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Feilkode 418

Eine von sechzehn

Eine von sechzehn · Romane

Virginia ist eine von 16 Priesterinnen eines antiken Tempels. Als das Heiligtum des Tempels gestohlen wird, macht sie sich auf die Suche.

Hva vil du med boka?

"Eine von sechzehn" ist eine Abenteuergeschichte mit einer starken Heldin, einer Frau der Tat. Der Erzähler der Rahmenhandlung, Al, der sich die Geschichte angeeignet hat, hingegen ist eher ein Beobachter. Daran ist mir wichtig, dass Geschlechterstereotypien damit unterlaufen werden. Al glaubt, eine Geschichte gefunden zu haben, aber in seiner Übersetzung modernisiert er sie nicht nur, manchmal - so beschleicht die Leser zunehmend der Verdacht - hat er sie auch schlicht erfunden, weil viele Ereignisse Umstände aus seinem eigenen Leben widerspiegeln. Damit werden die Leser aufgefordert, die Geschichte nicht passiv zu konsumieren, sondern ständig auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen: Wer erzählt, und was will er damit erreichen? Es ist eine Erzählung mit der ganzen Freiheit der Vorstellungskraft, die wir aus der Gattung "Fantasy" kennen. So begegnet Virginia z.B. einem Drachen und einem Riesen und unternimmt sogar eine Reise in die Unterwelt. Aber ich verzichte auf die große abschließende Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse, die ich für ideologisch fragwürdig halte.

Om forfatteren

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Ich wurde 1964 in Bremen geboren und habe in den 80er Jahren in Bamberg Soziale Arbeit, Englische Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Nach Stationen in Paderborn, Regensburg, Essen, Wü...

Leseprobe (max. 60 000 Zeichen)

Eine von sechzehn

Kapitel 1

Nennt mich Al 

Archäologen sind ja wohl die phantasielosesten Wesen auf diesem Planeten. Das hat mich ziemlich überrascht; ich dachte immer, wer aus einem Säulenstumpf eine ganze Säule erschaffen kann, die in den Himmel ragt, oder gar eine Säulenreihe, oder aus den Überresten der Grundmauern eines Hauses, die nicht viel mehr hergeben als die Kreidelinien auf dem Asphalt, wenn Kinder Vater-Mutter-Kind spielen, eine ganze niedergebrannte Stadt rekonstruieren kann, der muss schon über eine außergewöhnliche Vorstellungsgabe verfügen. Aber vielleicht ordnen sie sich auch nur dem Diktat der „Wissenschaftlichkeit“ unter und halten ihre lebhafte Einbildungskraft eisern im Zaum, als wäre sie ein Pferd, aus dessen Rücken sonst womöglich unversehens Flügel hervorsprießen könnten.

Ich besuchte eine Grabung in X, um dort für einen Artikel zu recherchieren, den ich für ein populärwissenschaftliches Magazin schreiben sollte, und war gerade nach mehrstündigem Flug gelandet. Das Flughafengebäude, eigentlich eher eine Art Verschlag, war dunkel und staubig, warm und stickig. Männer mit dunklen Gesichtern schrieen sich in einer unbekannten Sprache an. Ich war mit meinem Gepäck soeben glücklich wiedervereinigt worden und hatte meinen Pass einem humorlosen schnauzbärtigen Mann in khakifarbener Uniform vorgelegt. Die ganze Zeit spürte ich ein Unbehagen in meinen Gedärmen, von dem ich nicht wusste, ob es Angst war oder das Vorbeben einer Magen-Darm-Grippe. Ich überlegte, was ich im Flugzeug gegessen hatte. In den bekannten weißen Plastiktabletts mit Vertiefungen schwammen in einer klebrigen gelben Soße, die bei uns in der Mensa immer „Robert“ geheißen hatte, blasse Stücke einer undefinierbaren organischen Substanz. Fisch oder Fleisch? Oder Tofu? Ich kostete vorsichtig, konnte es aber immer noch nicht mit Sicherheit sagen. Also fragte ich den überforderten Steward, was das sei – er sagte: „Mermaid“ und hastete weiter in die Business Class, wo sich gerade wieder jemand lautstark über etwas beschwerte. „Mermaid“? Meerjungfrau? Im Ernst? Dann fragte ich mich doch, ob das, was ich da auf meinem Teller hatte, vom oberen Teil stammte, also Fleisch war, oder vom unteren Ende, also Fisch. Und war es jetzt also „Mermaid“, was da in meinen Eingeweiden rumorte? Ich machte mich zu einer großen Glastür auf, hinter der eine gleißende Helle war und sonst nichts. 

Hinter der Tür war die Hitze wie eine Wand, und ich fühlte mich, als würde ich gleich zu Boden gehen, weil ich dagegen gerannt war. Und vorhin hatte ich mich noch gefragt, warum sie denn im Flughafengebäude keine Klimaanlage hätten, und jetzt merkte ich, dass sie sehr wohl eine gehabt hatten. Draußen ging das Geschrei weiter, nur vernahm ich jetzt immer wieder auch ein und dasselbe Wort, das ich tatsächlich verstand, es lautete „Taxi“. Es war unfassbar, was mir unter dieser Bezeichnung alles angeboten wurde; ein besonders optimistischer Mann lud mich sogar ein, auf dem Gepäckträger seines Mopeds Platz zu nehmen. Ein ausgemergeltes, klappriges altes Männlein, das darunter sicher zusammengebrochen wäre, wollte gerne meinen Koffer tragen. Ich lehnte alle derartigen Anerbieten entschieden ab, denn ich sollte ja sowieso abgeholt werden. Ein paar dunkelhäutige Männer hielten Pappen mit Namen hoch, und ich versuchte zu erraten, unter welcher der abenteuerlichen Buchstabenkombinationen sich denn wohl der meine verbarg. Mein Brustbeutel mit Flugticket, Kreditkarte, Pass und weiteren wichtigen Dokumenten erzeugte einen warmen Schweißfleck unter meinem Hemd, aber wenigstens hieß das, dass er noch da war. Dann hörte ich eine deutsche Stimme meinen Namen sagen, und neben mir stand ein junger Mann Ende 20 mit Pferdeschwanz und in Strandbekleidung – T-Shirt, Hawaiishorts und Flipflops, der sich als Timo vorstellte, einer der studentischen Mitarbeiter des Projekts. Er nahm mir den Koffer ab und ging mir voraus auf den Parkplatz, wo er zu meiner Enttäuschung keinen Geländewagen aufschloss, sondern einen ziemlich ramponierten alten Ford mit Ladefläche.

Während der Fahrt sprach Timo wenig, weil der Straßenverkehr einen deutschen Fahrer, der bisher ein behütetes Leben geführt hat, tatsächlich vor ziemliche Herausforderungen stellte. Und ich lehnte mich zurück gegen die Kopfstütze und guckte aus dem Fenster. Wir fuhren zu schnell, als dass ich irgendetwas richtig hätte sehen können, aber ich stellte fest, dass die Umgebung des Flughafens sich architektonisch nicht sehr von vergleichbaren Orten in Deutschland unterschied, Autobahnzubringern zum Beispiel. Es wurde auch viel neu gebaut, hoch und aus Beton und unsagbar hässlich. Dann wieder sah ich aus dem Augenwinkel Häuser, von denen ich nicht glauben konnte, dass dort wirklich Menschen lebten. Zunehmend wurde der Verkehr weniger, aber dafür wurden auch die Straßen schlechter. Und die Gebäude wurden seltener, und dann fuhren wir eine Ewigkeit nur noch über freies Feld, wie es schien, nur Sand, Gestrüpp und Himmel. Die Straße, auf der wir fuhren, hätte ich längst schon nicht mehr als solche ausmachen können, aber Timo schien zu wissen, was er tat, und mehr noch, es schien ihm Spaß zu machen, denn er hatte begonnen, vor sich hin zu pfeifen. 

Ich hatte mir vor meiner Abreise im Internet eine Liste der Projektmitarbeiter angeschaut und wusste daher, dass Timo in der Hierarchie ganz unten stand. Es handelte sich um eine Kooperation von Teams aus drei Nationen, ein deutsches, ein französisches und ein einheimisches. Die Zusammenarbeit zwischen einer deutschen und einer französischen Forschergruppe hatte es ermöglicht, Mittel aus einem EU-Fördertopf einzuwerben, und darüber hinaus einen nicht unerheblichen Betrag aus einer Stiftung, die speziell deutsch-französische Kooperationen förderte, zur Vertiefung der bilateralen Freundschaft. (Während meines Aufenthalts konnte ich allerdings nicht feststellen, dass dieser Effekt in besonderem Maße erzielt wurde.) Das deutsche und das französische Team bestanden jeweils aus fünf Personen, die Einheimischen hatten einen Mann mehr. An der Spitze stand jeweils ein Professor mit seinem Assistenten, gefolgt von einem Doktoranden und zwei oder drei Studenten in fortgeschrittenen Fachsemestern, wobei die einheimischen studentischen Mitarbeiter bereits einen ersten Hochschulabschluss hatten. 

Am wichtigsten für mich war naturgemäß das deutsche Team, und hier hatte ich von Professor W. bereits einen Lebenslauf und eine Publikationsliste im Netz gefunden, von seinem Assistenten Dr. T. obendrein noch ein Foto. Ich hatte mir fest vorgenommen, beide konsequent immer mit ihren Titeln anzusprechen, und wenngleich sich in der pseudo-egalitären Atmosphäre des Camps alle mit Vornamen anredeten (mit Ausnahme der Einheimischen), war das offenbar richtig, denn Sandra, die Doktorandin von Professor W. bemerkte bei einer späteren Gelegenheit mal so nebenbei: „Ohne Buchstaben vor dem Namen hast Du hier sowieso nix zu melden.“ Sandra selbst hatte bisher nur Buchstaben hinter dem Namen – M.A. – und hatte mir gleich nach meiner Ankunft das Du angeboten, vermutlich, weil ich mich auf der selben Qualifikationsebene befand. Allerdings war sie gut zehn Jahre jünger als ich, eine hübsche Blondine, die man irgendwie gleich mit Freiluftsportarten in Verbindung brachte. 

Sandra war es auch, die mich unmittelbar nach meinem Eintreffen im Camp herumführte, aber da ich vom Flug und der Klimaumstellung noch ziemlich geschafft war, nahm ich nur die oberflächlichsten Eindrücke in mich auf. Ich sah, dass das Gelände mit Hilfe von Stecken und Schnüren in Planquadrate unterteilt war, in denen an verschiedenen Stellen Leute stumm vor sich hin arbeiteten, die meisten tatsächlich so, wie ich mir das vorgestellt hatte, mit kleinen Kellen und Spateln, aber einige saßen auch unter einem provisorischen Sonnenschutz und tippten auf ihren Laptops. Ich selbst hatte mich vor der Reise in einem Fachgeschäft für Tropenbedarf einkleiden lassen, aber hier sah ich alle Arten von Arbeitsbekleidung, von Timos Surferlook bis zu hochgeschlossenen blütenweißen Hemden beim einheimischen Team. Fast alle hatten sie etwas auf dem Kopf, Baseballkappe oder Indiana-Jones-Hut oder eben Schutzhelm. Professor W., als ich ihm dann vorgestellt wurde, trug einen klassischen Panama-Hut und ein Halstuch mit Paisley-Muster im Kragen seines Hemdes, und ich kam mir mit einem Mal in meinem Kolonialistenaufzug nicht mehr ganz so deplaziert vor. (Allerdings stellte sich später heraus, dass er gedacht hatte, ich würde den Fotografen gleich mitbringen; der sollte aber erst eine Woche später nachkommen. Und so buddelte Professor W. dann in den nächsten Tagen wie die anderen auch in einem ausgewaschenen Sweatshirt, auf dem verblasst allerdings noch der Name einer britischen Elite-Universität zu lesen stand.) Sandra trug Wanderstiefel und Karohemd, dazu Shorts – überhaupt wunderte ich mich, wie viel kurze Hosen und kurze Ärmel ich hier sah, denn nach der Lektüre der Gesundheitswarnungen des Robert-Koch-Instituts hatte ich den Eindruck gewonnen, dass jeder freiliegende Millimeter Haut jederzeit mit einer streng riechenden und leicht brennenden Salbe zur Insektenabwehr eingerieben zu sein hatte.

Aus der Entfernung hörte ich, wie der Motor des Ford wieder angelassen wurde. Nach einem ausgeklügelten Rotationsprinzip fuhren alle Mitarbeiter abwechselnd für ein bis zwei Tage in die „Stadt“, die etwa drei Stunden entfernt lag, wo das Projekt eine möblierte Wohnung angemietet hatte. In der Stadt gingen sie auf die Post und die Bank, kauften Vorräte ein, wuschen Wäsche und hängten ein paar Laptops und Handys an die Steckdose. Ich war gegen Ende meines Aufenthalts mal in der Wohnung, und „möbliert“ war eigentlich übertrieben; es gab dort zwei Betten, die nur unwesentlich bequemer waren als die im Camp, auf denen wie leere Kokons farbenfrohe Daunenschlafsäcke lagen, eine Waschmaschine mit Trockner und eine Dusche, bei der der Wasserdruck allerdings erheblich besser war als bei der improvisierten Angelegenheit im Camp. Der Fußboden war aus glänzendem Kunststein, ohne ein Stäubchen, und darauf saßen in regelmäßigen Abständen vor jeder Steckdose kleine Elektrogeräte, die gerade gesäugt wurden.

Die Verkehrssprache im Camp war, wenn alle zugegen waren, Englisch, was die Franzosen ärgerte, denn sie beharrten darauf, dass auch Französisch eine Weltsprache und eine bedeutende Wissenschaftssprache sei. Daraufhin machte Professor W. sich einen Spaß daraus, nun gerade sein lupenreines britisches Englisch vorzuführen, wenngleich mir einige seiner umgangssprachlichen Ausdrücke etwas antiquiert vorkamen. Aber Archäologen haben ja wohl sowieso ihre eigene Zeitrechnung. Überhaupt hatte ich mit Professor W. meine Schwierigkeiten; als Beispiel ließe sich anführen, dass er eine Brille mit getönten Gläsern trug, die sich in der Sonne automatisch verdunkelten. Und wann immer ein Gespräch sich auf heikles Terrain bewegte – wann immer es also, in meinem Sinne, interessant wurde – drehte er sein Gesicht einfach in die Sonne, und schon konnte ich seine Augen nicht mehr richtig sehen. Und obendrein hatte er einen widerlichen feschen kleinen Schnurrbart.

Mein wirklicher Feind aber war Dr. T.. Wie ich schon im Internet gesehen hatte, sah er außergewöhnlich gut aus, hatte sein Studium in Rekordzeit mit Prädikatsexamen absolviert und anschließend bei Professor W. mit „summa cum laude“ promoviert. Live war er genauso: perfektionistisch und extrem ehrgeizig. Während meines gesamten Aufenthalts habe ich ihn nie unrasiert oder auch nur verschwitzt gesehen – selbst seine himmelblauen Hemden schienen durch eine Art von magischem Bann gewissermaßen imprägniert, so dass kein Körnchen Schmutz es gewagt hätte, sich auf ihnen niederzulassen. Sandra und Timo hassten ihn von Herzen. Nur Jochen, der zweite studentische Mitarbeiter, schien nichts gegen Dr. T. zu haben, aber er war auch (wie Timo scharfsichtig bemerkte) ein kleiner Dr. T. im Larvenstadium, auch wenn er im Moment noch eher der Typus „Klassenbester“ und ansonsten weitgehend unsichtbar war. Timo und Jochen, die eigentlich natürliche Verbündete gewesen wären, waren einander durch ein gemeinsames Büro an ihrer Heimatuni und eine innige gegenseitige Abneigung verbunden.

Und wo ich jetzt gerade die ganzen Nebenfiguren eingeführt habe, kann ich mich auch gleich noch selber vorstellen. Ich bin 39 Jahre alt (also noch keine Vierzig), 1,85 m groß und wiege 81 Kilo. Ich bin Brillenträger, evangelisch-lutherisch, Gelegenheitsraucher, geschieden und Vater eines zehnjährigen Sohnes, der bei seiner Mutter lebt. Meine Freunde nennen mich Al, was eine Abkürzung meines Familiennamens ist; meine Eltern haben mich nämlich aus unerfindlichen Gründen Nathanael getauft. Ich habe Deutsch, Englisch und Geschichte auf Lehramt studiert und dann das Referendariat hingeschmissen, als ich das erste Mal echten Schülern gegenüberstand. Anschließend habe ich eine Weile gejobbt und dann ein Volontariat bei einer Zeitung absolviert. In meiner wagemutigen Jugend habe ich wie wir alle mal davon geträumt, Kriegsberichterstatter zu werden. Ich würde mit den anderen Auslandskorrespondenten in einem Hotel mit weißen Balkonen im Kolonialstil sitzen und meine Berichte nach Hause telegrafieren, während einem draußen auf der Straße Kugeln um die Ohren pfiffen und von Zeit zu Zeit ein Laster explodierte. Und wenn dann irgendwann der Strom ausfiel, würden wir uns, hartgesotten wie wir waren, nur darüber beklagen, dass wir jetzt keine Daiquiris mehr machen konnten, sondern auf lauwarmen Whisky umsteigen mussten. Aber damals war Jörg (mein Sohn) noch klein, und auch sonst war mir in meinen lichten Momenten klar, dass ich für ein solches Leben nicht geschaffen war. Und so spezialisierte ich mich auf Wissenschaftsjournalismus, denn wie die Karrieren meiner Kollegen zeigten, musste man dafür nicht unbedingt selbst Wissenschaftler sein. Es genügt, wenn man gut verständlich erklären kann – das kann ich – und man muss auch packend schreiben. Und um den Leser zu packen, muss man erst einmal einen bestimmten ungewöhnlichen Winkel finden, von dem man sein Thema packen kann. Manche Themen sind natürlich Selbstläufer; Mumien zum Beispiel sind toll. Oder auch Spiegelneuronen, weil jeder gerne glauben möchte, dass Empathie bereits im Tierreich existiert; klar möchte ich, dass mein Hund mich genauso liebt wie ich ihn. (Den Hund hat auch meine Frau behalten.) Und auch sonst sind alle Themen gut, die die Kommunikation zwischen Mensch und Tier betreffen, wenn beispielsweise eine Gorilladame lernt, Symbole zu gebrauchen.

Aber wie gesagt, für die meisten anderen Themen braucht man einen bestimmten Zugriffswinkel, und den hatte ich bei meinem derzeitigen Auftrag noch nicht gefunden. Dies war nämlich keineswegs die erste Ausgrabung, die in X stattfand. (Dieses „X“ fängt an, mir auf die Nerven zu gehen, aber es wird später schon noch deutlich werden, warum ich auf dieses Verfahren zur Anonymisierung zurückgreifen muss. Und X bezeichnet ja schließlich auch einen Ort auf einer Karte – von der Lage des vergrabenen Schatzes bis „Hier wohnen wir“. Aber auf die Dauer wäre mir doch etwas Klangvolleres lieber, am besten etwas, das mit X beginnt. Xanten am Niederrhein, von wo der Recke Siegfried auszog, um den Drachen zu erschlagen und selbst unverwundbar zu werden? Zu deutsch. Also wähle ich jetzt Xanadu, den mythischen Ort, an dem der Kubla Khan seinen Palast errichtete. Das habe ich aus einem Gedicht der englischen Romantik, und von da kann ich mir auch gleich die anderen Ortsbezeichnungen ausleihen, „Abora“ für einen Berg, und „Alph“ für einen Fluss, obwohl mir „Ararat“ und „Aleph“ eigentlich lieber wären, aber vielleicht habe ich im weiteren Verlauf dieser Geschichte ja noch für mehrere Berge und Flüsse Verwendung.)

Eine erste Aussicht auf einen Zugang zu meinem Thema versprach ich mir von der Führung am nächsten Vormittag, wo Professor W. und Dr. T. mir ihre bisherigen Funde zeigen wollten. Ich hatte in meinem ungewohnten Feldbett relativ schlecht geschlafen, aber jetzt, im Morgenlicht und nach mehreren Tassen von sehr heißem schwarzen Kaffee aus einer Blechtasse sah ich dem Dasein schon wieder optimistischer entgegen. Professor W. hatte die Funde, von denen er dachte, sie könnten was für mich sein, auf einem großen Holztisch ausgelegt. Das erste Objekt war eine bronzene Fibel in Form einer Schlange, deren eines Auge aus einem blauen Halbedelstein bestand, das andere hatte sie verloren. Auch sonst sah sie eher mitleiderregend aus, denn ihr Leib war an verschiedenen Stellen unterschiedlich dick, aber nicht so, als hätte sie gerade eine Maus verschluckt, sondern eher, als sei sie von einem Auto überfahren worden. Ja, das stimmte: irgendwie sah sie tot aus. Der zweite Gegenstand war ein kleines Holzstück, geformt wie ein Badethermometer oder ein Spielzeugboot, mit Einkerbungen an Bug und Heck – Professor W. erklärte mir, das sei ein Weberschiffchen, und setzte zu einem gelehrten weitschweifigen Vortrag über die Entwicklung der Webkunst in der von ihm untersuchten Kultur an. 

Der dritte Fund war eine kleine Tonskulptur einer Ziege und der erste Gegenstand, den ich unmittelbar gerne anfassen wollte. Diese Ziege hatte offensichtlich Charakter, mit ihrem durchgedrückten Rücken – wie bei einer Kunstturnerin – dessen Schwung sich bis in die Spitzen ihrer Hörner fortsetzte, und dem neugierigen Blick aus ihren mandelförmigen Augen. „Eine Opfergabe, wahrscheinlich“, sagte Professor W. uninteressiert (denn sie war ja nicht aus Textil). „Darf ich sie in die Hand nehmen?“ fragte ich. „Ja, natürlich – wir fassen das ja auch an“, antwortete er. Sie fühlte sich genauso an, wie ich erwartet hatte: schwer und glatt wie ein Kiesel, mit einer Oberfläche wie Kreide, kalt zunächst, und dann zunehmend wärmer, je länger ich sie hielt. Ich stellte mir vor, wie ich sie als Handschmeichler in der Jackentasche trug, und dachte an Disneys Ziege im „Glöckner von Notre Dame“, die charmant und boshaft zugleich war und immer erstmal kurz Maß nahm, bevor sie einen der anderen Charaktere mit einem Stoß ihrer Hörner in die Botanik beförderte. – Eine ovale Pillendose aus Bronze, deren Deckel durch zwei eingravierte Linien derartig in drei Teile geteilt war – Kopf und zwei Flügel – dass das stilisierte Bild eines Käfers entstand; und gab es nicht auch einen Käfer, der „Heiliger Pillendreher“ hieß? – Eine weitere Skulptur, aber diesmal abstrakt und aus schwarzem Stein, bestehend aus einer kleinen Säule auf einer Art Unterteller. An der abgerundeten Spitze der Säule konnte ich ebenfalls feine Gravuren ausmachen, und als ich sie näher in Augenschein nahm, wich ich unwillkürlich zurück, denn jetzt hatte ich gemerkt, dass es sich eindeutig um ein Phallussymbol handelte. Ich wusste natürlich, dass viele alte Kulturen den Phallus bildlich dargestellt oder sogar als Kultobjekt verehrt hatten, aber in meiner Kultur ist er eben das Eine, das man nicht zeigen oder abbilden darf, oder jedenfalls nicht jenseits von Pornofilmen oder Junggesellenabschiedsbedarf im 1-Euroshop. 

Das sechste Objekt war ein großer Teller, auf dem in Orange vor schwarzem Grund drei weibliche Figuren in wehenden Gewändern (die drei Grazien?) miteinander tanzten. Sie hielten sich im Kreis an den Händen, und ich bewunderte die Kunstfertigkeit des antiken Meisters, der nicht nur die Kreisform des Tellers perfekt ausgefüllt hatte, sondern durch den Rhythmus der sich hebenden und senkenden Hände und Füße – jede Figur eine Variation der beiden zu ihrer Rechten und ihrer Linken – das Wesen des Tanzes selbst zum Ausdruck gebracht hatte. Wäre ich ein Fernsehjournalist gewesen, so hätte ich den Kameramann aufgefordert, sein Objektiv über das Bild auf und ab zu führen, während aus dem Off Tanzmusik erklang. Aber auch für unseren eigenen Fotografen würden die Funde eine Menge hergeben, nur für mich selbst war ich immer noch nicht zufrieden, denn sie alle gehörten zu der Klasse der Dinge, die sich offenkundig besser durch eine Abbildung als durch Sprache wiedergeben lassen; sie hatten ihren eigenen ästhetischen Reiz, aber sie boten nicht wirklich eine „Geschichte“.

Das änderte sich, als Professor W. zum letzten Gegenstand kam, der offenbar der bisherige Hauptfund der Grabung war und den er sich deshalb bis zum Schluss aufgehoben hatte. Aus einer irdenen Vase entnahm er eine Schriftrolle aus Pergament und breitete sie kurz vor mir aus. Das Pergament war gelblich und von Reihen kleiner Punkte durchzogen, als hätte der antike Schreiber sich vorher Hilfslinien gezogen. Die Schrift konnte ich nur mit Mühe lesen, ich erkannte nur wenige Worte: „ich“ und „aus“ und „Gott“ – dann rollte Professor W. das Manuskript auch schon wieder zusammen und verwahrte es erneut. „Wir haben den Text unmittelbar abgefilmt und erstellen jetzt am Computer eine Übersetzung“, erklärte er. Sandra setzte sich mit ihrem Laptop neben mich und zeigte mir ein kurzes Stück aus dem Film, und wie man jedes einzelne Bild einfrieren und vergrößern konnte, um manuell eine Abschrift zu erstellen. Aus einer anderen Datei zeigte sie mir dann ihre Transkription, an der mehrere Bearbeiter mitgewirkt hatten, die die Arbeit der anderen am Rand kommentiert hatten. „b1“ war offenbar Dr. T., der einen Großteil der Abschrift vorgenommen und die Arbeit der anderen auch besonders ausführlich (und nicht immer freundlich) kritisiert hatte. Sandras eigener Anteil war nicht viel geringer, und sie hatte außerdem, wieder zusammen mit Dr. T., damit angefangen, den transkribierten Text ins Deutsche zu übersetzen. Damit waren sie anscheinend aber noch nicht besonders weit, und Sandra zeigte mir auch diese Datei kurz, aber die deutsche Fassung klang so gestelzt und umständlich, dass ich davon auch nicht viel hatte: „So schicke denn ich, Virginia aus dem Hause der Tallis früher gewesen Priesterin der V., im Jahre 27 der Regentschaft des Q., mich an…“ Mein Gott. 

Aber trotzdem: bereits in dem Moment, als Professor W. die Schriftrolle aus der Vase gezogen hatte, hatte ich eine unbestimmte Erregung gefühlt, die man am ehesten mit „Das isses!“ in Worte fassen könnte. „Und inwiefern ist das jetzt was Besonderes?“ fragte ich, denn dass es etwas Besonderes war, daran hatte ich instinktiv nicht den geringsten Zweifel – ob das nun daran lag, dass Professor W. die Präsentation des Manuskripts vorbereitet hatte, als käme jetzt gleich ein Tusch, oder daran, dass es nun einmal ein Text war und Texte mein Ressort sind. Dr. T. fühlte sich durch meine Frage gleich provoziert, offenbar hatte er sie für die höfliche Version von „Und – ist das jetzt was Besonderes?!“ gehalten. „Das Manuskript ist ungewöhnlich gut erhalten, ich würde sogar sagen, nahezu vollständig“, fing er an, „und das ist bemerkenswert, sofern die im Text selbst genannte Datierung zutrifft. Und es handelt sich um eine Periode, aus der wir bisher nur sehr wenige Quellen haben. Und auch der Text selber ist ungewöhnlich – er ist, naja – neu.“ Ich dachte mir, dass das Wort „neu“ für einen Altertumsforscher vermutlich an sich schon eine Art Schimpfwort darstellt. „Es ist keine Version oder Variation einer Geschichte, die uns bereits bekannt ist. Und es ist in Prosa verfasst, und Prosa ist in dieser Epoche für Geschichtsschreibung reserviert – Dichtung wird in Versen verfasst. Prosa bedeutet: was jetzt kommt, ist wahr.“ – „Vielleicht ist es das ja“, meinte ich. Dr. T. schüttelte mitleidig den Kopf: „Das ist kaum möglich – wissen Sie, es ist da von Drachen und Riesen die Rede, und selbst, wenn man annimmt, dass der Autor damit etwas anderes meint, als wir uns heute darunter vorstellen…“ „Beziehungsweise die Autorin“, unterbrach Sandra ihn, und, zu mir gewandt: „Das ist nämlich eine weitere Besonderheit, dass der Text von einer Frau verfasst wurde.“ – „Oder von einem Mann, der vorgibt, eine Frau zu sein“, ergänzte Dr. T.. „Jedenfalls scheint es Dichtung zu sein, die im Gewand der Reportage daherkommt, eine ganz neue Mischform in der Literatur, nicht Fisch und nicht Fleisch.“ („Mermaid“, dachte ich.) „Wir kennen Beispiele für die umgekehrte Vorgehensweise“, erläuterte Sandra, „also Lobgesänge in Vers auf berühmte Personen, die tatsächlich existiert haben. Aber sorum…“ Sie zögerte. „Ist es tatsächlich – neu.“ – „Und was werden Sie jetzt damit machen?“ fragte ich. Dr. T. sah Professor W. an, und der sagte: „Nun, wir werden natürlich publizieren – die Transkription zusammen mit einer wortwörtlichen deutschen und einer englischen Übersetzung. Und ich nehme an, die Sammlung, in der das Manuskript schließlich unterkommt, wird eine neue Filmversion erstellen – das kann aber noch ein paar Jahre dauern.“ Das würde also die Endstation für diese Schriftrolle sein, mit allen Drachen und Riesen, die sich darin befanden: ein gläserner Sarg in einem Museum. „Aber wenn Sie das für Literatur halten“, wandte ich ein, „sollte das dann nicht auch literarisch übersetzt werden?“ Dr. T. sah mich scharf an. „Und wer will das machen?“ fragte er. „Sie?!“ – „Ich müsste mir das Ganze natürlich erstmal näher ansehen“, sagte ich zögernd, „aber ich denke, es hängt stark vom Stil der Übersetzung ab, ob dieser Text auch für ein größeres Publikum zugänglich wird…“ Ich fing einen Blick zwischen Dr. T. und Professor W. auf, der mir zeigte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. „Wir sind hier nicht ganz so sehr auf Popularität aus“, sagte Professor W. gedehnt. „Ich denke doch, wir sollten am Ideal einer möglichst wortgetreuen Übersetzung festhalten.“

Dass sie mich an den Text nicht ranlassen wollten, verstärkte meine Neugier nur noch, und beim gemeinsamen Abendessen im Großen Zelt kam ich auf mein Anliegen zurück. Die Stimmung war gelöst, denn die Franzosen hatten irgendwas zu feiern und aus ihren Vorräten ein paar Flaschen Rotwein rausgerückt. Frau Dr. L., eine gut erhaltene Mittvierzigerin aus dem französischen Team und neben Sandra die einzige Frau im Projekt, hatte sich in Schale geworfen und trug ein schwarzes Kleid mit tiefem Rückenausschnitt und einen scharlachroten Schal. Sie hatte begonnen, mit Professor W. zu flirten, der nicht recht wusste, was er machen sollte, obwohl ich den Eindruck hatte, dass der eigentliche Adressat ihrer Darbietung Dr. T. war. Dann gab sie es plötzlich auf, zuckte kaum merklich mit den Achseln und ging mit mir vor die Tür, eine rauchen. „They don’t like you much, do they?“ stellte sie sachlich fest, als ich ihr Feuer gab. Da hatte sie allerdings Recht, und aus diesem Grund sagte ich auch kurz darauf gute Nacht in die Runde und zog mich in mein eigenes Zelt zurück.

Ich versuchte, noch etwas zu lesen, aber es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren – im Großen Zelt hatten sie angefangen, alte Beatles-Songs zu spielen. Vielleicht sollte ich noch eine rauchen. Ich ging nach draußen, da merkte ich, dass Dr. L. mein Feuerzeug behalten hatte. Draußen war der Himmel voller Sterne, viel mehr, als ich das von zuhause kannte. Und umgekehrt stellte ich mir vor, wie unser Lager in der Wüste wohl von dort oben betrachtet aussehen mochte, auch wir eine Ansammlung von Lichtern. „Dort oben leuchten die Sterne, und unten da leu-heuchten wir.“ (Ich erinnere mich, wie ich mit Jörg beim Laternenumzug war, als er fünf war, und wie fest er meine Hand hielt, nachdem er im Gedränge kurz verlorengegangen war.) Da oben, das ist der Große Wagen, und da unten, das ist das Große Zelt… Ich näherte mich dem Großen Zelt, während John, Paul, George und Ringo „Strawberry Fields Forever“ sangen. Die Silhouetten der Forscher hoben sich wie in einem Schattenspiel von der Zeltleinwand ab. Ich erkannte Professor W. an seinem lächerlichen Hut und den leicht vorgebeugten Schultern, daneben Dr. T. in straff aufgerichteter Haltung, und eine sitzende Gestalt mit Pferdeschwanz. Timo? Nein, Sandra. Und dann merkte ich, dass ich auch hören konnte, was sie sprachen. Das lag einerseits daran, dass sie gegen die Musik anschreien mussten, zum anderen daran, dass sie dem französischen Rotwein ausgiebig zugesprochen hatten. „Von wegen!“ (das war Dr. T.) „Der publiziert mir hier gar nix!“ Eine Antwort von Sandra, die ich nicht verstand, aber vom Tonfall her etwas Mäßigendes, Beruhigendes. „Nein, auf gar keinen Fall!“ (wieder Dr. T.) „Das fällt ja auf unser ganzes Projekt zurück, wenn er da so ein unwissenschaftliches Romänzchen veröffentlicht – das kann uns bei zukünftigen Bewerbungen um Fördermittel unermesslichen Schaden zufügen.“ – „Ich glaube, einen zweiten Blick können wir ihm schon mal gestatten“, schaltete sich Professor W. ein. „Irgendwas muss er ja in seinem Artikel auch schreiben. Und damit wären wir dann auch der Forderung der Hochschulleitung nach größerer Außenwirkung nachgekommen. Ich glaube, wegen seinen Übersetzungsplänen brauchen wir uns keine großen Sorgen zu machen; da reichen seine Sprachkenntnisse gar nicht aus.“ – „Dann sehe ich aber nicht ein, wozu er den Originaltext überhaupt braucht.“ Dr. T. war weiterhin stur. „Der soll hier so eine Art „Götter, Gräber und Gelehrte“ schreiben, über die faszinierende Arbeit des Archäologen, das ist ja wohl Außenwirkung genug.“ – „Dann gebt ihm doch einen kurzen Textabschnitt, der in sich abgeschlossen ist, und den ihr schon weitgehend bearbeitet habt, da kann er ja dann ein bisschen draus zitieren.“ Und so wurde es dann auch gemacht. Ich bekam mein sauber zugeschnittenes Texthäppchen, und damit hätte ich mich wohl zufrieden geben sollen. Aber dieses Appetithäppchen, selbst in der ungelenken „wortgetreuen“ Übersetzung von Dr. T., hatte etwas – jeder Reporter wird Ihnen sagen, dass es dieses undefinierbare Etwas gibt, das man „eine gute Geschichte“ nennt, und das ist genauso eindeutig wie beispielsweise ein schlechter Witz. Und was da in dieser Vase steckte, war eine gute Geschichte, und sie wollten sie mir vorenthalten.

Ein paar Abende später war ich mit Sandra in ihrem Zelt; sie hatte mir auf ihrem Laptop eine Passage der Transkription gezeigt, zu der ich innerhalb der engen von Professor W. und Dr. T. gezogenen Grenzen Zugang haben durfte. Jetzt saß sie mit hochgezogenen Beinen auf einer Art Regiestuhl, hatte die Wanderstiefel ausgezogen und rieb sich ihre schmerzenden Zehen. Mit Überraschung hatte ich registriert, dass sie schimmernden rosa Nagellack auf den Fußnägeln trug, dabei war sie doch sonst so bemüht, ihre Weiblichkeit so weit wie möglich zu verbergen. Ich glaube, ich hatte ihr noch eine Verständnisfrage zum Text gestellt, und sie stand kurz auf, um mir auf dem Bildschirm etwas zu zeigen. Die Schlange war nur eine schnelle Wellenbewegung auf dem Boden. Sandra schrie auf, ließ sich auf den Stuhl fallen und fasste erneut an ihre Zehen. Ich alarmierte so schnell ich konnte Professor W., und bald war im Zelt die Hölle los. Weder Sandra noch ich hatten die Schlange genau gesehen und konnten daher die Fragen nicht beantworten, die Dr. T. uns stellte – war der Kopf birnen- oder diamantenförmig? Deutlich vom Körper abgegrenzt? Hatte die Schlange eine markante Zeichnung gehabt? Ich wusste nichts davon zu sagen; für mich hatte sie nicht besonders repräsentativ ausgesehen, nicht sehr groß und graubraun. Aber es gab in dieser Region wohl mehrere Arten von Schlangen, auf die diese Beschreibung zutraf, und von denen waren die meisten harmlos, eine allerdings war hochgiftig. Sandra war leichenblass und hatte Schweißtröpfchen auf der Oberlippe, dabei zitterte sie. Jemand hatte ihre eine beige Wolldecke mit großen braunen Blumen um die Schultern gelegt. Und jetzt würden Professor W. und Timo (der beste Fahrer) mit ihr ins Krankenhaus fahren. Was sollte ich machen? Ich konnte hier doch nichts Sinnvolles beitragen, daher ging ich in mein Zelt. Nachdem ich dort eine Weile planlos herumgeräumt hatte, fiel mir auf, dass ich mein Diktiergerät in Sandras Zelt liegengelassen hatte; also ging ich noch mal zurück. Das Diktiergerät stand auf dem Tisch, neben Sandras Laptop, und als ich die Hand danach ausstreckte, sah ich, dass der Laptop noch an war. Auf eine leichte Berührung des Touchpads öffnete sich die Datei „Transkriptionkomplett“, und wie ich an der Leiste unten auf dem Bildschirm sehen konnte, war auch „Übersetzung1“ noch geöffnet. An meinem Schlüsselbund hatte ich einen USB-Stick in der Gestalt von Yoda aus „Krieg der Sterne“, den Jörg mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Es dauerte nur wenige Sekunden, die beiden Dateien auf den Stick zu ziehen. So – „Hardware sicher entfernen“ – und dann fuhr ich den Laptop ordnungsgemäß herunter.

Und so kam es, dass ich, als ich das Camp verließ, eine fast vollständige Textfassung, sowohl in der Originalsprache als auch auf Deutsch, bei mir im Gepäck hatte. Ich schrieb meinen „Götter, Gräber und Gelehrte“-Artikel mit dem Textabschnitt, den Professor W. mir gnädigerweise zugestanden hatte, aber für die Übersetzung des Gesamttextes brauchte ich dann doch noch einmal Sandras Unterstützung. Sie half mir tatsächlich, aber sie beschwor mich zugleich inständig, alle Hinweise zu tilgen, die es ermöglichten, den „Abenteuerroman“, den ich zu veröffentlichen im Begriff war, mit ihrem Forschungsprojekt in Verbindung zu bringen – daher also die ganzen Abkürzungen und Xanadus und Aboras. Da ich aus stilistischen Gründen ohnehin ein paar Veränderungen an der Originalvorlage vorgenommen habe (mehr dazu in meinem „Vorwort des Übersetzers“), fiel das aber nicht weiter ins Gewicht. 

Vorwort des Übersetzers

Das Buch, das hier vor Ihnen liegt, ist die erste deutsche Übersetzung eines antiken Manuskripts. Der Fund und die Veröffentlichung dieses Manuskripts haben ihre eigene, durchaus abenteuerliche, Geschichte, die hier aber nicht erzählt werden soll. Wie immer bei der Übertragung eines Textes aus einem anderen Kulturkreis – gleich, ob nur räumlich oder wie in diesem Fall auch zeitlich von unserem getrennt – befindet sich der Übersetzer in einem Dilemma zwischen Texttreue und Lesbarkeit. In der vorliegenden Übersetzung hat der Übersetzer entschieden, den Text seinen Lesern in erster Linie zugänglich zu machen. Um ein frei erfundenes Beispiel zu nennen: statt „Lasset uns nun uns heimwärts wenden, Freunde, doch auf dem Wege lasset uns in die Schenke einkehren und dort dem köstlichen Met1 zusprechen“ (und in der Fußnote 1: „Met: von den alten Germanen aus Wasser und Honig hergestelltes berauschendes Getränk“) werden die Figuren der Handlung eher „Woll’n wir nich auf’m Heimweg noch ein Bierchen trinken?“ sagen. Ich werde also kulturelle Bezüge, die uns heute nichts mehr sagen, durch solche ersetzen, mit denen der heutige Leser etwas anfangen kann. Mir ist bewusst, und mein Agent hat mich auch darauf hingewiesen, dass eine altertümelnde Sprache für Leser historischer Romane oft gerade eine besondere Anziehungskraft hat. Aber in diesem Falle schiene mir das stilistisch unangebracht. Denn die Erzählerin, die uns in den Zeilen dieser Geschichte entgegentritt, und die sich Virginia nennt – beziehungsweise, Virginia genannt wird – erscheint mir in vielerlei Hinsicht so modern, als wäre sie tatsächlich unsere Zeitgenossin. Ich habe geschrieben, dass sie sich Virginia nennt, und das ist insofern richtig, als sie sich mit einem Namen vorstellt, den sie sich selbst gegeben hat, ihrem Ordensnamen nämlich. Aber ebenso trifft es zu, dass sie Virginia genannt wird, weil ich die Namen aller Personen in diesem Roman eingedeutscht habe und durch Namen ersetzt, die in Rhythmus und Klangfarbe dem Original nahe kommen, aber für die deutsche Zunge auszusprechen sind und dem deutschen Ohr vertraut klingen. Den Namen der lokalen Fruchtbarkeitsgöttin, in deren Dienst Virginia stand, habe ich hingegen nur mit „V.“ abgekürzt; er wurde wohl auch außer bei Ritualen innerhalb des Tempels selten verwendet. Und da es üblich war, in den Ordensnamen eine Anspielung auf den wirklichen Namen der Göttin aufzunehmen, habe ich hierfür Namen gewählt, die mit V anfangen. Für die Gemeinschaft der Priesterinnen im Tempel der V. habe ich häufig Begriffe wie „Orden“, „Schwestern“ oder „Noviziat“ verwendet, denn soweit ich sehen kann, war das Leben dieser Frauen vom Leben in einem christlichen Kloster gar nicht sehr verschieden, aber ich muss auch zugeben, dass ich für diese Epoche kein Spezialist bin. Beispielsweise legten sie ein Keuschheitsgelübde ab (was angesichts der Tatsache, dass die V. eine Fruchtbarkeitsgöttin war, seltsam anmutet), rasierten sich das Haar ab und trugen weite Gewänder, die alle Merkmale ihres Geschlechts verbargen. Was die Ortsnamen angeht, so ist es mir angesichts der noch ungeklärten juristischen Situation nicht möglich gewesen, die heutigen Bezeichnungen der Städte, Flüsse und Landstriche zu verwenden. Alle Ortsnamen sind daher meine eigenen, beziehungsweise teilweise von Coleridge. Die leidige Rechtslage macht es mir gleichfalls unmöglich, meiner Mitarbeiterin und Assistentin zu danken, die mir eine unschätzbare Hilfe war und ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. – S., Du weißt ja, dass Du gemeint bist, jetzt und immerdar!

Berlin, Dezember 2015

N. Altenthun

Kapitel I: In dem wir einen antiken Orden kennenlernen, der in eine Krise gerät, und Virginia eine Entscheidung trifft

Dann fange ich jetzt mal an. Ich bin Virginia, mein Familienname ist Tallis, aber den trage ich nicht mehr, seit ich vor zehn Jahren mein Gelübde abgelegt habe. „Virginia“ ist nicht der Name, den mir meine Eltern gegeben haben, sondern der Ordensname, den ich führe, seit ich Priesterin der V. bin – oder vielmehr war, das ist schwer zu sagen. Mein Vorname und mein Familienname gehören also nicht zusammen, das ist schon mal das Erste.

Ich habe mich entschlossen, meine Erlebnisse für die Nachwelt aufzuschreiben, weil ich glaube, dass sie es wert sind, bewahrt zu werden. Und ich glaube auch, dass ich das kann, denn im Noviziat wurden wir angehalten, jeden Tag Tagebuch zu schreiben, um Gewissenserforschung zu betreiben. Das ist so: wenn Du in Deiner Zelle sitzt und aufschreibst, was Du den Tag über alles getan und gedacht hast, sitzt Du Dir sozusagen selbst gegenüber wie vor einem Spiegel. Am nächsten Tag legten wir unsere Wachstäfelchen unserer Mentorin vor, und nachdem sie alles gelesen hatte, wurde es gelöscht – wir konnten also jeden Tag von vorne neu anfangen. Aber trotzdem hatten sich unsere Erlebnisse – umso mehr noch, als wir sie aufgeschrieben hatten – in unsere Hirne eingeschrieben, ganz gelöscht wurde also doch nichts. – Ob wohl mal eine von uns auf diesen Tafeln gelogen hat? Und wennschon, das wäre ja wohl ebenso aufschlussreich gewesen wie die Wahrheit. – Seit Beginn der Ereignisse, von denen ich hier berichten will, habe ich wieder angefangen, regelmäßig Tagebuch zu führen und alles am nächsten Tag wieder gelöscht. Und so schreibe ich jetzt alles zum zweiten Mal auf, aber in dauerhafter Form. 

Mein Problem ist also nicht mein Erinnerungsvermögen, mein Problem ist, dass ich nicht weiß, wer Du bist, der das hier liest. Vielleicht lebst Du viele hundert Jahre nach mir, und da weiß ich nicht, was ich Dir alles erklären muss, und was von unseren Sitten und Gebräuchen Dir fremdartig erscheinen wird. Unser Leben im Tempel der V. zum Beispiel. Es gab zu jeder Zeit 16 Priesterinnen in unserem Orden, und diese Anzahl erklärt sich daraus, dass unsere Hauptaufgabe die Bewachung eines wundertätigen Bildwerks ist, die von jeweils vier Schwestern gleichzeitig wahrgenommen wird. Das heilige Bildnis befand sich unter einem Dach, das auf vier Säulen ruht, aber zwischen den Säulen ist alles offen, nach Norden, Osten, Süden und Westen, weil die Strahlung des Segens in das umgebende Land nicht abgeschirmt werden soll: „Denn, so sage ich Euch, man deckelt ja auch keinen Topf über die Sonne!“ Wir, die Wächterinnen, standen mit dem Rücken zum Heiligtum, und blickten hinaus, jeweils nach Norden, Osten, Süden und Westen gewandt, für jeweils drei Stunden, dann wurden wir abgelöst. Später kamen wir für nochmals drei Stunden zurück, aber in neuer Zusammensetzung; der Dienstplan war so ausgeklügelt, dass wir immer mit anderen Mitschwestern zusammen Wache hielten, was wohl eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme darstellen sollte. Denn das Bildnis hatte außer seiner religiösen Bedeutung auch noch einen erheblichen materiellen Wert. Es handelt sich um ein Relief aus purem Gold von gut einem halben Meter Höhe, auf dem dargestellt wird, wie die V. auf einer Bergspitze einem Ziegenhirten erscheint. Der Legende nach hat die Göttin es als Gürtelschnalle getragen und dem Ziegenhirten geschenkt. Es war natürlich viel größer als eine normale Gürtelschnalle,  aber dann muss man sich ja wohl die V. selbst auch als weit größer vorstellen als einen gewöhnlichen Menschen. Womit ich immer meine Schwierigkeiten hatte, schon als Kind, war, wie dieses Ereignis, das Lösen und Verschenken der Gürtelschnalle an den Ziegenhirten, auf der Schnalle selbst abgebildet sein konnte, wo es bei der Herstellung derselben doch noch in der Zukunft lag. Die theologisch orthodoxe Antwort darauf ist natürlich, dass die V. über die Gabe der Prophetie verfügt, das heißt, dass in ihrem Geist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einfach so nebeneinander liegen, wie bei uns bloß Vergangenheit und Gegenwart (und die auch noch in verschiedenen Abteilungen).

Der Ziegenhirte, der das Relief empfing, trug den Namen Samos und war bis zu diesem Zeitpunkt durch nichts Besonderes aufgefallen. Es war eine Zeit großer Dürre, wie sie bei uns manchmal vorkommen: die Luft flimmerte, und alles war mit feinem weißem Staub bedeckt. Die Ziegen der Herde fanden an den gewöhnlichen Orten nichts zu fressen mehr, und so erkletterte eine von ihnen in ihrer Not den Abora, der zwar nicht der höchste Berg unseres Landes ist, aber einer der gefährlichsten. Wanderer kehrten zurück und berichteten, sie hätten Stimmen gehört oder Gesichte gesehen, und manch einer kehrte auch überhaupt nicht zurück. Der Hirte hatte zunächst gar nicht gemerkt, dass er im Begriff war, den Abora zu besteigen,  er war einfach nur seiner Ziege gefolgt, und die hatte einen Umweg genommen. Es muss wohl auch seine Lieblingsziege gewesen sein. Als er außer Atem oben ankommt – keine Ziege. Stattdessen eine gleißende Helle, und er konnte nur noch rufen: „Weiß! Weiß!“, dann verlor er das Bewusstsein. Als er erwachte, sah er über sich ein mächtiges weißes Segel, und da ihm noch unklar bewusst war, dass er sich auf dem Gipfel eines Berges befand, fragte er sich, wie da wohl ein Schiff hingekommen sein mochte. Und wie sein Blick suchend immer höher und höher steigt, erkennt er, dass das kein Segel ist, sondern das Gewand einer riesengroßen Frau von erschütternder Schönheit. Wenn er nicht schon gelegen hätte, hätte er sich zu Boden geworfen. Und als sie zu ihm sprach, da waren in ihrer Stimme alle Stimmen der Welt zugleich, vom Brausen des Sturmes über dem Meer bis zum Gesang des winzigsten Vogels, und wenngleich er nicht hätte sagen können, welche Sprache sie sprach, so verstand er doch jedes Wort. Sie sagte ihm, dass die Dürre noch sieben Tage andauern würde und dann ein Ende haben, aber dass die Bevölkerung der Stadt sich hüten müsse, aus dem Hauptbrunnen zu trinken, weil darin ein toter Hund lag, der das Wasser vergiftete. Und dann löste die Göttin ihren Gürtel und reichte dem Hirten die Schnalle, und wie sie das tat, da konnte er nicht anders, er musste sie einfach berühren. Sofort wollte er seine Hand wegziehen, denn sie brannte heiß wie weiß glühende Kohle, aber er konnte seinen Arm nicht mehr bewegen. Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag fiel er in Ohnmacht. Als er wiederum erwachte, war die Göttin verschwunden, aber die Gürtelschnalle war noch da, und unter unbeschreiblichen Mühen schaffte er sie ins Tal. In seinem Dorf glaubte man ihm seine Geschichte erstmal nicht, aber er hatte ja zum Beweis das Relief und, nicht zu vergessen, die Verbrennungen an seiner Hand. (Die Lähmung in seinem Arm besserte sich rasch.) Und als die Dürre nach sieben Tagen tatsächlich aufhörte und man im Brunnen tatsächlich einen toten Hund fand, schenkte man Samos endlich Glauben. Das heilige Bild wurde zunächst im Haus eines reichen Kaufmanns in der Stadt ausgestellt, und hier beobachtete man erstmals seine wundertätige Heilkraft, besonders bei Schwermütigen und Verzweifelten und bei unfruchtbaren Frauen. Dann entschied der Senat, auf dem Abora einen Tempel für die V. zu errichten, aber die Bauarbeiten waren von zahlreichen Unglücksfällen begleitet und als der Tempel endlich doch fertig war, wurde er kurz nach der Weihe durch einen Erdrutsch zerstört. Und genauso erging es dem zweiten und dem dritten Tempel an dieser Stelle. Schließlich entschloss man sich, den ganzen Berg Abora in der Mitte der Stadt nachzubauen, in kleinerem Maßstab natürlich, und der Tempel an diesem Ort hatte Bestand. So, und nun kennst Du also auch die Gründungslegende unseres Ordens.

Neben dem Wachdienst befassen wir uns mit dem Studium der heiligen Schriften und der Fürsorge für die Kranken und Armen. Im Noviziat wird festgestellt, für welche Laufbahn eine neu eingetretene Ordensschwester eine besondere Neigung und Eignung erkennen lässt, und manchmal hat eine Novizin auch eine besondere Gabe, eine prophetische Begabung oder die Fähigkeit, Wunderheilungen zu vollbringen. Ich wurde gleich nach meinem Eintritt für die akademische Laufbahn ausgewählt, und zu Anfang hoffte und glaubte ich noch, dass ich vielleicht auch das besondere Talent verliehen bekommen hätte, die Zukunft vorauszusehen. Nun, diese Annahme war ja wohl ungerechtfertigt, wie die folgenden Ereignisse gezeigt haben.

Der Nachwuchs des Ordens wurde traditionell aus der Oberschicht rekrutiert, und meine Familie, die Tallis, gehört zu einem guten Dutzend einflussreicher Familien, für die es zugleich eine Ehre und eine Verpflichtung ist, eine Tochter für den Dienst im Tempel bereitzustellen. Es war klar, dass es nicht meine ältere Schwester Gabrielle sein würde, denn Gabrielle ist sehr schön, hellblond und hochgewachsen, wurde sehr früh verlobt und war mit 21 bereits verheiratet. Und außerdem gibt niemand eine älteste Tochter, genauso wenig wie man den ältesten Sohn für die Armee oder das Priesteramt gibt. Trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass es mich ereilen würde, denn meine jüngere Schwester Aimee hatte seit ihrem zwölften Lebensjahr eine leidenschaftliche Religiosität an den Tag gelegt. Sie ging mehrmals in der Woche zum Gottesdienst und hatte in einer Ecke ihres Zimmers, wo früher ihre Puppenstube gestanden hatte, einen kleinen Hausaltar errichtet. Und daher dachten wir natürlich alle, dass Aimee die offensichtlichste Kandidatin war. Aber dann, mit 15, lernte sie einen wenig älteren Jungen kennen, der nicht zu unserer Gesellschaftsschicht und daher auch nicht zu unserem offiziellen Freundeskreis gehörte. Die beiden saßen nachts auf dem Vordach unseres Hauses und redeten miteinander – heimlich, das heißt, zumindest wussten unsere Eltern nichts davon. Und nach gut zwei Wochen davon waren sie plötzlich miteinander durchgebrannt. Sie wurden natürlich ziemlich schnell gefunden und zurückgebracht. Zwar hatten sie heimlich geheiratet, aber da sie beide minderjährig waren und die Einwilligung der Eltern nicht vorlag, war es kein Problem, die Ehe annullieren zu lassen. Aber zur Priesterin konnte man Aimee trotzdem nicht mehr weihen lassen, denn man darf der V. nur opfern, was völlig makellos ist, also auch keine gefleckten Schafe oder Hühner mit verkrüppelten Krallen. Das war auch der Grund, warum meine jüngste Schwester, Tallulah, nicht in Betracht kam. Tallulah ist ein liebes, fröhliches Mädchen, aber sie wurde mit einem großen Feuermal auf der linken Wange geboren. (Erst in letzter Zeit habe ich öfter mal darüber nachgedacht, was eigentlich aus Aimees Freund geworden ist. Ich glaube, er wurde bestraft, wahrscheinlich mit Stockhieben, und in die Kolonien abgeschoben. Aimee jedenfalls bekam Hausarrest und trat umgehend in den Hungerstreik, was sie auch fast eine Woche durchhielt.)

Und also war ich dran. Ich hatte mir mein Leben eigentlich schon anders vorgestellt, und außerdem war ich gerade erst seit einem halben Jahr verlobt, als die Geschichte mit Aimee passierte. Man kann nicht behaupten, dass ich meinen Verlobten – er hieß Friedrich – besonders geliebt hätte, aber ich hatte ihn ja auch erst vier- oder fünfmal gesehen. Er war groß, blond und schweigsam und hatte gute Manieren. Und er sah ungeheuer sauber aus, und er roch gut. Ich konnte mir gut vorstellen, mit ihm verheiratet zu sein, einige blonde Kinder zu haben und mit ihm auf seinem Gutshof zu leben, der ein paar Kilometer außerhalb der Stadt lag und auf dem er unter anderem Pferde züchtete. Ich muss zugeben, dass das Gestüt für mich mit ein Hauptanziehungspunkt gewesen war. Friedrich war der einzige Sohn, so dass sicher war, dass er das alles einmal erben würde, aber das hieß auch, dass er sich so schnell wie möglich nach einer anderen Ehefrau umsehen musste. Ich fuhr mit dem Wagen zu ihm hinaus, um ihm selbst zu sagen, dass ich ihn nun doch nicht heiraten konnte, aber ein weiterer Grund war, dass ich auf dem Gut gerne Stück für Stück von meiner bisherigen Lebensplanung Abschied nehmen wollte.

Meine Eltern ließen uns Zeit für uns alleine, und so gingen wir über den ganzen Hof und hielten uns dabei an der Hand. Wir sagten nicht viel, denn es gab ja nicht mehr groß was zu sagen, und Friedrich sprach sowieso nie viel. Es war Spätsommer, im Obstgarten hingen die Äpfel klein, grün, hart und rund an den Bäumen, und unter einem Apfelbaum scharrte ein desorientiertes weißes Huhn im Dreck. In der Ferne kam die Sonne zwischen den Wolken hervor und beleuchtete ein einzelnes goldenes Kornfeld, das auch noch zu Friedrichs Besitz gehörte. Zu den Pferden gingen wir an diesem Nachmittag nicht, aber ich hörte sie von der Koppel wiehern. Und wie um alles noch schlimmer zu machen, hatte Friedrich an diesem Tag auch noch Besuch von seiner Nichte, einer blondgelockten Dreijährigen. Alles schien darauf  ausgerichtet, mir mitzuteilen: „Sieh her, das hättest du alles haben können!“ Und trotzdem hielt sich meine Trauer in Grenzen; es war, als wenn ich immer schon irgendwie gewusst hätte, dass mir nichts davon jemals wirklich bestimmt war.

Tatsächlich geheult habe ich dann erst zwei Monate später, am Tag der Priesterinnenweihe, als sie mir die Haare abschnitten. Das war besonders bedauerlich, weil sie noch nie so schön gewesen waren, mehr so mausgrau – aber ich hatte sie wachsen lassen, und sie hatten sie mir für das Gelübde leuchtendrot gefärbt und zu Locken eingedreht, furchtbar schlecht für die Haare, aber die sollten ja dann sowieso runterkommen. Ich trug ein azurblaues Kleid mit Schleppe und Sandalen mit sehr hohen Absätzen und musste damit die lange Freitreppe hinabgehen, die vom Tempel hinunter zum Marktplatz führt. Da das ungewohnt war, hatte ich vorher in einem langen Kleid und hohen Schuhen auf der Treppe bei uns zuhause geübt. Wie zu erwarten war, hatte ich in der Nacht wenig geschlafen, aber auch meine Schwestern waren noch müde, als sie morgens um fünf in mein Zimmer kamen, um mich für die Zeremonie vorzubereiten. Als alles an mir fertig war, sah ich in den Spiegel und fand mich wirklich sehr schön. Ich weiß schon, warum sie das so machen: wenn wir schon auf soviel verzichten müssen, sollen wir wenigstens eine Art Hochzeitstag haben, mit dem Gefühl, wunderschön zu sein und der Mittelpunkt des Universums. 

Im ersten Morgenlicht trafen wir Kandidatinnen uns im Innenhof des Tempels. Wir waren zu dritt: außer mir war da noch Valerie, ein zierliches Mädchen mit schwarzen Locken und fast schwarzen Augen, die weit außen in ihrem Gesicht saßen, und Veronika, groß und schwerknochig, mit einer hohen Stirn und einem strengen Gesichtsausdruck. Man konnte sich gut vorstellen, dass ein Bildhauer sie als Modell für eine Marmorskulptur auswählen würde. Valerie trug ein gelbes Seidenkleid, Veronika war in roter Wolle. Wir sprachen wenig; ich wusste, dass Valerie nicht freiwillig hier war und dass Veronika vor der Zeremonie noch einen Moment innere Einkehr pflegen wollte. Dann erklang der Gong als Zeichen, das wir losgehen mussten – ich fühlte den Widerhall summend auf meiner Haut. Der Boden war, als ich aufstand, auf einmal ganz weit entfernt. Und noch weiter entfernt, unten am Fuß der Treppe, wartete die Menschenmenge, jubelnd und johlend. Wenn ich hinuntergeschaut hätte, wäre ich, glaube ich, die ganze Treppe hinabgetaumelt, ins Stolpern geraten und ohnmächtig unten angekommen. In meinem Kopf sah ich eine geisterhafte zweite Virginia, der genau das passierte. Im letzten Drittel der Strecke standen die Menschen am Rande der Treppe aufgereiht, vor allem die Schulmädchen, die man in ganzen Klassensätzen herangekarrt hatte, alle in Weiß, mit Blütenkränzen im Haar. Sie sangen und schwenkten Fahnen, und ich erinnerte mich, wie ich in meiner Schulzeit oft selbst so dagestanden hatte. Etwas weiter entfernt in der Menge sah ich auch meine Eltern und Geschwister, aber ich konnte sie nicht richtig ansehen. Mir fiel noch ein, wie merkwürdig es war, dass sie diesen Tag mit mir feiern wollten, wo er doch darauf abzielte, dass ich sie anschließend für immer verlassen würde. In mancher Hinsicht war es wirklich ganz wie auf einer Hochzeit; von Zeit zu Zeit ließ sogar jemand eine weiße Taube fliegen.

 Jede von uns dreien trug ihr Opfertier: eines aus dem Wasser, eines aus der Luft und eines von der Erde. Valerie hatte ein ovales Becken, in dem in türkisfarbenem Wasser ein Karpfen schwamm, Veronika ein weißes Huhn und ich eines von den weißen Kaninchen, welche zwar beliebt sind, weil sie selten sind, mir aber nicht besonders gefallen, weil sie rote Augen haben. Ich war extra für ein Wochenende hinaus in unser Landhaus gefahren, um zu lernen, wie man Kaninchen schlachtet, aber ich fand es immer noch schrecklich und hatte auch immer noch Angst, etwas falsch zu machen und dem Tier unnötig lange Qualen zuzufügen. Ich hielt das Kaninchen an meinen Bauch gedrückt, so warm und weich, und fühlte, wie es atmete und wie sein Herz klopfte, fast so schnell wie meins. Ich sprach eine Art Gebet zu meinem Kaninchen: „Bitte verzeih mir. Verstehst du, ich bin genauso unfreiwillig in dieser Lage wie du.“

Wir kamen auf dem Treppenabsatz an, wo uns Vespa, die Oberin unseres Ordens, hinter dem Opferfeuer stehend erwartete. Valerie war zuerst dran. Mit ihrer geschickten kleinen Hand griff sie ins Wasser, packte den Fisch, holte mit der anderen Hand aus und schlug den Klöppel treffsicher auf den Hinterkopf des Karpfens, dessen Augen vorher schon tot ausgesehen hatten, jetzt aber noch um einige Grade töter. Dann kam Veronika. Mir war klar, dass sie die technisch schwierigste Aufgabe vor sich hatte, weil es so lange dauert, bis ein Huhn nach dem Tode zur Ruhe kommt. Im Landhaus hatten sie mir von geköpften Hennen erzählt, die hinterher noch eine Viertelstunde wie wild durch die Gegend rannten. Veronika schob ihre Ärmel hoch, und unwillkürlich dachte ich, dass sie Metzger-Unterarme hatte. Glücklicherweise hatte sie aber auch das Geschick eines Metzgers – wo sie das wohl gelernt haben mochte? Und schon war das Huhn nicht mehr, und, da sauber verschnürt, auch nicht in der Lage, anschließend noch planlos herumzuflattern. Jetzt ich. Ich holte tief Luft und dachte an Aimee und daran, dass sie das hier niemals hätte tun können. In der Pubertät war Aimee mal eine Weile Vegetarierin gewesen, und auch jetzt aß sie nur Fleisch, dem man nicht ansah, dass es einmal ein Tier gewesen war, Fleischklößchen zum Beispiel, oder Burger. Ich dachte an Aimee, die immer noch zuhause lebte, aber nicht mehr mit unseren Eltern sprach, und dass ich das jetzt für sie tat, als ich den tödlichen Schlag führte. Und schon war das, was eben noch ein Tier gewesen war, bloß noch ein Ding, das bereits irgendwie mottenzerfressen wirkte. Ich dachte, dass es mir leichter gefallen wäre, einen Vogel zu töten als ein Säugetier, und leichter bei einem Fisch als bei einem Vogel, und dann schämte ich mich dafür, dass ich Tiere danach bewertete, wie nahe sie uns selbst auf der Stufenleiter der Evolution stehen. Die Priesterin schnitt fachkundig jedem Opfertier das Herz heraus und warf es ins Feuer; der Rest wurde für das anschließende Festmahl aufgehoben.

Dann begann der rituelle Gesang von Rede und Gegenrede, in dem die Priesterin uns fragt: „Welchen Namen hast du gewählt?“ – „Virginia.“ – „Bist du bereit, Virginia?“ – „Ja, ich bin bereit.“ – „Was hast du der V. gebracht?“ – „Ich habe der V. ein (Säuge)Tier von der Erde gebracht.“ – „Was hast du ihr sonst noch zu geben?“ – „Mich selbst.“ All das in der alten rituellen Sprache, die außerhalb des Gottesdienstes kein Mensch mehr benutzt, und wir hatten den vierwöchigen Vorbereitungslehrgang überwiegend dafür gebraucht, die korrekten Antworten auswendig zu lernen. Und auch jetzt konzentrierte ich mich darauf, jeden meiner Sätze richtig hinzukriegen, während ich mir gleichzeitig bewusst zu machen versuchte, dass dies ein bedeutender Augenblick sei, dass gerade etwas ganz Wichtiges mit mir passierte. Aber irgendwie gelang es mir nicht, ganz bei der Sache zu sein; ich fühlte es nicht, dass gerade etwas Wichtiges geschah, oder vielleicht fühlte ich auch nicht, dass ich es war, der das widerfuhr – und schon war der Moment vorbei. Ich hörte mich Armut, Keuschheit und Gehorsam geloben und dachte wie schon so oft zuvor, dass ich mit Armut und Keuschheit kein Problem hatte. Nur wie das mit dem Gehorsam werden sollte, da war ich ja mal gespannt. Dann folgte der Segen: die Hohepriesterin legte mir die Hand auf und salbte meine Stirn mit Öl, und die Welt fing mit einmal an, intensiv nach Rosen zu duften. („Leg deine Schatten auf die hellen Stirnen/ Und in den Herzen lass die Tränen los.“)

Wir gingen die restlichen Stufen hinab, und auf dem Marktplatz empfingen uns die Mitschwestern aus unserem Orden und nahmen uns in ihre Mitte, jeweils zwei zu jeder Seite – und wenn ich Valerie so ansah, schien das auch nötig zu sein, denn sie sah aus, als könnte sie jeden Moment einen Fluchtversuch unternehmen. Immer wieder versuchten einzelne Zuschauer aus der Menge, sich zwischen uns zu drängeln und uns zu berühren, weil es heißt, dass das Glück bringt.

Wir wurden ins Wohnhaus des Ordens unten in der Stadt gebracht, und dort wurden wir geschoren, aber dies geschah unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wofür ich sehr dankbar war. Nur das abgeschnittene Haar zeigt man ihnen natürlich vor. Wir wurden aus unseren Festkleidern geschält und bis aufs Untergewand ausgezogen, man nahm uns unseren Kopfputz ab – Valeries Diadem aus Perlen (für das Element Wasser), Veronikas Federkopfschmuck (für Luft) und meinen Kranz aus Blüten. Wir saßen auf einfachen weißen Küchenstühlen im Halbkreis und mussten den Kopf in den Nacken legen. („Der schönste Schmuck einer Frau.“ Ach nein, ich glaube, das ist die Tugend, oder?) Veronika hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, wahrscheinlich betete sie. Ich sah, dass Valerie ebenfalls die Augen zugekniffen hatte, und erst dachte ich, dass auch sie ein stummes Gebet sprach, aber dann merkte ich, dass ihre Unterlippe nur zitterte, weil sie versuchte, nicht zu weinen. Also machte ich auch die Augen zu, denn das war ja wahrscheinlich wirklich das Beste. Ich hörte das Schnippschnappen der Schere und dachte daran, wie meine Mutter versucht hatte, meinem kleinen Bruder beizubringen, dass Haareschneiden gar nicht wehtut. Und das sagte ich mir jetzt gerade auch vor. Erst hinterher, als ich meine roten Locken in der weißen Emailleschüssel liegen sah, kamen mir die Tränen. Aber bei mir war es weniger schlimm als bei Valerie, vielleicht weil meine Haare so eine ungewohnte Farbe hatten und sowieso nicht so aussahen, als wären sie je auf meinem Kopf gewachsen. Wir wurden in unsere Ordenstracht eingekleidet – in Weiß, weil das ja heute ein Festtag war – und unsere Hauben wurden eng um unsere Gesichter gebunden. Aber es stimmte nicht, wie ich jetzt merkte, dass wir dadurch alle gleich aussahen. Im Gegenteil: es war eher, als wären wir mehr wir selbst geworden, konzentriert auf das Wesentliche, ohne all die Äußerlichkeiten. Virginia-Essenz, sozusagen.


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