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Feilkode 418

Spiegel

Spiegel · Romane

Ein Jahr nach dem Familienmassaker erwecken die Erinnerungen des einzig überlebenden Teenagers den Mörder zum Leben.

Hva vil du med boka?

Für den Alltag klingt es langweilig - für Thriller ist es eine explosive Mischung: Ich habe Germanistik, Soziologie und Psychologie studiert. Vom Werbetexter wechselte ich in den Brennpunkt psychologischer und soziologischer Arbeit als Integrationsfachkraft eines Augsburger Jobcenters. Als Autor beschäftige ich mich mit den Untiefen der menschlichen Psyche, die jeden von uns jederzeit und überall mit sich reißen können. Die Wechselwirkung von den dunklen Seiten der Gesellschaft und unserer Psyche faszinieren mich so sehr, dass ich gern andere an meinen Alpträumen teilhaben lasse.

Om forfatteren

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Ich habe Germanistik, Soziologie und Psychologie in Augsburg studiert. Heute arbeite ich im öffentlichen Dienst, freiberuflicher Texter und Songwriter. Jeden Tag schreibe ich: kurze Vermerke, längere ...

Spiegel

 

01

 

„Lasst mich raus! Doktor Joschua! Bitte holen Sie mich hier raus!“ Der Junge hielt die Luft an. Schweiß rann ihm die Schläfen hinab und Tränen liefen ihm ins Ohr.

„Nicht bewegen!“, rief eine körperlose Stimme.

Er versuchte, still zu halten, doch es juckte überall und ein Gefühl der Panik breitete sich in seinem Brustkorb aus. Verzweifelt presste er die Lider aufeinander und flehte, dass die Welt aufhörte, sich um ihn zu drehen.

Das Ungetüm summte und schob ihn wie auf einer feuchten Zunge aus der Maschine, in der sie ihn lebendig begraben hatten.

Das grüne Hemdchen klebte an ihm wie seine Haare – wie ein Teil seines Körpers. „Wo ist Doktor Joschua?“. Er versuchte, sich aufzusetzen und kippte einfach zur Seite.

Bevor er von der Pritsche fiel packte ihn ein starker Arm und bog ihn zurück. „Nur der Kreislauf, Kleiner.“

Nur der Kreislauf. Sicher. „Mir ist schlecht.“ Seine Kehle fühlte sich an, als hätte er Schmirgelpapier geschluckt.

Sicher hatte man ihm nach den Anfällen heute Morgen gesagt, was ihn erwartete. Wahrscheinlich hatte man ihm alles erklärt und sogar gezeigt. Aber manchmal sprachen die Menschen nicht mit ihm. Sie sprachen mit sich selbst und er stand nur daneben. Auf jeden Fall sprachen sie eine fremde Sprache.

„Das kommt vom Kontrastmittel. Das ist das, was dein Inneres im MRT sichtbar macht.“

Der Junge starrte auf seine Hände und überlegte, ob er wirklich wissen wollte, was da drin vor sich ging. „Was fehlt mir?“

Eine Kälte aus Eis und Fleisch legte sich auf seinen Oberschenkel. Es fühlte sich scharf an und alles in ihm zog sich schmerzhaft zusammen. „Eine Schwester bringt dich zurück ins Untersuchungszimmer. Dann sehen wir weiter, in Ordnung?“

Er nickte erschöpft. Fragen, die keine waren, bedeuteten meist nichts Gutes. Hier galten die Gesetze einer anderen Welt. Mit anderen Göttern und anderen Sprachen. Smalltalk war nur eine davon. Smalltalk hielt die Wände zusammen.

„Kannst du selbst laufen?“ Eine untersetzte Schwester tauchte wie aus dem Nichts auf und half ihm von der Pritsche auf den eiskalten Boden. „Alle nennen dich Maus, richtig?“

Maus nickte und spürte, wie er instinktiv an dem kleinen Patientenband um sein Handgelenk zerrte. „Kann ich eine Hose...?“

Aber die Schwester war bereits an der Tür. Während er in Boxershorts und einem grünen Krankenhaushemd aus dem Raum tappte, spürte er den bohrenden Blick des Arztes in seinem nackten Rücken, wie von einer Schlange auf Größe und Gewicht abgeschätzt.

Auf dem grauen Linoleumgang stieg Maus dieser unverwechselbare Geruch in die Nase. Desinfektionsmittel und Tee. Die Räume, die Korridore und sogar die Neonröhren, in denen das Ungeziefer glücklich verreckte, hatten keine Geschichte. Alles wurde gereinigt und sterilisiert. Jedes Gedächtnis gelöscht. Die Werkzeuge der Ärzte und Pfleger wurden luftdicht verpackt und in Reih und Glied auf rasiermessergrauen Regalen aufgebahrt. Der einzige Teil der Geschichte, der hier erzählt wurde, war das Ende.

Die Krankenschwester wackelte neben ihm her und grüßte jeden Patienten mit mütterlichem Lächeln. Maus hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Er wusste, dass er trotzdem von allen gesehen wurde. Doch er sah ihre Blicke nicht, ließ sie nicht in sich dringen und alles durchschauen. Er wollte wenigstens so tun, als wäre er jemand.

„Wie fühlst du dich?“ Die Krankenschwester geleitete ihn zum Ende des Flurs, wo an jeweils drei Fahrstühlen Patienten, Besucher und Personal vom Untergeschoss bis in den 15. Stock des Augsburger Zentralklinikums brachte.

Maus drehte den Kopf zur Seite und auf eine der Doppeltüren aus Aluminium, in der er zwei schemenhafte, gleichgroße Gestalten ausmachte. „Ich will nach Hause!“ Er schluckte den Rest des Satzes hinunter zu all den wütenden Gedanken. Tränen stiegen ihm in die Augen und sein Kinn bebte. Am liebsten hätte er sie angeschrien, sich umgedreht und wäre selbst in die Notaufnahme zurückgelaufen. Barfuß. Doch seit einem Jahr wurde ihm Hilflosigkeit und Abhängigkeit antrainiert. In diesem Labyrinth aus Korridoren, Stationen und Flügeln hätte er sich niemals zurechtgefunden. Alles sah gleich aus. Sogar die Leute, die ihnen begegneten, glichen sich immer mehr. Als säße er in einem Karussell.

Sein Puls beschleunigte sich, als es überall um ihn herum klingelte. Rote Pfeile blitzten auf. Sie alle deuteten nach unten. Maus schluckte, seine Hand fing den ausgemergelten Körper an der kalten Türe ab.

„Ist alles in Ordnung?“

Die Türen teilten sich und Maus fiel einfach nach vorn. Aufgeregte Schreie. Staubiges Grün und der Gestank von Deodorant und Kaugummi. Heiße Finger packten ihn an jeder Stelle seines Körpers, hievten ihn auf die Beine. Eine Schar an Gesichtern sah ihn besorgt an. Von oben bis unten.

„Alles in Ordnung, Kleiner?“

„Fassen Sie mich nicht an!“

Die Mienen wechselten von Besorgnis zu Empörung. Die Finger ließen ihn frei, sodass er in das Innere des Aufzugs stolpern konnte.

Die Schwester dankte den Gesichtern und trat neben ihn.

Maus wusste nicht, wohin er sich drehen sollte. Die verspiegelte Rückwand mied er um jeden Preis. Doch auch den Blick der Schwester ertrug er nicht.

Für die kurze Fahrt presste er die Lider aufeinander und versetzte sich in den Wald hinter dem Haus seiner Eltern. Ein Trick, den Doktor Joschua ihm beigebracht hatte, wenn er kurz vor einem Anfall stand. Leise zählte er bis drei. Dann öffnete er die Augen. „Bitte entschuldigen Sie.“

Die Schwester setzte zu einer Erwiderung an, legte dann aber eine Hand auf seine Schulter. Beinahe hätte Maus sie abgeschüttelt. Er hasste ihr Mitleid, ihr verständnisvolles Schweigen. Aber am meisten hasste er sich selbst für diese Gefühle, für seine Ohnmacht und für die Tränen, die ohne Vorwarnung kamen. Als sich die Aufzugtüren endlich öffneten, ließ der Hass langsam nach.

Maus hatte keine Ahnung, auf welchem Stockwerk sie waren oder was ihn hier erwartete. Hier sah es aus wie auf dem Stockwerk zuvor. Der Gestank war der gleiche und selbst die Krankenschwester passte ihre Schritte dem Summen und Piepsen an, das den Flur erfüllte wie einen Urwald.

„Hier wären wir!“ Die Schwester zog eine Schiebetür von vielen zur Seite und schob ihn in den fensterlosen Untersuchungsraum, in den man ihn vor wenigen Stunden gebracht hatte. „Jetzt kannst du dich wieder anziehen.“ Sie dehnte ihre Mundwinkel zum Abschied. „Frohe Ostern, Maus!“.

Erschöpft von all den Untersuchungen schlüpfte Maus aus dem nassen Stück Stoff wie aus einer zweiten Haut, die ihm nicht passte. Das Patientenhemd legte er auf die Liege vor sich. Wie viele hatten dieses Hemd vor ihm an? Wie viele Menschen wurden hier eingeliefert, angezogen, gewogen, behandelt, geheilt und entlassen? Wie oft wurde dieses Hemd gewaschen und neu verwendet?

Es war nur ein Stück Stoff. Für die, die geheilt wurden und die, die nicht geheilt wurden. Es war Routine, Teil des Krankenhaus-Alltags. Einer Maschinerie aus Geld gegen Gesundheit. Nur war er kein Teil davon. In seinem Fall griffen die kleinen Rädchen nicht ineinander.

Nachdem er sich angezogen hatte, ließ er sich mit pochenden Kopfschmerzen auf einen Stuhl fallen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich nach einer Schmerztablette umzusehen. Doch von Pillen hatte er in letzter Zeit genug.

Schon bald kamen die Ergebnisse der Stuhlproben, Urinproben, Blutproben und sämtlicher anderer Dinge, die er von sich hatte geben müssen. Am unangenehmsten waren jedoch die bohrenden Fragebögen. Schlafprobleme? Ja, er schlief viel zu kurz, würde am liebsten den ganzen Tag im Bett verbringen!

Angst im Dunkeln? Nein, er suchte die Dunkelheit, versteckte sich darin, freute sich auf das Alleinsein. Es folgten weitere Fragen zu seiner Familie, seiner Kindheit. Aber er wollte nichts mehr von sich geben. Das war alles nicht für Formulare, nicht für leere Kästchen gedacht. Es gehörte nur ihm und er wollte es nicht mit einem Stift und einem Blatt Papier teilen!

Doch die Ärzte hatten sich damit nicht zufriedengegeben, hatten immer wieder nachgebohrt, bis er gesagt hatte, was er wusste: nichts.

Maus seufzte erschöpft und massierte sich die Schläfen. Ohnmächtig musste er nun auf einen Urteilsspruch warten. In einer fremden Welt mit fremder Sprache.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Als Doktor Joschua leise die Tür ins Schloss schob, ahnte Maus, dass er keine guten Nachrichten mit sich führte.

„Die Untersuchungen haben mich in meiner Befürchtung bestätigt.“ Der Therapeut seufzte. „Es tut mir leid.“

Ohne sich dagegen wehren zu können, sackte Maus in sich zusammen und weinte. Entschuldigungen waren wie die Pest. Man konnte nichts gegen sie tun.

Doktor Joschua legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eine universelle Geste. So unpersönlich wie vier Worte, die schon tausendmal benutzt worden waren. Dann erklärte er in einem ausführlichen Monolog die Ergebnisse, die keine waren.

Maus hörte nicht hin, der erste Satz war genug:

Du kannst nicht nach Hause...

„Hier.“

Maus spürte wie seine Hand geöffnet und eine Tablette hineingelegt wurde. „Die Schwester wird dir etwas zu essen bringen. Ich lasse dich jetzt allein.“

Maus blinzelte und schob sich die Tabletten in den Mund. An Joschuas Blick las er, wie hasserfüllt er ihn ansah. Der Therapeut blieb einen Augenblick verlegen in der Tür stehen, dann schloss er sie noch leiser, als er sie geöffnet hatte.

Langsam beugte sich Maus nach vorn und spuckte die Tablette in seine Hand. Er betrachtete sie eine Weile, warf sie schließlich auf den Boden vor sich und zertrat die Tablette zu Staub.

Gestern Nacht hatte er den schlimmsten Anfall seit Monaten gehabt. Doch Doktor Joschua hatte ihn nur im Krankenhaus ausgesetzt und in einen Ofen schieben lassen wie in diesem Märchen. Niemand hatte ihm den Namen genannt, den sie seiner Krankheit geben wollten. Nur die Tabletten dafür.

Und doch hallten immer wieder diese fremden Worte durch seinen Schädel. Die Worte in einer sehr bekannten Sprache: „Ich weiß nicht, was dir fehlt.“

Aber wer war er schon, wenn er nicht krank war?

 

02

 

Mice. Mein Name muss Mice sein!

Sein Atem raste.

„2 Wochen vor Ampeln. „4 Tage in Staus, 160 Stunden an Tanksäulen.“ Wütend stieß er mit dem Kopf gegen die Scheibe neben sich.

Okay, langsam. An was kannst du dich erinnern?

„An gar nichts, verdammt, ich kann mich an nichts erinnern!“ Wie von einer inneren Explosion in alle Richtungen verteilt, sprang er auf – und wurde schmerzhaft zurück in den Sitz gepresst.

„Hey, Psycho! Lass das! Oder muss ich erst nach hinten kommen und dich ruhigstellen?“ Der Fahrer, von dem er nur den ausrasierten Stiernacken und das breite Boxerkreuz erkennen konnte, hob seine Red Bull Dose wie eine Warnung in die Luft.

3 Wochen Prügelei, wie lange in Haft?

Zähl nicht auf, was du verpasst haben könntest. Zähl auf, was du weißt! Mit langen Bewegungen wischte er sich die Handflächen an seiner Jogginghose trocken. Ich sitze in einem PKW. Er sah sich um. Vor ihm saß ein Kerl, der ihm offensichtlich nicht wohl gesonnen war. Er war kein Taxifahrer und sicherlich kein Chauffeur. Wohin brachte er ihn?

Mice suchte das Dorf, durch das sie fuhren, nach etwas Bekanntem ab. Die Sonne stand hoch an einem klaren Firmament und brach sich in den Schaufensterläden, die mit bunten Eiern und Hasen dekoriert waren. Die Menschen plauderten miteinander. Fremde Menschen

Und ein Postbote trat mühsam in die Pedale seines gelben Fahrrads. Mice starrte auf das Pedal, das sich drehte und drehte und -

„Haben wir ein Problem?“

Erste Person Plural. Der Mitleids-Plural. Erst jetzt bemerkte Mice, dass Stiernacken ihn misstrauisch im Rückspiegel musterte. „Nein!“ Mehr als eines! „Wohin bringst du mich?“

Stiernacken lachte. „Sehr witzig!“

Mice sah die kleinen grauen Augen im Rückspiegel, die ihn scharf abtasteten und dann zu Schlitzen verengten. „Können wir irgendwo anhalten? Ich habe Hunger!“

„Nein, ohne Umwege zur Anstalt. Anweisung vom Boss. Und jetzt halte die Klappe, ich bin nicht dein Therapeut, nicht dein Koch und nicht dein beschissenes Tagebuch!“

Mice rutschte tiefer in den Sitz. Eine Anstalt? Vielleicht war es besser, keine Vergangenheit zu haben als die, die irgendwo versteckt in einer schimmligen Ecke seines Bewusstseins schlummerte.

Sie erreichten eine Brücke, die direkt in einen dichten Wald führte. Die Bäume rechts und links neben ihnen glühten grün und das neonweiße Sonnenlicht presste sich durch die Äste. Alles war übertrieben. Als würde jemand die Musik lauter und den Kontrast auf ein Maximum drehen, um ihn untergehen zu lassen. Ihn, den Ausrutscher, den die Welt vergessen hatte und nur mit einem Namen zurückließ. Mice. Seine Kiefer drehten sich. Die Welt drehte sich. Ihm wurde schwindlig.

Der Wagen beschleunigte, ging in die Kurven, drehte sich um ihn. Schweiß presste sich durch die Poren wie das Sonnenlicht durch die Äste. Grelles Licht reflektierte an dem silbernen Schlüsselanhänger, der ihm Zündschloss auf und ab hüpfte. Auf und ab. Auf und ab. Mice würgte lautstark, konnte niemanden warnen. Aber wer war da schon außer ihm? Mice stieß auf und presste die Hand vor den Mund.

„Verdammt, nicht jetzt!“

Der Gestank von heißem Gummi und der Ruck, mit dem er nach vorn und in die Gurte geworfen wurde, erledigte den Rest: Eine zähe Flüssigkeit schoss zwischen seinen Fingern hindurch und Tränen schossen ihm in die Augen. Mice erbrach sich auf seine Hose, sein Shirt und auf erdigem Boden. Zwischen den wiederkehrenden Würgereizen blinzelte er in die höhnisch friedliche Waldlandschaft. Er wusste noch nicht einmal, was er da auskotzte.

Stiernacken eilte von der Seite heran. „Alles in Ordnung, ich bin sein Pfleger!“ Er winkte den besorgten Joggern und Spaziergängern zu, die sich mit einer Mischung aus Neugier und Sorge dem Wagen näherten. „Bitte kommen Sie nicht zu nah, er ist ansteckend!“

Mice drehte den Kopf und sah zu den Menschen hinüber. Er wollte nach Hilfe rufen. Stattdessen würgte er, dreimal kurz, dreimal lang und dreimal kurz.

Als Mice nur noch hustete, verfrachtete Stiernacken ihn unsanft in den Sitz zurück und fuhr los. „Du dämliches Arschloch! Das wirst du mir büßen! Doktor Joschua hat sicher eine besondere Pille für dich parat!“

Informationen für Schmerz. Es gab schlechtere Tauschhandel. Mice krümmte sich auf dem Sitz und versuchte die ruckartigen Bewegungen des Wagens auszugleichen und gegen den bitteren Geschmack zu schlucken.

Als der Wagen hielt, konnte er nicht genau sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Er presste die Augen zusammen und hoffte, schnell aus diesem Alptraum zu erwachen.

Stiernacken riss die Tür auf. „Home, sweet home!“ An der Stirn trat eine einzige grüne Ader hervor. Als hätte sie eine besondere Aufgabe. „Mach schon!“ Der Pfleger zerrte ihn ungeduldig auf einen kleinen Kiesparkplatz.

Mice richtete sich auf und betrachtete das seltsame Grüngeflecht, das sich vor ihm aufbäumte. Mit jedem Schritt, den der Pfleger ihn in Richtung des einstöckigen Gebäudes schob, stach ihm der Geruch von Efeu in die Nase. Das kleine Haus, zu dessen Eingang eine breite Steintreppe führte, wirkte wie aus einem Grimm-Märchen.

Während er langsam die grauen Stufen erklomm, bemerkte er ein Schild über den Flügeltüren: Spezialklinik für Traumatherapie.

Der Pfleger sperrte die Türen auf. „Rein mit dir!“

Mice war erdrückt von den Eindrücken, die wie kalter Regen auf ihn einprasselten. Ein Geruch von modrigem Teppich und Schweiß lag in der Luft. Die Anstalt, wie Stiernacken das Gebäude vorgestellt hatte, glich eher einem alten Familienhaus. Er stand in einem breiten Eingangsbereich, der nach Mices Zählung in fünf Türen mündete. Geradeaus blickte er durch einen schmalen Gang in einen kleinen Garten. Nach einer Tür auf der linken Seite ging es ein Stockwerk nach oben. Daneben war die Kellertreppe.

Mice hatte keine Ahnung, was er nun machen sollte.

Information für Schmerz!

Er holte Luft und deutete auf den silbernen Schlüsselanhänger des Hünen. „Nettes Taschenmesser, rasierst du damit deine Freundin?“

Der Pfleger lief rot an und machte einen Schritt auf ihn zu. „Du hältst dich für besonders clever, was?!“ Er packte Mice am Nacken und schob ihn an einem Zimmer vorbei, aus dem eine junge Frau verängstigt in den Gang starrte. Sie kniete vor ihrer Kommode und riss eine Schublade schnell auf und wieder zu. Auf und wieder zu.

Der Pfleger drückte die nächste Tür auf und verabschiedete sich mit einem schmerzhaften Stoß in den Rücken: „Halte die Füße still! Sonst hänge ich dir einen Zettel an den Zeh!“ Dann knallte er ihm zwei Tabletten auf die Kommode. „Benzodiazepin! Bis zur Gruppensitzung hast du die geschluckt!“

Einen Türschlag später war Mice allein. Mit den vorsichtigen Schritten eines Astronauten begutachtete er die neue Welt, die sich auf einem grauen Teppich vor ihm ausbreitete. Der Raum war mit dem Wochenlohn eines Flohmarkthändlers ausgestattet worden und glich einer Gefängniszelle.

Er schlüpfte aus den Schuhen und grub seine Zehen tief in den abgewetzten Teppich.

„Ein notwendiges Bett und eine nützliche Kommode.“ Mice fuhr mit den Fingerspitzen über das alte, ölige Holz, das wie alter Wein roch. Die Nachmittagssonne zeichnete ein rautenförmiges Muster auf die Platte. Er wandte den Kopf zum Fenster und erschauderte.

Gitter.

Es war so absurd, dass Mice beinahe angefangen hätte zu lachen. Der Efeu hatte das schwarze Messing so gut verdeckt, dass es von außen unsichtbar war.

Die nächste Entdeckung überraschte ihn: eine Tür. Ohne nachzudenken öffnete er sie. Weiße Fliesen zierten das winzige Bad, das dem Architekten viel Kreativität abverlangt hatte. In die winzige Nische waren eine Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken hineingequetscht worden.

„8 Jahre duschen, 2 Jahre Zähneputzen.“

Als er jedoch in die glatten, kahlen Quadrate blickte und kein Gesicht erkannte, kam ihm ein sonderbarer Gedanke: Vielleicht wollte man Verletzungen vermeiden. Oder man wollte, dass verzweifelte Hände überall abglitten. „Wer entscheidet hier, wer Patient ist und wer nicht?“

Mit schweren Schritten schlurfte er aus dem Bad und ließ sich aufs Bett fallen. Ein merkwürdiges Klingen ließ ihn aufhorchen. Er beugte sich über die Bettkante. Ledergurte? Langsam stieg Mice aus dem Bett und ging in die Hocke. Die Gurte sprachen die gleiche Sprache wie das Bettgestell. Runde Stangen waren an runde Stangen geschweißt. Leichtes Aluminium war fest im Betonboden verankert. Gedankenverloren ließ Mice seine Finger über den kalten Stahl gleiten. Jede Schraube war gewissenhaft abgefeilt worden.

Ein Kribbeln stieg in ihm auf, das sich auf seiner ganzen Haut verteilte. „3 Jahre Sonnenbrand und 1 Jahr Pickel. Mit einem schmerzhaften Krampf kam die einzige Erinnerung zurück, die ihm geblieben war: der Geschmack des Erbrochenen und der Geruch.

Mice schlüpfte aus der verschmutzten Hose und dem stinkenden Shirt und fuhr sich über die Unterarme. „Die Haut vergisst nichts“, murmelte er. „Vor allem vernarbte Haut.“

Traumatherapie. Hatte Gedächtnisverlust nicht oft auch etwas mit traumatischen Erlebnissen zu tun? „Doktor Joschua, Doktor Joschua“, wiederholte er den Namen laut. Er wusste, dass er eher seinen Namen vergessen durfte als diesen. Auch wenn etwas in seinem Kopf Spaß daran hatte, seine Erinnerungen auszuradieren.

Mice sprang auf. Was wenn morgen alles von vorn begann?

Fieberhaft durchstöberte er das ganze Zimmer. „Mist!“ Es gab nur eine Möglichkeit der externen Erinnerung. Wenn er sich morgen nicht mehr erinnern konnte, brauchte er Informationen. Informationen gegen Schmerz!

Und der einzige, dem er momentan trauen konnte, war ein vergesslicher Patient.

Sein Blick wanderte von den vernarbten Unterarmen zu seinen Händen. Dann kaute er so lange an dem rechten Zeigefinger herum, bis der Nagel spitz genug war. Er ritzte sich eine Zwei knapp oberhalb des Genitals. „2 Tabletten Benzo…“. Mice seufzte. Es blutete leicht, aber die Aufregung war zu groß, als dass er wirklich Schmerzen empfand. Dann ritzte er ein „b“ in die Haut.

Plötzlich sprang die Tür auf. Der Pfleger sah sich skeptisch im Raum um und machte dann schnelle Schritte auf ihn zu. Sekundenlang starrte er auf die beiden Pillen auf der Kommode, dann schoss der Pfleger nach vorn uns riss ihm die Decke weg. „Was, verdammt noch mal, ist das?!“

 

03

 

Blut schoss Mice in den Kopf und donnerte in seinen Ohren.

Sag was!

Doch die vor Wut aufgerissenen Augen des Pflegers schnürte ihm die Kehle zu.

Stiernacken schloss leise die Tür und als er sich zurückwandte, blitzte es in seiner Hand auf. Mit dem Taschenmesser deutete er auf Mices Bauch. „Du willst Aufmerksamkeit?“

Mice drückte sich tief in die Kissen, spürte jeden Muskel in seinem Körper verkrampfen.

„Ich schenke dir meine volle Aufmerksamkeit, du…“

Ein plötzlicher Aufschrei ließ den Pfleger in der Bewegung verharren. Nach einem weiteren Schrei, grollte er und steckte das Messer weg.

Eilig zog Mice die Hose hoch und folgte ihm auf den Flur, wo der Pfleger sich schnell ein neues Opfer gesucht hatte. Diesmal war es seine Zimmernachbarin, die er fest zwischen den Pranken und dicht an sich gepresst hielt. Sie wehrte sich mit allem, was sie hatte.

„Halte ihren Kopf fest!“

Ein zweiter Mann kniete mit dem Rücken zu Mice und kramte in einer schwarzen Ledermappe herum.

Jemand kicherte. Auf der anderen Seite des Flurs erblickte Mice einen weiteren Zeugen: Eine Frau mit rabenschwarzen Haaren und schwarzen Augen, die wie Kohlen aus dem Feuer glühten. Ihr gefiel die Szene offenbar so gut, dass sie Stiernacken und den anderen Mann lauthals anfeuerte.

Ein paar Schritte neben Mice stand ein blasser Junge mit stoppeligem Kinnbart, einer dicken Brille und einer Baskenmütze. Nach kurzer Sondierung des Schauspiels wandte er sich gelangweilt wieder ab und drehte sich noch nicht einmal um, als Stiernacken aufschrie: „Machen Sie einen extra starken Cocktail. Die kleine Biene ist echt wild heute!“ Er riss die Patientin an den Haaren von der blutigen Wunde in seinem Unterarm weg.

Der zweite Pfleger reagierte weder auf den Biss, noch auf seinen Kollegen. Stoisch zog er eine Spritze auf und drückte die Luft aus der kleinen Ampulle.

Ein weiteres Brüllen erklang. Das Mädchen trat dem Pfleger mit Wucht auf den Fuß und erntete Beifall von der Schwarzhaarigen. Stiernacken grollte und presste das Mädchen an die Wand.

Mices Herzschlag setzte aus. Zuviel. Es war das einzige, was ihm durch den Kopf schoss. Er spürte sein Gewicht nach vorn sacken, seine Beine vorwärts eilen.

Bevor er nachdenken konnte, rannte er auf den Pfleger zu und jagte ihm seine Faust in die Seite. Er wusste nicht, ob es schmerzhaft war. Aber es war effektiv.

Der Pfleger stöhnte auf und krümmte sich zur Seite. Für einen Augenblick ließ er das Mädchen los und rammte Mice seine Faust in die Magengrube. Der taumelte japsend zurück, stolperte und knallte schmerzhaft auf den Rücken.

„Hey! Helft uns!“, schrie er.

Doch die Schwarzhaarige streckte nur den Mittelfinger in die Luft und lachte.

Mice schleppte sich auf die Knie. Jede Bewegung fühlte sich wie ein weiterer Fausthieb an. Stöhnend kauerte er an der Wand. Sie hatten verloren.

Stiernacken drückte sie nun fester gegen die Wand und ließ sich nicht mehr beirren. Der Mann mit er Spritze musterte Mice mit hochgezogener Augenbraue, dann rammte er dem Mädchen die Nadel in den Oberarm.

Mice schrie, kam auf die Beine. Doch das Mädchen warf ihm ein Lächeln zu und schüttelte traurig den Kopf.

Von einer Sekunde auf die nächste kehrte vollkommene Ruhe ein. Stiernacken trug die besinnungslose Patientin wie eine verstorbene Braut über die Schwelle der Tür. Mice wandte angeekelt den Blick ab und drückte sich an der Wand nach oben. Er legte sich schon Worte für die Schaulustigen zurecht, brachte aber vor Schmerz keinen Ton heraus.

„Wer glaubst du eigentlich, der du bist?“ Der andere Pfleger in dem weißen Mantel verstaute gerade seine Werkzeuge und warf ihm einen genervten Blick zu.

„Ich bin wohl hier, um das herauszufinden.“ Mice spürte die bohrenden Blicke in seinem Rücken, als er sich umdrehte und sich langsam in sein Zimmer schleppte.

Der Pfleger folgte ihm. „Du greifst nie wieder einen Mitarbeiter an, verstanden?“

„Irgendwer musste diesem Tier Einhalt gebieten!“, erwiderte Mice schroff und setzte sich aufs Bett.

„Mira braucht Ruhe. Sie braucht Hilfe, wenn sie...“

„Verpassen Sie ihm besser auch eine Spritze!“ Stiernacken tauchte hinter dem Mann auf und hielt sich die Seite.

Der Mann vor dem Hünen drückte sich die runde Brille gegen die Stirn „Ich denke, er hat die Botschaft verstanden.“

„Doktor Joschua!“

„Genug!“

Mice spürte den Schlag in den Magen noch einmal. Nur diesmal schien er von innen nach außen zu drücken. Das war Joschua?

Schmerz gegen Information.

Der Arzt machte eine ernste Grimasse und schickte Stiernacken mit einem Nicken aus dem Raum. „Wir vergessen, was gerade passiert ist, in Ordnung?“

Mice spürte ein Fieber in sich aufkochen, das bis in seine Fingerspitzen kroch und seine Glieder schüttelte. Er ballte die Fäuste, presste die Kiefer zusammen und schwieg. Wenn dieser skrupellose Mann Dr. Joschua war, wurde das Vergessen wieder verlockender.

Der Arzt hob sein Kinn. „Nimm die Medikamente. Keine Diskussion.“ Dann verschwand er eilig aus dem Zimmer.

Eine Weile saß Mice da und ließ den verstörenden Gedanken freien Lauf. Sollten sie sich austoben. Entweder sie kehrten abends zurück oder sie blieben für immer fort.

Doch sein Herz hämmerte weiter, sein Atem flatterte. Er nahm die Tabletten von der Kommode, ging ins Bad und riss den Klodeckel auf. Er starrte in die Schüssel, presste die Faust um die Tablette und warf den Klodeckel scheppernd wieder auf die Brille.

Seine Knie wurden weich. Mit zitternden Händen riss er den Duschvorhang zur Seite, schaltete die Dusche an und setzte sich in die Wanne. Er lehnte sich gegen die kalten Fliesen und schloss die Augen. Das sanfte Rauschen und das kalte Wasser senkten das Fieber.

Schließlich öffnete er die Faust und betrachtete die Pillen. Sie trugen keine Aufschrift, keine Prägung oder Information über Dosierung, Hersteller oder Name des Medikaments. Das einzige, das er erkennen konnte, war ein lang gezogener Strich, wie eine römische 1. Ein paar kurze Schmerzen später hatte er rechts neben der „2“ und dem „b“ ein „I“ geritzt.

Plötzlich klopfte es und noch bevor Mice reagieren konnte, stand seine Zimmernachbarin im Bad. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen und die Haut, die sich von ihren Wangen bis unters Kinn spannte, war blutleer. Das lange blonde Haar fiel auf ein dünnes Kleidchen, das ihre dürren Schultern nach unten drückte. Langsam zog sie es aus bis sie nur mit einem schwarzen Slip bekleidet vor ihm stand.

Mice hat einen Kloß im Hals. Unzählige Narben zierten ihre Unterarme, ihre flachen Brüste und den eingefallenen Bauch. Eine frische Wunde begann oberhalb des Bauchnabels und zog sich bis unter den Rand des Slips.

Mira schloss die Tür und stieg wortlos in die Wanne, wo sie den Hahn nach links drehte und sich dann neben ihn setzte.

Bevor Mice etwas sagen oder tun konnte, nahm sie seine Hand und führte sie sanft über die Narben an ihrem Arm. Er wehrte sich nicht, auch wenn es sich seltsam anfühlte, etwas so Zerbrechliches zu berühren. Mehr Narben als Haut bedeckten ihren Körper.

„Ich wusste nicht, dass du dich auch ritzt!“, flüsterte sie, schlüpfte unter seinen Arm und schmiegte sich enger an ihn. „Keine Angst. Das bleibt unser Geheimnis!“

Mice wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Gefühle überschlugen sich und er spürte seine Augen brennen.

Sie streichelte die Narben an seinem Arm und löste ein seltsames Kribbeln aus. „Paul macht das auch.“ Sie hob ihr Handgelenk auf Mices Augenhöhe.

Das muss der gelangweilte Kerl unter der Baskenmütze sein!

„Die glauben, wir sind verrückt.“ Mit langen, dünnen Fingern strich sie sich selbst die Schnittwunden entlang, die ihre Adern kreuzten. „Aber ich weiß genau, was ich tun muss, wenn es soweit ist.“ Sie reckte ihr Kinn trotzig zur Seite. „Paul meint, es fühlt sich kalt an.“

2 Wochen Sex, 6 Wochen Küssen.

Mira kicherte wie ein Kind, das gerade ein Geheimnis preisgegeben hatte. „Ich glaube nicht, dass es mehr weh tut.“ Es klang monoton. Wie das Ende eines Abschiedsbriefs.

Mice spürte, wie das Mädchen zitterte. Ein Beben hatte ihren Körper erfasst, als wäre ihr Innerstes ein Schlachtfeld, das nun zu grausamem Leben erwachte. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihr Knie. „Versprich mir, dass du zu mir kommst, bevor ...“

Mira kicherte leise. „Natürlich nicht, du Dummerchen!“ Dann streckte sie ihr Kinn nach oben. „Wenn es soweit ist, lasse ich mich von einer Wespe stechen.“

Mice runzelte die Stirn und erntete ein freundliches Lächeln.

„Du bist ein ehrlicher Mensch. Ich kann deutlich in deinem Gesicht lesen, was in dir vorgeht.“

Das hoffe ich nicht!

„Ich bin allergisch gegen Bienen- und Wespenstiche. Aber Bienen stechen nur, wenn sie in Gefahr sind. Sie wollen niemandem wehtun. Sondern nur ihre Familie beschützen. Deswegen lasse ich mich von einer Wespe stechen.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als schwankte sie zwischen Verzweiflung und Schadenfreude. „Ich sterbe ohne schlechtes Gewissen. Aber die Wespe wird ihr kleines langes Leben damit klarkommen müssen!“ Wieder kicherte sie und setzte sich dann abrupt auf. Ihre Haare klebten an den Schultern. „Ich habe eine in meiner Schublade, weißt du?“

Mice fiel auf, wie schön Mira war. Mit ihren Sommersprossen um den strahlenden Augen herum. Nur die dunklen Einfärbungen darunter verzerrten das Bild.

„Klingt das verrückt?“

„Nein!“ Das klingt nachvollziehbar und das ist verrückt!

Dann schluchzte sie: „Ich will weg hier, einfach nur weg!“

Mice hielt die Luft an. „Warum?“ Dämliche Frage! Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. „Warum gehst du nicht einfach?“ Noch so eine dumme Frage!

Sie lachte kurz. „Wohin soll ich denn? Ich habe niemanden. Manchmal will ich einfach...“ Sie breitete ihre Arme aus. „... platzen!“

Mice schloss die Augen. „Das musst du Joschua sagen!“

Statt einer Antwort erhob sie sich, wischte die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn lange an. Dann beugte sie sich zu ihm vor. Mit zitternden Fingern strich sie ihm über die Wange und drückte ihm einen heißen Kuss auf die Lippen.

Das hat sie bereits.

Als er die Augen wieder öffnete, blickte er in ihre feuchten, großen Augen. Sie waren farblos, doch sie lächelten traurig. „Niemand ist hier, weil er verrückt ist.“

 

04

 

„Hey Niemand! Aufwachen!“

Mice fuhr aus den Kissen. Einige hastige Atemzüge wusste er nicht, wo er war. Dann sah er Stiernacken in der Tür.

„Joschua und die anderen warten auf dich! Also los!“ Ohne ein weiteres Wort verschwand der Pfleger auf den Flur.

Mice rieb sich mit trockenen Fingern durch das verschlafene Gesicht und taumelte zur Tür. Die Unterhaltung mit Mira und der kurze Schlaf danach hatten ihm die Kraft aus dem Körper gesaugt. Jenseits der vergitterten Fenster war die Dunkelheit über ihr Gefängnis hereingebrochen. Mice hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Keine Spiegel und keine Uhren. Wie in einem Casino.

Einige Minuten steuerte er orientierungslos auf dem Flur, in der Küche und in der Kantine umher, bis laute Stimmen aus dem Obergeschoss ihm den Weg wiesen. Er eilte die Stufen nach oben und trat auf einen schmalen, langen Gang. Rechts von ihm war nur ein Fenster in Richtung Garten. Die Stimmen drangen aus einem der Räume auf der linken Seite. Als er nähertrat, wurde er von überraschten Augen taxiert, die in einem Kreis vor ihm aufgereiht waren.

„Entschuldigung, habe mich verlaufen“, nuschelte Mice, woraufhin der Stuhlkreis in verhaltenes Gelächter ausbrach. Er wählte den einzigen leeren Stuhl und kam sich vor wie eine Insel inmitten eines Ozeans. Jeder Stuhl war eine Insel und der Blick des Arztes umkreiste sie wie die Finne eines Hais.

„Wie war’s mit Mira?“, raunte die Schwarzhaarige ihm zu und spitzte die Lippen. Neben ihm kauerte ein junger Bursche auf dem Stuhl, der schüchtern zur Seite sah. Außerdem war da noch die Baskenmütze namens Paul. Mira saß ihm gegenüber und lächelte traurig. Gab es keine anderen Patienten?

„Gut, fangen wir an!“ Doktor Joschua sah in die Runde.

Der schüchterne Junge, dem Mice noch nicht begegnet war, hob hastig die Hand. Seine Wangen glühten und seine Lippen bebten, als fingen sie zu sprechen an, noch bevor die Stimme anhob. „Ich habe mich an etwas erinnert!“

„In Ordnung.“ Doktor Joschua erhob sich und zog seinen Stuhl direkt vor den Jungen.

Alle Muskeln in Mice spannten sich an.

Der Mann zog den weißen Mantel aus, warf ihn über seine Stuhllehne und beugte sich dicht vor das Gesicht des Jungen. Sein Finger hob er auf die Höhe der Nasenspitze. Wie ein Taktell schwebte der Finger von links nach rechts. „Folge den Bewegungen.“

Der Junge nickte. „Aufwachen! Frühstück! Mein Bruder Thomas grinst, ein Speichelfaden tropft aus seinem Mundwinkel. Er ist nachts wieder in mein Bett gekrochen. Aber dann konnte ich nicht schlafen und habe mich deswegen in sein Bett verzogen. Das passiert öfter.“

Während der Junge in seiner Welt versank und alle aufmerksam seiner Erinnerung folgten, sah Mice sich verstohlen in dem kleinen Raum um. Er schätzte ihn auf die doppelte Größe seines Zimmers, war jedoch einladender möbliert. Die Rückwand war ein einziges Bücherregal mit zwei Sesseln davor. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Küchenzeile mit zwei Herdplatten, einer Filterkaffeemaschine und einem Wasserkocher. Die Fenster an der Seitenwand des Hauses blickten über den Garten und die Straße, die weiter in den verschlafenen Ort führte.

Mice riss den Blick vom Fenster und sah wieder zu Maus, der gebannt auf Joschuas Finger starrte, während er seine Erinnerung preisgab.

„Mein Zwillingsbruder ist geistig behindert und muss ständig beobachtet werden. Frida, meine jüngere Schwester, ist dafür zu ängstlich und mein älterer Bruder interessiert sich nur für sich selbst. Nur meine älteste Schwester kümmert sich auch um Thomas, wenn sie kann. Sie hat einen festen Freund, den wir kaum kennen. Lena will nicht, dass wir ihn kennen.“

„Verstehst du dich gut mit deinen Geschwistern?“, fragte Doktor Joschua.

Maus zuckte mit den Achseln. „Schnell schlüpfe ich in meine Kleidung. Schon nach den ersten Schritten merke ich einen leichten Schwindel, als wäre ich von einem Karussell gestiegen. Aber das habe ich in letzter Zeit öfter. Ich ignoriere es, eile die Stufen nach unten durch das Wohnzimmer. Dabei halte ich den Blick geradeaus und schaue nicht auf die ausgestopften Jagdtrophäen des Vaters. Als ich die Küche betrete, blickt die Familie auf.

Die Mutter fragt, was ich so lange getrieben hätte. Sie sieht nicht wütend aus, das tut sie eigentlich nie. Aber Augenringe hat sie und ihr Gesicht ist geschwollen. 'Wir frühstücken samstags gemeinsam!'

'Und sonntags!', rufe ich fröhlich.

Sie verzieht das Gesicht. 'Wenn es dir zu viel ist, bleib‘ im Bett!'

Ich schaue mich am Rundtisch um. Aber keiner sagt etwas. Irgendwann entbrennt der ewige Kampf zwischen meinen älteren Geschwistern. David provoziert Lena, weil sie nicht mehr bei ihrem Freund übernachten darf. Lena grinst und fragt, ob er neidisch sei, dass sie einen Freund gefunden habe, während er immer nur mit toten Fischen nach Hause kommt. Der Vater sitzt teilnahmslos neben seinem leeren Kaffee und streicht ab und an eine Zeile aus dem Manuskript vor ihm. Die Mutter beobachtet ihn über den Rand ihrer Tasse, die längst leer ist. Sie leben nicht mehr miteinander, nicht einmal mehr gegeneinander – nur nebeneinander. Frida freut sich als Einzige über das gemeinsame Frühstück. Als sie mit ihrem Müsli fertig ist, springt sie zum Kühlschrank und kommt mit einer Flasche Sekt zurück. Die Mutter lächelt und will Gläser holen. Doch der Vater brummt, dass Thomas, Frida und ich keinen Sekt trinken werden. Die Mutter atmet scharf aus, sagt aber nichts. Lena lehnt ebenfalls ab, was ihr einen schnippischen Kommentar von David einbringt. Währenddessen hat die Mutter schon ihr Glas gefüllt und greift nach dem des Ehemanns. Doch der dreht es auf den Kelch, ohne aufzublicken. Die Mutter kramt ihre Tabletten aus der Tasche und schluckt sie mit dem ganzen Glas Sekt auf einmal. Als die Mutter nachfüllt und die Flasche hart neben dem Manuskript des Vaters auf den Tisch knallt, schäumt der Sekt über. Bittersüße Flüssigkeit ergießt sich über den ganzen Tisch und über das Manuskript. Für einen Augenblick halten alle die Luft an. Dann erhebt sich der Vater und verlässt wortlos die Küche, während ich weiter mein Müsli esse. Die Mutter schluchzt und Lena nimmt sie in den Arm. David springt auf, um Küchenpapier zu holen und sofort fährt Lena ihn an, dass er zuerst das Manuskript retten soll. Wieder entfacht ein Streit zwischen den beiden, also stehe ich auf und nehme das durchgeweichte Manuskript mit spitzen Fingern hoch. Es reißt an den Ecken und klatscht mit einem schmatzenden Geräusch auf den Küchenboden. Sofort ernte ich wütende Rufe der Mutter, die sich aus Lenas Umarmung löst. Thomas weint leise. Die Mutter nimmt ihn in den Arm und fragt mich, ob ich jetzt zufrieden sei. Erst jetzt fällt uns auf, dass Frida weg ist. Ich biete an, sie zu suchen. Denn ich weiß, wo sie ist, wenn sie abhaut. Thomas quengelt sich aus ihren Armen und stolpert in meine Richtung. Die Mutter trägt mir auf, ihn mitzunehmen. Aber ich solle ihn von dem glitschigen Ufer des Sees fernhalten. Ich fahre ihm durchs Haar und er lacht mich an.

'Beeilt euch! Es regnet bald!'

Ich helfe Thomas in seine Jacke, bevor ich mir meine überstreife. Von der Küche gelangen wir durch die Hintertüre auf die Holzterrasse und in den Garten. Unser Grundstück geht nahtlos in den Wald über. Der Vater will keinen Gartenzaun. Er sagt, wir seien alle Teil der Natur und die wilde Natur schlummere in uns.

Zwischen dem Wald und dem See führt ein schmaler Weg entlang, den wir Hand in Hand gehen. Thomas kennt unsere Scharade und stürmt freudig voraus, als die aufmerksamen Augenpaare uns nicht mehr vom Küchenfenster aus folgen können.

'Maus! Maus!', ruft er, wie er es immer tut, wenn er aufgeregt ist. Das ist das einzige, was er sagen kann.

Ich muss ihn nicht zur Vorsicht ermahnen, ebenso wenig wie den Weg weisen. Nach einer viertel Stunde gabelt sich der Weg. Nach rechts geht es weiter um den See herum. Wir gehen nach links und finden uns schon bald auf einer Lichtung wieder. Dort stehen Holzkästen, die wie Briefkästen aussehen. In das rege Summen, das uns umgibt, mischt sich ein Schluchzen. Ich entdecke Frida auf einem der Bäume. Sie sitzt auf einem dicken Ast und ihre Tränen lassen ihre Sommersprossen glänzen und vergrößern sie wie ein Lupenglas.

Der Bruder pflückt bereits die ersten Blumen, die er der Mutter in die Hand drücken will. Ich nehme ihm sanft die Blumen aus der Hand und warne ihn.

'Bienen stechen nur, wenn sie in Gefahr sind', widerspricht Frida. 'Sie beschützen ihre Familie'.“

Mice horchte auf und warf einen Blick auf Mira, die ihn stirnrunzelnd ansah, als hätte er ein Geheimnis verraten.

Maus fuhr unbeirrt fort: „Ich grinse sie an: 'Du wärst eine schlechte Biene.'

Sie lächelt traurig. 'Wenn Mama und Papa sich scheiden lassen, haue ich für immer ab!'

Ich strecke meine Hand nach ihr aus. Sie ergreift sie und springt vom Baum.

'Manchmal bist du ein toller Bruder!' Dann nimmt sie Thomas an der Hand, wischt die Tränen weg und hüpft mit ihm voraus. Ich bleibe nachdenklich zurück und beobachte eine Biene, die sich in dem Strauß verirrt hat, den ich Thomas abgenommen habe. Vorsichtig schließe ich Blumen und Biene mit meiner Hand ein, reiße die Blütenköpfe ab und schüttle sie in meiner Faust. Ich spüre einen Stich und alles wird heiß. Schweiß tritt aus allen Poren und selbst die Morgenluft kann die Schwellung nicht kühlen. Meine Hand zittert, als ich sie öffne. Regungslos liegt das kleine Insekt neben meinem angeschwollenen Daumen. Ich lächle, schließe die Faust um das heiße Grab und eile den Geschwistern hinterher.“ Maus atmete aus und wischte sich übers Gesicht. „Meine erste Erinnerung!“ Er lächelte stolz.

Doktor Joschua senkte seine Hand und dankte Maus beiläufig. Schließlich stand er auf und ging zu der Küchenzeile. Mit einem Tablett voller Becher trat er zurück. Jeder der Patienten bekam einen Becher mit Wasser und einen Becher mit Tabletten. Als der Arzt vor Mice stand, lehnte er dankend ab.

Doktor Joschua kräuselte die Stirn. „Willst du denn nicht gesund werden?“

„Wollen Sie das denn?“ Mice sah sich in der Runde um. Alle starrten ihn an. Er seufzte, griff nach den Pillen und schob sie sich in den Mund.

 

05

 

Thomas Solomon zitterte. Doch die Heizung blieb aus. Ein Auto mit laufendem Motor würde auf einem verlassenen Parkplatz Aufsehen erregen. Er sprach ein stummes Gebet. Dann prüfte er das Magazin der Waffe.

An diesem Karfreitag war der kleine Parkplatz wie ausgestorben. Nur eine junge Blondine eilte hinter seiner Heckscheibe vorbei, wühlte in ihrer Handtasche und presste die rotgeschminkten Lippen aufeinander. Sie war die Richtige.

Vielleicht arbeitete sie hier oder sie besuchte jemanden. Jeder, der an seinem Auto vorbeigehuscht war, hatte ein weil.

Er holte tief Luft, stieg aus dem Fahrzeug und eilte an den Parkautomaten vorbei, deren Betreiberfirma er ein schönes Sümmchen bescheren würde.

Er hielt sich so weit wie möglich hinter der Frau, die aufgeregt in ihr Mobiltelefon sprach und nichts von ihrem Verfolger bemerkte. Dabei sollte es bleiben. Keine Fehler, bis.

Er wechselte die Straßenseite, wartete an einem kleinen Imbiss, bis er sich sicher sein konnte, dass die Blondine auch das gleiche Ziel hatte wie er und überquerte dann die Kapuzinergasse auf das große Therapiezentrum zu.

Die Gespenster, die sich um diese Zeit noch nach draußen wagten, bliesen graue Wolken in den Nachthimmel oder starrten auf die großen quadratischen Steinfliesen vor der Eingangstür. Er stellte sich vor, wie geordnet das Blut eines aufgeplatzten Körpers durch die Fugen sickern würde. Unwillkürlich blickte er nach oben. In den 4. Stock, wo.

Die Blondine in dem engen weißen Rock hielt mit klickenden Absätzen auf die Eingangstüren unter dem Wellblechdach zu. Kurz nach ihr ließ auch er sich von dem Gebäude einsaugen. Ein grauer Teppich dämpfte ihre Schritte.

Der Eingangsbereich war schmal, sodass sie der Pförtner jederzeit überblicken konnte. Doch der junge Mann hatte nur Augen für die blonde Schönheit, die er überschwänglich begrüßte und Solomon vollkommen ignorierte.

Keiner der Patienten oder vorbeieilenden Pfleger nahm Notiz von ihm, als er durch die Tür ins Treppenhaus trat. Nach und nach legte sich eine Hitze von seinem schweißnassen Nacken bis hinunter in die Oberschenkel und schmolz seine Knie.

Als er von einem Stockwerk über sich junge Männerstimmen vernahm, riss er die Tür zum zweiten Stock auf. Er ließ sie einen Spalt breit offen und lauschte, bis die Stimmen und die Schritte im ersten Stock verschwanden und zog dann die Tür auf.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte einen freundliche Frauenstimme.

Solomon drehte sich nicht um, sondern murmelte nur ein knappes „Hab‘ mich nur verlaufen, danke.“ Und verschwand wieder im Treppenhaus. Einen Smalltalk hätte er nicht überstanden. Vielleicht hätte er sich umentschieden. Doch dann hätte er es nie mehr getan. Nicht heute. Nicht morgen.

Ohnehin gab es nur einen langen, beschissenen Tag seit der Operation. Nichts davor. Keine Erinnerung. Nur das als und das deshalb. Diese Sichtweise machte es leichter, auch wenn das Todesurteil seines Sohnes in seiner Tasche schwer wog.

Er nahm zwei Stufen auf einmal, bis er den vierten Stock erreicht hatte. Sein Hemd war durchnässt, seine Haare tropften. Aber das Verstecken und Schleichen würden keine Rolle mehr spielen, wenn.

Hausverbot in einem Therapiezentrum war blanker Zynismus. Genauso zynisch wie einem Chirurgen die Nase zu brechen. Noch dazu dem, der seinem Sohn das Leben gerettet hatte. Jetzt hatte sein Sohn den Tod verdient.

Vor der Tür zum vierten Stock verharrte er. Seine Fingerspitzen berührten die Feuerschutztür. Doch die Hitze in Solomon hielt sie nicht auf. Er drückte die Klinke und schob sich auf die Station 1. Eine Gesetzesübertretung unter vielen, seit. Doch sie würde die vorletzte sein. Die letzte war ihm selbst ein Rätsel. Nicht nur ein juristisches.

Der schmale Gang war leer und still. Bis auf eine gedämpfte Unterhaltung aus einem der Zimmer wenige Schritte entfernt. Er schlich an der Wand entlang und versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Plötzlich schluchzte Solomon. Er presste sich die Hand vor den Mund und kniff die Augen zusammen.

Versau' jetzt nicht alles!

Er wischte sich die Tränen vom Kinn und dachte an das Todesurteil in seiner Tasche. An die Ethikkommission, die darüber entscheiden würde, ob man das Leben seines Sohnes lebenswert nennen durfte. Auf Anraten eines Oberarztes, der Zacharias nach einjähriger Pflege als austherapiert bezeichnete. Unterstützt durch eine Krankenkasse, die auf einem 1,4 Gramm schweren Papier entschied, dass er sein Haus verkaufen, seine Ersparnisse auflösen und einen Kredit aufnehmen würde.

Der Doppelkorn, der ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte, war dagegen nahezu geschenkt.

Er erreichte das letzte Zimmer am Ende des Gangs. Es klang so endgültig, so unveränderbar. Leise betrat er das Zimmer, wie um niemanden zu wecken. Es versetzte Solomon einen heißen Stich in den Magen, als er begriff, wie gewohnt ihm diese Situation war. Jeden Morgen hatte er ihn geweckt, hatte ihn zur Schule gefahren. Dann kam das als.

Er ging zu seinem Sohn und strich ihm zärtlich über die Haare. Eine geschickte Hand hatte dem Zwölfjährigen eine moderne Frisur verpasst. Sie gefiel Solomon. Fast tat es ihm leid, den Pflegerinnen und Pflegern so viel Ärger zu bereiten, obwohl sie sich so liebevoll um seinen Sohn gekümmert hatten, seit.

Die Beatmungsgeräte piepten rhythmisch wie früher der Sekundenzeiger der Uhr in Zucchinis Kinderzimmer. Es war unerträglich. Solomon schaffte es gerade noch, sich einen Stuhl ans Bett zu ziehen, bevor alles aus ihm herausbrach. Das Schluchzen, die Tränen, die ohnmächtige Verzweiflung. Er biss sich in die nasse Faust, um sich nicht zu verraten, bevor.

„Ich hätte dich beschützen sollen!“ Krämpfe, die seinen Körper durchschüttelten, rissen an seinen Stimmbändern, schnürten ihm den Atem ab. Er griff nach der warmen Hand des Jungen.

Zucchinis Gesicht war Wachs. So würde er aussehen, wenn er tot wäre. So wird es aussehen. Ein letzter Krampf erfasste ihn mit der Geschwindigkeit eines heranrasenden Lasters. Dann sank Solomon erschöpft und mit dem Gefühl, ausgehöhlt zu sein, zurück in die Lehne. Alles war umsonst.

Der Streit mit dem Chirurgen, der vor einem Jahr alles richtig gemacht hatte und der doch mit einem kleinen Jungen auf dem Gewissen vor ihnen gestanden hatte. Der Streit mit Sandra, die nach der Nachricht selbst hatte behandelt werden müssen und seither nie mehr ins Burgauer Therapiezentrum gekommen war. Und seine Bemühung, Zucchini am Leben zu halten – um jeden verdammten Preis.

Heute würde er seinen Sohn töten und dann sich.

Solomon legte dem Jungen die Hand auf die Brust. Das kleine Herz schlug tapfer und entschlossen.

Zucchini lebt nicht! Deswegen können wir ihn auch nicht töten!

Die Worte seiner Ex-Frau röhrten noch deutlich in seinen Ohren. Er hatte nur den Kopf geschüttelt, wollte sich nicht auf eine moralische oder religiöse Debatte um aktive Sterbehilfe einlassen. Das Thema war für Maybrit Illner oder das Wort zum Sonntag reserviert. Nicht für eine Unterhaltung am Telefon. Nachdem sie sich mehrere Monate nicht mehr gesehen oder gesprochen hatten. Nachdem sie und Carmen ausgezogen waren und er seinen Lebensmittelpunkt in sein Auto verlagert hatte. Schlafen, arbeiten und erinnern an den Tag der Nachricht. Immer und immer wieder.

Solomon hatte noch den wässrigen Geschmack des lauwarmen Kaffees im Mund und den Geruch von Schweiß und blumigem Deodorant in der Nase. Er hatte das schwarze Pulver am Boden des Bechers vor Augen und spürte die feinen Plastikrillen an seinen Fingerspitzen.

Der Becher hatte ein Krachen von sich gegeben, als er ihn wütend zerdrückt und aus dem Autofenster geworfen hatte. Kein Kaffeesatz. Nur schwarzer, künstlicher Brei. „Das kannst du ihm nicht antun!“, hatte er geschrien.

„Was willst du?“, schrie sie zurück. „Für den Rest deines Lebens an einem piepsenden Bett stehen und dich mit einem blinkenden Licht unterhalten?“

Die Hoffnung nicht aufgeben! Das hatte er sagen wollen. Aber mit seinen Wünschen war er vorsichtig geworden.

„Wir alle haben gebetet, dass die Operation ihm ein normales Leben ermöglicht!“

„Und sie war auch ein voller Erfolg!“ Solomon hatte noch im selben Augenblick begriffen, wie dämlich seine Worte waren. „Zucchini wollte selbst, dass wir es versuchen.“

„Nenne ihn nie wieder so!“ Sandra blitzte ihn aus weiten, nassen Augen an.

Dann hörte er Carmen im Hintergrund. „Er hätte gewollt, dass ihr euch nicht streitet!“

Solomon hatte geseufzt. „Lass uns eine zweite Meinung einholen, Sandra. Vielleicht...“

„Ich kann nicht mehr!“ Es klang wie ein Vorwurf. Dabei begann seine Schuld erst nach.

Die Prügelei mit dem Chirurgen, die auch eine verheerende Auswirkung auf sein Berufsleben hatte. Seine ständigen Forderungen an den Oberarzt des Burgauer Therapiezentrums. Ja, er machte nur seine Arbeit. Aber die machte er miserabel. Keine Fortschritte, keine Ideen. Auch er hatte Solomons Wut zu spüren bekommen. Hatte er da schon mit dem Trinken begonnen? Er wusste es nicht mehr. Am Ende stand das Hausverbot, der Termin beim Familiengericht und die Stille, seit.

Eine Stille, die keine war, für ein Leben, das keines war. Nicht seines und nicht Zucchinis.

Nenne ihn nie wieder so!

Heute würde all das enden. Solomon lehnte sich zurück und zog die Waffe aus dem Holster. Der Lauf zielte auf seinen blassen Jungen, der wegen Herzproblemen vom Sportunterricht befreit wurde. Ein tapferer Kerl, der von seiner überängstlichen Mutter mit Gemüse vollgestopft wurde, bis er sich selbst Zucchini nannte. Was hatten Vater und Sohn Tränen darüber gelacht. Zacharias hatte gern gelacht. Auch wenn er dem letzten Witz selbst zum Opfer gefallen war. Ein herzkranker Junge wird erfolgreich operiert, sein Herz schlägt wieder stark. Doch dann streikt sein Gehirn und er wacht nicht mehr aus der Narkose auf.

Die Kurzfassung klang nicht nach Verzweiflung, nach Hass oder unendlicher Leere. Sie klang nicht nach Existenzverlust, Angst und Selbstmordgedanken. Sie klang nicht nach einem schleichenden Tod. Nach einem Jahr bloßer Vegetation.

Er würde nichts mehr werden. Kein Polizist wie sein Vater oder sein Großvater. Er würde niemand sein. Solange die Maschinen arbeiteten. Oder ein Haufen zufällig gewählter Henker den Daumen über ihm hoben oder senkten.

Jetzt würde er Zucchini wieder zu Zacharias machen, sich zu dem Vater, der er hätte sein müssen und Sandra und Carmen zu einer Familie, die trauern und verabscheuen durfte.

Nur wie? Einen Augenblick überlegte er, dem Jungen ins Gehirn zu schießen und dann sich selbst. So hätten sie wenigstens den Tod geteilt. Aber half das? Sein Gehirn war Zucchini. Das war schließlich der Grund für.

Er stand auf und betrachtete das Gerät und die Vielzahl an Knöpfen und Reglern. Was wäre, wenn er Zacharias damit Schmerzen zufügte? Der Junge hätte ihn nicht anbrüllen können.

Solomon hatte sich das Töten deutlich leichter vorgestellt. Nicht nur die Überwindung, sondern vor allem die Art und Weise!

Er lächelte traurig und strich seinem zähen Jungen über die Haare. „Du bist zu stark für uns, Zucchini. Vielleicht willst du noch nicht.“ Solomon holte tief Luft und setzte den Lauf seiner Pistole auf Zacharias Stirn.

Plötzlich riss der Junge die Augen auf. Tu es!

Solomon fiel zurück in seinen Stuhl.

Du hättest es schon längst tun sollen! Du Feigling! Der irre Schrei explodierte in Solomons Ohren. Doch die Lippen des Jungen waren versiegelt. Ich bin ein wachsender Toter! Ohne Würde! Ich bin niemand! Hast du dir mal die Stromrechnung angesehen?

Solomon presste die Augen aufeinander und sah genauer hin. Der Junge lag noch immer da, sein regungsloses Gesicht zur Decke gerichtet. Friedlich, fast lebendig. Fast tot.

Zum ersten Mal seit Langem wünschte er sich, mehr getrunken zu haben. Solomon setzte sich auf und sein Herz schlug ihm durch die Rippen.

Das Problem war der Unterschied. Die Differenz der Dinge. Als Vater sollte er dieses Leben beenden, als Kommissar sollte er es beschützen. Ethik hin oder her. Jetzt wäre es …

kaltblütiger, feiger, hinterhältiger

Vorsatz und niederer Beweggrund,

Mord

Selbstmitleid war ein niederer Beweggrund, beschloss Solomon.

Zacharias sollte sterben, begraben und betrauert werden. Von denen, die ihn liebten und sich liebten. Jetzt lebte er, lebendig begraben und ein Symbol für das Leben, das Solomon vergeigt hatte.

Er liebte seinen Sohn noch immer und der Schmerz drang sogar durch den dicken Panzer aus Alkohol und Tabletten. Mit zitternden Händen strich er seinem Sohn über die Wange. Er beugte sich über den Jungen und küsste ihn auf die Stirn. Seine Waffe klickte leise, als sie gegen das Bettgestell stieß.

Der komatöse Junge reagierte nicht, als sein Vater ihm die Finger um den Hals legte. Mit spitzen Fingern löste er die Kette und rollte sie in seiner linken Hand ein. Den kleinen Kompass am Ende der Kette hatte er Zacharias geschenkt, als der zum ersten Mal allein in ein Feriencamp fuhr. Vater und Mutter standen Todesängste aus. Was wäre, wenn es während der Fahrt passierte? Wenn er einen Augenblick unbeaufsichtigt war? Was wäre, wen es beim Baden passierte?!

Zacharias war einfach nur glücklich. Er war wie die anderen Jungs und bei den anderen Jungs. „Und wenn du dich verirrst, findest du damit wieder nach Hause, okay?“

Zacharias hatte ihn angestrahlt. Für einen Zwölfjährigen war ein Herzinfarkt nicht so schlimm wie keine Freunde zu haben. Heute verstand Solomon zum ersten Mal, warum.

Er sah auf die Uhr. War wirklich schon eine Stunde vergangen, seit er aus seinem Auto gestiegen war? Noch 4 Stunden. Sandra würde sich wundern, wo der Anruf blieb. Aber das war auch schon das höchste der Gefühle: Verwunderung!

Sie alle glaubten, er war der nächste. Seine Frau, Frank, dieser dämliche Therapeut, den er nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatten es ihm nie ins Gesicht gesagt. Aber so, wie man unwillkürlich von Menschen mit Rotznase zurückwich, so distanzierten sie sich von ihm, seit.

Der Kompass wog schwer und Solomon hoffte, dass er seinen Zweck erfüllte. Dass er ihn und seinen Sohn wieder zusammenbrachte.

„Tut mir leid, Zucchini. Ich hab's vergeigt.“

Er steckte sich den Lauf seiner Waffe in den Mund, entsicherte und sprach ein stummes Gebet, bevor.

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