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Feilkode 418

Weiße Tauben - Ich lass dich nie mehr gehen!

Weiße Tauben - Ich lass dich nie mehr gehen! · Romane

Eine törichte Liebe oder eine totgeglaubte Familie? Wofür wird Emily sich am Ende entscheiden und kann Magie ihr den Weg weisen?

Hva vil du med boka?

Wie wurde ich erzogen, wer soll ich werden und wie möchte ich selbst sein? Dies ist eine Entscheidung, die nicht nur die Protagonisten, sondern jeder Mensch für sich allein treffen muss. Manchmal bedeutet das auch, sich zwischen Personen, Heimatorten und Moralvorstellungen entscheiden zu müssen. Seit meiner frühen Jugend schreibe ich leidenschaftlich. Ich möchte Menschen Unterhaltung und einen Ort bieten, in den man sich zuweilen fallen lassen kann, um der eigenen Realität zu entfliehen. Dafür teile ich die Welt, die in meinen eigenen Vorstellungen lebt. Diese Welt ist nicht unbedingt das, was man von einer exemplarischen Traumwelt erwartet. Sie ist weder perfekt noch tadellos. In ihr spiegelt sich die Realität unseres Lebens, doch manchmal erscheinen einem die Dinge klarer, wenn man sie auf Papier gedruckt und aus der Perspektive von Figuren liest, die dem gewöhnlichen Menschen vollkommen fremdartig und doch wieder sehr ähnlich sind. In diesem Beginn einer Buchreihe schlagen Leser:innen sich durch Patriarchat und Matriarchat in eine Welt, die das Potenzial hat, Normen zu brechen und grenzenlos zu denken. Vielleicht findet der eine oder andere ja auch seine ganz eigene Moral in der Geschichte.

Om forfatteren

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In meinem Kopf existiert eine zweite Welt, in der ich die Hälfte meiner Zeit verbringe. Sie ist voller Mut, Tod, Liebe und Magie und fesselt mich von Kindheit an. Sie lebt in mir und ich in ihr. Wenn ...

Kapitel 1: Der fremde Mann

 

Die Türglocke erschallte. Ich schaute blitzartig von der schimmernden Perle in meiner Hand auf und starrte erschrocken die große Haustüre an, hinter der sich ein bedrohlicher Schatten bewegte. Postwendend rannte ich die vielen Treppen hinauf und kauerte mich hinter das Geländer. Dumpfe Schritte hallten unheilverkündend durch das hohe Treppenhaus, bis unten die Tür aufgerissen und ein Mann begrüßt wurde.

„Guten Tag“, sagte der Fremde mit einer tiefen Stimme. „Sie erinnern sich an mich?“

Er reichte dem Ehepaar die Hand, welches das Waisenhaus leitete.

„Wie könnten wir Euch vergessen“, knurrte der Hausherr missmutig.

Ich klammerte meine kleinen Hände um die schmiedeeisernen Streben des Geländers und beobachtete sie aus sicherer Entfernung.

Der Fremde stand noch immer im Türrahmen, denn er war nicht hereingebeten worden. Ebenso wenig machte er Anstalten, die Schwelle eigenständig zu übertreten.

„Ich bin wegen der Kinder hier“, sprach er mit ernster, distanzierter Stimme.

„Ach, weshalb auch sonst?“, spottete der Hausherr. „Ist unsere Arbeit endlich getan?“

„Nein“, antwortete der Fremde knapp und resigniert. Die Stimmung zwischen den Männern war eisig. „Ich muss nur sehen, was aus ihr geworden ist.“

Eine unheilvolle Pause entstand für ein paar Sekunden, in denen ich angestrengt lauschte. Ich lehnte mich noch weiter vor, presste mich enger an die Streben und in diesem unaufmerksamen Augenblick löste sich die funkelnde Perle aus meinen winzigen Fingern. Sie sauste hinab in die Tiefe, prallte mit einem lauten Knall vom Geländer unter mir ab und hüpfte dann mit hallendem Lärm in vollkommener Stille eine Stufe nach der anderen hinab, bis sie schließlich zwischen den Personen an der Pforte ausrollte und vor den Füßen des Fremden nach einer gefühlten Ewigkeit zum Stillstand kam.

„Emily!“, schrie der Hausherr urplötzlich meinen Namen, als hätte er mit einer Pistole auf mich geschossen. Der Schock saß mir in den Gliedern. Ich konnte mich eine Weile nicht rühren und mein Herz pochte laut. Beschämt und dabei hektisch atmend, trat ich hinter dem Geländer hervor und ging zögerlich die gewundene Treppe hinab. Andere Kinder sahen rechts und links durch winzige Schlitze aus ihren Zimmern und starrten mich entsetzt an. Mit gesenktem Kopf hielt ich vor dem Paar, dem das Haus gehörte. Sie traten auseinander und hinter ihnen ragte der fremde Mann auf, welcher mich eindringlich ansah. Ich zog unsicher die Stirn in Falten und schaute weit hinauf in sein Gesicht, auf dem ein dunkler Schatten von seinem Hut lag, sodass ich seine Augen nicht erblicken konnte. Er wirkte respekteinflößend, hatte eine große Statur und trug einen dunklen Mantel über einem schwarzen Anzug. Eine schmale schimmernde Kette funkelte an seinem Bauch und zog mich für einen Moment in ihren Bann, bevor ich eingeschüchtert auf meine Füße hinabblickte. Seine glänzend schwarzen Schuhe standen gegenüber von meinen, die weniger als halb so klein waren.

„Emily, richtig?“, sagte er sanft.

Ich hob den Blick, erschrocken, weil er mich so behutsam und doch so direkt ansprach.

„Ja“, bestätigte ich piepsig und beobachtete ängstlich, wie sich seine riesige Hand auf mich zubewegte. Zwischen seinen Fingern funkelte meine Perle und wartete offensichtlich darauf, dass ich sie entgegennahm. Dann legte er mir seine Handfläche besänftigend auf die Schulter. Ein Schauer überfuhr mich, während ich die Perle in der kleinen Tasche meines Kleides verschwinden ließ.

„Komm, wir gehen ein Stück“, sagte er lächelnd und trat beiseite, um mich vorangehen zu lassen.

Nervös blickte ich zurück auf die Leiter des Waisenhauses, die sich einen besorgten Blick zuwarfen, doch sie nickten angespannt und bedeuteten mir schließlich, zu gehen. Vorsichtig trat ich hinaus an die frische Winterluft und der Fremde begleitete mich die runde Auffahrt entlang, bis zur Straße.

„Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich muss nur sehen, was aus dir geworden ist.“ Er ging neben mir in die Hocke. „Ich habe hier etwas für dich“, raunte er leise, „ein Geschenk zu deinem vierten Geburtstag.“

Mein Herz pochte nervös, während er seine Hand in der Tasche seines Mantels verschwinden ließ.

Ich habe noch nie etwas geschenkt bekommen, dachte ich und wartete gespannt.

Nach einer Weile zog er ein riesiges rotes Herz an einem weißen Stiel aus seiner Tasche. Er entfernte flink eine knisternde Folie und reichte mir das glänzende Etwas. Es funkelte so schön kräftig rot in der weißen, verschneiten Landschaft, wie ein riesiger Edelstein. Ehrfürchtig nahm ich den Stiel in die Hand und betrachtete es.

„Das ist ein Lutscher, du kannst daran lecken“, murmelte er auffordernd.

Langsam und misstrauisch streckte ich die Zunge aus und ließ sie über den knallroten Lutscher fahren, wie er es mir gesagt hatte. Er war himmlisch süß und fruchtig.

„Hmm“, machte ich und sah ihn an.

Der Fremde lächelte mir zu. Im Schatten seines Huts sah ich seine weißen Zähne aufblitzen.

„Komm, wir machen einen Spaziergang im Wald“, flüsterte er bedeutungsvoll, richtete sich auf und bot mir seine große Pranke dar.

 

Erschrocken fuhr ich aus meinem Traum. Einem Traum, den ich so oft träumte, wenn die kalte Jahreszeit anhielt. Doch ich konnte im Wachzustand nicht klar darüber nachdenken. Es war die erste Begegnung mit einem Mann, der mich schon häufiger hier in diesem Waisenhaus besucht hatte, doch sie lag schon sechzehn Jahre zurück. Früher einmal war er jedes Jahr zu Besuch gekommen, wenn der Schnee lag, doch schon seit zehn Wintern schmolz die weiße Pracht und der Frühling hielt Einzug, ohne dass ich ihn noch einmal die Auffahrt hatte hinaufschlendern sehen. Immerzu fragte ich mich, ob er wohl nur ein törichtes Hirngespinst gewesen war, das aus dem Grund verschwunden war, dass ich älter geworden war.

Mit zwanzig Jahren sollte man nicht mehr an Märchengeschichten glauben, Emily.

Ich wusste einfach nicht, wie ich im Traum immer auf ihn kam. Wahrscheinlich war er schlicht die einzige Person, die ich mit der unerreichbaren Außenwelt verband. Jemand, von dem ich mir wünschte, dass er wieder herkommen und mich mitnehmen würde. Ich versuchte, mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, doch es gelang mir nicht. Alles, was ich stets vor mir sah, war eine große, dunkle Silhouette. Der Mantel, die Schuhe, der Hut und die schimmernde Kette. Meine Erinnerungen waren getrübt und undeutlich.

Antriebslos starrte ich wie jeden Morgen aus dem kleinen Fenster, durch dessen alten Rahmen der eisige Wind hindurchzog, auf die leere gewundene Straße hinunter, und in das Tal, in dem ein winziges, abgelegenes Dorf ruhte. Ein Schaudern überfuhr mich beim Anblick der kargen Bäume und der grauen Nebeldecke, die über den wenigen Dächern lag. Einsam stand unser Waisenhaus auf dem toten Berg. Die Straßen waren leer gefegt und die Abwesenheit der Leute war überall spürbar.

Seufzend strich ich mit den Fingerspitzen über den Zeitungsartikel, der an meiner Scheibe klebte, und den ich einst von ihm bekommen hatte. Mit dem Blick über die altbekannten Zeilen huschend, bereitete ich mich innerlich auf einen weiteren miesen Tag vor.

 

Kurznachrichten: Nächtliches Feuer tötet Familie

Am Sonnabend ist ein ländliches Anwesen bei Sailor's Grave in Flammen aufgegangen. Bei dem Brand starben vier Menschen. Ein Kleinkind, 2 Jahre alt, konnte laut einem Augenzeugen gerettet werden. Nachbarn hatten gegen 22 Uhr die Feuerwehr gerufen, doch als diese eintraf, brannte das Haus bereits lichterloh. Die Löscharbeiten dauerten bis in die Morgenstunden an. Die Brandursache ist noch unklar, die Ermittler haben jedoch bereits ihre Arbeit aufgenommen. Der Geruch nach verbranntem Holz durchzog am Sonntagmorgen den gesamten Ortsteil und erinnerte noch Stunden später jeden an das Feuer der Zerstörung. Gegen Mittag versiegelte die Polizei die Eingänge, während die Feuerwehr ihren Einsatz beendete. Die Nachbarn sind schockiert. „Ich kann nicht glauben, was da passiert ist“, sagt Hufner, einer der Augenzeugen. „Es war grausam, solch nette Leute im Feuer untergehen zu sehen.“ Fraglich bleibt –

 

Doch der Rest des Berichts war beim Herausreißen verloren gegangen. Das hier war alles, was ich wusste, und jeden Tag überlegte ich mir, wie der Satz wohl weitergehen mochte. Heute war meine Antwort: Fraglich bleibt, wann all das hier endlich vorbei ist.

Wenn ich doch nur noch eine Familie gehabt hätte, dann würde ich nicht hier festsitzen. Das Waisenhaus und auch das Dorf draußen hatten diese dunkle, schaurige Anmut, die einem die Nackenhaare aufstellen ließ. Ich fühlte mich an diesem Ort nicht wie zu Hause. Bücher und Geschichten zeigten mir eine heilere Welt, die meiner eigenen vollkommen fremd war.

Es war gerade Ende Februar, ich war schon wieder ein Jahr älter, und alles blieb beim Alten. Ich sehnte mich nach Veränderung, nach dem Anblick von irgendetwas anderem als dem stetigen Fallen trauriger Schneekristalle. Bald würden auch sie wohl vom üblichen Regen davon gespült werden, bis dann nur noch eine pampige Brühe auf den Straßen lag. Erst in einigen Wochen würde erneut ein wenig Grün hervorsprießen und meine Stimmung erheitern können. Ich verzehrte mich schon nach den ersten Sonnenstrahlen des Jahres, die viel zu selten durch die dichte Wolkendecke hindurchbrachen und lange auf sich warten ließen.

Im nächsten Augenblick streifte der Wind das Haus und ließ ein Heulen hören. Unheimlich. Es klang nach einem schaurigen Lied und kein Vogel versuchte auch nur, es mit einer glücklicheren Melodie zu übertönen. Drinnen in meinem Kabuff direkt unter dem Dachgebälk des alten Gebäudes herrschten derselbe Unmut und die gleiche Tristheit.

Es klopfte laut von unten und der Staub wirbelte leicht auf, um nach einem kurzen Tanz wieder in endloser Gleichgültigkeit seine Ruhe zu finden.

Ich fuhr mir mit einem Seufzen durch die Haare.

„Frühstück, na los!“, rief eine schlecht gelaunte, schrille Stimme von unten. „Auf jetzt!“

Sechs Uhr. Das war mein Stichwort. Ich straffte die Schultern, glättete den Rock meines Kleides und ging um einen großen Eimer herum, in dem sich Regenwasser sammelte, welches mit einer stetig eintönigen Melodie durch die Decke tropfte und mich verrückt machte. Andererseits wirkte es wie das einzige Leben in diesem leeren Kabuff, in dem nichts weiter stand, als eine alte Pritsche, die ich mein Bett nannte. Mit der dunklen, verrußten Tapete sah der Raum aus, als wäre er mein persönlicher Brennofen, der nur darauf wartete, mich im Höllenfeuer untergehen zu lassen.

Ich stürzte aus dem Zimmer und lief möglichst schnell die quietschende metallische Wendeltreppe hinab, die den Anschein erweckte, als könne sie jeden Moment zusammenbrechen. Insgeheim wartete ich jeden Tag darauf. Hätte meine Meinung irgendjemanden interessiert, hätte ich gesagt, man müsse geradezu suizidal sein, sie zu betreten. Die Sicht fiel weit nach unten, wie in einem Turm. Hatte ich überdies schon erwähnt, dass ich nicht schwindelfrei war? Zum Glück für die anderen war das obere Zimmer schon seit Jahren vergeben.

Die letzten Stufen übersprang ich in meiner Hektik und landete mit einem lauten Knall auf festem Dielenboden. Ich spürte es kurz beben und hörte die Lampen in den Räumen unter mir klirren.

Verdammt! Das könnte Ärger geben.

Dann rannte ich weiter, bis ich unten angekommen genau in die Herrin des Hauses hineinlief: Frau Franke. Ein Duft von Kernseife stieg mir in die Nase, als ich untergeben zu ihr aufblickte. Sie hatte eine dürre, lange Statur, ihr Gesicht war angewidert verzogen und die schmalen Lippen geschürzt. Ihre ewig strengen Gesichtszüge hatten sich in tiefen Falten verewigt und mit ihren dünnen, hohen Augenbrauen trug sie ihre stolze Arroganz zur Schau.

„Wird auch langsam Zeit“, zischte sie hochnäsig mit ihrer leisen unheilverkündenden Stimme, wirbelte herum und schritt durch den kurzen rußbedeckten Flur, während ihr knöchellanges, schwarzes Kleid mit dem hoch geschlossenen Kragen und der vergilbten Spitze sie wie die verbissene Konservative aussehen ließ, die sie auch war. Die grauen Haare hatte sie stets zu einem strengen Knoten zusammengebunden und eine Aura eiserner Erhabenheit umhüllte sie.

Ich folgte ihr ergeben in die Küche, wo bereits alle anderen auf uns warteten. Immer die Letzte zu sein war das elende Los derjenigen, die hoch oben unter dem Dach schlief – mein Los. Vor Kopf der einzigen langen Tafel saß ihr Mann, Herr Franke, neben ihm der graue Bearded Collie, und sie setzte sich wie üblich gegenüber von ihm an die andere Seite des riesigen Tischs. Er fixierte mich durch seine Halbmondbrille und die langen, krausen Augenbrauen hinweg. Ich empfand ihn als schmierig mit seinem braungrauen Schnauzbart und den langen, fettigen Haaren, die er an seiner Halbglatze heruntergekämmt und im Nacken zu einem dünnen Zopf zusammengebunden hatte. Entweder schaute er grimmig drein, oder er hatte ein öliges Lächeln aufgesetzt. Mehr Gesichtsausdrücke besaß er nicht. Bei seinem Anblick lief es mir kalt den Rücken hinunter.

„Setz dich!“, grummelte er rau, während ich schleunigst meinen Platz neben Anni einnahm. Sie war zehn Jahre jünger als ich, aber dennoch eine angenehme Gesellschaft. Ich mochte sie sehr, weil sie vom gleichen Charakter war, wie ich. Ruhe und Nachdenklichkeit beherrschten sie, denn Aufsässigkeit hätte sie nur in Gefahr gebracht.

Ich tat mir etwas Haferbrei auf, reichte den Topf stumpf in der Runde weiter und wartete, bis jedes der zwölf Kinder seine Schüssel gefüllt hatte. Erst dann begann das stumme Mahl.

„Iss! Es gibt erst heute Abend wieder etwas“, schnarrte Frau Franke bedrohlich leise, während sie ihren zermarternden Blick auf Oliver richtete und ihre Brille zurechtrückte, an der eine silbrig antike Kugelkette herunterbaumelte.

„Ich habe keinen Hunger“, lehnte Oliver murmelnd ab und instinktiv senkte ich den Blick. Er war ein etwa fünfjähriger Junge, der noch nicht allzu lange bei uns war und mit seinem Starrsinn immer wieder für Ärger sorgte. Er hatte sich noch nicht damit abgefunden, aber er würde noch lernen, sich unterzuordnen, so wie jeder hier.

„Ihr esst das jetzt!“, donnerte Herr Franke und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die Löffel in den Schüsseln klapperten. Sein Schnauzbart vibrierte gefährlich.

Nun ergriff wieder seine Frau das Wort, und ihre Stimme war um ein Vielfaches schauriger als sein Brüllen. „Ich darf wohl um etwas mehr Respekt bitten. Ihr genießt in diesem Haus eine hervorragende Erziehung und deinen Trotz werde ich dir noch austreiben, Junge“, fauchte sie.

Genau das war ihre Aufgabe. In der Kindererziehung war sie ebenso autoritär wie in ihrem Unterricht. Nun aßen alle artig bei bedeutungsvollem Schweigen und sobald wir fertig waren, und jeder sein Geschirr abgespült hatte, wurden wir in Reih und Glied hinausgeschickt. Erleichtert marschierten wir in Richtung Treppenhaus, doch das gewohnte sausende Geräusch eines Rohrstocks in der Luft hielt uns abrupt zurück. Frau Franke zog Oliver am Ohr aus der Reihe, der Junge wehrte sich schreiend und Anni warf einen ängstlich besorgten Blick über ihre Schulter. Ich bemerkte es und schob sie drängend vor mir her nach draußen, durch den Flur und hinter den anderen her, die so schnell wie möglich auf ihren Zimmern verschwanden. Aus dem Essbereich hörte man laute Schreie und bald nur noch das Schlagen des Rohrstocks. Ich drängte Anni in ihr Zimmer und ignorierte mit schmerzendem Herzen ihren flehenden Blick. Dann kehrte ich sofort um und ließ sie alleine zurück. Es fiel mir zwar schwer, sie so dort stehen zu sehen, doch es war besser so. Besuche in den Räumen der anderen Kinder waren strikt untersagt und ich wollte sie nur beschützen.

Genau das war die Art und Weise, wie man Kinder wie uns zu distanzieren versuchte. Freundschaften unterbinden, mit Strafen drohen, uns klein halten. Trotz des gemeinsamen Schicksals waren wir allein und all die Jahre in diesem einsamen Haus hinterließen dunkle Spuren. Jede Farbe schien zu einer weiteren Grauabstufung verblasst und jedes Gemüt wurde zunehmend mit Wehmut belastet, als würden wir von einer tiefen, undurchdringlichen Depression verstaubt werden.

Niedergeschlagen stieg ich die Wendeltreppe nach oben, währenddessen hörte ich hinter mir, wie sich nacheinander die letzten Türen schlossen und es langsam still wurde. Ich war nun allein und so trottete ich in kleinen Bögen hinauf, bis zu meinem Kabuff unter dem Dach.

Waisenhaus oder Klapsmühle?, das war hier die Frage.

Gegen acht Uhr wurden wir zum Unterricht aufgefordert und schweigsam wie immer fanden wir uns auf unseren Plätzen an den einzeln stehenden Tischen im Unterrichtssaal ein. Alleine das scharrende Geräusch der Stühle, die über den Boden gezogen wurden, durchbrach die Stille. Dann wurden wir reglos und sahen mit trüben Gesichtern zur Tafel, an der Frau Franke bereits mit Kreide schrieb. Olivers Platz blieb leer. Der Junge stand noch immer in der dunkelsten Ecke des Speisesaals auf dem Schemel der Schande. Ausgegrenzt und gedemütigt würde er noch die folgende Nacht dort verbringen müssen, ohne etwas zu Essen oder zu Trinken. Ich wusste, welche Qual es war, denn ich selbst hatte schon zu Genüge an Tagen darauf verbracht.

Zu meiner Begeisterung gab Frau Franke mir heute weitere Aufgaben zur Mendel‘schen Vererbungslehre und den verschiedenen Erbgängen. Wenigstens etwas Positives brachte der Tag also mit sich. Begierig wertete ich alleine für mich in der letzten Reihe Stammbäume aus und entschied, ob die Genotypen rezessiv oder dominant waren und ob sie autosomal, oder gonosomal vererbt wurden. Dies war meine Passion: Alles, was mit der Lehre des Lebens und des Menschen zu tun hatte. An meinem ersten Stammbaum erkannte ich sofort, dass nur Männer von der Erkrankung betroffen waren, und all diese betroffenen Männer gaben das Merkmal an jeden ihrer Söhne, jedoch an keine ihrer Töchter weiter. Die Lösung lag auf der Hand: Es war ein y-chromosomaler Erbgang.

Mit Enthusiasmus ließ sich der Unterricht gleich viel besser überstehen und da ich im Biologieunterricht kaum Fehler machte, hatte ich hier auch am wenigsten mit Strafarbeiten zu rechnen.

Man muss sich eben an den kleinen Dingen erfreuen.

Auch der darauf folgende Aufsatz über die Figur des Selbsthelfers in der Epoche des Sturm und Drang ging mir nur allzu leicht von der Hand. Ich hatte mir erst neulich ein Werk dazu in der Bibliothek ausgeliehen. Eine dramatische Liebesgeschichte, die mit dem Freitod des verzweifelten Selbsthelfers geendet hatte.

Tragisch ... aber womöglich wird dies am Ende auch mein Schicksal sein ...

Ehe ich mich versah, war der Unterricht vorbei, und damit wir unsere Zeit ja nicht mit Spielereien und Kinkerlitzchen verbringen konnten, wurden wir von Frau Franke wie jeden Nachmittag ins Dorf geschickt, um in den Läden auszuhelfen. Eine Erlösung, wenn es nach mir ging, denn es war weitaus besser, als im Haus vor die grausame alte Tapete zu starren und nicht einmal zu bemerken, dass man nach und nach verrückt wurde. Es war wie eine Krankheit, die den Geist befiel und einen zugrunde richtete.

Sogleich rannten alle hastig mit einer dicken Jacke aus dem Haus und auch ich beeilte mich, das Buch zu holen, um endlich die frische, kühle Luft einzuatmen, die so herrlich nach geschmolzenem Schnee roch. Der Spaziergang ins Dorf war eine willkommene Pause und so schlenderte ich langsamer als die anderen die kreisrunde Auffahrt entlang. Ich entschied mich für einen Weg querfeldein über den bewachsenen Hügel hinab ins Tal, statt der kurvigen Straße zu folgen. Ich brauchte Zeit für mich zum Grübeln und Nachdenken, während mir der Wind durch den Kopf pustete und den Staub davon wehte, der sich jeden Tag, den ich in diesem Haus verbrachte, wieder in mir niederzulegen schien. Nur noch aus der Ferne hörte ich nun die Stimmen der anderen, bis sie schließlich ganz verstummten. Die Stille begann mich zu ummanteln und ich lauschte meinen Schritten, bei denen es jedes Mal ein knarzendes Geräusch gab, wenn der Schnee unter meinem Gewicht zusammengestaucht wurde.

Nach einer Weile erreichte ich das Tal und an einem überschaubaren Spielplatz mit zwei Schaukeln machte ich Halt, strich mit der Hand über die nasse Sitzfläche und lies mich für einen Augenblick nieder. Ich pendelte quietschend hin und her und beobachtete eine Meise dabei, wie sie im Dreck herumhackte, während ich vor mich hin träumte. Dann und wann hörte man das leise, aber stetige Fallen von Wassertropfen, die aus hohen Baumwipfeln und niedrigen Sträuchern herunterfielen und auf der langsam schmelzenden Oberfläche der Schneeschicht zu meinen Füßen mit einem dumpfen Platschen landeten, als ob die Pflanzen vor Trostlosigkeit weinen würden. Kleine, runde Löcher bohrten sich so in die weiße Fläche, deren oberste Schicht immer mehr in sich zusammensank und grau und trist wurde, sodass sie nichts mehr an sich hatte von der vollkommenen Schönheit und Pracht einer frisch beschneiten Landschaft, die elegant vor sich hin glitzerte und so strahlend hell leuchtete, dass sie einen blendete.

Am Rande des Spielplatzes nahm ich plötzlich eine dunkle Gestalt wahr, doch als ich genauer hinschaute, war sie bereits verschwunden. Beunruhigt schüttelte ich den Kopf über meine Hirngespinste. Immer wieder verfolgten mich Erinnerungen aus meiner Vergangenheit. Erinnerungen, die ich am liebsten verdrängt hätte, weil sie vollkommen hoffnungslos und sinnlos waren. Er würde nicht mehr kommen, um mich zu holen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen starrte ich auf den Wald am Dorfrand, den ich seit damals nur noch wenige Male sehnsuchtsvoll betreten hatte, nur um zu bemerken, dass ich einem Schatten hinterherlief. Die Erinnerungen verschwanden eben nicht so einfach, wie die Menschen…

Viele der Gebäude um mich herum waren leblos und leer stehend. Nachdem die Leute gegangen und fortgeblieben waren, waren auch die Lichter in den Fenstern ausgeblieben und nun schien in ihnen bloß noch das Grauen der Dunkelheit zu hausen.

Ich rappelte mich auf, lief weiter die Straßen entlang und kickte dabei einen Stein vor mir her, bis ich ihn aus Versehen in einen Gully beförderte. Zu allem Überfluss fing es wieder an zu regnen und zum Glück fand ich nur dreißig Meter weiter Zuflucht in dem einzigen Gebäude, das mir etwas Trost spenden konnte.

Mit tropfendem Haar betrat ich die kleine Bibliothek. Fast schon schwülheiße Luft kam mir entgegen und umhüllte mich mit ihrem vertrauten Geruch von alten, verstaubten Büchern. Ich liebte es, mich in den Geschichten zu verlieren und mich in ihren bezaubernden Bann ziehen zu lassen, denn dies war mein Schlüssel zur Außenwelt und zu der einzigen Freude, die in meiner Reichweite war. Mit geschlossenen Augen atmete ich den geliebten Duft ein und ging gerade an einem Regal entlang, um bedächtig über die bunten Buchrücken zu streichen, als Anni um die Ecke kam. Sie trug die Haare wie üblich mit roten, verblichenen Haarbändern zu zwei buschigen Dutts am Hinterkopf hochgebunden und balancierte ein paar Bücher.

„Da bist du ja“, sagte sie munter. Auch auf sie hatte dieser Ort spürbaren Einfluss. „Die Stapel auf dem Tresen müssen noch einsortiert werden“, informierte sie mich.

Ich nickte ihr lächelnd zu, schälte mich aus meiner Jacke und trat vor die Bücherstapel, hinter denen sich der buschige graue Haarschopf von Frau Gerbera bewegte. Als sie sich aufrichtete, schenkte ich ihr ein achtungsvolles Lächeln, schnappte mir ein paar der dickeren literarischen Werke und machte mich an die Arbeit. Das Gute daran war, dass wir genügend Zeit hatten, in den Büchern herumzustöbern, und es war nie verkehrt, die Augen nach einem neuen Exemplar zur Lehre des Menschen offenzuhalten. Anni und ich hatten einen wahren Glücksgriff mit der Bibliothek gemacht. Es war so schön friedlich hier, beinahe so, als wäre man in einer anderen Welt – die Ausflucht, die wir so dringend nötig hatten. Wir blieben gerne und ließen uns durchfluten von den Stimmen, die aus den Büchern sprachen, wenn man sie denn ließ.

Nach zwei stillen, aber vergnüglichen Stunden schlenderten wir gemeinsam durch die Gassen zurück. Beide trugen wir heimlich ein neues Buch unter der Jacke und unterhielten uns angeregt über die tragische Liebesgeschichte, die ich zuletzt ausgeliehen hatte. Auf halbem Weg fiel mir auf, dass es schon dunkler geworden war, und wir, so langsam wie wir gingen, wohl hätten von einem Dreirad überholt werden können, auf dem niemand saß. Der Tag neigte sich bereits dem Ende, die Sonne wanderte stetig hinter den Wolken gen Erde und tauchte das Firmament hinter dem Berg mit dem Waisenhaus auf seiner Spitze in rötliche Farbe. Bald würde es Essen geben und wir mussten uns sputen.

Nach dem Abendmahl endlich in meinem knarzenden Bett angekommen, lag ich noch eine Zeit lang wach und las, bis ich schließlich in einen leichten Schlaf fiel, der von Zeit zu Zeit immer tiefer wurde, sodass ich bald in einen Traum davon schwebte ...

 

Ich stand auf dem Schemel. Meine Beine taten weh. Mein Magen schrie. Ich war allein. Nur meine Perle war bei mir und schenkte mir Trost. Frau Franke stritt sich in der Eingangshalle mit einem Mann. Die Tür stand offen, nur einen Spalt breit. Ich konnte sie hören.

„Ich bin nicht die Mutter der Göre, es ist nur eine verdammte Waise!“, hörte ich sie feindselig zischen.

Mutter ...?

„Ich habe sie unter Ihren Schutz gestellt“, antwortete eine dunkle, verärgerte Stimme. „Ich will sie sehen.“

Stille.

Dann näherten sich mir langsame, dumpfe Schritte und die Tür zum Speisesaal wurde quietschend aufgestoßen. Herein kamen Frau Franke und ein riesiger Mann. Er überragte sie um einen Kopf, trug einen Hut und einen schwarzen Mantel. Zielstrebig kam er auf mich zu.

„Hallo, Emily. Erinnerst du dich noch an mich?“, fragte er sanft. „Es ist schon ein Jahr her.“

Seine Gestalt kam mir bekannt vor und vor meinem geistigen Auge blitzte die vage Erinnerung an einen roten Lutscher auf.

„Komm herunter“, forderte er mich auf und bot mir seine große Pranke an. Mein ängstlicher Blick suchte Frau Franke, die deutlich mit sich rang, jedoch widerstrebend nickte.

Ich ergriff die riesige Hand und sprang mit seiner Hilfe von dem hohen Schemel hinunter. Noch nie durfte ich vor dem nächsten Sonnenaufgang herunter. Ich war erleichtert und schaute dankbar zu dem fremden Mann auf. Wortlos führte er mich nach draußen und in den Wald hinter dem Haus. Der Schnee war so tief, dass ich kaum einen Schritt machen konnte. Als er es bemerkte, bremste er, bückte sich zu mir herunter und sagte: „Ich werde dich tragen.“

Stumm ließ ich zu, dass er mich in die Lüfte hob. Ängstlich klammerte ich mich an seinem Kragen fest. Die Höhe war mir nicht geheuer.

„Wie geht es dir, Emily?“, fragte er.

Was für eine seltsame Frage.

Das hatte mich noch niemand gefragt. Ich schwieg und fragte mich, ob er wohl wieder ein leckeres rotes Herz dabei hatte. Dabei beobachtete ich, wie kleine weiße Schneeflocken federleicht auf dem schwarzen Stoff seines Mantels landeten.

„Magst du den Schnee?“, fragte er und wartete, doch wieder schwieg ich. „Ich mag den Schnee“, erzählte er und lächelte, „er schmeckt wunderbar frisch.“

Ich hatte ihn noch nie probiert. Vorsichtig streckte ich die Zunge aus und ließ sie durch den Schnee auf seiner Schulter fahren.

Sein intensiver Blick traf mich und fixierte mich eigenartig.

„Mhm“, machte ich nickend, um ihm zuzustimmen.

Ein schiefes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Auch ich musste lächeln.

„Wo ist meine Mutter?“, fragte ich, weil mir soeben einfiel, was Frau Franke gesagt hatte.

Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes erstarb.

„Was ist eine Waise?“, fragte ich weiter, denn er schien verstummt.

An einem riesigen, kantigen Denkmal machten wir halt und er stellte mich vor sich auf die verschneite Sitzfläche einer Bank. Dann musterte er mich wortlos. Der Schnee funkelte mich an. Er war so schön weiß und fasziniert streckte ich die Hand aus, um etwas davon aufzuheben und in meinem Mund zu stecken.

„Deine Mutter ist nicht da“, sagte der Mann schließlich.

„Wo ist sie denn?“

Wieder überlegte er. „Hör zu, eine Waise zu sein, bedeutet, dass deine Mutter und dein Vater niemals herkommen und dich abholen können.“

Mich abholen? Wohin sollten sie mich denn mitnehmen?

„Aber warum?“, fragte ich mit dem Mund voller Schnee.

Er atmete tief durch, dann hauchte er: „Deine Eltern sind tot, Emily. Das weiße Licht hat sie geholt.“ Seine Stimme klang rau und kehlig.

Meine eiskalten Finger erschlafften und ließen den Schnee herunterfallen. Noch nie hatte mir jemand etwas über meine Eltern erzählt. Es war das erste Mal, dass ich eine Antwort bekam.

Tot? Warum sind meine Eltern tot?

„Deshalb bist du in einem Waisenhaus, so wie all die anderen Kinder. Hier kümmert man sich um dich. Hier bist du in Sicherheit.“

„Und wann wachen sie wieder auf?“, fragte ich neugierig.

Er zögerte. „Der Tod ist etwas Andauerndes, nichts Vorübergehendes. Wenn jemand stirbt, dann wacht er nie wieder auf“, erklärte er sanft. „Das ist nichts, was man ändern kann. Jedes Lebewesen muss einmal sterben. Wenn du eine Blume pflückst, wird auch sie vergehen und nie wieder erblühen. Deine Eltern sind gestorben, weil ihnen etwas Schlimmes passiert ist.“

„Und was?“, fragte ich gespannt.

„Das werde ich dir irgendwann erzählen, wenn du älter bist“, entgegnete er und stupste mein Kinn ein wenig in die Höhe.

„Versprichst du es?“, hakte ich nach. Ich wollte mehr wissen und er war der Einzige, der meine Fragen beantwortete. Er hörte mir zu.

„Ich verspreche es!“, sagte er nachdrücklich.

„Also nächstes Jahr, wenn ich älter bin“, schloss ich.

Er lachte leise auf. „Womöglich.“

„Also ... wenn sie mich nicht abholen können ... wirst du mich dann abholen?“, fragte ich erwartungsvoll zu ihm aufschauend.

Er beugte sich vor, schaute mich intensiv an und antwortete: „Das werde ich. Irgendwann. Versprochen.“

„Und wann?“

Wieder blitzten seine weißen Zähne auf, als er lachte. „Schluss mit der Fragestunde. Du musst dich noch ein wenig gedulden“, er nahm meine Hand in seine riesige Pranke, „nur versprich mir bis dahin eines.“

Fragend sah ich zu ihm auf.

„Wir zwei kennen uns, nicht wahr?“, hakte er nach.

„Ja“, antwortete ich.

„Und du vertraust mir“, fuhr er fort.

„Ja.“

„Weil ich dir nichts antun will“, sagte er nachdrücklich und drückte wieder meine Hand. „Versprich mir, dass du niemand anderem vertraust, dem du alleine auf der Straße begegnen solltest.“

„Wem sollte ich denn begegnen?“, fragte ich verständnislos.

„Einem Fremden womöglich“, hauchte er. „Lass dich niemals zu einem Gespräch hinreißen. Erzähle nichts über dich. Vertraue keinem und was am Allerwichtigsten ist: Gehe niemals mit jemand anderem mit.“

Seine Stimme war strenger geworden und ich schluckte schwer.

„Versprochen“, flüsterte ich leise, auch wenn ich es nicht verstand.

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Sehr gut! Und nun komm, wir gehen wieder rein. Es wird Zeit.“

Enttäuscht fiel meine Miene in sich zusammen. Er wollte schon gehen? Ohne ein Geschenk?

„Ich will aber nicht zurück“, quengelte ich mit zitternder Unterlippe.

Ich wollte nicht zurück auf den Schemel. Ich hasste den Schemel.

„Wir beide werden hier draußen noch erfrieren, wenn wir nicht gehen“, setzte er an, um mich zu überreden.

„Mir ist nicht kalt“, log ich zitternd. „Hast du ein rotes Herz dabei?“, fragte ich glatt heraus.

Nun fiel seine Miene in sich zusammen. „Das habe ich wohl vergessen“, murmelte er leise, doch dann erhob er einen Finger mit der Aufforderung, zu warten. „Aber ich habe etwas noch viel Besseres“, hauchte er.

Meine Laune erhellte sich und mit funkelnden Augen starrte ich ihn gespannt an, während er in der Innenseite seines Mantels nach etwas suchte.

„Dieses Geschenk von mir ist eigentlich ein Geschenk von deinen Eltern. Ich habe mir gedacht, du solltest es bekommen“, erklärte er langsam und zog dann seine Hand hervor. Als er seine Faust vor meinen Augen öffnete, sah ich ein blaues Tuch, welches zu beiden Seiten seiner Handfläche herunterbaumelte.

Reglos schaute ich es an.

„Nimm es, es gehört dir“, forderte er mich sanft auf und als ich die Hand ausstreckte, lächelte er mir ermutigend zu.

Es fühlte sich ganz weich an und ich erkannte ein verschnörkeltes Symbol in der Mitte. Mit aller Vorsicht schmiegte ich es an meine Wange, um den flauschigen Stoff auf meiner Haut zu spüren.

Mhmmm, so weich!

Mein eigenes Schnuffeltuch. Es gehörte nur mir. Es war das perfekte Geschenk. Ich liebte es sofort.

„Nun sollten wir uns aber aufwärmen“, beharrte er. „Ich will nicht, dass du krank wirst.“

Enttäuscht schaute ich zu ihm auf. Seine Worte zerstörten den Augenblick. Ich wollte nicht, dass er so schnell wieder ging. Ich mochte ihn.

„Sieh mich nicht so an, Emily“, raunte er beinahe gequält.

Meine Unterlippe schob sich vor und begann zu beben.

„Nicht weinen, bitte!“, sagte er und atmete tief durch.

Ich konnte nicht anders. Es überkam mich einfach. „Nicht z-zurück gehen“, stammelte ich und Tränen schossen mir in die Augen.

Er sah sich für einen kurzen Moment um, als wollte er sichergehen, dass wir allein waren. „Okay, wir bleiben noch. Nur bitte nicht weinen. Pass auf, ich zeige dir etwas.“

Ja!

Ein unkontrollierbares Lächeln zog sich wieder über mein ganzes Gesicht.

„Was denn?“, flüsterte ich zurück.

Wieder schaute er sich um, hauchte dann in seine Hände und rieb sie aneinander. Sein Atem war dabei als ein großer weißer Nebelschwaden zu sehen, der sich bald verflüchtigte. Dann nahm der Mann meine eiskalten kleinen Finger in seine und umschloss sie zärtlich. Bedächtig beugte er sich noch weiter vor, holte tief Luft und hauchte langsam auf unsere Hände hinab. Mit einem Mal schien mich eine wohlige Wärme zu berühren. Sie kroch in mir hoch, erfüllte meine Brust und ließ mich schmelzen. Als er unsere Hände daraufhin schalenförmig öffnete, tanzte über meinen Fingern eine kleine Flamme. Sie leuchtete hellrot und ihr warmer Schein traf mein Gesicht, aber sie verbrannte mich nicht. Sie war wunderschön.

„Was ... ist das?“, hauchte ich gebannt, die Augen so groß wie Untertassen.

„Das ist Umlilo“, antwortete er geheimnisvoll flüsternd.

 

Mit einem heftigen Zucken wachte ich aus dem Schlaf und langsam wurde mir erst bewusst, dass ich geträumt hatte. Und obgleich er mir damals so gut wie fremd gewesen war, so hatte ich mich doch behütet in seiner Nähe gefühlt. Er war der erste Mensch gewesen, bei dem ich je Geborgenheit empfunden hatte und er hatte an diesem kalten Wintertag trotz seiner Worte über meine Eltern einen glücklichen, sorglosen Moment mit mir geteilt, den ich nie vergessen hatte. Er war der Einzige gewesen, der mir je Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegeben hatte ... aber womöglich war diese Hoffnung auch gleichzeitig mein größtes Verderben. Fünfzehn Jahre war es her, dass ich auf der Bank vor ihm gestanden hatte. Fünfzehn Jahre hatte mich dieser Hoffnungsschimmer am Leben gehalten und mich gleichzeitig gequält. Ich durfte mir nichts vormachen ... er würde nie mehr kommen.

Träume sind Schäume, Emily, dachte ich niedergeschlagen.

Ich war wieder in der Realität und in dieser gab es bis auf meine Erinnerung keinen handfesten Beweis dafür, dass es ihn wirklich jemals gegeben hatte.

Oder doch?

Langsam schob ich meine Hand unter das Kissen und zog das kleine blaue Tuch von meinen Eltern hervor. Ich schmiegte es an meine Wange, sog den Duft des alten Stoffs ein und schloss die Augen. Ich wusste nicht mehr, was Erinnerung und was Traum war. Vielleicht war er nur eine Märchengeschichte, eingesponnen in mein trauriges kindliches Leben, um all die Jahre hier zu überstehen. Doch jetzt wünschte ich mir bloß, ich könnte ihn endlich vergessen und auch die törichte Hoffnung mit ihm begraben, je ein anderes, weniger finsteres Leben zu führen.

„Himmel, bitte erlöse mich von dem Fluch“, flüsterte ich in die stille Dunkelheit und ließ es zu, dass die Tränen überliefen und meine Wangen in brennenden Spuren hinab rannen.

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