer schauend. Wer sie nicht kannte, gewann sofort den Eindruck einer entspannten, gutaussehenden jungen Frau, die sich auf einem fröhlich aufregenden Familienausflug befand, und ihr Leben genoss. Ihr kurzes braunes Haar war modern auftoupiert und keck zerzaust, sie trug eine enge blue Jeans mit etwas Schlag und einen enganliegenden Feinstrickpulli über einem schlichten gelben T-Shirt. Sie hatte sogar etwas Make-Up aufgelegt, und sie lächelte und redete ganz viel, oder gar nicht.

Aber Coralie war klug, und glaubte ihr nichts von Alldem. Sie glaubte ihrer Mutter nicht die Fröhlichkeit, nicht das flatternde Geplapper und auch nicht die scheinbar entspannte Haltung mit den lässig hochgelegten Füßen. Sie glaubte ihr noch nicht einmal die wie zufällig zerzausten Haare und schon gar nicht das sorglos glückliche Lächeln.

Coralie spürte ganz genau, dass hier irgendetwas gehörig stank. Diese Reise war nicht das, wofür man es ihr verkauft hatte. Alle glaubten, sie sei noch zu klein und verstünde gar Nichts. Aber das stimmte nicht. Sie hatte sehr wohl und sehr schmerzhaft verstanden, dass ihr Vater, der vor 2 Jahren verschwunden war, nicht einfach nur langfristig verreist war, wie man ihr hatte weismachen wollen. Sie spürte ganz genau, dass er für immer weg war.

Sie hatte auch die vielen geheimnisvollen Gespräche zwischen ihm, der Mutter und ihren zwei immer wieder erscheinenden Freunden, von denen einer ganz aus dem Ausland anreiste, mitbekommen. Manchmal hatte sie sie dabei ertappt, wie sie im dunklen Wohnzimmer miteinander hitzig flüsterten, während laute Musik aus den, auf die Heizung gerichteten, Boxen dröhnte. Sie bekam mit, dass die Eltern den Nachbarn ganz andere Geschichten erzählten, als der Familie. Sie hörte, wie ihr Vater das Haus, in dem sie wohnten, als Spitzelbau mit eingebauter Abhöranlage beschimpfte, während er die Musikanlage ganz unpassend direkt vor die Heizung installierte.

Sie hatte sogar beobachtet, dass ihre Eltern an den Wochenenden in ihrer Datscha am Fluss westlich von Prag nicht nur aus Vergnügen schwimmen gingen. Sie hielten im Fluss regelrechte Konferenzen ab. Sie gingen manchmal sogar im Regen ins Wasser. Einmal hatte sich Coralie hinterhergeschlichen. Sie wollte sie erschrecken und malte sich schon voller Vorfreude aus, wie ihre Mutter aufkreischen würde, während ihr Vater sie jagen und anschließend mit einem heroischen Brüllen in die Luft werfen würde um sie mit einem lauten Platschen ins Wasser fallen zu lassen. Coralie liebte das Wasser von klein auf, hatte noch nie Angst davor, und hatte bereits mit 4 Jahren die ersten Schwimmzüge unternommen, die sie bereits kurze Zeit später zu einer sicheren Schwimmerin gemacht haben.

Sie war sich so sicher, dass sie ihre Eltern auf der üblichen Schwimmstrecke einholen konnte, die einige hundert Meter flussaufwärts vom Haus am Kieselstrand begann und an dem kleinen hölzernen Steg, den der Vater direkt vor der Gartenpforte ans Ufer gezimmert hatte, endete. Sie erschrak jedoch fürchterlich, als sie bereits nach der ersten linksgerichteten Flussbiegung die direkt beim Kieselstrand begann, nur eine spiegelglatte Wasseroberfläche vor sich sah, in der sich Nichts regte außer den lauwarmen Regentropfen, die in weiten Abständen ins Wasser tropften. Von ihren beiden Eltern war weit und breit Nichts zu sehen. Coralie kniff die Augen zusammen und starrte über die gesamte Breite des Flusses auf das Wasser. Sie suchte es mit den Augen bis zum Horizont ab, und hoffte die zwei wohlbekannten Köpfe im Rhythmus langer Schwimmstöße durch das Wasser gleiten zu sehen. Aber sie konnte sie einfach nirgends entdecken, bis schließlich eine unbestimmte Angst in ihr hochkroch und Bilder von zwei ertrunkenen Körpern, die schleifend ans Ufer gezogen werden, durch ihren Kopf schossen. Sie versuchte sich so leise wie möglich durch das Wasser zu bewegen. Vielleicht riefen die Eltern irgendwo in der Ferne um Hilfe, und sie konnte sie nur retten, wenn sie sie auch hörte? Sie schwamm auf diese unhörbare Weise sogar bis zur nächsten Flussbiegung. Die, hinter die sie eigentlich nicht mehr schwimmen durfte, weil ihre Mutter sie stets im Auge behalten wollte. Aber auch dort tat sich vor ihr bloß eine leere spiegelglatte Wasserfläche auf, auf der sich dank des Regens noch nicht einmal die üblichen Wasservögel tummelten, wodurch der geliebte Fluss plötzlich eine gespenstische Fratze von sich zeigte. Coralie geriet langsam in Panik. Sie drehte sich um die eigene Achse, kniff wieder und wieder die Augen zusammen, starrte in alle bekannten Winkel des Ufers, aber über ihren Eltern schien sich das Wasser ohne jede Spur geschlossen zu haben. Sie spürte einen dicken, tränengetränkten Kloß in ihrem Hals anschwellen und ein Ruck durchfuhr ihre Schultern, als sich der erste verzweifelte Schluchzer seinen Weg bahnte. Aber noch weinte sie nicht. Sie zwang sich zur Ruhe – konzentriere dich!

Da endlich sah sie eine auffällige Bewegung am Ufer, dort, wo die hohen Weidenbüsche ihre Zweige wie ein tiefhängendes Dach bis weit über das Wasser fallen ließen und so einen dunklen grünen Tunnel bildeten. Coralie sah Nichts Konkretes, erkannte aber, dass die Bewegung der Zweige zum Teil stromaufwärts wies und wusste sofort, dass sie dort nachsehen musste, obwohl die Mutter ihr strengstens verboten hatte in diesen Uferbüschen zu spielen, oder auch nur in ihre Nähe zu schwimmen.

„Unter den Wurzeln sitzt der Wassermann, der holt sich kleine Kinder und stiehlt ihre Seele, wenn er ihre Füße zu fassen bekommt!“

Ratlos sah Coralie zum Ufer. Im seichten Wasser watete sie so nah sie nur konnte an die Stelle heran, um dann gespannt wie ein Flitzebogen zu lauschen. Und tatsächlich erkannte sie die Stimme ihres Vaters! Schon holte sie Luft, um nach den Eltern zu rufen, dann verharrte sie kurz um zu überlegen, ob sie ihren ursprünglichen Plan in die Tat umsetzen, und die Eltern erschrecken sollte. Doch dann drang ein Satzfetzen zu ihr, der sie stutzen ließ. Ihr Vater presste ihn mit einer leicht gehobenen Stimme hervor, in der Verzweiflung, oder vielleicht auch Wut mitschwang. Die Stimme klang, als sei sein Gesicht rot angelaufen, und die Adern auf der gerunzelten Stirn geschwollen. Dass kannte Coralie von ihm, wenn sie etwas Ungehöriges anstellte.

„…doch – ich KANN dann nicht mehr zurückkommen! NIE – verstehst du das denn nicht??“

Coralie fühlte sich, als würde ein feuchtwarmer, starker Sommerwind versuchen sie umzublasen. Sie wankte, verstand nicht, zog die Augenbrauen angestrengt zusammen, als würde sie nicht richtig hören können. Was meinte Papa damit? Ging es um seine Arbeit? Sie hatte bei einem ihrer vielen, heimlichen Lauschangriffe im Wohnzimmer mitbekommen, dass ihr Vater dort Probleme hatte. Dabei war er so klug, wie kein Anderer – ein richtiger Erfinder! Trotzdem saß er mit einem abgeschlossenen Ingenieursstudium in einem fensterlosen Kellerkabuff im Nebengebäude der Karluniversität fest. In dem belauschten Gespräch beklagte er sich verbittert bei Mama darüber, „Dass die ihn wegen diesem beschissenen Parteibuch da unten verrotten lassen!“ Coralie wunderte sich damals über diese Worte. Ihr Vater konnte mit Computern so gut umgehen, wie kaum jemand anderer in der Universität, dass war oft genug anerkennend in der Familie besprochen worden. Sie verstand das Problem nicht. Wenn jemand so gut in etwas war, war es doch sicher nur eine Frage der Zeit, bis er nicht mehr im Keller, sondern auch in den ehrfurchtgebietenden oberen Räumen der geschichtsträchtigen Universität arbeiten durfte?

Das war für sie mindestens genauso klar, wie die Tatsache, dass ihr Vater wegen dieses komischen Parteibuches keine Probleme haben konnte. Er hatte nämlich keins.

Nun drang aber auch die Stimme ihrer Mutter aus den Büschen am Ufer. Sie sprach deutlich lauter, als ihr Vater zuvor, und sie klang zittrig. Vermutlich wegen des kalten Wassers, in dem sie beide bis zum Hals eingetauscht sein mussten, weil sie sonst nicht unter das Grün gepasst hätten.

„Und DU verstehst einfach nicht, dass ich dort gar nicht hinwill! Du setzt voraus, dass ich für deine Karriere Alles zurücklasse! Meine Mutter, meine Schwestern – ich würde sie alle vermutlich NIE wiedersehen! Es geht uns doch nicht schlecht. Wir haben sogar eine neue Wohnung, ein Auto – Liebling, bitte denk doch nach!“

„Die Bude ist voller Spitzel und für das Auto gibt es noch nicht mal Ersatzteile!“, zischte er zurück.

Plötzlich war es nicht mehr nur ein feuchtwarmer Wind, der an Coralie rüttelte. Es war eine eiskalte, stechende Böe die ihr ins Gesicht schlug, und Coralie in Bruchteilen von Sekunden aller Kraft beraubte. Sie war sich sicher, dass sie unbedingt weiter zuhören musste, um auszuschließen, dass sie vielleicht etwas missverstanden hatte. Gleichzeitig spürte sie jedoch, wie ihre Beine, die noch oberschenkeltief im Wasser steckten, weich wie Gummi wurden. Eine ungekannte Schwäche bemächtigte sich ihrer und zog sie in Richtung Wasser nach unten.

Instinktiv raffte sie sich auf und watete in Richtung Ufer ohne weiter auf ihre eigenen Geräusche zu achten. Sollte sie sie doch hören und sie ausschimpfen, weil sie gelauscht hatte! Coralie war das egal. Sie war Mitwisserin eines Geheimnisses geworden, das sie nicht verstand. Zwei Dinge begriff sie jedoch sehr wohl: ihre Eltern wollten heimlich weg. Und sie durfte auf keinen Fall mit jemandem darüber reden.

 

Und so kam es, dass nach diesem verhängnisvollen Ereignis an einem ungewöhnlich warmen, regnerischen Spätsommernachmittag - Nichts geschah.

Keiner sprach etwas an, alle benahmen sich genauso unauffällig, wie sonst. Vielleicht feierten ihre Eltern mehr Feste mit ihren Freunden. Es konnte auch sein, dass der Vater deutlich zielstrebiger als sonst darum bemüht war, diverse praktische Probleme zu lösen. Er baute neue Schränke ins Wohnzimmer, reparierte die alten Stromleitungen in der Datscha am Fluss, baute dort sogar die lang ersehnte Sauna ein, und sah häufiger nach seiner Mutter, die auf dem Land wohnte. Aber Coralie, die das Lauschen seit diesem Nachmittag im Sommer eingestellt hatte, nahm an, dass es ihr nur so vorkam, und sie früher einfach nur nicht so sehr auf Vaters Aktivitäten geachtet hatte. Sie beruhigte sich, genoss es sogar ihrem Vater zu helfen, wo er sie nur ließ, lernte mit 7 Jahren von ihm das Löten mit Zinn, und auf dem schwarz-weiß Fernseher im Wohnzimmer das neue Spiel Pong zu spielen.

Bis er eines Tages verschwand.

Ohne dass es zuvor irgendwelche Anzeichen dafür gegeben hätte, war er plötzlich weg, und mit ihm auch die heimlichen Gespräche der Eltern. Er sei verreist, erklärte ihr die Mutter. Nein, sie wisse nicht, wann er wiederkommen würde, aber sie würden sich ganz sicher wiedersehen, Coralie sollte sich keine Sorgen machen. Aber Coralie wusste, dass das nicht stimmte. „Nie wiedersehen!“, hatte ihre Mutter damals gesagt. Nun war das Wahrheit geworden, das spürte das kleine Mädchen sehr genau, auch wenn sie ihr niemand ins Gesicht sagen wollte. Ebenso wie sie spürte, dass sie selbst jetzt, wo etwas derart Dramatisches, wie das Verschwinden eines Vaters geschehen war, auf keinen Fall darüber sprechen durfte.

Nur ihre große Schwester Luka, die durfte Coralie manchmal all die Dinge fragen, die sie nicht verstand. Nachts, wenn sie in ihrem Doppelbett lagen und nicht schlafen konnten. In diesem Dunkel wurde die um 5 Jahre ältere Schwester zu einer Verbündeten, die wenig mit der genervten Heranwachsenden zu tun hatte, die von der kleinen Schwester, auf die sie ständig aufpassen musste, zutiefst genervt war. Und darum war es auch eines dieser vertrauten nächtlichen Gespräche, in denen Luka Coralie verriet, dass Papa sich jetzt in Deutschland befand.

Coralie hatte keine Vorstellung, wo dieses Deutschland war. Aber es musste sich in einer Welt befinden, die unerreichbar und vollkommen anders war, als die Tschechoslowakei. Niemand sprach über dieses Deutschland. Sie kannte Mädchen aus der Schule, die mit ihren Eltern mal am Meer in Polen, oder sogar in Jugoslawien Urlaub gemacht haben. Und ihre Tante hat auch mal etwas von ihren sonderbaren Ferien in Rumänien erzählt, wo man an der Grenze die Autos durch Desinfektionsbecken fahren ließ. Und eine Freundin ihrer Mutter war sogar mal in der DDR, an deren Grenze sich wieder alle Leute nackt ausziehen, und alles durchsuchen lassen mussten. Aber von Deutschland sprach nie jemand. Dieses Land schien ebenso weit weg und unvorstellbar zu sein, wie der Weltraum, und Coralie konnte sich Nichts darunter vorstellen.

Bis Luka ihr eines Nachts erklärte, dass Manfred, einer der beiden Freunde, mit denen die Eltern manchmal ihre heimlichen Gespräche geführt hatten, auch aus Deutschland kam. Diese Information veränderte für Coralie vieles. Manfred war immer sehr freundlich, und auch wenn sie nie ein Wort verstand, so konnte er sie mit seinen blitzenden braunen Augen und seiner freundlichen, basslastigen Stimme zum Lachen bringen. Und er roch so toll! So…sauber, dabei gleichzeitig nach der Pfeife, die er sich regelmäßig anzündete. Jedes Mal, wenn er zu einem seiner sehr seltenen Besuche kam, brachte er die außergewöhnlichsten, köstlichsten Dinge mit. Kugelrunde, bunte Kaugummis, Bonbons in Schnullerform, dreieckige, köstliche Schokolade, und auch das komische Knäckebrot, dass ihr die Mutter dann immer als Schulbrot aufzwang, weil es angeblich so gesund war. Für Luka hatte er immer ein buntes Magazin dabei, auf dem Bravo stand, und das niemand verstehen, aber dafür jeder haben wollte. Die Bilder darin zeigten eine Welt, die bunt und gewagt war, und in der die Menschen schon auf den Bilder eindeutig besser rochen, als die Leute Zuhause.

Manchmal brachte Manfred auch Kleidung mit, Jeans, T-Shirts und einmal sogar einen BH für Luka. Alles lauter Dinge, die es in den hiesigen Geschäften kaum gab und die einem Ansehen verschafften, nur weil man sie trug.

Als Coralie begriff, dass ihr Vater dann wohl jetzt in diesem Deutschland war, wo all diese Dinge herkamen, und die Menschen so gut rochen wie Manfred, beruhigte sich ihre erschütterte junge Seele etwas. Und sie ließ ihren Vater los.

 

 

 

Coralie riss die Augen auf, als ihr bewusst wurde, dass ihr Kopf von ihrer Schulter seitlich auf die Brust rutschte, während er vom Rhythmus der unebenmäßigen Straßenoberfläche durchgeschüttelt wurde. Sie war eingeschlafen. Der Schrecken darüber durchfuhr sie so heiß, wie das schlechte Gewissen, das all ihren kindlichen Missetaten stets folgte. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie sich jetzt genau so fühlte. Sie hat Nichts verbrochen, war nicht unfolgsam, oder frech gewesen. Im Gegenteil – sie hat die ganze Fahrt lang kein einziges Wort gesagt, hat sich kaum bewegt, ja beinahe nicht geatmet vor Anspannung. Seit dem Moment, als die Landschaft durch die sie fuhren Nichts Vertrautes mehr an sich hatte, keinen Hügel, keinen Schornstein, keine Kurven, die ihr bekannt vorgekommen wären, war Coralie voller Unbehagen und Sorge. Alles was an diesem Tag um sie herum geschah deutet darauf hin, dass ein Umbruch, etwas Großes, bevorstand. So groß, dass niemand mit ihr darüber sprechen konnte, oder wollte. Sie war bloß das Kind, das mitgenommen wurde, nicht stören durfte und darauf angewiesen war, dass die beteiligten Erwachsenen auf die Acht gaben, sie schützten und nicht vergaßen sie an den richtigen Stellen an der Hand hinter sich herzuziehen.

Und nun schrak sie aus ihrer schläfrigen Erstarrung hoch und erkannte eine grell gelbe Beleuchtung auf beiden Seiten der Straße, die auf noch greller erleuchtete, mitten im Weg stehenden, quadratische Gebäude zuführte. Der Bulli verlangsamte sich.

„Wo sind wir?“

Ihre Mutter drehte sich auf ihrem Beifahrersitz nach hinten und sah sie an. Angst. In ihren Augen flackerte Angst! Warum? Coralie wollte fragen, was los ist, aber da holte ihre Mutter bereits Luft und schaute sie dabei mit einem Blick an, der ihr Schweigen, keine Fragen, keine Widerrede und sofortigen Gehorsam gebot.

„Wir sind an der Grenze. Die Männer dort werden uns viele Fragen stellen und unsere Sachen genau angucken. Sie werden viele Papiere ausfüllen und sie haben Waffen. Aber sie tun uns Nichts. Alles was sie tun ist richtig so, das müssen sie tun, weil das ihre Aufgaben ist. Du brauchst also keine Angst zu haben. Vor Allem aber: schweig. Hast du verstanden? Du sagst kein Wort! Hier sprechen nur Erwachsene, ist das klar?“

 

All die aufgesetzte Leichtigkeit von vorher war wie weggeblasen. Ihr entspanntes Lächeln war verschwunden, der freundliche Blick war einem hektischen, nervösen Blinzeln gewichen, und sie bekam diesen spitzen Zug um die Mundwinkel, den sie nur unter größter Anspannung trug. Coralie hatte so viele Fragen! Warum waren sie an einer Grenze – und an welcher? Grenzen waren doch die Orte, die jeder fürchtete! Sie hatte die schrecklichsten Geschichten über Grenzen gehört. Sie erzählten von Durchsuchungen bis in die tiefsten Winkel des Gepäcks, ja sogar des Körpers, von Verhaftungen, von weggenommenen „Papieren“ und Dingen, von bösen Männern und Frauen, die einen anschrieen und allerlei Beschuldigungen aussprachen. Sie hatte im Zusammenhang mit dem Wort „Grenze“ sogar einmal auch das Wort „Erschießen“ gehört…

Und nun waren sie selbst an so einer Grenze? Was war denn überhaupt dahinter? Fuhren sie in die Ferien, wie ihre Klassenkameradinnen? Oder war hinter dieser Grenze vielleicht sogar dieses Deutschland, in dem jetzt ihr Vater lebte? Vielleicht fuhren sie ja zu ihm!

Warum sagte es ihr dann aber niemand? Es konnte doch nur etwas Gutes daran sein, wenn sie ihren Vater besuchten – das würde ihr die Mutter doch sicher sagen. Warum tat sie es also nicht? Coralie holte schon tief Luft um alle diese Fragen auszuspucken. Aber der Blick ihrer Mutter hatte die Wirkung eines absolut dichten Korkens, der kein Entweichen duldete.

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