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Feilkode 418

Kill Your Beast

Kill Your Beast · Romane

Stell dir vor, du hast den Rhythmus im Blut - und wünschst dir nichts sehnlicher, als ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden...

Hva vil du med boka?

Ich will eine Geschichte aus der Sicht einer jungen Frau erzählen, die zum Trommeln geboren ist und sich inneren und äußeren Widerständen stellen muss. Ich selbst wollte schon immer eine tolle Schlagzeugerin sein. Es ist mein Wunsch, die Kraft des Rhythmus in meiner Geschichte spürbar zu machen. Mein Versprechen an mich selbst: Ich werde einen Roman schreiben, der meine Leser zum Lachen und zum Weinen bringt. Ich will, dass meine Leser den Groove in der Geschichte körperlich spüren.

Om forfatteren

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1972 auf Sylt geboren - Studium der Literaturwissenschaft in Bamberg und Kiel. Seit 2000 Schauspielerin, Trainerin und Coach, außerdem Textschaffende in der Unterhaltungsmusik (Förderstipendium der GE...

Kill Your Beast

Intro

26. Juni 2011

Die drei obersten Stufen knarzen immer, egal wie vorsichtig ich drauftrete. Ganz leise habe ich mich an den zehn halb ausgebrannten Teelichtern vorbeigeschlichen, die noch von meinem Geburtstag auf der Treppe stehen. Barfuß, obwohl Papa gesagt hat, ich soll Strümpfe anziehen. "Sommer in Nordfriesland ist ein Widerspruch in sich, Mona." Mit den Worten hat er mir das Sockenbündel in die Hand gedrückt, das jetzt unten auf der ersten Stufe liegt wie ein dickes, schlafendes Küken.

Auf Zehenspitzen biege ich rechts ab und öffne die Tür. Sie schrappt über den Boden, und sofort krabbelt mir Teppichstaub in die Nase. Jetzt bloß nicht niesen.

Ich schleiche mich sonst nur hier rein, wenn ich mal wieder aus einem dieser fiesen Träume aufgewacht bin. Papa sagt, ich soll mir meine Traummonster im rosa Rüschenkleid vorstellen. Meistens klappt das. Aber nicht immer. Dann schnappe ich mir meine Decke, tappse durch den Flur, öffne die Tür zu Papas Zimmer und quetsche mich neben ihn ins Bett. Sein Bart kratzt dann meine Stirn, und das hilft immer. Egal wie fies die Monster waren.

Es ist der kleinste Raum im Haus. Selbst unsere Rumpelkammer im Erdgeschoss ist größer. Er braucht nicht viel, mein Papa, mein lieber pappeldünner Papa. Ein Bett, einen Schrank, einen Hocker. Mehr passt hier auch nicht rein.

Vorsichtig schließe ich die Tür. Die Sonne scheint auf das ungemachte Bett. Papa liegt nicht mehr drin, und durch den Teppich höre ich das Rattern der Nähmaschine. Kombiniere: Er ist unten in der Änderungsschneiderei. Du bist so eine Schlaufüchsin, Mona! Wahrscheinlich repariert er gerade einen Reißverschluss oder flickt eine Jeans, Papa hat nämlich viel zu tun. Ich habe Sommerferien und gar nichts zu tun. Nur die Spülmaschine wartet darauf, dass ich sie ausräume. Aber die kann auch noch länger warten. Heute bin ich Mona Meisterdetektivin, und die ist viel zu sehr mit der Suche nach einem neuen Fall beschäftigt, um Spülmaschinen auszuräumen.

Ich springe aufs Bett, damit ich mich in der Spiegeltür des Holzschranks angucken kann. Heute trage ich mein neues Lieblingsteil, ein zitronengelbes Kleid mit kurzen Ärmeln, das Papa mir zum Geburtstag gemacht hat. Alle meine Anziehsachen sind von ihm. Der Inhalt meiner Verkleidungskiste auch. Vor dem letzten Faschingsfest hat er drei Abende damit verbracht, minikleine Pailletten auf ein Elfenkostüm zu nähen.

Ich gehe etwas näher an den Spiegel heran und betrachte mein Gesicht mit den grauen Augen und den hellblonden Locken, die so klein und krisselig sind, dass sie sich wie ein fransiger Helm um meinen Kopf legen. Ich lächle mir zu. Auf der Wange meines Spiegelbilds erscheint ein Grübchen, in das sich sofort tausend Sommersprossen stürzen.

Ich hebe die Arme und drehe mich ein paarmal um mich selbst. Plötzlich bleibe ich wieder stehen, denn mir ist gerade eine Frage durch den Kopf geschossen, auf die nur eine Meisterdetektivin kommen kann: Was näht Papa eigentlich für sich selbst?

Im Schrank riecht es nach Lavendelseife. Meine Fingerspitzen erkunden die Hemden und Hosen, die zum Teil halb von den Bügeln gerutscht sind oder klumpig auf dem Boden liegen. In allen Kleidungsstücken finde ich Etiketten mit Markennamen. Kombiniere: alles gekauft. Hm.

Entschlossen schnappe ich mir den Hocker, stelle ihn vor den offenen Schrank und steige drauf, um in das oberste Fach mit den T-Shirts gucken zu können. Ich nehme einen Stapel raus - und dahinter steht er. Der Pappkarton.

Sofort weiß ich, dass da Dinge von ihr drin sein müssen. Von meiner Mutter. Mein Herz klopft schneller, und ich weiß nicht, ob es das aus Aufregung oder aus schlechtem Gewissen macht. Diese Dinge sind nicht für meine Augen bestimmt. Sonst hätte Papa den Karton ja wohl kaum im obersten Schrankfach versteckt.

Vorsichtig nehme ich ihn heraus. Etwas darin rollt klackernd zur Seite. Sein Deckel ist an einer Ecke eingerissen und hängt in der Mitte ein bisschen durch. Ich setze mich aufs Bett und öffne ihn.

Zwei lange schmale Holzstöcke und ein brauner Umschlag, auf dem in Papas Handschrift EINNAHMEN / AUSGABEN steht. Sonst nichts. Die Enttäuschung legt sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mein Zappelherz.

Was hast du erwartet, Meisterdetektivin? Ein Foto von ihr, auf dem sie lächelt und dich in die Kamera hält? Du weißt genau, dass es das nicht gibt. Keiner durfte wissen, dass sie ein Baby gekriegt hat. Sie hätten dich sonst für den Rest deines Lebens nicht in Ruhe gelassen. So läuft das mit Kindern von Rockstars. Sie wären ins Haus gekommen, hätten im Müll gewühlt und dir ohne zu fragen in die Haare gefasst, und du kannst es nicht ab, wenn man dir in die Haare fasst, schon gar nicht mit Fingern, die vorher im Müll gewühlt haben. Das hat Papa dir doch erklärt, und das ist ja auch der Grund, warum wir mit niemandem über sie reden. Außerdem hat sie nie gelächelt.

Ich lasse die Stöcke aufs Bett kullern. Sie sind etwa so lang wie meine Unterarme und so dick wie meine Daumen. Nach oben werden sie dünner und haben kugelige Spitzen. In beide Stöcke sind goldene Buchstaben graviert, ein B und ein H.

Britta Hannak.

Was ich über meine Mutter weiß, ist wie ein Puzzle, bei dem fast alle Teile fehlen. Das sind die, die ich habe:

Sie war eine weltberühmte Schlagzeugerin.

Ihre Band hieß Zilla.

Sie wurde irgendwann sehr krank.

An dieser Krankheit ist sie gestorben, als ich noch ein Baby war.

Mehr weiß ich nicht. Und immer, wenn ich Papa nach ihr frage, wird sein Gesicht ganz grau.

Die Musik, die sie mit ihrer Band gemacht hat, habe ich noch nie gehört. Bei uns zu Hause läuft nur Klassik, und das Autoradio ist schon lange kaputt.

Jetzt weiß ich auch, was das für Holzdinger sind, und jede andere Meisterdetektivin wäre natürlich sofort darauf gekommen. Es sind Trommelstöcke. Jetzt bin ich noch enttäuschter. Was willst du damit anfangen, Mona? Du hast doch gar kein Rhythmusgefühl. Papa hat das damals gesagt, im Spielkreis, während die anderen Kinder auf ihren Blumentopftrommeln herumpatschten: "Mona hat keinen Groove. Zum Glück." Ich wusste damals nicht, was das bedeutet, aber der Klang des Wortes machte, dass ich auch froh war, ihn nicht zu haben. Den Gruuhf. Das hörte sich nach einem besonders fiesen Traummonster an. Niemals habe ich auf irgendwas herumgepatscht.

Der braune Umschlag ist zugeklebt und sieht langweilig aus. Hier werde ich bestimmt kein neues Puzzlestück finden. Ich schüttle mich ein paarmal, um die Enttäuschung wieder loszuwerden. Was soll's? Irgendwo im Haus gibt es bestimmt einen anderen Fall für Mona Meisterdetektivin, vielleicht auf dem Dachboden. Aber erstmal mache ich den Karton wieder zu. Die Trommelstöcke liegen noch neben mir auf dem Bett.

Sie fühlen sich rau an. An einer Stelle ist ein Stück abgesplittert.

Wie stark sie gewesen sein muss.

Ich schließe meine Finger um die Stöcke und drehe meine Handgelenke so schnell ich kann. Die kugeligen Spitzen zerschneiden die Luft und machen dabei ein scharfes Geräusch. Ich nehme einen Stock zwischen Daumen und Mittelfinger und lasse ihn hin- und herwippen, immer schneller, bis ich die Spitze nicht mehr scharf sehen kann, nur noch ein verschwommenes Bild aus ganz vielen Spitzen. Sieht schön aus.

Tock.

Der Stock hat aus Versehen den Deckel des Kartons erwischt. Erschrocken blicke ich zur Tür. Die Nähmaschine rattert, Papa hat nichts gehört. Ich lasse Holz und Pappe noch einmal zusammentreffen, diesmal mit Absicht. Tock.

Ich versuche dasselbe mit dem zweiten Stock in der anderen Hand. Dann schlage ich mit beiden Stöcken abwechselnd auf den Deckel.

Tocktock, tocktock.

Es klingt gleichmäßig, wie das Ticken einer Taschenuhr. Ich spiele schneller, und aus der Taschenuhr wird ein Waldspecht. Ich spiele noch schneller, und der Waldspecht verwandelt sich in ein knatterndes Maschinengewehr. Ich kann das Knattern auf dem Rand scharf und hell klingen lassen. Kann die Schüsse in der Mitte dunkel und weich machen. Kann das alles miteinander kombinieren.

Plötzlich höre ich, wie die Geräusche aus der Änderungsschneiderei sich zu einem Rhythmus zusammenfügen. Ich lasse einen Jauchzer und springe auf das Rattern der Nähmaschine wie auf einen fahrenden Güterzug.

Ein Schweißtropfen löst sich von meiner Stirn und läuft mir über das Gesicht und dann den Hals runter. Die Nähmaschine verstummt, ich spiele allein weiter. Der Rhythmus zieht an mir und schubst mich, hebt mich in die Luft und lässt mich ein Stück fallen, um mich dann gleich wieder aufzufangen und mit mir weiterzufliegen. Ich höre das Rauschen des Windes in meinen Ohren. Das Rauschen des Windes? Nein. Es ist der Applaus von tausenden von Menschen, die mir zujubeln, während ich über ihre Köpfe hinwegrase.

Mit einem Schrei reiße ich die Arme hoch und lasse die Stöcke wieder auf den Karton sausen. Feuere weiter in Lichtgeschwindigkeit. Baue das Knarzen der Treppenstufen in das Trommeln und das Rauschen ein und spiele, als hätte ich noch nie etwas anderes gemacht. Es ist unglaublich. Es ist...

"MONA!"

Mein Herzschlag setzt aus, und ich lasse die Stöcke fallen.

In der Tür steht Papa. Mein lieber pappeldünner Papa. Sein Gesicht ist grau. Er starrt auf den Karton. Der Deckel ist voller Narben und kleiner Löcher.

Ich wünsche mir, dass er gleich noch mal meinen Namen schreit. Dass sein Gesicht dabei rot wird. Aber es bleibt grau.

Papa kommt auf mich zu und nimmt mir mit zitternden Fingern den Karton aus der Hand. Geht damit zum Fenster. Lange steht er da, mit dem Rücken zu mir und dem Pappding im Arm, und sagt gar nichts. Ich sitze auf dem Bett und kann mich nicht bewegen. Es ist ganz still im Raum, aber in mir drin ist immer noch Lärm, tockeditock, tockeditock, tockeditock. Mein Herz rast wie verrückt. Ich warte darauf, dass die Sonne hinter einer Wolke verschwindet und draußen ein echtes Gewitter losbricht, damit dieser Krach in mir übertönt wird. Aber es bleibt sonnig. Und still.

"Du machst das sehr gut", sagt Papa leise.

Das... verwirrt mich total. Was ist denn aus Mona hat kein Rhythmusgefühl geworden?

"Papa, ich..."

"Sehr gut machst du das."

Seine Stimme klingt heiser, als hätte er stundenlang gebrüllt. Dabei hat er noch nie gebrüllt. Bis eben.

"Du versinkst ganz und gar im Trommeln. Das muss man wohl, wenn man es sehr gut machen will. Wenn du weiter machst, wirst du immer tiefer darin versinken. Nichts anderes wird mehr wichtig sein. Du wirst dich... verwandeln. Ein anderer Mensch werden. Du... du wirst..."

Er schnappt nach Luft, als würde er aus eiskaltem Wasser auftauchen.

"Ich weiß, was dann passiert."

Endlich dreht er sich um. Sein Gesicht zeigt jetzt in meine Richtung, aber er sieht mich nicht an. Er hebt den vernarbten Deckel vom Karton, holt den Umschlag raus und reißt ihn auf. Dann wirft er ihn aufs Bett und dreht sich zurück zum Fenster.

Ich muss einfach reingucken, es geht nicht anders. Es sind Fotos drin. Eins nach dem anderen nehme ich aus dem Umschlag. Bevor ich den Blick scharf stellen und erkennen kann, was darauf abgebildet ist, hoffe ich tatsächlich auf Babybilder. Wenigstens eins, auf dem meine Mutter mich auf dem Arm trägt und lächelt. Ich freue mich darauf, ganz kurz nur.

Die Fotos tun weh, als hätten sie mir mit ihren scharfen Kanten die Haut aufgeritzt. Ich sehe ein Stück von Papas ausgestrecktem Arm auf jedem Bild, dahinter sein Gesicht. Es sieht ganz anders aus ohne den Bart. Und mit dem Blut unter der Nase und dem zugeschwollenen Auge.

Was ist da passiert? Bist du die Treppe runtergefallen? will ich fragen. Doch mein Mund fühlt sich an wie nach einer Betäubungsspritze beim Zahnarzt, und auf einmal wird auch der Rest meines Körpers ganz schwach und taub.

"Sie war das", sagt Papa.

Sie? Wer ist sie? Klar. Die Treppe.

Mein Blick klebt auf dem obersten Foto.

Wie stark sie gewesen sein muss.

Plötzlich schießen Tränen in meine Augen. Ich kneife sie zu und presse mir dann beide Handballen auf die Ohren. Sofort ist Papa bei mir und umfasst meine Unterarme. Ich will, dass er mir die Hände von den Ohren zieht und mir dann hineinsagt, dass er damals die Treppe runtergefallen ist, bevor er die Fotos gemacht hat. Was denn sonst? Aber er lässt meine Arme wieder los und blickt zu Boden. Langsam nehme ich selbst die Hände runter.

"Tu mir das nicht an, Mona", flüstert Papa.

Meine Augen schwimmen, ich kann ihn kaum sehen.

Dann werfe ich mich in seine Arme. Spüre, wie sein Zittern nachlässt. Schließe die Augen und fühle das Kratzen der Barthaare an meiner Stirn.

Diesmal tröstet es mich nicht. Denn der Krach ist immer noch da.

Tockeditock. Tockeditock.

Ich habe das fieseste Monster aller Zeiten reingelassen.

Den Gruuhf.

Groove 1: Nordfriesland

15. Februar 2018

Flatsch.

Ein Haufen Schneematsch hat sich vom Ast gelöst und landet in meinem Kragen. Ich höre jemanden kichern und drehe mich blitzschnell um. Sofort verstummt das Lachen, und die Blicke der herumstehenden Schüler senken sich auf den nassen Asphalt des Pausenhofs mit seinen abgenutzten Hüpfspiel-Markierungen. Ich fühle eine Art bitteren Stolz. Jetzt ist es amtlich: Ich bin gefährlich. Nicht mehr bloß seltsam, sondern gefährlich. Es scheint eine neue Hausregel an der Gemeinschaftsschule Brarum zu geben: Du sollst dich nicht mit Mona Wackernagel anlegen. Es sei denn, du willst die Haut zwischen den Augen mit zwei dünnen Metallplättchen aufgeschlitzt bekommen.

Angewidert wische ich mir die Pampe aus dem Kragen. Die Kälte bleibt an meinen Fingern kleben. Du sollst den Februar hassen. Es sei denn, du stehst auf kahle, tropfende Einöde. Februar an sich ist schon schlimm genug. Aber Februar in Brarum, Nordfriesland - das ist die Höchststrafe. Meine Höchststrafe.

Ich stehe mitten im Pausengetümmel unter der Schulhof-Eiche und suche den Boden nach Müll ab. Nach weggeworfenen Kaugummi-Papieren, Schokoriegel-Verpackungen und angekauten Lollistielen. „Pädagogische Maßnahme bei Fehlverhalten", wie Frau Dietrich mir durch ihre gespitzten Fischlippen mitgeteilt hat. Auch wenn es genau genommen gar kein Fehlverhalten, sondern ein Unfall war. Müllsammeln ist die Strafe für das, was ich im Musikunterricht mit Annika gemacht habe. Meiner ehemals besten Freundin. Meiner ehemals einzigen Freundin.

Mir ist kalt.Ich ziehe die Schultern und den Reißverschluss meiner dunkelgrauen Kapuzenjacke hoch. Der gelbe Patchwork-Schal liegt in der Klasse. Ich trage ihn nur noch, wenn ich aus dem Haus gehe, Papa zuliebe. Er hat ihn aus den Resten meiner zu klein gewordenen Lieblingskleider genäht. Ich habe so getan, als würde ich mich freuen, aber in Wirklichkeit halte ich diesen Schal nicht aus. Schon als ich ihn aus dem mit Herzchen bedruckten Papier gehoben habe, konnte ich ihn nicht aushalten. Trotzdem gehe ich jeden Tag damit aus dem Haus. Sobald ich außer Sichtweite der Schneiderei bin, reiße ich ihn mir vom Hals und stopfe ihn in meine Schultasche. Gelb steht mir schon lange nicht mehr. Dunkelgrau ist jetzt meine Farbe. Am liebsten würde ich mir auch die Haare dunkelgrau färben. Aber das würde bloß Papa wieder traurig machen.

Ein zweiter und ein dritter Schneehaufen machen sich auf den Weg vom Ast Richtung Asphalt und landen mit einem satten Platsch und noch einem Platsch in der Pfütze neben mir. Sofort passiert das, was immer passiert, wenn meine Ohren zwei gleich klingende Geräusche hintereinander hören.

Der Groove erwacht.

Seit der Sache mit dem Pappkarton vor sechseinhalb Jahren sitzt er in mir fest. In meinem Hirn, meinem Bauch, meinen Füßen, meinen Fingern und überall dazwischen. Es fühlt sich nicht mehr wie ein Monster an. Sondern viel schlimmer. Als hätte jemand ein Schlagzeug mit unzähligen kleinen und großen Trommeln in meinem Körper festgeschraubt.

Ich spüre, wie mein Groove das Flatschen und Platschen des getauten Schnees zu einem Rhythmus zusammenbauen will und schon mal einzählt.

One. Two.

Ich kneife die Augen zu und fange an, so ungleichmäßig wie möglich mit der Zunge zu schnalzen. Es nützt nichts.

One, two, three.

Ich zucke mit dem linken Arm, balle dabei meine Finger immer wieder zur Faust, schlackere wild mit dem Müllsack in meiner rechten Hand und rutsche gleichzeitig mit den Füßen ohne erkennbares Muster über den Asphalt.

Das wirkt. Endlich verzieht sich das Miststück. Immerhin habe ich diesmal niemanden verletzt. Ein Fünftklässler mit Bommelmütze, der gerade von seinem Pausenbrot abbeißen wollte, starrt mich aus sicherer Entfernung mit offenem Mund an.

Mona zeigt im gesamten schulischen und sozialen Umfeld eine ausgeprägte motorische Unruhe, hat Fischlippe Dietrich, die auch noch meine Klassenlehrerin ist, unter mein erstes Gemeinschaftsschulzeugnis geschrieben. Eine Bemerkung, die sonst nur in den Beurteilungen von hyperaktiven Grundschuljungs steht. Ich bin mir sicher, dass sie sich längst einen Stempel mit diesem Satz hat anfertigen lassen. So oft, wie er schon unter meinen Zeugnissen stand.

Nach der Sache mit Annika wurden Papa und ich ins Direktorinnenzimmer zitiert. Fischlippe machte uns umständlich klar, dass so etwas nicht noch einmal passieren dürfe und dass sie uns wegen der Zuckungen dringend zu einem Besuch beim Kinder- und Jugendneurologen rate. Blubb, blubb. Als wären wir da nicht schon längst gewesen. Das war auch so ein Fisch. "EEG unauffällig, neurologisch-motoskopischer Untersuchungsbefund unauffällig. ADHS kann nicht ausgeschlossen, aber auch nicht eindeutig diagnostiziert werden." Blubb, blubb.

Frau Dietrich machte sich ernsthaft Sorgen.

"Nun, ja, es ist nicht zu übersehen, dass Mona mit ihrem, nun, impulsiven Verhalten, nun ja, die Abwesenheit einer weiblichen Bezugsperson, ja, kompensiert."

Netter Versuch.

Es war ja nicht das erste Mal, dass sie etwas über meine Mutter herausbekommen wollte, aber es war das erste Mal, dass sie von Bezugsperson und kompensieren sprach. Vermutlich kam sie gerade von einem Psycho-Seminar. Aber auch damit hatte sie bei uns keine Chance.

Was Frau Dietrich nicht ahnt: Sie kennt meine Mutter. So ziemlich jeder kennt meine Mutter. Zumindest jeder, der irgendwann in den Neunziger Jahren ein Radio oder einen Fernseher eingeschaltet hat.

Nach der Sache mit dem Karton hat Papa vor mir einen ganzen Haufen neuer Puzzleteile ausgekippt, die ich erstmal sortieren musste:

Britta Hannak ist mit siebzehn von zu Hause abgehauen, um Schlagzeugerin zu werden.

Mein Vater und sie haben sich ein paar Jahre später in Hamburg kennen gelernt. Er war damals Assistent des Kostümdesigners, der das Bühnenoutfit für die damals noch unbekannte Band Zilla entworfen hat.

Frank Wackernagel und Britta Hannak haben sich ineinander verliebt.

Sie hatten eine Wahnsinnszeit.

Bis Zilla durch die Decke gingen und Britta nichts anderes mehr tat, als zu trommeln.

Das Puzzleteil Sie wurde irgenwann sehr krank hat Papa gegen Sie wurde irgendwann sehr drogensüchtig ausgetauscht.

1999 hat er sie nach dem letzten Konzert ihrer Welttournee aus Tokyo abgeholt und mit nach Nordfriesland genommen, wo sie einen Entzug gemacht hat - vom Trommeln und von den Drogen.

Dann wurde sie schwanger.

Nach meiner Geburt lebten wir drei zusammen in Brarum, ohne dass einer der bräsigen Nordfriesen meine Mutter erkannt hätte.

Wir hatten eine Wahnsinnszeit.

Bis sie abgehauen ist. Hat sich heimlich ein Ticket nach Brasilien besorgt. Schaffte es aber nur bis zum Hamburger Flughafen.

Dort hat sie sich auf dem Klo eine Nadel in den Arm gejagt und ist an einer Überdosis Heroin gestorben.

Ohne den Rest einer Berührung auf meiner Haut zu hinterlassen. Oder einen Duft. Irgendeine Ahnung wie es wohl war, von ihr gehalten zu werden.

Jemand hat mir als Kind mal erzählt, dass es immer noch ein Echo des Urknalls im Universum gibt. Ich habe mir eine Zeitlang gewünscht, dass es ein Echo von Britta Hannaks Herzschlag in mir geben möge. Und dann, als ich zehn war, kam das Echo mit solcher Wucht, dass ich nichts mehr wollte, als es wieder loszuwerden.

Der Groove ist das einzige, was sie mir hinterlassen hat.

Ich war drei Monate und einen Tag alt, als sie starb.

Die Ursachen einer Heroin-Überdosis können sehr unterschiedlich sein. Es könnte sein, dass sie sich eine zu hohe Dosis gespritzt hat. Oder sie hat nach ihrer cleanen Phase wieder so viel genommen wie früher. Oder der Stoff war zu rein oder zu gestreckt oder was weiß ich.

Drei Monate und ein Tag sind dreizehneinhalb Wochen.

Man sagt, dass der Tod durch Heroin schmerzlos abläuft und man vom Sterben nichts mitkriegt, da man sofort bewusstlos wird und durch die Droge sowieso kein Schmerzempfinden mehr hat. Angeblich ist das ein schöner Tod. Wie im Schlaf. Diese Info habe ich im Internet gefunden. Eigentlich sollte mich das trösten. Aber das tut es nicht.

Dreizehneinhalb Wochen sind vierundneunzig Tage.

Meine Mutter hat diesen schmerzlosen Tod nicht verdient. Sie hat den Mann, der sie liebte, ins Gesicht geschlagen. Und dann hat sie ihr Baby verlassen, das erst seit vierundneunzig Tagen auf der Welt war.

Mein Puzzle ist fertig. Es zeigt ein Monster.

Nach der Sache mit dem Karton und den vielen neuen Puzzleteilen kam Die Schreckliche Zeit. Tage und Wochen, in denen Papa nicht gearbeitet, nichts gegessen und nur vor sich hingestarrt hat. Noch nicht mal der Ausflug zum Husumer Hafen konnte ihn aufheitern. Rote und blaue Krabbenkutter tanzten an der Pier auf und ab, aber er starrte nur auf den Poller, an dem eins der kleinen Boote mit einem dicken Tau festgemacht war. Sein Gesicht verschwand fast vor dem bleigrauen Himmel.

Als ich an diesem Abend im Bett lag, habe ich mir in Gedanken auch so ein Tau geflochten.

Erster Strang: Wir reden mit niemandem über Britta Hannak.

Zweiter Strang: Wir reden auch miteinander nicht über Britta Hannak.

Dritter Strang: Nicht trommeln. Nie wieder.

Stundenlang habe ich Strang um Strang um Strang ineinandergeflochten und dabei die Worte wie ein Gebet vor mich hin geflüstert, bis ich eingeschlafen bin.

Am nächsten Morgen wurde ich von Pfannkuchenduft und dem Rattern der Nähmaschine geweckt, und ich hörte Papa eine schiefe Melodie pfeifen. Fast hätte ich geheult vor Erleichterung.

Seitdem verbindet uns dieses Tau, ohne dass wir darüber reden.

Ich gehe weiter mit gesenktem Blick über den Schulhof. Eine leere Taschentuchhülle weht ein Stück von mir weg, bevor ich sie erwische und in meinen Müllsack stecke. Von den Fahrradständern her höre ich ein helles Lachen, das aus dem Pausenlärm herausstrahlt. Ich muss nicht hochschauen um zu sehen, zu wem es gehört. Trotzdem.

Annika unterhält sich mit Moritz Mann aus dem Abijahrgang, dem mit Abstand heißesten Typen der Schule. Unerreichbar. Stundenlang haben wir von ihm geschwärmt und uns vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen muss, die halbmondförmige Narbe auf seiner Oberlippe zu berühren.

Sie lacht noch einmal und wirft ihr glattes braunes Haar in den Nacken. Ihr Gesicht glüht, trotz der Februarkälte. Selbst mit dem Pflaster über der Nase sieht sie bezaubernd aus.

Wir haben uns bei unserer Einschulung kennen gelernt, sie war mit ihrer Mutter gerade erst von Bamberg nach Brarum gezogen. Ihre schokobraunen Augen waren während der gesamten Feier vor Aufregung so weit aufgerissen, dass man rundherum das Weiße sehen konnte. Nach der Zeremonie sollten wir uns zum Gruppenfoto vor der Turnhalle aufstellen. Als der Fotograf uns zum Lächeln animieren wollte und sein fröhliches "Käääsekuchen!" krähte, kotzte Annika im Schwall auf ihre Schultüte. Zum Teil sogar in ihre Schultüte. Annika war in Tränen aufgelöst, und ich schenkte ihr ohne zu zögern meine.

Seitdem waren wir unzertrennlich. Brarum fanden wir extrem langweilig, also zogen wir um - in die Welten der Bücher, die wir meistens zeitgleich, manchmal sogar dicht aneinandergedrängt im selben Exemplar lesend verschlangen. Wir erkundeten magische Orte, die wir zu unserer neuen Heimat machten. Hogwarts, Zamonien, Momos Amphitheater und Gravalon unter der Geisterbahn. Wenn wir zerzaust und mit knallroten Wangen von unseren Streifzügen zurückkehrten, bastelten wir Lesezeichen, denn wir hatten einander feierlich geschworen, niemals ein Buch mit den Seiten nach unten aufs Gesicht zu legen. Dabei führten wir Quatschinterviews.

"Frau Wackernagel, stimmt es, dass ein Roman leichter wird, je länger man darin liest?"

"Das ist korrekt, Frau Huber. Der Gewichtsverlust eines Buches während des Lektürefortschritts ist wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen."

Wir kämmten uns gegenseitig die Haare. Wobei kämmen bei meiner Lockenwolle eher hacken bedeutet, aber sie bürstete mir vorsichtig die Spitzen aus und arbeitete sich dann geduldig Richtung Scheitel nach oben, bis ich aussah wie ein Rauschgoldengel.

Als zeitgleich mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule der Groove kam und die Zuckungen losgingen, fing auch das allgemeine Gekicher und Getuschel an. Alle meine Freundinnen wandten sich nach und nach von mir ab. Annika hielt als Einzige noch zu mir. Wenn ein paar ältere Schüler mir auf dem Heimweg ihre einstudierten Zuck- und Schnalz-Choreographien vorführten, hakte sie mich ein und wir gingen mit hoch erhobenen Häuptern nach Hause, um dort neue phantastische Ländereien zu erobern.

Die Tatsache, dass wir beide als Einzelkinder mit Einzeleltern aufwuchsen, war für mich immer nur eine Gemeinsamkeit von vielen. Für Annika war es von Anfang an Zeichen unserer Seelenverwandtschaft. Stundenlang erzählte sie mir von ihrem Vater ("dem Vollpfosten"), der es kurz vor Annikas geplanter Einschulung in Bamberg geschafft hatte, eine ausgesprochen junge und ausgesprochen verheiratete Berufsschulkollegin ("die Dumpfkuh") zu schwängern. Dieses Erdbeben liegt inzwischen zehn Jahre zurück, aber die seismischen Wellen schwingen immer noch zwischen Oberfranken und Nordfriesland hin und her. Ich hörte ihr immer geduldig zu und hoffte, dass ihr nicht auffiel, wie wenig ich von meinem abwesenden Elternteil erzählte, nämlich gar nichts. Sehr erfolgreich hoffte ich das. Aber irgendwann kamen dann doch die Fragen. Wie neugierige Welpen sprangen sie an mir hoch. Wann ist deine Mutter gestorben? Woran? Warum hängen bei euch keine Fotos von ihr? Wie sah sie aus? Wo ist sie begraben? Eine ganze Weile gelang es mir, Annika abzulenken. Leckerli auszuwerfen, möglichst weit weg. Ein neues Buch, eine Bemerkung über den Vollpfosten, eine geschickte Gegenfrage zur Dumpfkuh, die jetzt offiziell Annikas Stiefmutter war. Das klappte ganz gut. Bis vor ein paar Wochen.

Es war zwei Tage vor Weihnachten, und wir hockten in Annikas Zimmer auf dem Bett. Haarpflege war durch, Maniküre stand auf dem Programm. Ich bepinselte gerade den Nagel einer ihrer kleinen Finger. Die Nachttischlampe strahlte ihr helles Licht auf Annikas gespreizte Hand. Ich genoss die konzentrierte Stille, in der man nur das Klackern des Pinselhalses im Lackfläschchen hören konnte. Und, plötzlich, ein abgehacktes Schluchzen.

Erschrocken blickte ich hoch, in zwei rotgeweinte Augen.

"Annika? Was ist denn los?"

Mit dem Rücken der noch nicht manikürten Hand wischte sie sich über das Gesicht und schluchzte wieder. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie weinen sah, Annika ist deutlich näher am Wasser gebaut als ich. Aber das hier war anders als sonst. Es hatte nichts mit Vollpfosten oder Dumpfkuh zu tun, das spürte ich sofort. Trotzdem warf ich mein Leckerli aus.

"Ist es, weil der Unerreichbare beim Nikolauskonzert mit Laura geflirtet hat? Kann ich total verstehen. Ich sage dir, wenn die auch nur einmal..."

"Scheiß auf Moritz", brach es aus Annika heraus. "Es ist wegen dir."

"Wegen mir? Was hab ich denn gemacht?"

Sie wischte sich noch einmal über das Gesicht, diesmal mit dem Rücken der halbfertig lackierten Hand. Mit dem Nagel des kleinen Fingers blieb sie an einer Haarsträhne hängen und verschmierte die frische Farbschicht.

"Die Frage ist, was du nicht machst." Sie zog die Nase hoch. "Ich will wissen, wer du bist, Mona. Wo du herkommst. Aber ich kenne dich überhaupt nicht. Du... du hast ein Geheimnis. Ein schlimmes. Und das tut mir leid. Aber ich..." Sie stockte. "Echte Freundinnen teilen ihre Geheimnisse. Auch die schlimmen. Vor allem die schlimmen." Sie fing wieder an zu weinen. "Bin ich denn überhaupt deine Freundin, Mona? Was bin ich für dich?"

Ich saß ihr immer noch gegenüber, auf dem hell beleuchteten Bett, aber ich fühlte mich wie in eine dunkle Ecke gedrängt.

Sag was, Mona. Los. Irgendwas. Damit das hier vorbei ist.

"Annika."

"Ja?"

"Jetzt..."

Was? Komm schon, raus damit.

"Jetzt sei mal keine Dramaqueen."

Und das war natürlich das Falscheste, was aus meinem Mund hätte kommen können. Denn es waren exakt die Worte, die Annikas Vater jedes Mal sagte, wenn sie oder ihre Mutter seinetwegen die Fassung verloren.

Annika erstarrte. Alles an ihr wurde hart und glasig. Sie stand auf, ging mit eckigen Bewegungen zur Tür und öffnete sie.

"Ich glaube du gehst jetzt."

"Annika, ich..."

Sie wurde noch ein bisschen starrer und glasiger, vor allem im Gesicht.

"Ich glaube du gehst jetzt."

Also ging ich.

Erster Strang: Wir reden mit niemandem über Britta Hannak.

Unter einer der Picknickbänke in der Mitte des Schulhofs liegt ein benutztes Taschentuch. Mit spitzen Fingern hebe ich es am Zipfel auf und lasse es in den Müllsack gleiten, der noch nicht mal ansatzweise voll ist. Es ist Donnerstag, der vierte und vorletzte Tag meiner Bußwoche. Das Müllsammeln ist nur eine von zwei Strafen, wobei die zweite genaugenommen eine Erlösung ist. Ich bin bis auf weiteres vom Musikunterricht befreit, und das ist im Moment so ziemlich der einzige Lichtblick in meinem Leben, das nur noch aus Februar zu bestehen scheint.

Unser Musiklehrer hat einen Rhythmus-Fetisch, und es ist unglaublich anstrengend, den Groove während dieser Stunden zu unterdrücken. Ich klöpple und klatsche so gut es geht neben dem Beat und gebärde mich ansonsten wie von der Tarantel gestochen. Am Ende des Unterrichts bin ich jedes Mal komplett nassgeschwitzt.

"Die will doch nur Aufmerksamkeit“, hörte ich sie tuscheln. „Verwöhntes Papakind."

Ich hatte Annika am Heiligen Abend eine Nachricht geschickt. Entschuldigung. Frohe Weihnachten. Darauf hat sie nicht geantwortet. Natürlich nicht. Mir hätte das an ihrer Stelle auch nicht gereicht. Ich hätte sie schon anrufen müssen. Aber dann wäre ich wieder in dieser dunklen Ecke gelandet, und wer weiß, was ich diesmal zu ihr gesagt hätte.

Sie wird sich schon wieder einkriegen. Mit diesem Mantra kam ich einigermaßen durch die Ferien. Und durch die erste Schulwoche. Und durch die zweite. Und so weiter.

Bis ich es letzten Donnerstag nicht mehr aushielt. Ausgerechnet in der Musikstunde wollte ich es ihr sagen. Dass es mir wirklich leid tut. Dass ich noch ein bisschen Zeit brauche, bis ich mit ihr über meine Mutter sprechen kann. Insgeheim ersetzte ich ein bisschen Zeit natürlich mit bis in alle Ewigkeit, aber meine Entschuldigung würde sie hoffentlich so lange hinhalten, bis sie eines schönen Tages endlich das Interesse verloren hätte.

Sie stand neben mir im Kreis. Unser Musiklehrer zählte.

"Eins Zwei Drei Vier! Auf die Eins!"

Ich schlug den Schellenkranz in meiner linken Hand gegen den Ballen meiner rechten und gab mir Mühe, kein einziges Mal die Eins zu treffen. Eine Winzigkeit davor oder dahinter, manchmal auch erst auf die Zwei. Meine Füße rutschten dabei gegen den Takt über das Linoleum, und ich schnalzte ein paarmal mit der Zunge. Paul, ein besonders hinterhältiger Imitator meiner Zuckungen mit einem Gesicht, das vor lauter Pickeln aussieht wie der Rücken eines Krokodils, fing an zu kichern. Ich versuchte ihn zu ignorieren und rückte ein Stück näher an Annika heran.

"Annika, es tut mir wirklich, wirklich..."

"Eins Zwei Drei Vier!"

"Weißt du, ich brauche noch ein bisschen Zeit, bis ich..."

"Eins Zwei Drei Vier! Okay, langsamer. Eins. Zwei. Drei. Vier. Mona, die Eins!"

Ich spürte, wie der Groove sich in mir aufbäumte. Wie mir der Schweiß ausbrach beim Versuch, gegen ihn anzukämpfen.

Annika drehte den Kopf in meine Richtung und sah mir ins Gesicht, zum ersten Mal seit Wochen. Mein Herz machte einen Hüpfer. Und für eine Nanosekunde spürte ich den überwältigenden Drang, mit hoch erhobenem Schellenkranz rasselnd durch die Aula zu tanzen und mich dem Rhythmus hinzugeben.

"Jetzt wieder schneller! Eins Zwei Drei Vier!"

Ich war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.

Zwischen Zwei und Vier hörte ich Paul über den Lärm zu Annika sagen:

"Mona trifft die Eins noch nicht mal, wenn sie mitten auf ihrem hässlichen Haarhelm sitzt."

"Eins!"

Exakt auf dem Schlag ließ der Groove meinen rechten Arm hochzucken. Nimm das, Pickelgesicht! Ich unterdrückte einen Triumphschrei.

Nein.

Mit letzter Willenskraft und völlig gegen den Takt riss ich den linken Arm nach oben. Ohne hinzusehen.

Die Metallschellen bohrten sich mit den Kanten nach vorn zwischen Annikas Augen. Blut lief ihr links und rechts der Nase hinunter, und sie schrie. Alle schrien. Ich war starr vor Schreck. Schaffte es irgendwie, einen Schritt auf Annika zuzugehen, aber sie schrie noch lauter und stieß mich weg.

Noch am selben Tag saßen Papa und ich bei Fischlippe und ließen uns über die Abwesenheit weiblicher Bezugspersonen aufklären. Dann gingen wir nach Hause.

Die Haare kämme ich mir jetzt wieder selbst. Es ziept, und auch wenn ich mir Öl in die Spitzen massiere - jeden Morgen ist irgendwas verfilzt. Abschneiden? Kommt nicht in Frage. Dann würde ich ja aussehen wie Britta Hannak.

Ein Snickers-Papier kommt von hinten in mein Sichtfeld geflattert. Jemand muss es eben erst in meine Richtung geschnippt haben. Ich sehe mich um, aber da ist keiner. Als ich mich bücke, spüre ich, wie mir die Tränen kommen.

Jetzt bloß nicht heulen, Mona. Die sehen dich.

Ich schließe meine Hand um das Papier. Dann lege ich es in den so gut wie leeren Sack und gehe damit langsam zum Müllcontainer. Dabei halte ich den Blick gesenkt und zähle meine Schritte.

Eins Zwei Drei Vier. Eins Zwei Drei Vier.

Ich kann nicht anders.

Eins Zwei rumpel Drei kläng Vier. Eins Zwei Drei schepper Vier.

Im Unterstand neben der Aula sitzt ein Typ breitbeinig auf der Rückenlehne einer Holzbank, die Füße auf die Sitzfläche gestemmt. Der Typ heißt Ole Jepsen. Er ist einen Jahrgang über mir, hat kurze schwarze Haare, in etwa meine Statur und eine große Klappe. Einer der wenigen, die mich noch nie nachgeäfft haben. In jeder Hand hält er einen Stock. Die Art Stöcke, die ich vor sechseinhalb Jahren das erste und letzte Mal in den Händen hielt. Drumsticks.

Die drei anderen Typen, die um ihn herumstehen, sind welche von der Sorte, die mit dem Smartphone ihre Rülpser aufnehmen und sie dann als Klingelton benutzen. Sie stehen nur da, nicken die ganze Zeit und sagen Sachen wie "ja, Mann" und "fett, Diggi". Einer hält sein Handy hoch und filmt. Wie ich das hasse. Wie oft ich schon auf dem Schulhof gefilmt wurde. Durch eine Lücke zwischen den Nickern sehe ich, dass Ole eine Brotdose aus Metall auf sein linkes Knie und eine aus Plastik auf sein rechtes Knie gestellt hat, mit den Böden nach oben. Er hat die Unterarme lässig übereinandergekreuzt und trommelt. Jetzt versucht er einen Wirbel auf der Plastikdose, der ihm zu hundert Prozent misslingt. Ich gehe ein bisschen näher ran. Die vier bemerken mich gar nicht.

"Pass auf, Paradiddle", sagt Ole und spielt auf beiden Brotdosen eine ungleichmäßige Folge von Schlägen.

"Kraaass", machen die offenbar gehörlosen Nicker beeindruckt. "Richtig krass, Mann."

Ole strahlt, trommelt weiter auf den Brotdosen herum und bezieht jetzt auch noch die Bank mit ein. Ich tue so, als würde ich den Schulhof nach weiterem Müll absuchen, bleibe aber in Hörweite.

"So, hier jetzt, nehmt das, ihr Bodennieten!" Ole lässt die Sticks ohne erkennbaren Rhythmus auf Plastik, Metall und Holz klappern und quasselt dabei, ohne Luft zu holen.

"Hab ich gestern im Unterricht gelernt. Mein Schlagzeuglehrer sagt, ich bin megabegabt. Und ich sage, der Mann hat Recht." Er klappert nochmal. Und nochmal. Die Nicker feuern ihn an. Jedes Mal, wenn Ole die Phrase wiederholt, krampft sich in mir etwas zusammen. Er hat eindeutig Spaß. Aber er setzt keinen Akzent, hat kein bisschen Rhythmusgefühl. Er spürt es nicht. So wie ich es spüre.

Etwas Heißes schießt durch meinen Körper. Ich hebe den Kopf, lasse den Müllsack fallen, balle meine Fäuste und gehe direkt auf die vier Typen zu. Als die Nicker mich kommen sehen, hauen sie sofort ab. Sie tun so, als wollten sie sowieso gerade gehen, aber ich weiß genau, dass sie vor mir fliehen.

Du sollst dich nicht mit Mona Wackernagel anlegen.

Praktisch, so ein schlechter Ruf.

Ole kriegt das gar nicht mit. Er ist in einen besonders schwierigen Rhythmus vertieft, den er besonders scheiße spielt. Ich stehe jetzt genau vor ihm. Starre ihn an, während es in mir fast überkocht. Das muss er mitgekriegt haben, denn endlich sieht er zu mir hoch, mit einem gar nicht mal so unfreundlichen Grinsen, das ich ihm trotzdem gleich aus dem Gesicht holen werde. Lass es bleiben, Ole Jepsen, werde ich zu ihm sagen. Du bist bestimmt ein netter Kerl. Aber siehst du nicht, dass meine Ohren bluten? Du bist ein Rhythmuslegastheniker und wirst es immer bleiben. Und jetzt verschwinde.

Oles Grinsen friert ein, als er sieht, wen er vor sich hat. Die Sticks schweben ein paar Zentimeter über den Brotdosen. Sein Mund steht offen. Ich öffne ebenfalls den Mund. Spüre, wie die Worte sich anschleichen, sich sprungbereit auf meiner Zunge zusammenkauern. Dann schnellen sie hervor.

"Gib mir Unterricht."

Bitte was?

Ich schlucke und mache dann noch einmal den Mund auf, um diesmal das Richtige zu sagen.

"Bring mir die Sachen bei, von denen du da gerade geredet hast."

Ich bin fassungslos. Ole offensichtlich auch.

Was soll das, Mona? Du erzählst im Ernst diesem grooveamputierten Schnacker, dass er dir Unterricht geben soll? Niemals. Diesmal wird der richtige Text rauskommen, und da ist er auch schon:

"Ich komme morgen Nachmittag zu dir, und dann zeigst du mir, wie das geht." Unglaublich. Immerhin schiebe ich noch nach: "Das ist keine Bitte."

In diesem Moment klingelt es, und Ole erwacht aus seiner Starre. Er klappt ein paarmal den Mund auf und zu, was sehr viel rhythmischer ist als alles, was ich in den letzten Minuten von ihm mitbekommen habe.

"Ich, äh, äh, ich kann nicht. Morgen kommt der, äh, Besamungstechniker."

Diese Antwort muss ich erstmal sacken lassen, bis mir einfällt, dass Oles Eltern einen Bauernhof und jede Menge Kühe haben. Ole pflückt sich währenddessen die Brotdosen von den Knien, springt von der Bank, strahlt mich an und hat plötzlich wieder Oberwasser.

"Freut mich, dass dir mein Drumstyle gefällt. Ich bin aber auch gut. Schönes Leben noch."

Er rennt zum Haupteingang, reißt die Tür auf und verschwindet im Gebäude. Ich stehe allein auf dem Pausenhof und kann nicht glauben, was gerade passiert ist.

Das Klingeln der Schulglocke tönt in mir nach wie ein Gong.

Erste Runde, Ole Jepsen. Du Bodenniete.

16. Februar 2018

Ich stemme mich in die Pedale meines alten Mountainbikes und trete gegen den Wind an, der mir mit seinen eisigen Fingern in die Haare greift. Warum sprechen alle bloß immer von Windstärken? Für mich hat der Wind nur Schwächen. Und die größte Windschwäche ist seine Übergriffigkeit. Ständig muss ich blinzeln, damit mir die Augen nicht austrocknen.

Rechts von mir rauscht in Abständen etwas Verkehr vorbei. Gerade schleicht eine schlammbespritzte Familienkutsche hinter einem Laster vom Futtermittelhändler her und weicht dabei einem roten Fellbündel aus, das auf der Fahrbahn klebt. Schleswig-Holstein, Land der breitgefahrenen Eichhörnchen. Links von mir: Acker an Acker. An den Rändern ragen Stümpfe von Maispflanzen aus der Erde wie überdimensionale Bartstoppeln. In den Falten, die Treckerreifen in die Erde gedrückt haben, sammelt sich das Schmelzwasser der letzten Wochen.

Ich nähere mich dem kahlen Apfelbaum, der kurz vor der Abzweigung neben dem Fahrradweg steht. Der Wind hat seine Krone in jahrelanger Arbeit niedergedrückt. Bockig und krumm steht er da, als wäre es seine Idee gewesen, so zu wachsen. Seine Wurzeln haben den Belag des Fahrradwegs angehoben. Ich hopple über die rissigen Bodenwellen und weiche einer Pfütze aus, bevor ich zum Halten komme und die Landstraße überquere.

Ab hier gibt es keinen Radweg mehr. Ein weißer Lieferwagen rast viel zu dicht an mir vorbei. Meine Mittelfinger sind eingefroren, sonst hätte ich dem Fahrer vielleicht einen davon hinterhergeschickt. Die Handschuhe liegen irgendwo zu Hause. Ich hatte keine Zeit, sie zu suchen. Nach der Schule habe ich meine Tasche im Flur abgeworfen, einen Teller von Papas Eintopf in mich hineingelöffelt, Oles Adresse herausgefunden und mich aufs Rad geschwungen. Papa war in der Schneiderei mit der Frühjahrskollektion von Alles Außer Rosa beschäftigt und hat mich gar nicht gehört.

Ich fahre an einer Reihe Einfamilienhäuser vorbei, langsam genug, um die Hausnummern lesen zu können. 14... 12... 10... Ein säuerlicher Geruch steigt mir in die Nase. Der Duft von Silage, der mir nur zu vertraut ist. Gehäckselter Mais wird zu riesigen Haufen zusammengefahren und mit Folie abgedeckt. Auf die Folie schmeißen die Bauern dann alte Autoreifen, um das Ganze luftdicht abzuschließen. Die Dinger sind wirklich überall. Auf dem Wappen Nordfrieslands sollten statt der drei goldenen Segelschiffe drei Silagehaufen abgebildet sein.

Die Nummer 8 ist ein reetgedecktes Bauernhaus mit angrenzendem Stall. Vor der Eingangstür mit den blanken Butzenscheiben steht eine gußeiserne Laterne. Die Kerze darin verströmt warmes Licht.

Das hübsche Haus verschwindet aus meinem Blickfeld. Die Straße macht einen weiten Bogen nach links, und ich halte etwa hundert Meter weiter vor einer unbefestigten Einfahrt, die an einem Flachbau aus schmutziggelbem Klinker endet. Zur rechten Seite verbreitert sich die Einfahrt zu einem gepflasterten Platz mit dem unvermeidlichen Silagehaufen. Rechts davon steht ein Stall aus dunkel gestrichenem Holz, im Hintergrund eine Halle aus grünem Blech. Der Silogeruch vermischt sich mit einer deutlichen Güllenote. Hier muss es sein. Ole Jepsen, Dorfstraße 6, 25821 Schnakelsbüll.

Mein Herz rast, als ich das Rad an den Begrenzungspfahl vor der Einfahrt lehne. Was machst du hier, Mona? Seit ich gestern auf dem Schulhof mit den falschen Sätzen im Mund auf Ole losgegangen bin, fühle ich mich wie ferngesteuert. Ein langgezogenes dunkles Muhen aus dem Stall lässt mich zusammenfahren. Ich schaue mich um. Weit und breit kein Besamungstechniker zu sehen.

Ich gehe zum Flachbau, der das Wohnhaus der Jepsens sein muss. Schmucklos und nicht besonders einladend. Ich nehme meinen Mut zusammen und steige die drei Stufen hinauf zur Eingangstür.

Als ich auf den Klingelknopf drücken will, sehe ich durch das geriffelte Glas jemanden durch den Flur huschen. Ein Schlüssel wird herumgedreht, dann öffnet sich die Tür und Ole steht vor mir.

"Nicht klingeln!" flüstert er aufgeregt. "Meine Eltern machen Mittagsschlaf!"

"Oh", mache ich. "Aha." Und dann, als würde es mich etwas angehen: "Haben sie gestern Abend gefeiert?"

Ole rollt mit den Augen. "Meine Eltern sind Bauern. Die feiern nicht. Die stehen jeden Morgen um halb fünf auf, um die Kühe zu füttern und zu melken. Von eins bis drei ist Mittagstunde. Ruhe im Karton. Nicht verhandelbar."

Ich gucke an ihm runter. Er trägt ein ausgeleiertes T-Shirt, löchrige Jeans und an den Füßen moosgrüne Stoppersocken. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. In der Schule legt Ole so viel Wert darauf, stylish rüberzukommen. Und nun darf ich ihn keine dreißig Stunden nach unserem ersten Zusammentreffen schon in Schmuddelklamotten und flauschigen Socken sehen, die er trägt, damit er seine Eltern nicht beim Mittagsschlaf stört. Mir gefällt das. Ihm ist es offensichtlich peinlich.

"Ich komm mit raus", flüstert er, schnappt sich seine Jacke vom Garderobenhaken, schlüpft in ein Paar dreckige Clogs und drückt sich durch den Türspalt nach draußen.

"Also," sagt er leise und steckt die Hände in die Jackentaschen. Auf seinem Hals sind rote Flecken zu sehen. "Was willst du von mir? Hab dir doch gesagt, dass ich heute nicht kann."

"Ja, weil angeblich der Besamungstechniker kommt."

"Was heißt hier angeblich? Besamer kommen immer."

Ole kichert über seinen eigenen versauten Witz und guckt mich beifallheischend an. Den Gefallen tue ich ihm nicht. Ich sehe ihm fest in die Augen.

"Du hast ein Schlagzeug. Du bekommst Unterricht. Ich will, dass du mir zeigst, was du da lernst. Diesen Paradingens zum Beispiel."

"Paradiddle."

"Genau, den."

Ole windet sich.

"Ich muss noch ein Referat vorbereiten."

"Ja, klar. Und anschließend musst du dir die Augenbrauen zupfen oder was."

Sein Schweigen wird von einem weiteren Muhen unterbrochen. Diesmal klingt es ungeduldig.

Ole verschränkt die Arme und guckt angestrengt in die andere Richtung. Mir ist klar, warum er nichts mit mir zu tun haben will. Ich bin das gewaltbereite Mädchen aus dem Jahrgang unter ihm. Es gibt keinen Grund, warum er sich mit mir abgeben sollte.

Ich starte einen letzten Versuch.

"Du hast doch gar kein Schlagzeug."

Das klappt sofort. Ein triumphierendes Grinsen breitet sich auf Oles Gesicht aus.

"Kein Schlagzeug? Na dann komm mal mit."

Vorsichtig schließt er die Wohnungstür und führt mich am Haus vorbei über den Hof. Überall liegen Reifen, Holzpaletten und leere Kanister herum. Ich rieche den großen Misthaufen hinter dem Stall, bevor ich ihn sehe. Er steht in einer ölig schimmernden Pfütze, davor ein grün gestrichener Hänger, so grün wie Oles Stoppersocken in den Clogs. Ich muss kichern. Ole guckt sich stirnrunzelnd nach mir um.

Wir gehen auf die Halle zu, die neben dem Misthaufen steht. Ich blicke nach links auf eine eingezäunte Weidefläche. Dahinter kann ich das hübsche Bauernhaus erkennen, das mir auf dem Hinweg aufgefallen ist.

"Gehört das auch zu euch?" Ich zeige auf die Weide.

Er lacht kurz auf.

"Nee. Das gehört unseren Nachbarn, Bodo und Margarethe Mangelsen. Mit denen haben wir nichts zu tun. Die machen einen auf Bio." Ich kann nicht eindeutig bestimmen, ob das verächtlich oder bewundernd klingen soll. Wir sind an der Halle angekommen, und Ole stemmt die verbogene Schiebetür auf.

"Da müssen wir durch. Alternativ durch die Mistpfütze, ganz wie's beliebt."

Ich schaudere bei dem Gedanken, einen Fuß in das ölige, stinkende Wasser setzen zu müssen. In der Halle ist es noch viel unordentlicher als draußen. Wir steigen über leere Plastikeimer und aufgerissene Kraftfutter-Säcke, die einen intensiven Geruch nach Staub und Brühwürfeln verströmen. An der Wand hängen, nachlässig zusammengerollt, ein paar Meter Stacheldraht. Ein uralter orangefarbener Trecker mit platten Reifen dämmert in einer Ecke vor sich hin, seine Kabine ist voller Spinnweben. Überall verstreut liegt rostiges Werkzeug. Ole scheint meine Gedanken zu erraten.

"Außen pfui, innen pfui. So ist das bei meinen Alten. Keine Zeit zum Aufräumen. Bei Mangelsens nebenan ist natürlich alles hui."

Auf der anderen Seite der Halle ist auch eine Schiebetür, die Ole aufzieht und den Blick auf eine fußballfeldgroße, mit Gras bewachsene Fläche freigibt. Hier und da liegen Haufen aus Feldsteinen herum, und am Rand wartet ein Berg aus Buschwerk und toten Ästen darauf, verbrannt zu werden.

Am Ende der Grasfläche steht ein alter Schuppen aus rotem Backstein mit zugemauerten Fenstern. Wir gehen darauf zu.

"Meine Eltern wollten ihn abreißen, aber ich hab mich in letzter Sekunde vor den Bagger geschmissen."

Ole schließt die Metalltür auf, deren Lack an einigen Stellen abblättert. Drinnen ist es finster. Er schaltet mit der linken Hand das Licht und mit der rechten einen Heizlüfter an, der sofort brummend damit beginnt, die Luft anzuwärmen. Es riecht nach frischer Farbe. Eine Neonröhre flackert auf.

"Ta-daaa", macht Ole. Ich halte die Luft an.

Der gesamte Raum ist ausgefüllt mit Schlagzeug. Es steht auf einem durchgescheuerten Orientteppich, der den Boden des Schuppens bedeckt. Die niedrige Decke ist schwarz gestrichen, und die Wände sind lückenlos mit Eierpappen beklebt.

Ich sehe sofort, dass das Schlagzeug nagelneu ist. Auf die große liegende Trommel, die Bassdrum, sind zwei kleinere Trommeln geschraubt. Aus dem Arbeitsbuch Musik weiß ich, dass sie Tom-Toms heißen. Ich strecke meine Hand aus und berühre den kühlen Metallrand einer Tom-Tom. Streiche über ihr glattes, durchsichtiges Fell. Ich schaue zu Ole.

"Darf ich?"

"Hmnjaah. Kannst ja eigentlich nichts kaputtmachen."

Ich lege meine flache Hand auf die HiHat, einem auf ein Stativ horizontal montiertes Beckenpaar. Streiche über das obere Becken und spüre die geriffelte Bronze unter meinen Fingerkuppen. Zwischen Bassdrum und HiHat steht auf einem kurzen Stativ die kleine Trommel, die Snare. Ihr Fell sieht unberührt aus, wie eine Decke aus frisch gefallenem Schnee.

"Wie lange hast du schon Unterricht?"

Ole seufzt. "Drei Wochen." Anscheinend habe ich mit den Stoppersocken und dem chaotischen Hof schon so viel Einblick gewonnen, dass er mir nichts mehr vormachen muss. "Ich hab das Drumset erst vor ein paar Tagen bekommen."

"Hattest du denn Geburtstag?"

"Ich hab erst im August Geburtstag. Nee, einfach so zwischendurch."

"Ganz schön üppig für einfach so zwischendurch."

Ole zuckt mit den Schultern.

Ich streiche mit den Fingerspitzen über das Fell der Snare. Ein raues Rauschen ertönt, und ich spüre, wie sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellen.

"Ride und Crash sind bestellt, kommen nächste Woche", sagt Ole.

"Äh, was?"

"Die beiden Standbecken. Keine Ahnung, wo ich die noch unterbringen soll."

Ole quetscht sich um das Schlagzeug herum und setzt sich auf den Hocker hinter der Snare. Er hebt zwei Sticks vom Boden auf und dreht einen davon lässig zwischen den Fingern. Sofort fällt er runter. Wieder muss ich grinsen. Ole deutet eine Verbeugung an, hebt den Stick wieder auf, nimmt den zweiten dazu und fängt an zu spielen.

Ein unfassbarer Lärm wirft sich gegen mein Trommelfell. Ich halte mir die Ohren zu. Ole bearbeitet Bassdrum, Snare und HiHat in einer ohrenbetäubenden rhythmischen beziehungsweise unrhythmischen Abfolge, ab und zu drischt er auf eine der Tom-Toms ein. Hektisch fummle ich mir ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und reiße zwei Streifen davon ab, die ich zusammenknülle und mir in die Ohren stopfe. Jetzt ist es etwas besser.

"Macht es deinen Eltern nichts aus, dass du in der Mittagsstunde spielst?" brülle ich über den Lärm.

"Nö", schreit Ole und kommt dabei noch mehr aus dem Takt. Spielen und gleichzeitig sprechen geht offenbar gar nicht, auch wenn es nur ein Einsilber wie "Nö" ist. Der Typ hat überhaupt keinen Groove, und ich beneide ihn plötzlich glühend darum, wie er hier in seinem mit Eierpappe ausgekleideten Schlagzeugschuppen sitzt und fröhlich vor sich hinstümpert.

Er hört auf zu spielen. Meine Ohren klingeln, trotz der improvisierten Stopfen.

"Die kriegen das gar nicht mit. Die Höhle hier ist weit vom Schuss und nach dem neuesten Stand der Technik schallisoliert." Er deutet auf die Eierpappen. "Das war Vatterns Auflage. Damit die Kuhmilch nicht sauer wird von dem Getrümmer."

Ole steht auf und zeigt mit einer übertriebenen Gentleman-Geste auf den Hocker, als würde er mir einen Platz in einem Nobelrestaurant anbieten.

"Und? Willst du auch mal versuchen?"

Ich quetsche mich an der HiHat vorbei und setze mich. Er bleibt hinter mir stehen.

"Die Sticks musst du so halten."

Er hält seine Handfläche mit gespreizten Fingern vor mein Gesicht, legt einen Stick schräg hinein und schließt die Hand, so dass er von Daumen und Zeigefinger festgehalten wird. Dabei kommentiert er jeden Schritt mit langsamer, deutlicher Aussprache. Als würde er ein Tutorial drehen. Ich muss schon wieder grinsen. Dieser Typ schafft es, mir die Aufregung zu nehmen, und er macht es noch nicht einmal mit Absicht. Er hat ja keine Ahnung, wie nervös ich bin.

"Jetzt du."

Ich nehme die Sticks in die Hände und halte sie so, wie er es mir gezeigt hat.

"Sieht gut aus. Dann mach mal."

Wieder zögere ich. Wovor hast du Angst, Mona? Davor, dass du es nicht kannst? Dass du dich damals in Papas Zimmer nur geirrt hast? Oder davor, dass du es kannst?

Ich schlage kräftig mit dem Stick auf die Snare. TSCHACK! Es knallt wie ein Schuss, und ich zucke zusammen. Ole lacht. Vorsichtig tippe ich mit einer Stockspitze auf die HiHat. Sie scheppert.

"Du musst das Fußpedal gedrückt halten, damit die beiden Becken zusammenbleiben. Dann scheppert auch nichts mehr."

Ich setzte den linken Fuß aufs Pedal und schlage dreimal zart auf das obere Becken. Tick. Tick. Tick.

"Jetzt noch die Bassdrum", sagt Ole. Ich setze meinen rechten Fuß auf das Pedal vor der großen Trommel und drücke es nach unten. Der Schlegel trifft das Fell. B-b-bumm. B-bumm. Es klingt wackelig, ich habe keine Kontrolle über meinen Fuß. Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich. Du kannst es nicht.

"Macht nichts, so hab ich auch angefangen", sagt Ole. "Jetzt versuch mal alles zusammen. Bassdrum auf die Eins, Snare auf die Drei, HiHat auf Zwei und Vier."

"Ich glaube nicht, dass ich das kann."

"Du kannst nicht bis vier zählen? Versuch's."

Ich versuche es.

B-bumm Tick TSCHACK Tick. B-b-b-bumm Tick TSCHACK Tick.

Mein rechter Fuß verkrampft sich schmerzhaft. Überhaupt ist mein ganzer Körper angespannt. Ich lasse die Sticks sinken. In meine Erleichterung mischt sich ein überraschend großer Schuss Enttäuschung.

"Okay. Dann machen wir erstmal was ohne Füße. Ich zeig dir einen Paradiddle auf der Snare."

Er scheucht mich mit einer wedelnden Handbewegung vom Hocker, nimmt mir die Sticks ab, setzt sich hin und markiert die Schläge knapp über dem Fell.

"Rechts links rechts rechts, links rechts links links. Das ist das Muster. Immer wieder rechts links rechts rechts, links rechts links links. Fang ganz langsam an. Du schaffst das." Ole klingt wie ein Physiotherapeut, der eine Patientin nach jahrelanger Bettlägerigkeit wieder auf die Beine bringen will, und genau so fühle ich mich auch.

Ich setze mich auf den Hocker, nehme die Sticks in die Hände und schließe die Augen. Stelle mir vor, wie die Spitzen in Zeitlupe auf das Schlagfell treffen. Wie die Schwingung durch die Trommel wandert, bis sie auf das Resonanzfell trifft und den Ton erklingen lässt. Dann hebe ich die Arme und beginne zu spielen.

Rechts links rechts rechts, links rechts links links. Ganz langsam, so wie Ole es gesagt hat. Die Unebenheiten im Muster, die durch den Wechsel zwischen Einzel- und Doppelschlägen entstehen, klingen ungewöhnlich. Rechts links rechts rechts, links rechts links links. Wie Perlen, die sich auf eine Schnur reihen. Eine weiße, eine silberne, zwei weiße. Eine silberne, eine weiße, zwei silberne. Die Abstände zwischen den Perlen werden kleiner, und die Kette wird länger, immer länger.

Bis sie sich um mich schlingt und mich in die Tiefe zieht.

Ich spüre, wie meine Stirn sich glättet und meine Lippen sich zu einem Lächeln öffnen. Meine Augen sind immer noch geschlossen, und ich genieße den Tanz der Schallwellen und Perlen in dieser unendlich blauen Tiefe, die mich umfängt. Ich werde schneller, mühelos. Mein Fuß findet das Pedal der Bassdrum, und ich trete zu. Bumm. Bumm. Der Bass füllt meinen Körper aus, von den Zehen bis in die Haarspitzen, wie warmes Wasser. Ich werde immer schneller, wandere mit dem linken Stick auf die HiHat und bleibe mit rechts auf der Snare. Die silbernen Perlen wechseln abrupt die Farbe zu einem strahlenden Orange, und der Sound wird plötzlich treibend und mitreißend. Etwas packt mich an Händen und Füßen. Ich spüre ein Ziehen in meinen Beinen, meinen Armen, meinen Schultern. Ist das Schmerz? Ich weiß nicht. Es ist mir egal. Es ist...

"MONA!"

Die Sticks gleiten aus meinen Händen und fallen zu Boden. Ich tauche auf, viel zu schnell. Mein Atem geht stoßweise. Ein aus ein ein, aus ein aus aus. Ein aus ein ein, aus ein aus aus.

Der Klang der Bassdrum wabert weiter in meinem Brustkorb, bis er versickert und mein wild um sich schlagendes Herz zurücklässt. Langsam öffne ich die Augen.

Ole steht mit offenem Mund vor mir.

"Mona! Das ist ja... du bist ja... der Hammer! Der Oberhammer! Wieso kannst du das?" Er schlägt sich mit der Handfläche vor die Stirn und lacht laut auf. "Du hast... Mona, du hast den Groove gepachtet!"

Ich höre seine Stimme wie durch Watte. Höre nur diese Frage: Wieso kannst du das?

Ich springe auf, stürze an der HiHat vorbei und reiße die Tür hinter Ole auf, der die ganze Zeit "die Groovepächterin! Shit'n'diddy, ich fass es nicht, in meiner Höhle sitzt die Groovepächterin!" schreit und gar nicht begreift, was gerade passiert. Er fällt ein Stück nach vorn, als ich ihm die Tür in den Rücken ramme und nach draußen stürze.

"Hey!" brüllt er. "Warte!"

Ich renne durch das Gras und reiße die Schiebetür zur Halle auf. Werfe einen Stapel Plastikeimer um, der krachend zu Boden fällt. Panik steigt in mir auf. Weg hier, nur weg. Ich hetze durch die Halle, stemme die zweite Tür auf und renne direkt in Ole hinein, der schwer atmend und mit schlammbespritzer Hose vor mir steht. Er ist außenrum gelaufen, um mich einzuholen. Durch die Mistpfütze.

Er packt mich an den Schultern und macht den Mund auf. Bevor er etwas sagen kann, reiße ich mich los und renne weiter. Stürze am Wohnhaus der Jepsens vorbei, vor dem gerade eine missmutig aussehende Frau in ihre Gummistiefel steigt.

Ich erreiche den Begrenzungspfahl, packe mein Fahrrad am Sattel und springe auf. Meine Lungen brennen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein silberner Kastenwagen mit der Aufschrift RINDERBESAMUNG PETERSEN in die Einfahrt biegen will und aufgeregt hupt, als ich haarscharf an seiner Motorhaube vorbeirase.

Ich fahre so schnell ich kann und klaube mir dabei die Taschentuchfetzen aus dem Ohr. Überhole einen Mopedfahrer, der auf seiner himmelblauen Maschine ohne Helm und mit kurzen Hosen, es ist Februar!, durch die Gegend eiert und einen Riesenschreck bekommt, als ich an ihm vorbeipresche. Der Wind peitscht mir so stark ins Gesicht, als würde er mich pausenlos ohrfeigen. Ich überquere die Landstraße, holpere über die Bodenwellen auf dem Radweg, vorbei an dem krummen Apfelbaum. Durch die leere Landschaft, die nach Hause führt. Wie sehr will ich diese Leere in mein Innerstes verpflanzen, in dem es tobt und scheppert.

Dritter Strang: Nicht trommeln. Nie wieder.

Denn wenn ich es tue, werde ich mich verändern. Dinge machen, die sie gemacht hat. Die Menschen verletzen, die ich liebe, und davon gibt es noch genau einen. Das Tau hat einen Riss bekommen, aber der Knoten aus Verzweiflung, der in meinem Hals sitzt, wird mit jedem Atemzug dicker und fester.

Es fängt an zu schneien. Mein Gesicht und meine Hände sollten eiskalt sein, aber alles an mir glüht und ist voller Bumm, TSCHACK und Tick. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen wie der Schlegel der Bassdrum gegen das Fell.

Ein paar Meter vor unserem Haus halte ich an. Schiebe mein Mountainbike ins Carport und lehne es neben den alten VW-Bus an die Wand. Stolpere zum Eingang der Schneiderei. Umklammere den kalten Messinggriff der Tür und drücke sie auf. Es bimmelt. Papa steht im hinteren Bereich der Werkstatt, an seinem unaufgeräumten Zuschneidetisch, und vermisst ein Stück Stoff. Er blickt hoch, und ein Strahlen breitet sich auf seinem Gesicht aus.

"Süße", ruft er und kommt auf mich zu. Unterwegs erlischt sein Strahlen. Heute kann ich ihm nichts vormachen.

"Was hast du, Mona?" fragt er besorgt und nimmt meine Hände in seine.

Das genügt. Seit Jahren reiße ich mich zusammen. Lasse das bisschen Licht, das noch in mir ist, in seine Richtung scheinen. Aber jetzt gelingt es mir nicht mehr. Ich spüre, wie die Tränen von innen mein Gesicht zusammenziehen.

"Süße. Nein." Er nimmt mich in die Arme, und ich heule los.

"Was hast du?" fragt er noch einmal und hält mich von sich weg, damit er mein Gesicht sehen kann. "Ist wieder was... passiert? In der Schule?"

Er gibt sich Mühe, unbefangen zu klingen, aber ich höre die Sorge in seiner Stimme. Den Vorfall mit Annika hat er als das verbucht, was es war - ein Ausrutscher. Es wäre sicher schlimm für ihn zu erfahren, dass seine Tochter ein zweites Mal gewalttätig geworden ist. Ganz die Mutter.

Ich schniefe und schüttle heftig den Kopf. Mein Atem wird ruhiger. Er nimmt mich wieder in die Arme und wiegt mich hin und her.

"Hast du Liebeskummer, Mona?" fragt er plötzlich.

Ich bin so überrascht, dass ich nicht reagieren kann. Liebeskummer? Wie kommt er denn auf sowas? Wer will denn mit mir zusammen sein? Ich schlucke. Aber diesmal schüttle ich nicht den Kopf.

Papa nimmt mich noch ein bisschen fester in den Arm. Er räuspert sich. Dann sagt er mit seiner besten Schurkenstimme:

"Na warte. Wenn ich den Kerl erwische, breche ich ihm jeden einzelnen Knochen in seinem jämmerlichen Leib. Muhahaharr!"

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