Lügen strafen
Prolog
Montag, 10. Juni, 2019, München
Voller Bewunderung für das Leben und die Natur blicke ich mich in dem Raum um. Ich habe mein Werk endlich vollendet. In seiner gewaltigen Pracht liegt es vor mir ausgebreitet. Zahllose Stunden habe ich damit zugebracht, das Kunstwerk so zu erschaffen, wie es jetzt ist. Im Geiste klopfe ich mir auf die Schulter und beglückwünsche mich zu diesem gelungenen Werk – ein Werk, wie es die Welt noch nie zuvor gesehen hat. Aber die Welt wird es auch nicht zu Gesicht bekommen. Niemals werde ich die Lobeshymnen der Kritiker hören, die mich für mein Talent bewundern: „Er spielt mit der Natur und erschafft Neues.“
Dabei bin ich mit einer Präzision zu Werke gegangen, wie es kein anderer je könnte.
Mein Herz klopft heftig vor Aufregung. Doch es ist eine Aufregung, die mir gefällt. Mehrere Male sauge ich den metallisch-süßlichen Duft, der im Zimmer hängt, ein und nehme ihn tief in mir auf. So wie jetzt in diesem Augenblick werde ich ihn nie mehr wieder in mir aufnehmen können. Das fühlt sich so gut an, so richtig. Eine Sentimentalität ergreift Besitz von mir, und ich stehe da und brenne alle Eindrücke in mein Hirn ein.
Schließlich ist die Zeit des Abschiednehmens gekommen. Das versetzt mir einen tiefen Stich ins Herz, denn was ich heute zurücklasse ist für lange Zeit einmal ein Teil von mir gewesen. Ein Stück von mir und auch wieder nicht. Tränen der Rührung rinnen meine Wange hinab. Zum ersten Mal in meinem schmerzvollen Leben lasse ich es geschehen.
Als ich keine Tränen mehr habe und die andächtige Stimmung vorüber ist, wende ich mich leise von meiner Galerie ab und gehe, Schritt für Schritt aus dem Leben dieser Menschen, aus dem Raum, aus dem Haus und zu meinem Wagen. Dies ist nicht die Zeit für Sentimentalitäten. Ich habe das Richtige getan. Einen allerletzten Blick erlaube ich mir allerdings noch, bevor ich den Schlüssel ins Zündschloss stecke, den Motor starte und davonfahre.
Sonntag, 7. Juli 2019
Langsam geht der Mann den Strand entlang. Der Pfad ist schmal. Zu seiner Rechten wachsen überall Büsche. Links fallen die kargen Klippen steil zum Meer hin ab. Wenn er jetzt fällt, ist er sofort tot.
Er pfeift vor sich hin. Der Wind bläst ihm um die Ohren und es prickelt auf Seinen Wangen.
Irgendwo kreischt eine Möwe.
Der Mann geht mit erhobenem Kopf seinen Weg. Er liebt diese Landschaft, das ist an seinem Mienenspiel zu sehen. Ein Leben an einem anderen Ort kann er sich vermutlich nicht vorstellen. Die Gegend hier geizt nicht mit Einsamkeit und Stille.
Wieder schreit eine Möwe.
Die Straße kommt in Sicht, und er biegt ab. Er winkt, als wolle er jemanden in sein Haus bitten.
Irritiert fragt sich Hendrik Kammhuber, wo er ist. Sein Herz klopft. Sein Mund ist trocken. Langsam tastet er nach der Nachttischlampe. Knipst sie an. Kneift die Augen zu.
Wieder einmal hatte er diesen merkwürdigen Traum. Und wie jedes Mal weckt der Traum eine tiefe, ungestillte Sehnsucht in ihm.
Was zum Teufel bedeutet der Traum? Hat er überhaupt einen tieferen Sinn? Wer ist der Mann? Da er jedes Mal in einem dichten wabernden Nebel geht, kann er ihn nicht erkennen. Angeblich haben Träume ja eine tiefere Symbolik, die vom Träumenden entschlüsselt werden muss und ihn dann in seine unbewussten Geheimnisse führt. Er gähnt. Trift das aber auf diesen Traum zu? Er reibt sich die Augen und gähnt. Vielleicht sollte er sich einmal mit der Traumdeutung befassen.
Er sieht auf die Leuchtziffern seines Digitalweckers. Viertel vor vier. Soll ich mich noch einmal umdrehen?
Der Traum hat ihn aufgewühlt.
Mit einem Seufzen erhebt er sich.
Das schrille Läuten des Telefons lässt ihn zusammenzucken. Er atmet ein und aus, ein und aus. Er Reibt sich den Schlaf aus den Augen. Er muss unbedingt den Ton ändern, wenn er nicht eines Tages an einem Herzinfarkt sterben will.
„Die Pflicht ruft“, hört er, noch bevor er sich gemeldet hat, die heisere Stimme seiner Kollegin Kriminalkommissarin Lea Leitner, von allen nur L. L. genannt.
Er antwortet mit einem Knurren. Widerlich. Er hasst es, zur Nachtschlafenden Zeit gestört zu werden. Aber Rufbereitschaft bedeutet nun einmal, jederzeit mit einem Einsatz rechnen zu müssen.
„Setz dich in dein Auto und komm“, fährt L.L. fort und gibt ihm eine Adresse am Stadtpark von Pasing durch.
Ein Kaffee und eine Zigarette wären jetzt gut.
„Gib mir noch einen Moment.“
Sie räuspert sich. „im Moment ist Juppi mit seinem Team noch bei der Arbeit und durchkämmt das Haus.“
„Ok. Juppi mag es sowieso nicht, wenn ich so früh aufkreuze und ihm seinen Tatort womöglich kontaminiere.“ Er schnappt sich die Schachtel Zigaretten vom Nachttisch und fischt Eine heraus.
„Mich und Flo hat er schon in den Hof verbannt.“
„O ich höre schon die wüsten Flüche, die er zum Himmel schickt.“ „Aber er ist gut“, denkt er, während er sich die erste Zigarette des Tages anzündet und einen tiefen Zug nimmt. „Was erwartet mich?“ Er nimmt einen weiteren langen Zug und schließt die Augen einen Moment.
„Das musst du dir schon selbst ansehen“.“
Zum Teufel was soll das?
Sonst ist sie doch auch in der Lage, mir eine Beschreibung der Auffindesituation zu geben.
Er knurr und sagt: „Ah verstehe.“ In Wahrheit aber versteht er nichts. Vor allem aber begreift er nicht, weshalb L. L.ihm, nicht, wie üblich, alle Details beschreibt.
„Dich erwarten eine tote Familie: Mutter, Vater und zwei Töchter.“
In der Leitung knackt es, und die Verbindung ist getrennt.
Er raucht die Zigarette zu Ende undduscht dann. Den Kaffee holt er sich vom Schnellrestaruant mit dem gelben M, das 24 Stunden geöffnet hat.
„Die Pflicht ruft“, hört er, noch bevor er sich gemeldet hat, die heisere Stimme seiner Kollegin Kriminalkommissarin Lea Leitner, von allen nur L. L. genannt.
Er antwortet mit einem Knurren. Widerlich. Er hasst es, zur Nachtschlafenden Zeit gestört zu werden. Aber Rufbereitschaft bedeutet nun einmal, jederzeit mit einem Einsatz rechnen zu müssen.
„Setz dich in dein Auto und komm“, fährt L.L. fort und gibt ihm eine Adresse am Stadtpark von Pasing durch.
Ein Kaffee und eine Zigarette wären jetzt gut.
„Gib mir noch einen Moment.“
Sie räuspert sich. „im Moment ist Juppi mit seinem Team noch bei der Arbeit und durchkämmt das Haus.“
„Ok. Juppi mag es sowieso nicht, wenn ich so früh aufkreuze und ihm seinen Tatort womöglich kontaminiere.“ Er schnappt sich die Schachtel Zigaretten vom Nachttisch und fischt Eine heraus.
„Mich und Flo hat er schon in den Hof verbannt.“
„O ich höre schon die wüsten Flüche, die er zum Himmel schickt.“ „Aber er ist gut“, denkt er, während er sich die erste Zigarette des Tages anzündet und einen tiefen Zug nimmt. „Was erwartet mich?“ Er nimmt einen weiteren langen Zug und schließt die Augen einen Moment.
„Das musst du dir schon selbst ansehen“.“
Zum Teufel was soll das?
Sonst ist sie doch auch in der Lage, mir eine Beschreibung der Auffindesituation zu geben.
Er knurr und sagt: „Ah verstehe.“ In Wahrheit aber versteht er nichts. Vor allem aber begreift er nicht, weshalb L. L.ihm, nicht, wie üblich, alle Details beschreibt.
„Dich erwarten eine tote Familie: Mutter, Vater und zwei Töchter.“
In der Leitung knackt es, und die Verbindung ist getrennt.
Er raucht die Zigarette zu Ende undduscht dann. Den Kaffee holt er sich vom Schnellrestaruant mit dem gelben M, das 24 Stunden geöffnet hat.
Es ist viertel vor vier als Hendrik das Steuer voller Ungeduld an der Pasinger Straße nach rechts reißt und in die Lochhammer Straße biegt. Rechts und links heben sich die Silhouetten der Häuser wie undefinierbare, Schatten grauer Geister aus der Dunkelheit ab. Schatten aus seiner Vergangenheit.
Als Kind stand er fast jede Nacht auf und schlich sich aus dem Haus. Keine einzige Laterne brannte auf dem Hof. Nur der Schirm des fahlen Mondlichts begleitete ihn. Zuerst wirkte die Silhouette der Häuser auf dem Hof fast übermächtig. Trotzdem zog sie ihn magisch an. Während er leise durch den Hof schlich, immer darauf bedacht, dass ihn die Feierabendschwestern im sogenannten Feierabendhaus nicht erwischten, hauchte er jedem Haus eine eigene Persönlichkeit ein und dachte sich Geschichten aus. Sein Haus war der Detektivbau, weil er dort wohnte. Das Feierabendhaus nannte er den Ganovenbau, den er besiegen musste. Später nahm er eine Taschenlampe auf seine Streifzüge mit, wobei er darauf achtete, dass sie nur ein kleines Licht spendete. Er Schwang den Lichtkegel der Lampe wild umher und fand Gefallen an dem Spiel aus Licht und Schatten.
Als er älter wurde blieb die Faszination erhalten. Oft setzte er sich auf den Rasen in der Mitte des Hofs und rauchte, während er das wilde Spiel seiner Taschenlampe gespannt betrachtete.
Er genießt es, durch die noch leeren Straßen zu fahren. Während er den Kreisverkehr passiert und die erste Ausfahrt nimmt, um in die Friedenstraße zu biegen, fragt er sich, wo L. L. ihren sonst üblichen Sarkasmus gelassen hat als er sie nach der Auffindesituation gefragt hat. Etwas Schreckliches muss geschehen sein, denn der jungen Nachwuchskollegin, die erst im letzten Sommer zum Team gestoßen ist, verschlägt so schnell nichts die Sprache.
Als er die Pembaurstraße nach rechts fährt und die Neufeldstraße beginnt, kann er bereits von weitem die Absperrbänder der Polizei flattern sehen. Drei Polizeifahrzeuge, deren Blaulichter in der Morgendämmerung rhythmisch zucken, sowie mehrere Zivilfahrzeuge stehen bereits dort.
Offensichtlich sind mehrere Kollegen in ihren Privatfahrzeugen zum Tatort gekommen. Er Part im Halteverbot einige Meter vor dem Absperrband.
Er stellt den Motor ab und lässt den Blick umherschweifen. Die wenigen neueren Gebäude wirken zwischen den Häusern aus den vierziger Jahren wie Fremdkörper. Die kleinen Vorgärten sind gepflegt. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend steigt er aus und zündet sich eine Zigarette an. Während er auf das Anwesen zueilt winkt er zwei jungen Polizisten zu, bei denen es sich vermutlich noch um Anwärter von der Polizeihochschule handelt und bückt sich unter dem Absperrband hindurch.
Während er den Garten durchquert sieht er sich weiter um. Hinter dem Haus liegt ein Garten mit einer großen Rasenfläche und mehreren Apfel- und Kirschbäumen. Auf der rechten Seite des Rasens befinden sich Johannisbeer- und Stachelbeersträucher. Die Luft riecht noch nach dem Regen der vergangenen Nacht. Auf dem nassen Rasen wuselt es von Polizisten. Ihre leisen Gespräche klingen in der Stille der sich zurückziehenden Nacht wie ein gleichmäßiges monotones Rauschen.
In einer Ecke entdeckt er schließlich L. L., die ausdruckslos auf einen imaginären Punkt starrt und raucht.
Vermutlich macht sie gerade wieder eine ihrer zahlreichen Nulldiäten, denn sonst raucht sie nie. Sie ist kalkweiß im Gesicht.
Er atmet tief ein und geht über den Rasen auf die Kollegin zu. „Ist Juppi schon fertig?“
Die Parfümwolke von L.L. hüllt ihn ein. L.L. sieht ihn mit leerem Blick an.
Auch das ist untypisch für die Kollegin.
„Er ist mit seinen Leuten noch drin. Ich bin freiwillig rausgegangen.“
„Dann wird‘ ich mal.“
Sie zuckt mit den Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst.“
Vor der Haustüre lässt Hendrik sich von einem Polizeimeister, den er vom Sehen kennt, einen weißen Overall aus Papier, blaue Plastikschuhe und ein Paar Einweghandschuhe geben, zieht sie an und betritt das Haus. Jetztwäre ihm sogar der Duft von L. L. lieber, als der Gestank, der jetzt seine Nase vergewaltigt. Reflexartig presst er beide Hände auf Mund und Nase.
Die Spur, die ihm der beißende Geruch der Verwesung aufzeigt, führt vom Hauseingang durch einen langen, schmalen dunklen Gang in eine kleine Küche, die unaufgeräumt ist. Da überall Kaffeeutensilien herumstehen vermutet er, dass hier Kaffee gekocht worden ist bevor der Täter in die Wohnung gedrungen ist. Vielleicht aber hat der Täter sich ja auch gar nicht gewaltsam den Zutritt zur Wohnung verschaffen müssen, sondern war Teil der Szene. Umsichtig durchquert Hendrik die Küche und gelangt in ein Esszimmer. Der Tisch ist gedeckt: Die Tassen und Teller sowie die Platte in der Mitte des ovalen Tisches aus Eichenholz, sind noch halbvoll, wobei sich neben zahlreichen Insekten bereits auch diverse Schimmelkulturen darauf gebildet haben.
Er balanciert auf den von Juppis Leuten ausgelegten Trittplatten, wie auf einem Schwebebalken, und gelangt in das angrenzende Wohnzimmer. Ein Wachtmeister reicht ihm den hierfür obligatorischen Mundschutz.
Im Gegensatz zu den vorangegangenen Räumlichkeiten ist das Wohnzimmer ein etwa fünfundzwanzig Quadratmeter großer, rechteckiger, heller Raum. Irgendjemand hat die Möbel an eine Seite des Raumes gestellt.
Juppi, der Kriminaltechniker, der vor fünfzehn Jahren von Thüringen nach München gekommen ist, grinst ihm zu. „Komm nur rein“, ruft er.
Natürlich, der muss ihm ja zuerst begegnen. Das Ramona es mit ihm …
Rasch schiebt er sein Privatleben beiseite, kann aber den Stich, den es ihm versetzt, dass seine Exfrau mit dem Kriminaltechniker zusammen ist, nicht ignorieren. Ihm schnürt es die Kehle zu. Er schluckt einen Kloß hinunter und atmet tief ein.
Die Kriminaltechniker haben ihre Arbeit weitgehend beendet. Auf dem Boden knieen zwei von Juppis Leuten. Der Eine ist mit den Möbeln beschäftigt, und der Andere untersucht, mit seinem Tablet und allerlei anderen Utensilien, den Boden. Juppi selbst steht neben einem Mann mit südländischem Aussehen, der, wie Hendrik weiß, Dominik heißt, der vor den Leichen auf dem Boden kauert. Allem Anschein nach weiß der dürre Kriminaltechniker nicht, wo er, bei seiner Größe, seine Gliedmaßen verstauen soll. Um ihn herum schwirrt ein Knäul aus Insekten herum.
Für das Bild, das sich Hendrik bietet, findet er keine Worte, um den Abscheu, der ihn sofort überfällt, zu beschreiben.
Eine Inszenierung. Abartig. der Täter hat Alles in Szene gesetzt.
Überall angetrocknetes Blut. Auf dem hellen Parkettboden liegen, direkt unter dem siebenarmigen Leuchter, nebeneinander angeordnet, vier hügelartige dunkle, fast schwarze Gebilde, hinter denen er die Leichen vermutet.
„Eine Familie“, murmelt Dominik, der gerade eine Linie um eine Person zieht, um bei einer späteren Untersuchung des Tatorts die genaue Lage der vier Opfer zu haben.
„Soweit ich es bis jetzt sagen kann, befindet sich auf der linken Seite eine ältere Frau, die wohl die Mutter war, und zwei Jüngere, die Kinder. Dominik zieht eine Kamera aus einer Tasche und macht Fotos.
Hendrik kann nur eine Wolke aus Würmern erkennen.
„Daneben“, Dominik steckt die Kamera weg und tippt mit einem behandschuhten Zeigefinger auf den rechten undefinierbaren Haufen, „liegt ein älterer Mann, der Vater, vermute ich.
Der Kaffee.
Hendrik schluckt.
“ Der Täter hat den Toten das Gehirn, die Augäpfel, den Kehlkopf und das Herz entnommen“, doziert Dominik.
Beim Anblick der leeren Augenhöhlen, in denen es sich eine große Schar von Larven gemütlich gemacht hat, muss Hendrik einen Brechreiz unterdrücken. Er fragt sich, warum ihn dieser Fall so mitnimmt.
„Falls du die entfernten Innerreihen suchst“, der eifrige Techniker, der kaum älter als dreißig sein kann, deutet auf die Wand, „die befinden sich da.“ Ich habe sie schon vorsichtig von dem größten Insekten- und Larvenbefall befreit.“
Hendriks Blick folgt dem Finger.
An der besagten Wand hat der Täter eine Galerie aus vier Bildern errichtet. Oben hat er jeweils das Gehirn angebracht, darunter die Augen. Darunter befindet sich, … ihm stockt der Atem.
„Der Kehlkopf“, erklärt Dominik, der seinen Blick bemerkt haben muss.
Unterhalb des Kehlkopfs befindet sich das Herz. Auch hier tummeln sich allerlei Insekten und Larven.
Kann ich dieses Bild jemals vergessen?
„Eine Botschaft“, murmelt er, „der Täter will uns eine Botschaft hinterlassen.“
„Fragt sich nur welche““, murmelt Dominik und grinst, „aber damit muss ich mich ja nicht herumschlagen.“
„Der Kehlkopf“, Hendrik deutet auf das Organ und wirft dem Kriminaltechniker einen fragenden Blick zu, „ist das … also hängt das in der richtigen Position?“
„Der hängt da richtig herum. Aber das kann man auch jederzeit im Internet recherchieren.“
Erneut sieht er zur Wand. Um die Organe hat der Täter einen runden Rahmen gezogen. Er vermutet, dass es sich bei der rotbraunen, fast schon schwarzen, Farbe, um bereits getrocknetes Blut handelt. „Der Täter hat die Organe säuberlich an der Wand drapiert“, bringt er gerade noch heraus, bevor er sich abwendet und lautstark auf den Parkettboden erbricht.
„Kannst du nicht wenigstens in den Garten gehen?“, fährt Juppi ihn an.
Hendrik spuckt ein letztes Mal aus. „Abscheulich.“
„Dein Gekotze auf jedem Fall.“
„Um jedes Organ hat der Täter Linien gemalt.“, sagt Dominik.
Widerwillig wendet Hendrik sich noch einmal der Wand mit den Bildern zu. „Soll wohl eine Art Bilderrahmen darstellen, ähnlich einer Galerie.“
„Verfluchte Scheiße du kontaminierst mir den Tatort mit deinem Kunstwerk hast du uns sowieso schon Spuren vernichtet“, brummt Juppi gereizt.
Aber die Gereiztheit des Kollegen ist Hendrik gewohnt.
Er mustert Hendrik. „Jetzt mach aber, dass du rauskommst, bevor du uns auch noch auf sämtliche Fußabdrücke kotzt“, schreit er.
Hendrik sieht ein, dass es besser ist, den Rat des Kriminaltechnikers zu befolgen, und verlässt das Haus, um nach L. L. zu suchen.
Inzwischen ist es draußen hell geworden. Bald stehen die ersten Frühaufsteher auf. Hendrik bleibt einen Augenblick vor dem Haus stehen und füllt die Lungen mit der noch frischen Luft. Nach der drückenden Hitze im Haus, tut die kühle Luft gut.
L.L. steht immer noch an derselben Stelle und raucht.
Hendrik stellt sich dazu, hält die Hand auf den Magen würgt und spuckt abermals einen Schwall Magensäure auf den Rasen, während seine Linke eine Schachtel Lucky Strike Red. aus der Hosentasche zieht. Mit der rechten Hand zieht er ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, wischt sich den Mund und steckt es weg. „So was hab ich ja noch nie gesehen.“
L.L. grinst schief und sagt: „Ist mir auch so gegangen.“
„Was denkst du?“
L. L. schüttelt den Kopf.
„Eine Familie“, sinniert er.
L. L. bläst einen Rauchring in Richtung der Polizeifahrzeuge. „Vielleicht.“
„Zuerst dachte ich, der Täter wäre einer der Besucher gewesen. Aber auf dem Tisch waren vier Gedecke“, sinniert er.
„Genau so viele wie Leichen“, stellt L. L. fest und spuckt auf den Boden.
Der Täter gehörte also nicht zur Kaffeegesellschaft.“ Er blickt zum Himmel hinauf, wo die Wolken gerade vereinzelt Löcher bekommen. „Hat der Täter sich gewaltsam Zutritt verschafft oder war er der Familie bekannt, und sie hat ihn ins Haus gelassen?“
L. L. macht eine abwehrende Bewegung mit der freien Hand und sagt: „Das muss Juppi mit seinen Leuten klären. „Er wirft ihr einen mahnenden Blick zu.
Wieder einmal wie schon so oft, ärgert er sich darüber, dass L. L. alles den Spurentechnikern überlässt und sich selbst keinerlei Gedanken macht. „Die KT kann dir keine Erklärung liefern, sondern nur Untersuchungsergebnisse. Aus diesen Fakten musst du selbst deine Schlüsse ziehen.“
Sie murmelt irgendetwas, das er nicht versteht. Dabei klingt ihre heisere Stimme noch tiefer als sonst.
„Du musst die Fakten, die die Untersuchungsergebnisse liefern, zu einem Bild zusammensetzen wie kleine Puzzleteilchen. Am Ende musst du das Gesamtbild, das du erhältst, interpretieren.“ Ein leises Geräusch hinter dem Strauch lässt ihn abrupt verstummen. „Wer hat sie gefunden?“, fällt ihm ein.
„Frau Beinert, eine Nachbarin. Fanny ist gerade bei ihr und spricht mit ihr.“
„Um diese Zeit?”, wundert er sich.
„Über das Pfingstwochenende war die Nachbarin verreist. Nach ihrer Rückkehr waren die Patschkes verreist.“ Sie nimmt einen Zug von ihrer Zigarette und bläst den Rauch zum Himmel. „Sie hat schon länger nichts mehr von ihnen gehört, was ihr keine Ruhe gelassen hat.“ Sie blickt zu dem Haus der Nachbarin hinüber. „Sie war über das Wochenende verreist und ist erst nach Mitternacht zurückgekehrt. Weil sie einen Ersatzschlüssel zum Haus hat, wollte sie, vor dem Schlafengehen, noch schnell nachsehen ob bei den Nachbarn alles in Ordnung ist.” L.L. wendet sich ab und lässt ihn stehen.
Er sieht ihr noch nach wie sie zu Florian Hageneder hinüber geht.
Aber viel Zeit für sich hat er nicht, denn im Haus öffnet sich ein Fenster und Dominiks Gesicht erscheint. „Komm doch mal bitte rein“, schallt es über den Hof. Es klingt beinahe wie ein Jodler.
Um Himmelswillen, nicht auch noch das. Aber Pflicht ist Pflicht.
Juppi bedenkt Hendrik mit einem warnenden Blick als er das Wohnzimmer ein zweites Mal betritt.
Einen Augenblick bleibt er im Türrahmen stehen und hält die Luft an.
Mit einer Handbewegung bedeutet Dominik ihm, sich neben ihn zu stellen. „Der Täter hat uns wohl eine Obduktion ersparen wollen“.“ Inzwischen hat er die Leichen entkleidet. Er tippt mit einem behandschuhten Zeigefinger auf die Überreste der Frau. Grinsend fährt er fort: „Er ging wohl davon aus, dass eine Obduktion nicht mehr notwendig sein würde.“ Sein Grinsen wird schief. „Der Täter war so freundlich und hat, wenn auch nicht fachgerecht, diese vorweggenommen.“ Er unterbricht sich, wirft mit der linken Hand seinen hüftlangen schwarzen Zopf nach hinten und betrachtet die Wand. „Es handelt sich um Mitglieder einer Familie. Zumindest soweit ich das zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, weisen die beiden jüngeren Personen gewisse Ähnlichkeiten mit den Älteren auf, die diesen Schluss zulassen. Genaueres kann ich natürlich nur nach eingehender Untersuchung der Spuren im Labor sagen auch die Obduktion wird, sofern es angesichts der langen Spur, die die Leichen hier schon liegen, und der fortgeschrittenen Verwesung, ihren Teil zu den Ergebnissen liefern müssen.“.“
Also hat Hendrik den richtigen Schluss gezogen Es handelt sich tatsächlich um eine Familie, die beim sonntäglichen Kaffeenachmittag vom Täter überrascht worden ist. Widerwillig wirft er einen Blick auf die vier von Insekten, Larven und Würmern okkupierten Leichen zu seinen Füßen.
Dominik macht wieder Fotos.
„Wie lange liegen sie bereits hier?“
Dominik zuckt mit den Schultern. „Schwer zu sagen.“ Er schiebt die Kamera in eine Tasche. „Aber anhand der Insektenpopulation vermute ich, dass es wohl mindestens vier Wochen sein dürften.“ Er klopft auf eine Stelle am Körper. Sofort wirbelt er eine Wolke aus Larven und Insekten auf. „Hier hat bereits schon der Prozess der Zersetzung begonnen.“ Er blickt zu Hendrik auf.
„Das, was wir hier sehen können, geschieht so nach ungefähr einem Monat.“
Hendrik öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder.
„Wie lange die hier genau liegen, wird die Obduktion klären.“ Er bückt sich und sammelt seine Utensilien zusammen, die er in seinem Koffer verstaut.
Voller Ekel, und mit angehaltenem Atem, richtet Hendrik den Blick noch einmal auf die Wand. „Sind Hendrik blickt wieder zur Wand. die Linien aus Blut?“
„Getrocknet, dann dunkelt es nach.“, erwidert Dominik ungeduldig, „aber ich würde sagen ja.“
„Wie sind sie getötet worden?“
Dominik streift die Handschuhe ab, wirft sie in den Koffer und antwortet: „Vermutlich hat der Täter ihnen die Halsschlagader fein säuberlich mit einem Messer, vielleicht einem Drangiermesser, durchgeschnitten. Dann hat er den Kehlkopf entnommen.“ Er deutet auf den Kopf der Frau. „Irgendwann hat er, die Schädeldecke geöffnet.“
Hendrik stockt der Atem. „Kann ein Laie das?“
„Mit einer säge“, erwidert Dominik, „Die Schädeldecke ist, soweit ich das beurteilen kann, nicht fachgerecht geöffnet worden. Als der Täter fertig war, hat er die Opfer fein säuberlich zusammengestellt.“
„Haben die Opfer noch gelebt?“
Dominik schüttelt den Kopf. „Vermutlich sind die Organe postmortal entnommen worden, zumindest hoffe ich das mal. Alles Weitere muss die Obduktion klären“
„Hendrik nimmt all seinen Mut zusammen und nähert sich vorsichtig der Wand, als ob von ihr eine Gefahr ausgeht. Einen Augenblick hält er die Luft an und schließt die Augen. In Gedanken atmet er tief ein. Danach erst ist er so weit, dass er in der Realität ankommen, und die Augen wieder öffnen, kann. Unter Aufbietung all seiner Kräfte zwingt er sich dazu, die Bilder zu betrachten. Langsam geht er an den vier Kunstwerken vorüber und nimmt, wenn auch immer noch mit großem Ekel und Abscheu, jedes in sich auf.
Wie merkwürdig es doch ist. Nimmt man die Augen aus dem Kopf und betrachtet sie ohne jeden Zusammenhang, verlieren sie jeglichen Glanz. Es liegt kein Ausdruck mehr in ihrem Blick.
Eine Zeitlang betrachtet er die Wand.
Als er auf Juppi zugeht, fällt ihm ein Text an der Wand neben der Türe auf, der gerade von einem Kriminaltechniker fotografiert wird. Er stellt sich neben den hochgewachsenen Mann, der ganz in seine Arbeit vertieft ist und liest.
„Kannst du schon was dazu sagen?“, wendet sich Hendrik an Juppi, der auf sein Tablet starrt.
„Juppp. Das ist relativ“, murmelt er, „sagen kann ich immer was.“
Hendrik schnaubt.
In der Vergangenheit hat er des Öfteren mit Jürgen Stahl zusammenarbeiten müssen, und jedes Mal wurde seine Abneigung gegen ihn größer. Zwar ist er ein brillanter und kompetenter Techniker, das muss man ihm lassen, aber die Lektionen hinsichtlich der Manieren scheinen zu kurz gekommen zu sein.
„Hast du schon was?“
Juppi blickt auf, bläst in der für ihn typischen Art die Backen auf und lässt die Luft mit einem langgezogenen „Och“ entweichen.
„Interessant.“
„Was noch?“, drängt Hendrik.
„Was willst du denn hören?“, fragt Juppi in seinem unverkennbaren Thüringer Dialekt.
Hendrik antwortet mit einer Handbewegung, die den gesamten Raum einschließt.
„Die Möbel dürften aus massivem Fichtenholz sein soweit ich das beurteilen kann“, erwidert Juppi, dessen Blick der Bewegung gefolgt ist. „Naja“, fährt er achselzuckend fort, „den Rest musst du dir irgendwie zusammenreimen. Das ist nicht meine Aufgabe.“
Wut keimt in Hendrik auf, aber er schluckt sie hinunter. Er mag die schludrige Art des Thüringers nicht. „Was sonst noch?“
„Na ja“, Juppi dreht sich auf der Stelle und tut so als blicke er sich im Raum um, „Du siehst ja, was hier los ist. „Er deutet auf einen Mann mit blaugrünen schulterlangen Haaren, der Fotos von den Organen an der Wand macht. Er gleicht einer Couchpotato, und es sieht aus als ob die scheckkartengroße Digitalkamera gleich aus seinen kurzen, dicken Fingern fällt.
„Die Fußspuren auf dem Boden muss ich noch auswerten.“
Hendrik bemerkt einen Fleck von undefinierbarer Farbe auf dem Rücken des Technikers.
Woher der stammte, will er lieber nicht wissen. „Wann können wir mit dem vorläufigen Bericht rechnen?“
Wieder bläst der Kriminaltechniker die Wangen auf und lässt die Luft geräuschvoll entweichen, bevor er konstatiert: „Schwer zu sagen. Vielleicht“, er blickt auf die Armbanduhr am rechten Handgelenk.
Lieber Himmel! Bei dem ist doch Alles verkehrt.
Ein anderer Techniker krabbelt mit einer Kamera auf dem Boden, um die merkwürdigen Flecken, auf denen die Leichen gelegen haben, zu fotografieren. Dominik hat sie inzwischen beiseite gerückt.
Hendrik unterdrückt einen neuerlich aufkeimenden Würgereiz.
„Sagen wir mal Donnerstag oder Freitag.“
Fauler Hund.
So lange will Hendrik nicht warten. Im Geiste macht er sich eine Notiz, dass er sich unbedingt über die Trägheit von Juppi beschweren muss. So kann das nicht weiter gehen. Erneut steigt Wut in ihm auf. „Mittwoch.“
Damit wendet er sich ab und überlässt die Männer von der Kriminaltechnik sich selbst.
„Immer schön langsam“, ruft Juppi ihm noch nach.
Nein, Hendrik will sich jetzt nicht ärgern. Jetzt gibt es andere Dinge für ihn zu tun.
„Kann ich“, Er blickt sich um und deutet auf den Flur hinaus.
Juppi nickt und bläst wieder die Backen auf.
Hendrik durchquert den Flur und geht eine Wendeltreppe aus Holz nach oben. Um sich ein Bild von den Opfern zu machen, will er sich die Räume des Hauses ansehen. Räume verraten viel über ihre Bewohner, es ist als lebte ihr Geist noch fort.
Oben befindet sich, neben einer Toilette, ein geräumiges und gepflegtes Bad und das Schlafzimmer der Opfer. Nichts Besonderes.
Aber vor den letzten Räumen verharrt er einen Augenblick. Sie scheinen unbewohnt zu sein. Hier stehen jeweils ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. Vermutlich haben sie, seit dem Auszug der beiden Kinder, keinen Bewohner mehr beherbergt. Aber weshalb drei Räume?
Irgendetwas, da ist er sich sicher, ist hier ganz und gar merkwürdig. Alles ist so unpersönlich. Wo sind die üblichen Familienfotos?