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Feilkode 418

NAME und BEDEUTUNG

NAME und BEDEUTUNG · Romane

Alles spricht für eine sog. 'Schizophrene' als Täterin in einem Mordfall. Der Nachweis misslingt. Kann die Psychiatrie das Rätsel lösen?

Hva vil du med boka?

Der Roman [R] gliedert sich in sieben Bücher [B] mit 24 Kapiteln. Dazu tritt eine Vorrede, 'The Handmaid’s Tale' sozusagen: ein Hrsg.-Bericht übers Auffinden/Bearbeiten der in Heften fragmentierten R-Manuskripte, Die B I, IV und VII explizieren die Rahmenhandlung. Im hermetischen Geviert einer psychiatrischen Anstalt mit Augenmerk auf die dortigen (Über-)Lebensumstände dreier Frauen und ihre Beziehungen miteinander wie auch zum Personal. Vielleicht evoziert der R den Eindruck, aus diesem 'Trio infernale' sei eine die Haupt-Protagonistin. In den Nicht-"Klapsen"-Parts II/III und V/VI wird er eventuell auch wieder subversiert ... aber wer kann darüber schon Genaueres wissen? — Hahaha! Diese Strukturandeutung soll keine Lesevorschrift implizieren, sondern eher wie Ariadnes Faden beim labyrinthischen Gang durch etwas Fremdes wirken, dann v.a., wenn ihn der Rezipient je für sich selbst "gesponnen" hat: Real existiert eben "bloß" seine Wolle, vielleicht sogar "nur" ein dafür erst zu scherendes Schaf ... J. Kristeva formulierte einmal: 'Fremde sind wir uns selbst'. Das könnte — neben Erfahrung/Umgang mit "genuin Fremden" — vielleicht als R-Kristallisationspunkt angesehen werden. Unterm Schirm Derridas 'différance'! Die LP offeriert etwas aus B III (gekürzt). Ob die Ich-Erzählerin jene aus den Anstaltsparts ist (und dieser R-Teil somit "rückblendet"), darf vielleicht als bohrendstes Rätsel gelten. Lösen könnte es aber nur sein/e Rezipient/in. Der R selbst wahrt das Geheimnis ...

Om forfatteren

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Mein Begriff sachlichen [...] Stils und Schreibens ist: hinzuführen auf das dem Wort versagte. Nur wo die Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Nacht sich erschließt[,] kann der magische Funke zwisc...

III. Buch
Abschied von Gomorrha

Une voix sans différance, une voix sans écriture est
à la fois absolument vive et absolument morte.

[Jaques Derrida: La voix et le phénomène. Introduction
au problème du signe dans la phénoménologie de

Husserl; Paris 2016, S. 120]
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[Technische Vorbemerkung: Im Text sind Zitate angeführt, die hier (verständlicherweise) bestehender Formatierungseinschränkungen wegen in Bold-Schrifttype gesetzt erscheinen, während sie im Original eingerückt sind. Wobei hier jene Zitatationen ausserdem noch kursiviert sind, die "externen" Werken — von Schriftstellerinnen wie Ingeborg Bachmann etc. — entnommen wurden, indessen aus den Heften einer der Protagonistinnen Zitiertes (diese Hefte ließen sich so in etwa als Tagebücher o.Ä. vorstellen) nur in Bold gesetzt ist, also nicht-kursiv.]
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1

NACHDEM SICH DER STURM GELEGT HAT und Aaliyas Finger wieder zärtlich durch mein Haar gehen, finde ich langsam in jene ruhevolle Situation zurück, die mich wie leises Meeresrauschen umflossen hatte, bevor es ihr Eintreffen auf etwas anderes hin überschritten haben sollte.

Ich war eines depressiven Gemütszustands innegeworden. Er befand sich noch in statu nascendi; was zwar Platz für Täuschung vorhielt, obgleich die vertrauten Symptome ihn stetig enger werden ließen: Langsam machten sie den Hauch von Wunscherfüllung nichtig, der anfangs noch darin geweht hatte. — Es gibt Situationen, die man gern von Irrtum umweht sähe. Beim Herannahen des depressiven Zustands war's so gewesen. Trotzdem hatte ich mich dafür zu präparieren versucht ... wie stets in solchen Augenblicken: Den Raum abdunkeln, sich aufs Sofa legen, die Augen schließen, langsam atmen, den Muskeltonus reduzieren und dabei entweder die Goldbergvariationen in Glenn Goulds idiosynkratischer Façon aus den Achtzigern hören ... oder Bibers Mysteriensonaten, von Alice Piérot eingespielt, jeweils in Endlosschleife ...

Der Entschluss war auf Biber gegangen; danach hatte das Bewusstsein, vom magischen Klingen der Musik aller irdischen Fesseln entbunden, seinen Weg zu etwas Unnennbarem genommen. — Wenn mir "alles zu viel wird" oder ich einer Meditation bedürftig bin; wenn simpliciter Ruhe und Abstand von der Welt nicht mehr nur ein kontingentes Bedürfnis artikulieren, sondern dringlich werden, greife ich öfter auf diese Übung zurück. Manchmal hilft sie auch unter den Auspizien heraufziehender Seelenfinsternis, vor allem, wenn ihr (noch) nicht jene Dimensionen zueigen sind, die Piet Kuiper unter diesem apotropäischen Namen figurieren lässt. Es hilft nicht immer, das Schlimmste abzuwenden — manchmal aber schon. Und die Hoffnung stand gut: Der depressive Anflug musste keineswegs als Vorzeichen einer schwereren Episode gedeutet werden. Es gab Zeichen, die eher für eine Verstimmung sprachen. — Ich hatte mal wieder in den Heften geblättert, mich an einer Stelle festgebissen und nicht nur die Augen darüber streifen lassen, sondern zu lesen begonnen. Mit verheerender Wirkung, da sich die Schrift äußerst sublim — es könnte allerdings auch 'hinterlistig' genannt werden — ins Bewusstsein graviert und damit ein Andenken heraufgeholt hatte, von dem eigentlich klar gewesen war, dass es Verletzungen evozieren, alte Wunden aufreißen würde.

Ich war keineswegs "drauf aus gewesen". Erst als der tiefe Sog angehoben hatte, wie bei Poes Maelström, nah schon am Rand des Abgrunds — am point of no return — hatte ich die Gefahr einer solchen "Augenwischerei" übern Spiegel der Schrift erkannt: zu spät, um ihrer Gewalt noch entkommen zu können. Obwohl sie der Anstoß für meine Recherche in den Heften gewesen sein sollte: Eine aktuelle Arbeit hatte mich angehalten, nach langer Zeit wieder Ingeborg Bachmanns Ein Schritt nach Gomorrha zu lesen. — Als ich an jene Passage kam, die Mara quasi schon um Charlottes Liebe betteln lässt, erstand mir ein déjà vu in beinahe vollendeter Luzidität. Noch nie hatte ich die Geschichte so gelesen! Keinmal vorher war sie mir auch nur annähernd auf gleiche Weise durchsichtig, ja, unmissverständlich ... und in ihrer grandiosen Bösartigkeit ebenso schön vorgekommen! Inzwischen kenne ich den Grund dafür. Er wurde durch Aaliyas Auftritt eklatant. Was mich aber zu den Heften getrieben hatte, war die Farbe Blau gewesen.

In Bachmanns Gomorrha-Erzählung wird sie kaum erwähnt; gleichwohl hatte sich mir während der Lektüre ein so übler Schein von Bläue aufgedrängt, dass ich ans eigne Geschreibsel darüber erinnert wurde.

Vor Aaliya war ich mit einer Frau liiert gewesen, für die ich tiefe Zuneigung empfunden haben sollte. Nach einer unsäglichen ... mir scheint: barbarischen Trennung, hatte mich lange Zeit Verzweiflung umspült, gepaart mit anfangs schweren Depressionen. Es mag sein, dass für sie unhintergehbare Gründe relevant gewesen waren, mir den Laufpass zu geben. Nicht deshalb hatte ich schlimm gelitten. Sondern weil sie dabei äußerst radikal vorgegangen war. Ich möchte sagen: extrem. Ohne irgendeine Erklärung, ohne Nachricht über ihren Entschluss und ohne Möglichkeit für mich, nachfragen, ja, überhaupt noch einen Kontakt herstellen zu können. Es hatte ihr gefallen, meine Existenz vollständig, ohne Rest, zu ignorieren, so, als habe es mich — für sie — nie gegeben. Alle bis kurz vorher noch lebendigen, mit gegenseitig bezeugter Liebe geflochtenen Bänder waren von einem Tag auf den anderen zerschnitten, Kontaktmöglichkeiten radikal gecancelt oder blockiert worden, genauso, wie sie damit unsere schon gemachten Pläne hatte ins Nirvana sinken lassen. In blau starrende Eisleere. Bösartig und kalt. Ich sah mich ins reine Nichts einer offenbar nie gewesenen Vergangen- und Verbundenheit geworfen. Es annullierte die Erinnerung ... so, als entgleite sie plötzlich ihrem fundamento in re, als sei davon nur eine Schimäre haltloser Phantasmagorien zurückgeblieben, am Ende vielleicht sogar ... "gestörter Einbildungskraft" ...

Es hat lange gedauert, bis ich aus dieser Starre herausfand. Und ohne Aaliyas sorgende Wärme, ohne das leicht ins Violett spielende Rot im Kern ihres Wesens, wäre ich vielleicht daran zugrundegegangen: schlicht im Zangengriff der fremden Eismaschine gestorben. Noch am Leben zu sein verdanke ich mithin Aaliyas sympathetischem Wesen. — Und der zauberischen Schrift! Denn mich ihrem gnädigen Fluss überlassen zu haben, war das zweite antidoton für die injizierte Kälte gewesen. Zwar konnte weder dieses noch jenes alle Tätowierungen auslöschen, die fremde bad intentions am Herzen eingraviert hatten: Stärkere gab's eben nicht! Jedoch milderte ihre Kraft den Schmerz, manchmal bis zum beinah völligen Verblassen.

An den Wörtern und Sätzen, die das zirkulierende Gift nach außen fließen ließen, kondensierte immer wieder ein Blau, mal alles in ein gleißend schönes Licht setzend, mal mit Bösem konnotiert. Als ich dessen am Ende der Lektüre von Ein Schritt nach Gomorrha innewurde, begann die Spurensuche. Mein Verdacht, die Geschichte mache viel Rot namhaft, um dem Unsagbaren an ihrem blauen Grundton seinen mystischen Widerschein zu wahren, näherte mich dann jedenfalls sehr schnell den eigenen Texten und mithin meinen Heften an. — Worin sich das Gesuchte fand. Und wenn es nicht nur Erkenntnis evozierte, ein Ahnen zumindest über die verwobenen Fadenbündel der ästhetischen Textur, sondern auch einen depressiven Schub auslöste, so muss das gar nicht so arg staunen machen. Wirklich seltsam dünkt mich eher, dass sich diese ... "Nebenwirkungen" so gut wie nie am Horror des stupid inszenierten "Endspiels" der fatalen Liaison niederschlagen. Vielmehr werden sie gerade von den schönen Erinnerungen daran und ihren Sprachbildern hervorgerufen.

Was nun wiederum Aaliya ... "auf die Palme bringt" und ihr orientalisches Temperament, gewöhnlich gut getarnt, zu voller Entfaltung treibt! Es war nicht zum ersten Mal passiert, dass mich Erinnerungen an die frühere Geliebte überwältigt hatten. Aber Aaliya sollte es so unmittelbar noch nie erlebt haben. Entsprechend scharf war die Reaktion ausgefallen: Warum ich nicht von dieser blöden Schlampe zu lassen vermöge, die es doch auf keinen Fall wert sei, ihr ein sympathisches Andenken zu bewahren. Nicht so einer durch und durch neurotischen Furie, die sich selbst, noch im Schlamm größten Unrechts wühlend wie die Sau auf ihrer kotigen Miste, für "clean" halte, für moralisch integer und selbstredend den ... "Guten" zurechnend! Ob sie — Aaliya — so "wenig wert" sei, dass es dieser Rückgriffe bedürfe, gleichwohl ihnen ja ersichtlich traumazeugende Qualität anhafte?! Was ich drüber denken würde, wenn sie dessen gewahr werden müsse, mit einem Menschen zusammenzusein — angeblich in Liebe verbunden! — dem's auch über längre Zeit immer wieder misslinge, sich vom Gestern zu verabschieden, um endlich im Hier und Jetzt anzukommen ... und es auch leben zu können ... — Ob ich der Ansicht sei, dass sie all dies ohne Schaden "wegzustecken" vermöge, angesichts dessen vor allem, der Anderen offenbar das Wasser nicht reichen zu können ... und was das eigentlich bedeute, für unser Miteinander ...

Sie hatte sofort ergriffen, gleich nach Betreten der Wohnung, "was los war" mit mir. Aaliya kennt diese Phasen meditativer Versenkung; und ihr ist bekannt, dass ich manchmal dräuendes Unheil damit abzuwenden suche. Weswegen sie behutsam gewesen war: ohne sich mir aufzudrängen. Ich kann in diesem Zustand keinerlei Berührung vertragen. Er ruft eine durchdringende Aversion gegen alle Formen physischen Kontakts hervor, die nicht vom unmittelbaren Selbst- und Körpergefühl herrühren. Sogar Aaliyas sensible Finger sind mir dann unerträglich, oder auch nur ihr Atem! — Beim Zimmeröffnen hatte ein leises 'Klack' die Séance irritiert, aber (noch) nicht wirklich gestört. Aaliya war von der Musik schon im Flur auf die Situation vorbereitet worden. Ohne weitere Geräusche zu verursachen, hatte sie sich am Schreibtisch niedergelassen, das Ende der Versenkung abzuwarten. Zu ihrem und meinem Pech — oder auch nicht — sollte dort das Heft gelegen haben ... aufgeschlagen. Es wäre "zu viel erwartet" gewesen, wenn sie ihre Augen nicht darauf gelenkt hätte. Ich nehme Aaliya auch nicht übel, dass ihr Blick dran haften geblieben war, nachdem sie der ersten Wörter innegeworden sein mochte. Was dabei zutage trat, hätte keine mit mir Vertraute vom Weiterlesen abgehalten; sowenig, wie sie danach einfach still geblieben wäre, jedenfalls, wenn ihr noch annähernd "alle Tassen im Schrank" zu Gebote standen. Und Aaliya weiß um die Natur der Hefte. Dass sie also keine literarischen Aufzeichnungen im gewohnten Sinn bergen, sondern meine ganz privaten Gedanken:

... heute Morgen; ich erwache mit einem Traumbild vor den Augen, welches dich im Park situiert, unterdessen Sonnenlicht dein Gesicht kitzelt, das, zwischen Ernst und haarfeinen Spuren eines kaum ausdeutbaren Lächelns von Mund und Augen changierend, sein Rätsel nicht preisgeben möchte.

Gilt mir der zwittrige Ausdruck? Mit seiner grandiosen Reserve gegen alles Festgelegte? — Oh! Ich kenne ihn. Er ist das Pendant des anderen Zustands: Wenn dein Blick sich abwendet und scheinbar nirgends mehr Halt sucht, als würden endlos ineinander geschachtelte Spiegelflächen einen Traum um ihn fügen, aus dessen blauem Glitzern er nie wieder auftauchen möchte. Sie wirkt tief abstandheischend ... diese Geste. Wie schweigendes Setzen von Haltepflöcken, um einer Ansprache Grenzen zu markieren ...

Mich von dir angezogen fühlen ... — Dich berühren. — Ich hab nie genug davon bekommen, deine zartflaumige Haut streicheln ... dir im Haar wühlen, mit der Linken seine Fülle pflügen und daran reißen zu wollen, während sich deine Beine um meinen Leib schlingen, sein gieriger Mund dir Halsmale schneidet und die Rechte ins Paradies der Hinterbacken krallt, ihre haptische Schönheit auszukosten. Ich drücke sie hoch, um mich noch näher an dich zu schmiegen. Deine Wärme lässt mich durch die imaginären Wellenschatten sanfter Seen aus Feuer tauchen. Schillernd spiegelt sich darin das Wogen der Lust. Wonnevoll zehrt sie mich auf. Wie ein nährendes Scheit ihrer Glut. Vielleicht schon Meleagros' Ende gleich, der umwillen seiner Liebe zu Atalante im matriarchalischen Furor des eigenen Muttertiers verglüht: wie ein wundersamer Falter, den lockendes Kerzenlicht ins Nichts-Sein überm Sand der Urnen schaukelt. — Was für Sensationen! Eins-Werden im singulären Raum der Zweisamkeit, wo wir uns gleichermaßen euphorisiert und getröstet wiederfinden. Für nicht sagbare Augenblicke ... wunschlos darin schwebend, wenn das nackte Sein einer unvordenklichen Erfüllung die profane Dichotomie zwischen Traum und Wirklichkeit ausradiert hat.

Ich habe das, wann immer solche Situationen eintraten, mit jeder Faser des verkörperten Bewusstseins genossen. Und es war einfach: Weil du selten so frei, so gelöst und — verzeih' mir die längst hohlgewordene Phrase, aber sie trifft's! — in andern Situationen nie so authentisch, so ganz du selbst gewesen bist! Wie viel Ballast dumpfer Massen mentalen Bleis mochte dann aus deiner Seele gerutscht sein, als hätten zauberische Hände sie zu lösen vermocht. So unvermittelt! Es glich einem Wunder. Jedes Mal aufs Neue. Warum konnte sich die Last danach immer wieder anlagern? Hast du dir selbst jemals schon diese Frage gestellt?

Ich ersehnte solche sinnbetörenden Spiele aber nicht nur umwillen ihres erotischen Kitzels: Die Metamorphose selbst war genauso faszinierend. Seligmachende Augenblicke von ... hoher Schönheit schmiegten sich ihr an. Wie in magieversponnenen Séancen. Dein spontan befreites Lachen! Die sofort spürbare détente um Kinn, Mund, Wange und Augen ... und dann vom Gesicht über Hals und Schultern zurückfließend wie lauwarmer Honig ... bis sie den ganzen Körper löste.

Ich gierte nach diesen Momenten. Ihnen haftete neben den Fluida der Lust etwas Poetisches an. Dich dann in fließender Sehnsucht zu spüren, leis stöhnend zu hören — von ihrer sinnlichen Aura wie eingehüllt zu werden —, das war, als würde man sich in einer ich-vergessenen Somnabulie selbst nichtig machen: Wenn alle Grenzen zwischen Innen und Außen aufgelöst sind ... wie beim Baden im Gewoge bloßen Seins. Am Ende fließt alles ineinander, sobald der ekstatische Glutball die Grenzen zwischen Ich und Du verdampfen lässt ... — Einmal spielten wir in jenem Berliner Hostel voller Pubertierender das Spiel der Liebe, an dessen Innenhof-Fenstern sie über unserem Zimmer hingen. Als ich dich im letzten Augenblick vor dem Gleichgültigwerden gegen alles Andere fragte, ob wir ihnen Kino auf die Augenleinwand zaubern sollen, hast du nicht gezögert, lächelnd zu nicken; indessen es andermal vorkam, dass dir allein ein harmloser Kuss "in der Öffentlichkeit" — "vor anderen" — schon viel zu weit ging. Dann konnte sich dein Kopf abrupt wegdrehen: Weniger vehement, weicher distanzierend als bei anderen Anlässen; obwohl meiner Lust, unser Zusammensein von sinnlichen Eruptionen stetig widerhallen zu lassen, dabei so oder so Fesseln angelegt wurden. In den harmloseren Fällen — wenn's besser unterblieb, dich während eines Spaziergangs oder beim Essen umarmen oder küssen zu wollen —, war das nicht weiter schlimm und die abwehrende Geste in ihrer Signifikanz meistens gezügelt. Richtig tiefe Wunden schnitt allerdings ihre mimische Schwester ins Fleisch meiner deshalb schmerzenden Seele. Ihre stummen Schreie stießen trotzdem nur selten auf Widerhall. Wie hätten sie auch durchdringen sollen? Bei diesem Ausdruck schienen alle Wege zu dir versperrt. Ein beinah ins Autistische spielender Unwille zur inclūsiō gravierte dein Gesicht indessen. — Was den Schmerz dabei so unerträglich machte: Oft wusste ich nicht, weshalb es auf einmal so sein sollte ... je gerade jetzt.

Im andern Gestus, dessen Ab-Bild mir der Traum schenkte, ist das viel seltener so gewesen. Ob seiner Ambivalenz ließ er nur vage Grenzen aufscheinen, mit Schattenwürfen, die sich manchmal schneller auflösten, als ich sie zu queren vermochte. Dabei dringt dein Blick immer auf den sensibelsten Punkt des Gegenübers: die Augen. Er durchbricht ihren Glasschirm wie das funkelnde Äugen einer Göttin, womit sie jede Menschenseele zu okkupieren und deren Grapheme auszulesen vermag. Seine Kraft kennt keinen Widerstand. Die Bilder auf den Spiegelflächen aller anderen Augen bersten unter ihrer unbezwingbaren Authentizität. Woran das Korrupte an ihnen eklatant wird — und die Unauslotbarkeit, die Ambiguität, die nicht zu identifizierende Motivlage am Grund deines Innersten. Kein Gedanke könnte sie freilegen — und Fragen danach würde das in deine Augen geschriebene Rätsel nur noch tiefer machen. Eine Ansprache, gleich welchen Modus', würde zuweilen solcher Situationen sang- und klanglos untergehen, weil sie im schweigenden Verharren deines Willens zum je gerade So-sein-Sollen stumpf verhallte ... oder die andere Reaktion provozierte, bei welcher sich dein Blick, langsam dämmrig werdend, abkehrt, um an einem zeitlosen Nirgendwo tief idiosynkratische Niederschläge zu finden.

Ich weiß aus eigenem Erleben nur zu genau, dass es so nicht kommen muss, wenn dieser magische Blick auf einen fällt. Deine Augen, deinen Mund, alles an dir umspielt dann ein Lächeln. — Freilich ist es zuweilen kaum merklich: Weshalb nur sehr sensible Sehstrahlen seiner Schönheit innewerden. Wem bloß darum zu tun ist, dich auf vulgäre Art anzuglotzen, erfährt sie nicht. Die Augen müssen von Achtsamkeit wie gleichermaßen Sehnsucht motiviert sein, um ihrer gewahr zu werden. Nur dann sind sie sensibilisiert, den auratischen Nimbus deines Leibs zu erfahren. Er muss von ihnen liebkost werden: wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Sonst scheitern sie ... sehen statt sublimer Schönheit bloß den ins Vage zwischen Enigma und Reserve fließenden Abglanz davon.

Ich habe immer geglaubt, dein zauberisch-geheimnisvolles Lächeln sei auch ein antizipierendes Echo auf diese Umgangsweise. Es mag im Lauf der Jahre von Enttäuschungen eingetrübt worden sein. Vielleicht deshalb eignen ihm inzwischen ironische, manchmal fast schon ins Sarkastische spielende Nuancen, die erste Signa für den Willen anzeigen könnten, dein Blick würde sich ohne Zögern abwenden, sofern es kein Echo (mehr) zu senden gäbe. Denn eines scheint doch evident: Dein nicht bloß ironielegiertes Lächeln ist das reziproke Zeichen einer hohen Zuwendungsbereitschaft — wie selten du auch willens sein magst, sie zu gewähren, sofern nicht nur distanzierende Abstrakta wie Schrift und Bild tangiert sind, sondern alles in pralle Lebendigkeit getaucht ist. Es macht die andere Seite jenes Ausdrucks sinnfällig, von dem das Traumbild signiert ist.

Aber welchem der beiden Medaillenspiegel rechnet es zu? Mir ist vollkommen klar, wie viel für mich an dieser Frage — und der nach dem Blick darauf — hängt! Thomas Machos subtiler Essay Narziß und der Spiegel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik nennt das Problem beim Namen: Es werden andere Eindrücke evoziert, wenn man den antiken Präferenzen folgt, statt jene Sehweise anzulegen, die erst nach Keplers Entdeckungen maß- und sinngebend für uns ... "Moderne" wurde.

[Paraphrase dazu hier entfernt]

Zu einem Entweder-Oder bin ich angesichts dieses Aufrisses weder fähig noch willens. Aber ich mag mich auch nicht mehr allein aufs erinnerte Traumgesicht verlassen. Möglicherweise ändert sich's — und woran würde das sinnfällig werden? Haha! Ich könnte es nie wissen! Also kramen meine Finger in der Schachtel mit den wenigen Photographien, die ich von dir habe. Eins scheint in etwa hinzukommen. Du sitzt auf einem Stuhl des Cafés auf Tellaros kleiner Piazza und siehst in meine Augen. Ein latent hochsteigendes Gefühl flüstert mir, dein Blick steche durch ihre Spiegelflächen — als wolle er im Bewusstsein lesen. Ich fühle mich von ihm "begriffen". Aber so war es ja immer in diesen Situationen, wenn du den Blick (noch) nicht abgewandt hattest. Mit dem Unterschied, jetzt bloß einem Simulacrum gegenüberzustehen — kaum jedoch dir selbst! — Du ... du bist nicht anwesend! Ich frage mich, was an dem Ab- oder gar Trugbild eigentlich von wem stammt. Hat es die Photographin geschaffen?

Möglicherweise hast du ihr sowieso nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie beim Ablichten anderen galt: Menschen, die dir selbst nur in ... Bildern vor Augen stehen. Vielleicht wolltest du ihnen ganz bestimmte Eindrücke von dir vermitteln. Gelegentlich stellst du ja solche Photos auf Der Plattform ein, um dich irgendwelchen mediokren Knalltüten zu präsentieren (oder sollte es tatsächlich so sein, dass es dabei nicht wirklich ums Zur-Schaustellen deiner selbst, sondern um etwas anderes — oder Einer Anderen — geht?). Wie früher auch mir. Als deine Augen mich dann manchmal so angesehen hatten, war ich immer verunsichert gewesen, ohne zu wissen weshalb. Inzwischen ist's luzid geworden ...

Dein Lächeln trägt Vagheit an sich. Lege ich's von Thomas Machos Erwägen der antiken Sehweise her aus, nach dem die "Augen ... das Licht [generieren], anstatt es zu empfangen", damit aber "Zuneigung und Zorn nicht nur aus[zu]drücken, sondern regelrecht [zu] exekutieren" vermögen, verspüre ich sofort das ganze Ausmaß seiner Zwiefältigkeit. Natürlich ist mir klar, damit einer Interpolation Raum zu geben: Weil dein fast ins Sardonische hineinspielender Ausdruck nicht wirklich etwas ... exekutiert ... an mir. Vielmehr nur sein Imago; besser noch: das allein am Abbild hervortretende oder darin aufscheinende — jedenfalls längst gespiegelte — Lächeln. Womit sich die Frage erhebt: Hast du überhaupt gelächelt, während das Simulacrum entstand? Oder narren mich bei diesem Eindruck nur Illusionen?

Indessen ich darüber nachdenke, setzen zwei Dinge mein Bewusstsein unter Spannung: Einmal, ob es an mir lag, dass die Impression deines leibdurchwirkten Lächelns entstand, wobei dann freilich die Semantik kollabierte, weil Eindrücke ja unmöglich sui generis zustande kommend aufgefasst werden können; und andererseits treibt mich immer deutlicher um, wiefern ich — ob des Fragwürdigen am (Spiegel-)Bild — überhaupt noch jenseits eines unmittelbaren Erlebens von Alter Egos Präsenz darauf vertrauen kann, irgendein Imago, gleich welcher Couleur, würde mir etwas "Draußenliegendes" vermitteln, ohne je schon vom eigenen Bewusstsein manipuliert worden zu sein! Es ist nicht so, dass mich dabei (pseudo-)epistemologische Schwurbeleien interessieren, wie sie mit den Sprachrohren etwa des "Radikalen Konstruktivismus" blechern in die Welt getrötet werden. Nein! Mir geht's vor allem um die "inneren Bilder" — jene des Andenkens zumal! —; und die mentale Zurüstung "externer", wobei dieses Gemenge von einem Zirkel mitstrukturiert werden könnte, der letztlich unauflösbar bliebe, zeigte sich daran kein wenigstens minimal herausstehendes Initialfädchen, mit dessen Hilfe er vielleicht doch aufgedröselt werden könnte.

Dein Augenstrahl durchbricht die Grenze. Er bohrt sich ins Bewusstsein, ohne dass mir Vergleichbares gelänge. Ich dringe nicht durch bei dir! Mein Blick prallt an deinem ab. Sobald mir die Situation verbildlicht vorm inneren Sinn steht, kommt es zu Rekursionen nach Art der mise en abyme: Du wirfst mich wieder und wieder aufs Eigene zurück. Was immer ich mir ausdenke: dein Blick und seine Motive kommen allein ... von mir selbst! Diese Erkenntnis gleicht dem paranoiden Sturz in einen Abgrund ... ohne Aufprall. Nur dann würde sein iterativer Wahnwitz enden können, wenn mein verzweifeltes Auge am erreichten Boden zerschellte ... oder ihn durchbräche, bevor der Schacht sich blitzartig dreht und den Sturz neu anheben lässt, statt seinen Grund zu erschüttern, wie mein Sehstrahl deinen hermetischen Blick brechen möchte, um an dich ... und nicht nur das Ab-Bild deines Augenscheins zu gelangen.

Die antike Theorie des aktiven Sehens zerbirst an den hyperglatten, in Belanglosigkeit oder Kälte erstarrten Oberflächen der modernen Bilder, die zunehmend das Menschliche ... vertreten sollen. Aber leisten sie das? Oder wird's von ihnen inzwischen schon ... ersetzt? Liegt darin das Motiv, sie oft zu wechseln ... die Bilder? Auf den einschlägigen sogenannten Netz-Plattformen etwa? Entbirgt dieser Name ein all dem inhärierendes Paradox, über welches freilich nur die Wenigsten würden Aufklärung erlangen wollen? Weil etwas daran tief kränkend wäre ... für ihre vielen ... User? Eben dieser Plattheit wegen? Mit welcher am Ende Lebendigkeit bloß vorgetäuscht wird? In einer realweltlichen Begegnung wechselt das jeweilige Gegenüber ständig die Erscheinung und zwingt Alter Egos Auge, sich dem immer wieder anzupassen — solange sie im Fluss ist jedenfalls ... die commūnicātiō, und der Blick sich nicht abwendet oder erstarrt, womöglich sogar mit dem ganzen ... Leib.

Den Sturz kann ich nur aufhalten, wenn ich die anderen Bilder — meine eigenen — gegen das Zombiehafte medial oder per Photo vermittelter stelle, mich ihnen nicht ausliefere und stattdessen Vertrauen darein fasse, vielleicht doch zuverlässig erinnern zu können. Sie dürfen das Andenken nicht korrumpieren. Die Photographie fliegt zurück ins Schächtelchen. — Mnemosyne sprich! Hilf mir! "Bei der Hand nehmen" soll mich deine Stimme, den verwundeten Sinn wieder aufzurichten und ihn anzuleiten, sich nicht von Trugbildern in die Irre führen zu lassen ...

2

ETWA BIS DAHIN DÜRFTE AALYIA gelesen haben. Und danach hatte sie Übelkeit ergriffen! Im zweiten Durchlauf der wundersamen Passacaglia war sie aufgesprungen, zur Anlage gehastet und hatte erst die Musik abgewürgt, um sich gleich danach über mich herzumachen. Ich war schon ins "Aufwachen" eingetreten, weshalb es zu keinem gänzlich brachialen Riss kam; ohne Gewalt ging's trotzdem nicht ab: Die absence hatte verhindert, Aaliyas Griff nach dem Heft innezuwerden. Dass sie von meiner Feder rührende Soliloquia darin entdecken würde, die nicht für ihre Augen bestimmt waren: Schicksal! — Was Wunder, wenn Zorn über sie gekommen war, dem sich in ihrer Suada ein Ventil geöffnet hatte. Hasstiraden sprenkelten deren Textur, wie zerfranste Mottenlöcher Kleiderstoffe entstellen, sofern ihnen keine Pflege widerfährt.

Die Assoziation blitzt auf, weil sich daran etwas Fadenscheiniges niederschlägt: Hinter Aaliyas Sanftmütigkeit lässt es auf tiefer liegende Schichten ihrer Seele blicken. Für mich ein Zeichen der Brüchigkeit von gern gepflegten Bildern, die unter Krisenbedingungen schneller zerbröseln, als manche Suggestion es glauben machen will. Dies scheint auf Fremd- wie Selbstzuschreibungen zuzutreffen. Niemand ist davor gefeit.

Der verbale Ausbruch wurde von Attacken fragmentiert, bei denen Aaliya mit ihren Fäusten auf mich eindrosch, unterdessen sie rasant in Schnappatmung glitt und einem verkrampften, beinah spastischen Zittern anheimfiel. Es hätte mich angesichts der Eskalation dieses enthemmten Gebarens nicht gewundert, wenn sie am Ende ihre Zähne in mein Fleisch geschlagen hätte. Unter erotischen Vorzeichen widerfährt es uns beiden, schon mal gebissen zu werden — auch kräftig —, oder einem spontan aufblitzenden Verlangen nachzugeben, es selbst zu tun. Wobei Aaliya manchmal noch der allerletzten Kontrollresiduen enträt und sich in mir ... verbeißt. — Es hat freilich keinen Sinn, auf solche Vorkommnisse übermäßig hysterisch zu reagieren, da niemand an die Grenzen Alter Egos Kontrollfähigkeit zu rühren vermag. Oder anders gesagt: Wer nicht damit umgehen kann, wenn in Eros' Bannkreis die äußersten limitium touchiert werden, sollte sich besser niemals drauf einlassen und stattdessen eher masturbieren. — Mir geht all das durch den Sinn, weil ich vor diesem Ereignis noch nie auf den Gedanken gekommen bin, Aaliyas grandiose Inszenierung von Sittsamkeit unter ... "Normalbedingungen" mit ihrem erotischen Gestus in Abgleich zu bringen. Hätte ich das je gemacht, wäre mir die Situation vielleicht weniger fremd vorgekommen.

Nach einem neuerlichen Trommelwirbel ihrer wutgeballten Fäuste auf die Zone zwischen Brust und Schulter rang sie ein paar Sekunden mit dem fliehenden Atem, indessen ihre Hände von mir abließen. Dann schrie sie los:

"Warum?! Sag mir, warum du nicht von ihr loskommst! Warum ich für dich ... — Warum ich dir ... nicht genug bin!"

Ihre Augen sprühten Zorn. Und immer noch funkelten darin Spuren von Hass ... wie verirrte Sterne am dunkelblauen Firmament, derweil sie gleißend implodieren. Es war eine Eruption. Das an den beiden gegensätzlichen Wendungen aufscheinende Oxymoron bringt die Ratlosigkeit zur Sprache, welche sich meiner indessen bemächtigte: Sie war einer Furie gleich über mich hergefallen, als hätte ich das Schlimmste getan, was überhaupt denkbar ist. Nie zuvor hatte es so eine Situation zwischen uns gegeben.

Das literarische Gedächtnis fand schließlich ein Pendant in der Gomorrha-Geschichte Ingeborg Bachmanns. Dort, wo Maras manifeste Zerstörungswut eklatant wird. Aaliya hatte mich zwar direkt attackiert, während "die Kleine" ihre Aggressionen beim Zertrümmern von Accessoires aus Charlottes Wohnung austobt, nachdem Franz ins Sprachspiel eingetreten ist — die Parallele schien gleichwohl evident.

Maras Augen brannten. Sag das nicht, o du, sag das nicht! Du bist gemein, so gemein. Was du mir antust, wenn du das wüßtest ... [...]

Charlotte schwieg; sie war so aufgebracht, daß sie kein Wort herausbrachte.

Liebst du ihn? Nein? Man sagt ... ah, die Leute sagen allerhand ... Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, Ah, wie ich das alles hasse! [...] Diese [...] Männer, diese Weiber, [...] alles. Nur du, seit ich dich gesehen habe ... Du mußt anders sein. Du mußt. Oder du lügst.

[...]

Charlotte [...] stand auf. Mara stand auf. Sie standen sich gegenüber. Mara wischte ganz langsam [...] das Glas vom Tisch, dann das andere, sie griff sich eine leere Vase und warf sie [...] gegen die Wand, dann eine Kassette, aus der Muscheln und Steine mit Getöse herausflogen und über die Möbel rollten.

[...]

Die Zerstörung schien lang zu dauern wie ein Brand, eine Überschwemmung, eine Demolierung.

Mir ging daran mancherlei auf. Etwa, dass unterm Mantel Aaliyas ... Sanftmütigkeit die glutheiße Lava eines hochaktiven Psychovulkans wabert. Bisher hatte sich ihr alles verzehrender Fluss meiner nur bemächtigt, wenn wir uns liebten und dabei vom Eros über eine Grenze gehoben wurden, die sich nur manchmal zeigt. Womit aber diese barbarische Intervention nichts zu schaffen hatte! Sie floss aus blinder Aggression. So sehr ich einerseits davon ... abgestoßen und gleichzeitig selbst mit wenigstens latenter Wut infiziert wurde — so leid tat's mir andrerseits für Aaliya. Sie verdiente es nicht, in solch eine mentale Krise gestoßen zu werden.

Der Gedanke hatte sich aufgedrängt, jene Passage aus Ein Schritt nach Gomorrha, die Maras "Ausflippen", ihr Hinübergleiten in offene Aggression anführt, habe mich mancherlei erkennen lassen. — Folglich nicht nur Aaliya betreffend! — Als der Streit mit ihrer "Vorgängerin" hochgekrochen war, hatte sich eine sie tief beleidigende Situation ergeben. Wir standen währenddessen nicht in direktem Kontakt: Der Austausch war schriftlich über die Bühne gegangen, weil uns Hunderte Kilometer trennten und wir nicht ständig in persona zusammenkamen, meist nur einmal im Monat für mehrere Tage oder während gemeinsamer Reisen.

Sie hatte ein Romanfragment aus meiner Feder lesen wollen und nach der Lektüre befunden, gewisse "typisch männliche Attituden" darin wiesen auf ein Dominanzgebaren gegenüber Frauen, das sich bei mir, der Autorin, ebenfalls identifizieren ließe — wie ... "unbewusst" auch immer es vielleicht "eingeflossen" sein möge ...

Es brauchte etliche Tage, bis ich mich bereitfand, überhaupt darauf einzugehen. Weil sie gewisse Sympathien für pseudofeministische — also dümmliche — Klischees hegte, aber ohne deswegen je ein großes Fass aufgemacht zu haben. Insgesamt schien ihre Haltung dazu recht 'moderat'. Weshalb dann aber so ein Angriff? Das Reservoir der Gründe, warum ich Zeit zum Überlegen gebraucht hatte, war mit dieser Frage allerdings nicht ausgeschöpft. Denn neben solch eher vagen — auf "weltanschaulich" präformierter ... Meinung fußenden — Ansichten hatte sie ja noch einen sachlich durchaus handfesten Lapsus produziert: Indem von ihr all jene Roman-Sprachspiele, die den Ärger heraufbeschworen hatten, mit meinen Intentionen identifiziert worden waren. — Also gemäß der Formel: Die zur Schrift gebrachten Ansichten und inneren Zustände des inkriminierten Protagonisten spiegelten ... der Autorin Intention! Ergo meine! — Sie hatte das behauptet, obwohl ihr als gut ausgebildeter Literaturwissenschaftlerin natürlich geläufig ist, dass derlei küchenpsychologisch inspirierte ... Balla-Balla-"Hermeneutik", vom Fach her betrachtet, ein neudeutsch sogenanntes No Go repräsentiert.

Was mindestens so viel besagt, als dass es eines ist, ohne Sachkompetenz irgendwelchen Stuss über solche Dinge abzusondern, wie er an jenem Gesumms sinnfällig wird, welches sowieso schon, tagein, tagaus, kundige Ohren beinahe allerorten bis an die Schmerzgrenze beleidigt; etwas anderes jedoch, den state of art auch wider besseren Wissens grob zu unterschreiten. — Ich war deswegen einigermaßen verstört. Trotzdem kommt mir manchmal der Gedanke, es sei vielleicht am wenigsten noch darum gegangen. Hatte sie vor allem mich treffen wollen? Aber warum dann auf diesem Wege? Und flankiert von Liebesbezeugungen?

Je länger ich darüber sinnierte, umso übler wurde mir. Nach sieben Tagen erst gab ich Antwort, das Persönliche so weit wie möglich ausnehmend. Sie hatte sich ja auch noch darin gefallen, das rigide Urteil lediglich auf drei, vier Anfangskapitel zu gründen. Offenbar war ihr unvorstellbar gewesen, in den folgenden zwanzig würde die Autorin den kritisierten Charakter vielleicht noch zu entwickeln vermögen, statt bloß angeblich selbstgepflegte Obsessionen darin abzuspiegeln! Ich machte ihr klar, einmal den Roman und andermal auch mich verschiedenen Missverständnissen ausgesetzt zu sehen. Nicht in der Autorenrolle zuvörderst, sondern als ihre Geliebte. Die Antwort darauf setzte dem letzteren Status ein Ende, verbunden mit radikalem Kontaktabbruch. Sie war hart und in einigen Belangen auf signifikante Weise unbarmherzig ausgefallen — nach meiner Lesart intendiert auf Verletzung gehend, weil sich die abfälligen messages an Gegenständen niederschlugen, bei denen ihr klar gewesen sein musste, wie viel sie mir bedeuteten.

Bis heute Tag verstehe ich das meiste daran nicht. In der Retrospektive läuft eine Filmrolle mit obskuren ... Showeinlagen ab, deren wirkmächtigste Botschaft das intendierte Verschweigen des Zusammenhangs ihrer fragmentierten Szenenabfolge ist. Sie kommt der Betrachterin vollgestopft mit so viel Absurdität vor die Linse, dass ihre phantasmatische Gabe vor der Aufgabe einknickt, dergleichen wenigstens ansatzweise rekonstruieren zu können. Es geht nicht! Die Performance verharrt in blankem Unfug, weil jeder Versuch scheitert, dahinter doch noch Sinn aufspüren zu können. Sobald eine Idee davon im Nebel der Gesamtveranstaltung aufleuchtet, destruiert sie das nächstfolgende Versatzstück. Möglicherweise ist das eine besonders perfide Variante vom Sandbuch — aus Jorge Luis Borges' grandiosem Panoptikum des Absurden. Wobei ihre Perfidie an maßgebenden Differenzen kondensiert: Denn Borges' wundersame Elaborate existieren in der fiktionalen Sphäre, währenddessen die hier in Rede stehende Show etwas "wirklich Existierendes" ... ist.


MEINE FRÜHERE GELIEBTE kam aufs Ganze gesehen mit fadenscheinigen Unterstellungen daher! Kurz vorher erst hatte ich dieses Adjektiv auf Aaliyas causa angewendet. Sollte mich das ... etwas heißen? Redete durch den Parallelismus die Sprache mit sich selbst? — Ich frage danach, weil er mich pervers dünkt. Dieses Wort ist das Einzige, was mir dazu einfällt! Ich möchte Aaliya nicht mit ihr verglichen wissen. Sie wäre dem Pendant der Abwägung von vornherein unwürdig ...

Das nochmalige Prüfen ihrer brutalen Exorzismusmotive lehren es: Sie waren ihrer Intelligenz und dem daran haftenden hermeneutischen Vermögen schlicht unwürdig! Ergo musste noch etwas anderes im Schwange gewesen sein. Möglicherweise hatte es sich schon vorher zwischen uns etabliert. Inzwischen bin ich's aber leid, weiter darüber zu spekulieren. Sie hatte oft geschwiegen. Nur war es deswegen nie zu Reaktionen gekommen, wie sie Mara in der Gomorrha-Geschichte zeigt:

Charlotte rührte sich nicht, sie sah [...] nieder auf das Mädchen, studierte jeden Zug in dem Gesicht, jeden ausbrechenden Blick, sehr lange und sehr genau sah sie es an.

[...]

Sie ist aus dem Stoff, aus dem ich gemacht bin. Und sie dachte traurig an Franz [...]. [W]enn Mara nun wie durch ein Wunder verschwand oder plötzlich doch fortging, dann würde morgen alles nur wie ein Spuk erscheinen, es würde nie gewesen sein.

Bitte sei vernünftig. [...]

Ich bin nicht vernünftig. [...]

Warum? [...] Ihre Gedanken gingen noch wie Wachposten in ihrem Kopf auf und ab, hörten die feindlichen Worte, sie waren auf der Hut, konnten aber nicht Alarm schlagen [...].

Du lügst! O wie du lügst!

Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Warum sollte ich lügen, und was überhaupt hast du für eine Lüge gehalten?

Du lügst. Du hast mich gerufen, hast mich kommen lassen zu dir [...] und jetzt ekelt dich vor mir, jetzt willst du's nicht wahrhaben, daß du mich gerufen hast zu dir!

Im Gegensatz dazu hatte ich ihr nie Lüge vorgeworfen. Obwohl sie mich mit dem vielen Schweigen manchmal an eine Lügnerin gemahnt hatte und es vielleicht eine verbotsdurchwobene Todeszone in ihrer Psyche gab, die alles Warme, alle Nuancen von Rot darin, mit kaltem Blau flutete, bis nichts andres mehr dagegen anzukommen vermochte! — An Georgia O'Keeffes Bild No VIII aus den Nude Series von 1917 kann ich mir das zur Vorstellung bringen: Die Lebendigkeit verbürgenden Rot- und Purpurtöne darin haben bei ihr offenbar grausige Tabus ausradiert ...

Charlotte zeigt eine signifikante Aversion gegen Rot. Anfangs ist sogar von einem Todesrot — Maras Rock signifizierend — die Rede. Am Ende fließt das nochmals anders zusammen: Der Tod hat auf einer neuen Ebene des fiktionalen Geschehens Einzug gehalten, im Bannkreis des letzten, geheimen Zimmers, welches Charlotte "für immer abschließen mußte", nachdem er vorher noch kurz Zwischenstation im mortalen Glutkern der Corrida gemacht hat:

Darum wünsche ich ein Gegenbild [...]. Noch keine Namen. Noch nicht. Erst den Sprung tun, [...] den Austritt vollziehen, wenn die Trommel sich rührt, wenn das rote Tuch am Boden schleift und keiner weiß, wie es enden wird.

Als ich beim x-ten Mal des Wiederlesens plötzlich begriff, worum es im Allertiefsten dieser Erzählung geht, schlug sich das zuerst an jener Wendung nieder, die Noch kein(e) Name(n) ins Textgewebe gestempelt hatte. Denn freilich war ihm Der Name gerade dadurch mit geheimer Tinte eingeschrieben worden; so, wie die Schrift das Lilienbanner im geheimen Zimmer aufgepflanzt hatte! Dass beides unabdingbar tiefe, bösartig wabernde Bläue evozierte, verstand sich (für mich) von selbst.

ES WAR, SEHR WAHRSCHEINLICH ohne ihr Bemerken, irgendwann zu einer Rekursion gekommen: Denn was sie mir unterstellte, unabhängig davon, wie viel Wahres es namhaft machte, traf auf sie selbst zu: In Form einer stupiden Wiederholung des Rückgangs zum Ursprung, sobald sie einmal aus seinem Paranoia zeugenden Dunstkreis heraussteigen wollte. Etwas, irgendetwas Numinoses, erlaubte's ihr nicht! Sie war darin gefangen. Es muss wohl mit Männern zusammenhängen, die ihr sehr wehgetan hatten. Nur deshalb mochte sie überhaupt "etwas angefangen haben" ... mit mir. Inklusive eines Rollentauschs, jedenfalls aus ihrer Sicht. Trotzdem war es neuerlich schiefgegangen. Da sie's aber gewohnt war, die Schuld fürs Scheitern immer aufseiten des je Anderen zu verorten, fiel mir dieser Part zu, auch wenn ich kein Mann bin. — Der Rest ... ist klar.

Verstanden habe ich all das erst unter dem Eindruck der Gomorrha-Erzählung. Nach vielen Lektüredurchgängen. Weil deren Autorin, ganz anders als ihre unfähigen Möchtegern-AdeptInnen von der pseudo-feministischen Kampffront, ein sehr feines Gespür auch für jene Verwerfungen hatte, die ansonsten meist nur qua Projektion adressiert werden — dessen zu wenig oder gar nicht eingedenk, dass wir alle miteinander, Frauen wie Männer, oft uns selbst Fremde sind ...

Meine depressiven Anflüge rühren allerdings keineswegs nur aus diesen Erkenntnissen. Denn wie immer es um meine frühere Geliebte samt ihrer Psycho-Komplexe stehen mochte: Mit Ruhm hatte ich mich dabei so wenig wie sie bekleckert! Es waren im Lauf unserer Liaison genug Zeichen für einen sensiblen Umgang mit Dingen sichtbar geworden, die ihr Schmerz bereiteten.

Wirklich frei, ganz gelöst, ohne Schweigsamkeit und eine ansonsten immer spürbare Reserve gegen alles Euphorische oder übers Alltägliche hinaus greifende ... Elaborierte, schlicht ... Andere, hat sie nach meinem Gefühl nur während unserer erotischen Séancen gezeigt. Aber der Eros allein macht keine Liebe! — Andererseits: Bei unserem letzten Treffen, kurz bevor der unsägliche Streit über die Romanfragmente losbrach — es hatte sich über mehrere Tage erstreckt; wir waren Eislaufen gewesen, Essen, hatten zusammen gekocht, viel geredet und waren zuletzt noch über Nacht auf Rügen, an den Kreidefelsen gewesen —, sollte sich meiner ein so intensives Glücksgefühl bemächtigt haben, das unmöglich nur eigeninduziert gewesen sein konnte, sondern eminent mit ihr selbst, mit ihrer Ausstrahlung und Präsenz, mit allem, was sie dabei physisch und seelisch verkörperte, zu tun gehabt haben musste. Ich vermag bis heute nicht zu glauben, diese Tage seien mit Lüge legiert gewesen. Es wäre für mich unfassbar, würde sich etwas dergleichen als zutreffend erweisen! Sie hatte mir gesagt, an der fatalen U-Bahn-Rolltreppe zuletzt noch ... und hinterher auch geschrieben, genauso glücklich gewesen zu sein.

3

DIE ZEITLOSE ZEIT DER RÜCKKEHR aus dem meditativen Zustand, nach Aaliyas nicht gänzlich gewaltfreier Intervention, war von derlei Gedankensplittern durchzogen worden, wie manchmal Schwärme flimmernder Sternschnuppen eine sinkende Augustnacht schon zu erhellen vermögen, ehe die ersten Strahlen der Morgensonne ihre volle Kraft entfalten.

Mal hatten diese Erinnerungspartikel und dazu aufscheinenden Reflexe auf Aaliyas Suada gepasst wie ein perfektes Echo und mal gar nicht. Das war mir allerdings weitgehend gleichgültig gewesen, solange zumindest, bis ich von Mitleid gepackt wurde. Wegen ihrer zweifellos beschissenen Situation. Die Einsicht mochte den Aufwachprozess beschleunigt haben. Irgendwann hatte ich jedenfalls mein Denkvermögen zurückerlangt, woraufhin der erste Versuch seinen Lauf nahm, Aaliya zu beruhigen. Sie solle sprechen, statt bloß zu skandieren ...

"Schau, meine Liebe, es ist mir ..."

"Dir, dir ... immer wieder dir! Und dann auch noch: Schauen soll ich. Wie denn, meine überaus kluge Philosophin mit dem ... insistenten Blick? Möchtest du nicht mal Butter bei die Fische geben?! Wie genau soll ich ... schauen? Vielleicht der ... ähm ... Sehstrahl-Theorie gemäß? Wäre dir das lieb? Hm? Fände meine Wenigkeit dann Gnade vor ... vor deinem Blick, der sich ja ansonsten nicht so arg um mich bekümmert, da ihm andere ... Objekte offenbar tausendmal wichtiger sind."

Nach dieser Einlassung verstand ich, was ... vorging. Denn mir wurde daran nicht bloß luzid, dass sie etwas kaum für ihre Augen Bestimmtes gelesen haben musste, sondern vielmehr auch, was! — Fatal, dass Aaliya ausgerechnet diesen Text gelesen hatte. Gleichzeitig wurde mir klar, warum die Situation nach der unglücklichen Lektüre eskaliert war. Schließlich sollte es vorher ja ähnlich zugegangen sein: Nur dass mich dieser Text nicht in Rage gebracht, sondern mit depressiven Anwandlungen "begabt" hatte.

Aus Aaliyas inzwischen leicht paranoid eingefärbter Perspektive musste das perfekt zueinanderpassen: wie jedes Topf-und-Deckelpaar in Omas wohlsortiertem Küchenschrank. Und sie hielt sich nicht zurück, es so zur Sprache zu bringen: Ich käme nicht von ihr los, "in Wirklichkeit" ginge es auch mitnichten um der "kleinen Aaliya" zartfühlende Mumu oder ihren wundervollen Körper und seine duftende Haut, wenn ich sie mit meiner perfiden Zunge, den erfahrenen Fingern und überhaupt mit aller mir (angeblich) eignenden erotischen Potenz verwöhnen würde, sondern einzig darum, sie als Simulacrum Der Anderen zu ... benutzen; jener, die mich davongejagt habe ... warum auch immer. — Ich käme jedenfalls nicht klar damit und habe mir deshalb einen Ersatz für sie geschaffen. Aber nie könne dieses auf bloße Sublimation hin ausgelegte Geschöpf meine verletzte Eitelkeit heilen, denn von ihr — Aaliya — werde er ja gerade wieder und wieder befriedigt ... mein wie auch immer verleugneter Hang zur vanité! Durch ihr stetes Kleiner-Sein, durch ihren Status als bloßes Geschöpf und durch die Tatsache, dass es zwischen uns eben gar nicht um Liebe ginge, sondern wir vor allem wegen meines Dominanzverlangens zusammen seien, für das ihre Unterwürfigkeit ein perfektes Echo liefere ...

"Sie hat dich dominiert! Sie hat es zumindest versucht, um aus dir so 'ne weltanschaulich weichgespülte, pseudointellektuell daherlabernde Gutmensch-Tuss zu machen, wie sie selbst eine ist! Als das schiefging, wurdest du gnadenlos ... ähm ... gecancelt. Und daran leidest du fast genauso wie an der Täuschung, es sei ihr hoffentlich auch um Liebe gegangen. Ist es aber nicht! Solche Weiber wissen gar nicht, was 'jemanden zu lieben' heißt. Denn sie kennen nur den Begriff — aus Romanen, Gedichten und Hollywoodschinken, wahrscheinlich auch noch übers total verblödete ... Plattformgeschwätz von Zuckerbergs & Co. Gnaden. Aber nie und nimmer aus eigener Erfahrung, vom Erleben der Liebe her ..."

Ich nahm ein tiefes Ausatmen wahr. Sie sammelte Kraft.

"Du bist so ungeheuer klug: Aber in diesem Belang agierst du 'dümmer als die Polizei erlaubt'! Ich versteh' es nicht. Muss dir wirklich die unerfahrene und viel weniger gescheite Aaliya aus dem unzivilisierten Orient erklären, wie 'der Hase läuft' in dieser Affaire? Dass du dich zur Närrin gemacht hast! Oder soll ich tatsächlich glauben, du wärest ein so mieses Dreckstück, nun an mir auszulassen, was diese dumme Sau dir angetan hat? Warum himmelst du so eine vollgeschissene Menschenhaut noch immer an? Sie ist's nicht wert!"

"Aaliya, bitte!"

"Jaja, schon gut: Ich nehm's zurück. The ... terrifying, horrible or frightening ... maiden with wrought iron soul à la Jim Morrison ist keine ... na, du weißt schon ... — Mir hat der Zorn auf so maßlose Weise die Zunge gelöst, dass ich im nachholenden Denken über meine Rede, später, wahrscheinlich vor mir selbst ausspeien werde. Es ist unangemessen, über einen Menschen so zu sprechen, egal, wie er 'drauf ist'. Freilich ändert das nichts an dem Umstand, dass ich sie als unmögliche Person ... ähm ... ansehe: bigott, feige und in einem elementaren Sinn unanständig."

Das war jenes "Wunder an Aaliya", worumwillen ich sie, über die erotische Faszination und andere glanzvolle Eigenschaften hinaus, so liebte: Ihrer Fähigkeit wegen, sich immer wieder "erden" und eine hochexplosive Situation bereinigen zu können, selbst nach Momenten völlig außer Kontrolle geratener ... Exaltationen. Es hatte nur eines simplen, leise ausgesprochenen 'Aaliya, bitte!' bedurft, um sie daran zu erinnern, dass ihre Grenzüberschreitung revidiert werden müsse. — Ich kenne Frauen und auch Männer, die so etwas nicht vermögen: Prinzipienreiter. Selbstverliebte Egomanen. Immer rechthaben Wollende und diverse Figurationen von neurotisch Gestörten. Aber da mir von all deren Charakterprofilen mindestens Abschattungen selbst zueigen sind — möglicherweise ja sogar mehr als nur ... Schatten —, wird meine Wenigkeit nie jene Aura von Gnade umstrahlen, die Aaliyas Status dabei ganz selbstverständlich für sich reklamieren darf.

Ein bisschen Neid kommt auf, sobald ich mir das klarmache. Was ihn mildert, ist der Glaube, es stünde vielleicht weniger schlimm um mich als bei den schwer narzisstisch Gestörten aus meiner eben angeführten Charakterologie. Mit Aaliyas grandiosem Vermögen zur spontanen Schubumkehr überzogener Impulse werde ich freilich nie konkurrieren können. Bei mir dauert es länger mit der Einsicht, manchmal auch zu lang.

Eine kurze Weile schauen wir uns gegenseitig in die Augen. Ohne zu atmen. Ich versinke in den ihren: diesen dunklen Monden in einem silbrig schimmernden Sternensee, bezaubernd wie ein magisches Bild aus den Geschichten von hazār-u yak šab. Während ich noch auf dem Sofa liege, kniet sie inzwischen davor — wie Mara vor Charlottes Sessel zu Boden geht. Als es mir bewusst wird, dreht sich der Körper ihr zu, scheinbar ohne mentalen Anstoß; und lässt dann die Rechte über den feinen Flor ihrer Wangen streicheln. Ganz zart. So behutsam wie möglich.

"Komm. Komm zu mir." — Meine Lippen hauchen es nur. Nicht mal der leiseste Anflug einer imperativen Geste soll darin mitschwingen. Allein die Bitte, vielleicht sogar Flehen — hergekommen aus der Tiefe meines verwundeten und gleicherdings irre sehnsüchtigen Herzens. Ich rücke etwas von ihrem nahen Kopf ab, um neben mir Platz zu machen. Aber Aaliya, die auf nichts anderes gewartet zu haben scheint, rutscht erst zum Fußende, bettet ein paar Augenblicke lang ihren Oberkörper auf dem Sofa, bevor sie raufkriecht, meine Fesseln greift und sie sehr sanft — wie unter slow motion verzögert —, äußerst behutsam nach vorn zu schieben beginnt, bis meine Knie hochgehen und ihre Hände sie langsam auseinander drücken können, um schließlich daselbst den eigenen Körper zu betten. — Die Verschmelzung setzt unvermittelt ein. Unsere Lippen, sich gegenseitig sublim ertastend, flüstern einander in mystischen Dialekten Heimliches zu. Aaliya umwindet den Kopf mit der Gaze ihres ungebändigten Haars und lässt zugleich die Linke sacht unter meinen Hintern kriechen, so wie er sich zu heben und zu senken beginnt: Vielleicht schon im Rhythmus jener Lustakrobatik, deren mein Körper beim Anschwellen des erotischen Fluidums stets unmittelbar eingedenk ist; als habe er dafür ein Instinktreservoir, das keines zivilisatorischen Feintunings bedarf — eher denkbar, es würde dadurch zuschanden gemacht ...

ALS MIR AALYIAS RECHTE trotz aller sich entzünden-ten Lust sanft ins Haar fährt und davon der glückevozierende Eindruck ausgeht, den Sturm überstanden zu haben, fällt auf einmal alle Macht des Vergangenen in sich zusammen. Zumindest ihr strangulierender Aspekt. Denn sicher: Was mich überhaupt auf den Pfad der Erinnerung gesetzt hatte, bleibt davon unberührt. Ebenso die Gefahr eines depressiven Schubs! Auch wenn ich derweil glaube, sie wandle sich allmählich, auf eine eher "nur" melancholische Gestimmtheit hin. Ich würde nie erotische Spiele anfachen, stände ein "klassisches" Szenario depressiver Couleur bevor. Das vermag ich nicht.

Aaliya fragt mich nach der Bedeutung des Wortes 'Idiosynkrasie', da ich es zuvor verwendet habe. Leise, indessen wir begonnen haben, uns einander die Kleider vom Leib zu schälen. Eigentlich möchte ich nicht reden, sondern einzig ihren wundersamen Körper erkunden, sie ... er-fühlen und gleichermaßen spüren lassen, wie sehr ich ihn begehre. Mir ist danach, in Aaliya aufzugehen und gleichzeitig ein Bett fürs Zerfließen ihrer zauberischen Substanz zu sein. Eine Séance physischer Durchdringung möge sich etablieren: bis zur gliederlösenden Ekstase, die alle Gedanken nichtig machen wird. Darin gipfelt meine somnambule Intention, das steht mir im Sinn, als ihre Frage auf mein Ohr dringt und den Wunsch in seine Tiefem träufelt, das Wort auszulegen — während ich mich nach jenen Augenblicken des Zerstäubens identitätsstiftender Personalität sehne, denen sich im Gelingen eine détente glückseligmachender Nichtigkeit anschmiegt, von welcher die Menschen meist nur zu träumen vermögen!

Haha! Das passt wahnsinnig guuut zusammen! Quasi nahtloser Übergang vom Sehnen nach der Singularität einer orgiastischen Exaltation zum begriffserklärenden Exzess ... — Ich gebe mein Bestes; immer wieder Mal unterbrochen freilich vom Liebkosen ihrer schönen Brüste, die über mir schweben, wie vielleicht jene Früchte im Garten des HErrn sanft vom Wind geschaukelt wurden, denen Eva nicht zu widerstehen vermochte, um schlussendlich, erbsündeninduzierend und wider alle göttlichen Ratschlüsse, davon zu kosten.

'Idiosynkrasie' erklärlich zu machen ist ein wortlastiges Geschäft. Vom ersehnten Entwerden erotischer Provenienz — eigentlich ein Zustand mystischer Ekstase, aber aus meiner Perspektive auch beim Verschmelzen der Körper anwendbar — kann dagegen sicher kein Begriff (mehr) abgezogen werden! Weil sich das psychedelische Oszillieren darin nicht mal annähernd mit einem Ausdruck begaben ließe, der gleichzeitig die Transzendenz des Unsagbaren unterliefe und trotzdem noch etwas Sinnvolles an sich trüge. — Ent-Werden: Dieses ... Nicht-Wort findet sich bei den Mystikern, von al-Hallādsch, Šams und Rūmī, über Eckhart bis zu Simone Weil; es sagt nichts, entfaltet keinerlei Referenz "auf etwas", höchstens, dass für jene Wenigen, die in seinem Licht zu atmen vermögen, sich zeigt, was es im bloßen Kreiseln alles kontingent Seienden nicht ... "ist", sondern immer schon gewesen sein wird: unvordenkliches Sein. Wie bei al-Dschunaid: Der Sufi ist jemand, der so ist, wie er war, als er noch nicht war.

Ich schweige ihr gegenüber von diesen Dingen. Jedenfalls weitgehend. Sie hat schon auf die ersten Andeutungen hin mit einem gar köstlichen Gelächter reagiert. — Und dem nüchternen Bescheid noch, Leute, die so daherreden, seien womöglich gut beraten, einmal kräftig das Oberstübchen zu lüften, um sich hernach bei irgendwem mit anderen, eher naturwüchsigen Kompetenzen von derlei Gedankenwust befreien zu lassen. Ich will nicht mehr sprechen. Abgesehen von einer letzten Einlassung, welche sich noch aufdrängt, bevor mir die vom Heiligen Augustin so gefürchtete Fleischeslust jene am Denken aus dem Bewusstsein streicht:

"Auch wenn Freud uns einst ex cathedra analytica beschied, wo Es ist, solle Ich werden, ließe sich dein gerade praktiziertes Credo eben auch andersherum lesen! Die eine denkt, während die andere längst ..." — Oder umgekehrt. Immerhin war sie kurz vorher noch ganz scharf auf eine Worterklärung gewesen! Es verhält sich ergo so: Was immer von je einer als Rettendes bei Gefahr angesehen wird, erscheint der anderen manchmal wie ein allesverschlingender Abgrund. Keineswegs jedoch ... unhintergehbar!

Indem wir uns schließlich hineinstürzen, hat es schnell sein Bewenden mit dem Denken. Als letzte klare Handlung registriere ich an mir selbst einen nicht vollkommen ... "unbewusst" herbeigeführten Positionswechsel. Danach treibt "etwas" in mir — oder Es — Aaliya zur Raserei, unterdessen mich gleicherdings rasend macht, zu spüren, wie schnell sie völlig "ausrastet" ... dabei.

4

HINTERHER EINE PHASE TIEFER RUHE. Irgendwann ist Aaliya eingeschlafen. Ich weiß, es wäre besser gewesen, nicht nach dem Heft gegriffen zu haben; aber mich hatte etwas Numinoses dazu getrieben, dem schriftlichen Niederschlag jenes Augenblicks noch einmal nachzugehen, der unseren Abschied im Heft fixierte. Aaliya würde nichts davon mitkriegen. Wem auch immer sei Dank! — Die U-Bahnstation ...

Während du langsam in die Eingeweide der Stadt abtauchtest, ergriff mich ein unnennbares Gefühl. Bisher habe ich keine Wörter dafür gefunden. Obwohl es mich wieder und wieder einholt, sobald jene Bilderflut aufgeworfen wird, von der seine Spur nicht abzulösen ist. Als wäre sie mit unerbittlichen Griffeln eingeritzt worden.

Aber wie sollte das möglich gewesen sein, wenn nichts an den Bildern fest genug sedimentiert ist, um ihren Staub zu halten? Jeder zarte Hauch ließe alles aufwirbeln, als habe sich's vor Augenblicken erst am Boden des Gedächtnisses abgesetzt: Der feinen Schlammschicht am Grund eines trügerischen Gewässers verwandt. Bloß Chaos bliebe — auch bei behutsamster Berührung.

Mir ist klar, dass dieses Bild simplifiziert. Vielleicht schließt sich an dieser Stelle auch nur ein Zirkel ohne Anfang und Ende über dem Staub der Bilder: The serpent eats its tail, singt Leonard Cohen in Last Year's Man ... — Du verschwindest in Hamburgs Tiefen, auf einer ewig langen Rolltreppe, bis die Höhle dich verschlingt ...

Ich war oben geblieben. Auf den U-Bahnsteig mitzukommen hätte mich gequält: Es wäre auf Schweigen hinausgelaufen, oder verkrampftes Suchen nach dem Wort, das vom Stand der Dinge aus betrachtet kaum mehr gewesen wäre als banaler Füllstoff. Womöglich hätte er sich in einem Knebel verdichtet, von dem unser Wartequantum zum stummen Schrei sinnloser Verzweiflung abgedämpft worden wäre, statt schmerzhaft vernehmbar zu werden. Das wäre mir, so oder so, unerträglich gewesen; zumal ich weiß, wie schnell dir Gerede auf die Nerven geht! — Du kannst schweigen. Über Stunden hinweg. Ich weiß: Währenddessen im Mantel deine Fingernägel die Innenhand zerkratzten, flehtest du stumm so manches Mal, mein Redefluss möge versiegen, wenn ich dich wieder zu lange damit überschwemmt hatte. Mir ist allerdings kaum durchsichtig, ob dir in solchen Augenblicken je der Gedanke kam, dass ich mich — nicht selten unter Schmerz — nach ein paar Wörtern aus deinem Mund sehnte. Dann musste ihn ausgerechnet jenes Gerede kaschieren, mit dem du Probleme hast. Auch deshalb blieb ich oben. Dir nachzusehen sollte mir weniger schmerzhaft vorgekommen sein.

Die ewig lange Rolltreppe, ihre träge Fahrt, lassen meinen Augen Zeit, aus dir zu trinken. — Dein von Sehnsucht und Traurigkeit verflüssigtes Bild einzusaugen. Ich will die zärtliche Geste des mir zugewandt bleibenden Abschieds aus dem Fluss deines Entschwindens schöpfen, bis er versiegt: Wenn die grausame Rolltreppe leer und der letzte Widerschein deiner Gestalt von den Spiegelflächen meiner Augen gewischt sein wird. Ich trinke und trinke und trinke, nehme Zug auf Zug von dieser bittersüßen Essenz, bis zur endgültigen Neige.

Als der Tunnel dich schluckt, spüre ich den Glutatem der Wüste meines synchron anhebenden Verlassenseins. Vorher dräute es nur. Jedoch mit Schmerz bereits verzahnt. Indessen lehnt sich diesem mehr und mehr ins Wirkliche hinüberrieselnden Gefühl physische Beklemmung an. Sie ist bei mir von jeher schon mit Abschiednehmen verbunden. — An dieser bitteren Aussicht schlägt sich meine Sehnsucht nach jenen winzigen Tröpfchen auf deiner aus- und inwendigen Haut nieder, die sie während den Augenblicken aufs Höchste gespannter Erregung in flüssigen Samt zu verwandeln scheinen und ihr manchmal einen nahezu magischen Glanz geben — wie in Brillantenschnee gespiegelt —, während das papillare Sensorium von einer sahnigen mélange aus Süße und filigranen Salzspuren verzaubert wird, die allerfeinste Bitternoten umspielen ...

Noch weiß ich dich in der Nähe. Von einer ankommenden U-Bahn herrührende Sinnesdaten sind bisher ausgeblieben. Nach wie vor ist die Distanz zwischen uns klein. Mein Imaginationsvermögen zehrt davon. Ich sehe dich am Gleis stehen, deine wundersamen Augen ins Nichts gerichtet. Sie schimmern wie dunkle Seen in mondbeschienenen Wäldern. Als ich ansetze, auch daraus zu trinken — um der Dürre im Verlassensein vorzubeugen, solange es möglich ist —, werden Geräusche und Erschütterungen virulent, die den herannahenden Zug vom bloßen Möglichkeitsstatus ins Faktische überführen. Kein Zweifel: Er wird dich von mir wegführen. Die Hoffnung, alles könne sich immer noch anders entwickeln, stirbt unter der auditiven Gewalt seiner donnernden Einfahrt, der quietschenden Bremsen und schließlich des Zischens beim Türöffnen. Mechanisch, kältesprühend präzis ... und ohne Gnade. Mein imaginierendes Auge sieht, wie du den Limes überschreitest: Zwischen jenem, was sein könnte und dem, wovon der erste Satz des Tractatus spricht. Factum est! — Ein lauter Hupton begleitet den Türschluss. Vorbei! Ende Gelände! Die Bahn fährt an. Wenige Sekunden später ist alles vorbei: Kein sinnlicher Eindruck mehr von dir, nicht mal ein Schatten. Aus der Traum! Ich habe dich seither nicht wiedergesehen. Mir bleiben nur die Bilder der Erinnerung ...

[...]

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