Entf1
Wie ein Kugelhagel prasselten Schläge auf das Fahrzeugdach. Sie schienen von allen Seiten zu kommen. Ich zuckte zusammen und duckte mich hinter die Kopflehne des Vordersitzes. Blitzartig waren all meine Sinne in Alarmbereitschaft. Verwirrt blickte ich um mich und versuchte von der Rückbank aus zu erkennen, was draußen vor sich ging. Das Taxi fuhr nun noch langsamer. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte der Fahrer in den Rückspiegel. Einige junge Männer näherten sich von hinten dem Fahrzeug und liefen jetzt dicht neben ihm her. Das Auto fuhr Schritttempo. Ganz gleich in welche Richtung ich blickte, konnte ich nicht viel ausfindig machen. Ich sah nicht mehr als sich im Lauf nach vorne neigende und hin und her drehende Oberkörper. Plötzlich hörte ich jemanden meinen Namen rufen: „Reza! Reza! Reza!“ Für einen kurzen Moment erblickte ich durch die Fensterscheibe der Seitentür das Gesicht eines jungen Mannes. Dann verschwand es wieder, bevor sich der Mann nach wenigen Sekunden wiederholt auf die Höhe des Seitenfensters herunterbeugte und mir mitten ins Gesicht starrte. Javad! Ach du Scheiße, das war Javad! Jetzt entdeckte ich auch die anderen: Darius, Methi, Aydin. Ich musste lachen und ich konnte meine Freude und Aufregung kaum verbergen. „Anhalten. Schnell. Bitte halten Sie hier an“, herrschte ich den Taxifahrer hektisch an, der abrupt auf die Bremse trat. Noch bevor der Wagen stoppte, öffnete jemand von außen die Fahrzeugtür. Ich stolperte aus dem Auto und wurde sofort von meinen Freunden belagert. Sie küssten und umarmten mich. Freundschaftliche Schläge trafen meinen Oberarm. Wie sehr hatte ich mich auf diesen Augenblick gefreut. Endlich war ich wieder in meiner Straße in Hashemi Texas, umringt von meinen Jungs. Hier waren wir zusammen aufgewachsen, hatten nächtelang auf der Straße Fußball gespielt, die Nachbarsmädchen geärgert und uns mit den Straßengangs aus den benachbarten Stadtteilen geprügelt. All das schien so nah und war dennoch so weit entfernt.
„Komm her, mein Freund, du bist es wirklich“, sagte Javad immer noch fassungslos und zog mich fest in seine Arme: „Wie schön, dich wiederzusehen. Ich bin so erleichtert. Als ich dich eben im Taxi an uns vorbeifahren sah, wollte ich es erst nicht glauben. Aber du bist es. Du lebst.“ Ich musste lachen. „Hey, natürlich lebe ich. Wer will mir schon etwas anhaben?“ spielte ich die Sorgen meines Freundes herunter und ich zeigte selbstbewusst auf meine breite Brust und zuckte angeberisch, abwechselnd mit meiner Brustmuskulatur. Und ich alberte weiter: „Selbst der Tod meidet mich. Es gab so viele Gelegenheiten im Irak und es wäre ein Leichtes gewesen, mich zu töten, aber all die Bomben und Raketen flogen jedes Mal an mir vorbei. Ich konnte nichts dagegen tun.“ Das war meine Art mit meiner Todesangst im Schützengraben und all der Zerstörung, der Hoffnungslosigkeit und der Kriegsgewalt, die in den letzten vier Jahren meinen Alltag bestimmt hatten, umzugehen: witzelnd, übertreibend, dunkel humorvoll und manchmal auch zynisch. Ich machte mich über die Dinge lustig, die mich erschreckten. Das gab mir das Gefühl, die Kontrolle zu behalten. Nur so hatte ich die letzten Monate durchgestanden, ohne völlig durchzudrehen.
Javad schaute mich ungläubig an und rief: „Zum Glück! Zum Glück hat Allah es gut mit dir gemeint. Er dich vor dem Tod verschont.“ „Wer ist Allah? Nicht Allah hat mich vor dem Tod gerettet“, protestierte ich. Doch Javad schenkte meiner Bemerkung keine Aufmerksamkeit und sprach weiter: „Deine Eltern haben dich als vermisst gemeldet. Es gab wochenlang keine Nachricht von dir. Wir haben uns alle große Sorgen gemacht.“ So langsam dämmerte es mir, wie meine Familie und meine Freunde in den letzten drei Monaten gelitten haben mussten. Das schmerzte. „Mist, wir waren in Halabdscha stationiert und es war verboten, zu telefonieren und zu schreiben. Unsere Vorgesetzten untersagten jeglichen Kontakt. Keine Nachricht durfte die Militärbasis verlassen. Die militärische Lage war sehr angespannt.“ „Wissen deine Eltern schon, dass du zurück bist? „Nein, ich bin gerade in Teheran angekommen und auf dem Weg zu ihnen.“ Javad schüttelte den Kopf „So kannst du ihnen nicht unter die Augen treten. Sieh dich nur an! Wie siehst du aus? Du bist kaum wiederzuerkennen. Und was soll dieser schreckliche Bart? Du siehst aus wie ein islamischer Kämpfer. Wir bringen dich zu deinem Onkel. Dort kannst du dich erst einmal frisch machen und wieder ein Mensch werden.“
Mein Haar war kurz geschoren und ein faustlanger schwarzer Vollbart verdeckte fast mein ganzes Gesicht. Ich war etwas magerer als sonst, aber immer noch von kräftiger Statue. Ich trug die olivfarbene Uniform mit der iranischen Flagge auf dem Ärmel, die mich auf den letzten Wochen im Kampfeinsatz begleitet hatte. Sie war verstaubt, ein wenig verdreckt und hatte diesen strengen metallenen Geruch von Waffenöl an sich. Die Füße steckten festgezurrt in groben Kampfstiefeln, die mich die letzten Monate durch den Staub und das Elend getragen hatten. Nur auf dem Kopf hatte ich den Helm gegen eine Baseball Cap getauscht, die die Soldaten der iranischen Armee außerhalb der Kampfzone trugen. Für mich war mein Aussehen normal und ich war stolz darauf. Jeder sollte getrost die Spuren des Krieges an mir sehen und wissen, dass ich Wochen, Monate gar Jahrelang mit meinem Leben für meine Heimat gekämpft hatte. Doch meinen Freunden war sofort klar, dass ich in diesem Aufzug meiner Mutter nicht unter die Augen treten durfte. Der Schock wäre zu groß gewesen. Ich war einverstanden.
Methi und Aydin luden meinen Militär–Seesack aus dem Kofferraum, bezahlten den Fahrer und schickten das Taxi weg. Sie nahmen mich in ihre Mitte, knufften mich in die Seite und umarmten mich immer wieder. Es war, als sei ich nie weggewesen. Wir lachten. Gemeinsam gingen wir die Straße hinunter, ich selbstbewusst inmitten der kleinen Gruppe. Ich war der einzige von ihnen, der solange Kriegsdienst geleistet hatte und der bis zuletzt für sein Land in den Kampf gezogen war. Darius und Methi waren gar nicht an der Front gewesen. Ihre Familien hatten in den ersten Jahren des Golfkrieges Gefallene zu beklagen. Daher verzichtete das Regime darauf, weitere Söhne der Familie einzuziehen.
Die Straße war gepflastert von unzähligen Schlaglöchern und durchzogen von tiefen Spurrillen. Ich erkannte zwei Nachbarsfrauen, die vor ihrem Haus saßen und Gemüse putzen, so wie sie es immer schon taten und vor ihnen ihre Mütter und Großmütter. Aus dem Inneren des Hauses drang der Geruch von Ghormeh Sabzi in meine Nase und verströmte einen ganz besonderen Duft von Heimat. Ich liebte dieses Kräuter–Bohneneintopfgericht. Meine Mutter ließ einen großen Topf davon oft stundenlang auf dem Herd vor sich hin köcheln. Und wenn ich dann davon kostete, stieg jedes Mal Wärme und Wohlbefinden in mir auf. Die Gerüche, die Menschen, die Straße: Es war wie immer, so vertraut und selbstverständlich. Nichts schien sich verändert zu haben und doch fühlte es sich irgendwie anders an, auch wenn mir in diesem Moment noch nicht klar war, warum.
„Wie geht’s euch? Was gibt es Neues?“ fragte ich. „Danke, gut“, übernahm Aydin das Wort zögerlich. „Wie soll es uns schon gehen. Aber wie kommt es, dass du hier bist? Hast du Fronturlaub?“ „Ja, meine Einheit wurde abgezogen. Erst einmal bin ich auf Heimaturlaub.“ Aydin nickte. Die erste Aufregung hatte sich gelegt. Mühsam versuchten wir ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch es war noch nicht der richtige Moment dafür. Zu neu, zu überwältigend war es, sich endlich wiederzusehen und in den Armen zu halten. Zu ergreifend und bedrückend war das, was um uns herum geschah.
Fast am Ende der Straße angekommen, erreichten wir das Haus meines Onkels Navid. Darius ging vor. Als er die Haustür aufstieß, wackelte uns mein Onkel bereits auf seinen kurzen Beinen im Treppenhaus entgegen. Er litt immer noch unter einer Kriegsverletzung, die er sich im ersten Jahr des Golfkrieges zugezogen hatte. Seitdem humpelte er. Onkel Navid hatte uns bereits vom Balkon aus gesichtet. Dort saß er oft stundenlang, trank einen Tee und hielt das eine oder andere Schwätzchen mit seinen Nachbarn. Seine Augen lachten, als er mich sah. Er nahm mein Gesicht in seine beiden Hände. Ich beugte mich ein wenig zu ihm herunter. Dann küsste mich herzhaft auf die Wangen – rechts, links, rechts. Der Bruder meiner Mutter war mein Lieblingsonkel. Wir hatten ein ganz besonderes Verhältnis zueinander. Jedes Mal, wenn ich etwas anstellte, nahm er mich in Schutz. Und das kam durchaus häufiger vor. Bereits als kleiner Junge strapazierte ich die Geduld meiner Eltern. Mein Vater sagte immer, ich sei ein kleiner Satansbraten und er wisse nicht, wo das mit mir noch einmal enden werde.
Onkel Navid nahm mich wieder und wieder in den Arm. Meine verdreckte Uniform und der ranzig säuerliche und modrige bisweilen auch strenge Knoblauchgeruch nach Schweiß, Erde, Lehm und Senfgas, der an mir haftete, schien ihn nicht zu stören. Schließlich gewann er seine Fassung wieder. Sein Blick ruhte auf mir: „Lass dich ansehen, mein Junge. Ich bin stolz auf dich, sehr stolz. Wir alle sind sehr stolz auf dich.“ Ich nickte stumm und spürte wie mich eine Mischung aus Verlegenheit, Ehrgefühl und Stärke überkam. Mein Onkel fand immer die passenden Worte für mich.
„Onkel Navid, kann Reza bei dir duschen und sich rasieren?“ ergriff nun Javad das Wort. „So kann er nicht nach Hause gehen.“ „Kommt rein, kommt rein. Ja, natürlich“, antwortete mein Onkel. „Ich bereite inzwischen einen Tee vor.“ Und schon hatte er sich zum Gehen umgedreht. Dabei ruderte mit seinen Armen vorwärts und signalisierte uns, ihm zu folgen. Er kannte uns alle von klein auf, hatte uns zig Male beim Fußballspielen auf der Straße zugesehen, beim Feigen–Klauen erwischt, uns aus dem Hof gejagt, wenn wir zu laut waren und uns manchmal auch einen süßen Kuchen zugesteckt. Während ich in das Bad ging, hörte ich ihn wie einst die Kommandos verteilen: „Javad, lauf zum Konditor und hole frische Windbeutel Brot. Einer von euch kann das Teewasser aufsetzen. Im Kühlschrank müssten noch Datteln. Aydin, den Honig findest du unten im Schrank. Ach Javad, bring vom Gemüsehändler bitte noch Wassermelone mit.“
Als ich frisch geduscht und rasiert wieder den Raum betrat, waren bereits alle auf dem Teppich sitzend um eine große Tischdecke versammelt. Javad fing laut an zu lachen, als er mich sah, und klopfte sich auf die Schenkel: „Du siehst aus wie ein Clown. Was sind das für weiße Flecken in deinem Gesicht?“ Ich hatte das Drama schon beim Rasieren im Spiegel entdeckt. Zwar war ich jetzt sauber, doch sah ich kaum besser aus als vorher. Wie eine Schablone hatte der Vollbart meine Oberlippe, meine Wangen und mein Kinn vor der Sonne geschützt und nun mein Gesicht in eine helle und dunkle Seite unterteilt. Entschuldigend verzog ich das Gesicht und schimpfte: „Und ich dachte, ich sei den Bart endlich los.“ Wie oft hatte ich in den vergangenen Monaten diesen Bart, in dem sich der ganze Staub und Dreck des Schützengrabens sammeln konnte, verflucht. Er hätte mich fast mein Leben gekostet. Mit ihm eine Gasmaske vorschriftsmäßig zu tragen, war unmöglich. Dazu noch eine „Made in Corea“. Was für ein Irrsinn: Das Haar kurz geschworen, der Bart hingegen lang. Und dies nur, weil es der Hadith, also die Überlieferungen der Propheten und der Sahaba, so vorschreiben. Ich hatte das nie verstanden. Wie kann Allah es wollen, dass ein Soldat ein Vollbart trägt? Das spricht doch gegen jede Vernunft, jede Sicherheit und jeden Überlebenswillen. So sehr ich mein Land, meine Heimat und meine Kultur liebte, umso mehr hasste ich diese dummen und verbohrten Regeln, die die Religiösen unserem Volk auferlegen.
Und jetzt, als ich mich endlich von dem Gesichtshaarwuchs befreien konnte, würde der Bart mich noch für einige Zeit weiterhin begleiten. Und ich begann zu singen: „Gole Pooneh, Gole Pooneh, oh Silberblatt, schläft unsere Welt? Siehst du nicht, dass Gottes Auge schläft? Dass in seinem Namen jemand gekommen ist, Gott pries und die Liebe für sich selbst beanspruchte. Gole Pooneh, Gole Pooneh.“ Kein Lied vermochte in den vergangenen Wochen so gut auszudrücken, was ich dachte und fühlte. Natürlich war es verboten, Sattars Lied öffentlich zu spielen oder gar zu singen. Ich scherrte mich einen Dreck darum. „Lass das. Hör auf zu singen“, wies Darius mich zurecht. „Das wird doch noch ins Gefängnis bringen. Weißt du nicht, dass hinter den Wänden Mäuse mit großen Ohren lauern und nur darauf warten, dich zu verpfeifen?“
In der Mitte der Tischdecke stand ein dampfender Samowar. Die Teegläser waren bereits mit der rotgoldenen zart nach Rosenblüten duftenden Flüssigkeit gefüllt. Genüsslich steckte ich mir einen Windbeutel komplett in den Mund. Die süße Sahne quoll über meine Lippen, über die meine Zunge wieder und wieder leckte. Wie lange hatte ich meinen Lieblingskuchen nicht mehr gegessen? Wie lange keinen Honig mehr geschmeckt? Wie lange schlechten Kräutertee getrunken? Wenn überhaupt.
„So, jetzt aber raus hier!“ komplementierte uns mein Onkel vor die Tür. „Deine Eltern sollten endlich erfahren, dass du gesund wieder zurück bist. Sie haben sich große Sorgen gemacht. Die irakischen Raketenangriffe der vergangenen Monate haben uns in Teheran die Kriegsgefahr noch einmal hautnah spüren lassen. Auch in unserer Straße hatten wir Tote zu beklagen.“ Ich war aufgeregt, als wir das Haus meines Onkels verließen. Zweifelsohne freute ich mich auf das Wiedersehen mit meiner Familie, mit meiner Mutter und meinen Schwestern.
Meine Freunde begleiteten mich bis zu unserem Hoftor. Dann verabschiedeten sie sich vorerst: „Wir kommen später vorbei und holen dich ab. Dann können wir eine Runde mit dem Auto drehen.“ Langsam öffnete ich das Tor. Ich war überrascht, wie laut es quietschte. Da entdeckte ich meinen Vater vor der hohen Hofmauer, wie er in gebückter Haltung ein Beet hackte und von Zeit zu Zeit trockene Äste und verblühte Blütenstängel auf den Betonboden warf, der den Großteil des Hofes bedeckte. Mein Vater schenkte dem Quietschen der Metalltür keine Beachtung. Er hatte mich noch nicht erblickt. Wie gerne hätte ich zuerst meine Mutter begrüßt, mich von ihren runden weichen Armen umarmen lassen und ihr dabei auf ihr Haar geküsst. Ich war unentschlossen. Sich an meinem Vater vorbei zu schleichen, war allerdings auch keine Option.
Ich ließ das Eingangstor hinter mir laut ins Schloss fallen. Jetzt richtete mein Vater seinen langen, hageren Körper auf, hob den Kopf und schaute in meine Richtung. „Baba“, rief ich. „Baba, was machst du da?“ Er zog seine Stirn in Falten, kniff die Augen zusammen und versuchte mit seiner rechten Hand seine Augen vor dem blendenden Sonnenlicht zu schützen. Es war später Vormittag, doch die Sonne hatte schon fast ihren Höchststand erreicht. Dann machte er einen großen Schritt über die Umrandung des Beetes und kam zögerlich auf mich zu. Ich ging ihm mit festem Schritt entgegen. Ich trug immer noch meine schmutzige Uniform. Den Militärseesack hatte ich mir über die Schulter geworfen. Je näher wir uns kamen, desto mehr versteinerte sich die Miene meines Vaters. „Reza?“ rief er fragend. „Reza, bist du das?“ Jetzt standen wir uns gegenüber und noch ehe ich zu ihm aufblicken konnte, bekam ich einen heftigen Schlag ins Gesicht. „Monatelang hast du nichts von dir hören lassen. Schäme dich! Deine Mutter ist krank vor Sorge um dich. Warum hast du keine Nachricht geschickt? Warum hast du nicht angerufen?“ In Erwartung eines weiteren Hakens trat ich einen großen Schritt zurück. „Aber Baba, wir waren in Halabdscha stationiert. Wir durften keinen Kontakt aufnehmen, nicht schreiben und nicht telefonieren. Du warst doch selbst beim Militär. Du weißt doch, wie es im Krieg ist. Die Feinde lauern überall.“ Langsam wich der Zorn aus dem Gesicht meines Vaters. „In Halabdscha“, wiederholte er leise mit leerem Blick. „Wir haben für dich gebetet, mein Sohn. Ich danke Allah. Er hat unsere Gebete erhört.“ Dann ging er auf mich zu und umarmte mich stumm.
In diesem Moment kamen die Kinder meiner ältesten Schwester Hadidsche stürmisch aus dem Haus auf uns zugelaufen. Begeistert sprangen sie an mir hoch, zerrten an meinem Ärmel und lachten: „Amo Reza, du bist daaaaa. Eeeeendlich. Komm fang uns.“ Mein Vater, der mich immer noch umarmt hielt, befreite sich sofort aus dem Gerangel der Kinder, drehte sich wortlos um und ging ins Haus. „Fang mich, fang mich“, quengelte Ayda weiter und versuchte mir auszuweichen. „Du kriegst mich nicht. Du kriegst mich nicht“, tat es Azad seiner jüngeren Schwester gleich. Ich alberte eine Weile mit den beiden herum, fasste sie an Armen und Beinen und ließ sie wie ein Flugzeug durch die Lüfte schweben. Um sie ein wenig auf Abstand zu bringen, kitzelte ich sie am Bauch. Doch sie ließen nicht von mir ab und ich hatte keine Wahl. Ich baute mich vor ihnen auf, legte meine Stirn in Falten, und wechselte in einen militärischen Tonfall. „Okay, ihr zwei, jetzt aber „Stopp“, sprach ich streng. Jedes andere Kind hätte sich bei dieser Ansprache vor Angst in die Hosen gemacht. Aber die beiden vier– und sechsjährigen Kinder kicherten nur und folgten mir in einem gewissen Abstand. Sie kannten mich und wussten, dass ihnen nicht wirklich böse war.
Vor der Haustür türmte sich ein wilder Haufen an ungeordneten Schuhen. Ich machte mit meinen Feldstiefeln einen großen Schritt darüber und betrat das Haus. Ich wusste, dass meine Mutter es hasste, wenn ich mit Straßenschuhen reinkam. Doch heute schenkte sie meinen Feldstiefeln keine Beachtung. Als sie mich in Uniform in ihrem Hausflur stehen sah, strömten die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen. Die ganze Anspannung der letzten Wochen, die Ungewissheit und die Sorge, möglicherweise einen Sohn im Krieg verloren zu haben, hatten schwer auf ihr gelastet. Später gestand sie mir, dass sie sich nachts immer eines meiner T–Shirts auf ihr Kopfkissen gelegt hatte, um meinen Geruch tief in sich aufzusaugen und mich zu sich zurückzuholen. Ich umarmte meine Mutter und spürte ihren warmen, weichen mütterlichen Körper. Sie reichte mir gerade bis zum Kinn. Ich steckte meine Nase in ihr tiefdunkles Haar, das sie wie immer zu einem Knoten zusammengebunden trug. Immer und immer wieder umarmte sie mich, küsste mich und konnte ihr Glück kaum fassen. Ihre gütigen Augen blickten mich dankbar an.
Nach und nach kamen die anderen auf mich zu. Sie waren alle da, wie gewohnt. Wie immer trafen sie sich vormittags bei meiner Mutter: meine Schwestern Hadidsche, Amira, Daria und Fatemeh, Tante Dila, Onkel Hussein, meine Cousine Aria. Im Salon herrschte ein hektisches Treiben. Tabletts mit Tee und kleinen Kuchen wurden vorbereitet, Schalen mit Obst bereitgestellt. Meine Schwester Amira setzte sich sofort ans Telefon und informierte den Rest der Familie. Während dessen saß mein Vater etwas abseits in einem Sessel und beobachtete uns wohlwollend. Meine Mutter ließ mich nicht von ihrer Seite. Immer wieder griff sie nach meiner Hand, küsste mein Haar oder legte meinen Kopf in ihren Schoss.
Den ganzen Tag über trafen Verwandte, Nachbarn und Gäste ein. Alle wollten mich begrüßen und meinen Eltern zu ihrem tapferen Sohn, der unversehrt aus dem Kampfgebiet zurückgekehrt war, gratulieren. „Achmed, dein Sohn ist jetzt ein Kriegsheld“, beglückwünschte ein Nachbar meinen Vater. „Ja, das ist er“, erwiderte mein Vater und blickte mich stolz an. Sie Gäste kamen und gingen. Es ging zu wie im Taubenschlag. Immer wieder brachten meine Schwestern Tabletts mit duftendem persischem Tee, süßem Gebäck und frischem Obst in den Salon. Die Nachricht, dass ich von der Front zurück war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Viele, die in den letzten Wochen mit meiner Familie mitgelitten hatten, wollten mir und meinen Eltern nun die Ehre erweisen.
Ich war den ganzen Tag wie auf Droge. Ich brachte meine Familie zum Lachen, trug meine Mutter durch den Salon und imitierte verbotener Weise unsere Rechts– und Religionsgelehrten, auch wenn mir das die kritischen Blicke meiner Schwester Hadidsche und einiger Besucher einbrachte. Die Freude über unser unerwartetes und plötzliches Wiedersehen ließ alles andere in den Schatten treten: Die irakischen Raketenangriffe der letzten Wochen auf Teheran, die vielen Toten in den Städten und den Kriegsgebieten, die Einschränkungen und Entbehrungen des Alltags, die der Krieg und das Regime dem iranischen Volk auferlegten. Heute wurde getrunken, gegessen, gesungen und getanzt. Und ich war mittendrin. Inbrünstig sang ich: „Man aamadeh am, man aamadeh am, ich bin gekommen, ich bin gekommen, damit ich über Liebe singen und schreien kann.“ Fast alle begannen rhythmisch zur Melodie zu klatschen. „Die Zeit bringt uns zum Lachen. Sie spendet uns Trost. Sie heilt alle Wunden. Ich versuche sie festzuhalten, ich versuche sie einzufangen, aber wie Sand rinnt sie mir immer durch die Finger. Soll ich die Zeit mit allen Farben meiner Gefühle füllen? Oder soll ich es einfach so lassen, wie es ist? Warum sind mir meine Lieben plötzlich fremd geworden?“
Bei den letzten Worten entdeckte ich meinen älteren Bruder Mahmoud, der gerade eingetroffen war. Ich stand auf und ging ihm mit geöffneten Armen entgegen, während ich die letzte Liedzeile wiederholte: „Warum sind mir meine Lieben plötzlich fremd geworden?“ Mahmoud grinste mitleidig, eine brennende Zigarette im Mundwinkel. Dann begrüßte er mich zynisch mit einer frostigen Umarmung: „Hey Kleiner, hast du es doch geschafft?“ „Was für ein Idiot“, dachte ich. Doch wollte ich nicht gleich wieder einen Streit vom Zaun brechen. So hatten wir uns erst getrennt, als wir uns das letzte Mal trafen. Zudem war er der Ältere von uns beiden. Er hatte das Sagen und alle hatten ihn zu respektieren. So wollte es die Tradition. Ich liebte meine Heimat, meine Familie, ja, und unsere Traditionen, bei denen ich trotzdem gerne auch mal aneckte. Ich war nun mal kein Schaf, das blind seiner Herde folgte.
Da unterbrach mich Amira aufgeregt: „Los, komm ans Telefon. Ali ist dran.“ Ich folgte ihr ans Telefon und drückte den Hörer an mein Ohr. „Hi Bruder, wie geht’s? Was gibt es Neues in Deutschland?“ „In Deutschland? Nicht viel. Aber was ist mit dir, du bist wieder zuhause?“ Ich freute mich Alis warme Stimme zu hören. Und mit bedächtigen Worten setzte er das Gespräch fort: „Geht es dir gut, mein Bruder? Ich bin so froh, dass du von der Front zurück bist. Wir haben uns große Sorgen gemacht und jeden Tag für dich gebetet.“ Seit gut einem Jahr lebte mein jüngerer Bruder in Deutschland. Er fehlte mir sehr. Ich hoffte, ihn bald wiederzusehen. Doch unter welchen Umständen wir uns wiedersehen würden, ahnte ich an diesem Tag noch nicht.