Dringende Warnung:
Gleich am Anfang muss zuerst einmal gewarnt werden:
Wer diese Geschichten liest und sich damit auf meine Gedanken einlässt, läuft ernsthaft Gefahr verführt zu werden.
Verführt zu Ideen, Wünschen und Vorstellungen, die ihn, also Dich, lieber Leser, vielleicht insgeheim schon seit langem beschäftigt haben, die Du Dir jedoch bisher nicht einzugestehen oder überhaupt zu denken gewagt hast. Insgeheim schon deswegen, weil man sowas heute in unserer profanen Welt nicht offen sagen darf, will man nicht der Esoterik oder, horribile dictu, sogar der Gläubigkeit geziehen werden. Vielleicht, weil man ja selten genau weiß, was einen im Moment im Endeffekt tatsächlich umtreibt.
Und was ist „sowas“?
Ja nun, lies halt weiter.
Egal wie oder was, mit derlei Unsicherheiten räumen meine Geschichten auf.
Endgültig.
Versprochen!
Aber zu Beginn soll man seine Leser ja weder überfordern noch erschrecken, daher gemach und Punkt für Punkt:
Verführt, weil ich es nämlich darauf anlege, dass meine Geschichten Dich gefangen nehmen, Dich ver- und so wegführen von einem bisherigen ausgelatschten Weg hin zu Deinem wirklichen, jedoch noch nicht zu Ende gebrachten eigentlichen Pfad. Und Dich so dazu verleiten, das zu denken und womöglich sogar zu tun, was Du insgeheim schon lange hast tun wollen und, wenn Du ehrlich bist, längst hättest tun sollen.
Gib es doch zu: Auch Du hast Deine blauen Berge am Horizont, Deine Wünsche, Deine Träume. Wie schon die Blaue Blume der Romantiker sind diese blauen Berge für Dich und mich, für uns, Sehnsuchtspunkt für unsere Suche nach Glückseligkeit, für unsere Hoffnungen, unser spirituelles, metaphysisches Streben nach neuen Dimensionen, nach der allumfassenden Liebe und damit ein Symbol für unsere Wanderschaft dorthin. Aber es ist halt, wie es ist: Da war zuerst die Ausbildung mit vielleicht hinreichender Zeit, aber wenig Geld, dann kam der Beruf, damit war zwar Geld da, aber die Zeit war weg. Schließlich kam die Familie, das Haus und was es sonst nicht alles an Hindernissen auf dem Weg zu den blauen Bergen gibt, womit Zeit und Geld zugleich rar wurden. Nicht zuletzt war und ist es da, wo Du momentan Deine Zelte aufgeschlagen hast, eigentlich ja auch recht kommod. Sonst wärst Du ja nicht dort! Ich weiß, ich weiß. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Nichts dagegen, wenn da bloß nicht diese elenden Berge am Horizont wären, die Dich und mich ständig gemahnen, noch nicht fertig zu sein, noch nicht abzuschließen, nicht aufzuhören, das Feuer noch nicht ausgehen zu lassen.
Und damit sind wir auch schon bei der Hauptfigur meiner Erzählungen:
Gestatten, Adam.
Adam und Eva hatten schon seit einiger Zeit die schier unendlichen Weiten der ewigen Blumenwiesen der Liebe miteinander erkundet. Hand in Hand zogen sie nun also hinaus in neue Landschaft, die das Leben für sie bereithielt. Die blauen Berge ganz hinten am Horizont hatten es ihnen angetan und zogen sie magisch an. Der Weg schien zwar weit, aber sie waren sich sicher, es miteinander leicht dorthin schaffen zu können.
Sie waren schon ein gutes Stück des Wegs gegangen, da vernahmen sie einen neuen, ihnen gänzlich unbekannten Ruf. Sie sahen sich um und entdeckten nur wenig abseits des Wegs ein Bündel Mensch in den Blumen des Feldes. Ganz klein und süß und mit einem Lächeln, das ihnen den Atem raubte. Natürlich mussten sie da anhalten, um das Wesen zu bestaunen. Natürlich erkannten sie auch, dass das Wesen sie brauchen würde, da weit und breit niemand sonst war. Sie sahen sich tief in die Augen und versicherten sich gegenseitig ihrer unverbrüchlichen Absicht zu den blauen Bergen zu gehen, aber geänderte Umstände erforderten eben auch neue Entscheidungen. Aufgeschoben sei nicht aufgehoben: Das Ziel seien und blieben die blauen Berge, auch wenn es nun hieß, vorerst Anker zu werfen.
Sie wandten sich also wieder dem Wesen zu, nannten es Tochter, gerufen Ahörnchen, und fuhren im Staunen fort bis ihnen die Augen heiß und die Lider schwer wurden. Aus dem plötzlich aufkommenden Nebel bildete sich schließlich eine Gestalt in weiten weißen, luftig wallenden Gewändern, die ihre üppigen, wohlgerundeten und offensichtlich weiblichen Formen mehr betonten als verbargen. Die Gestalt, das Leben, beugte sich über das Wesen und lächelte glücklich. „Ach, ist es süß. Das wird ein ganz besonderes Kind“, entrang es ihr. Inzwischen hatte sich eine weitere Gestalt dazu getan. Hager, in schwarzem, härenem Gewand, bleich und streng im Gesicht. Schweigend und misstrauisch umschlich der Tod das Wesen. „Naja, ich weiß nicht. Es ist ein wenig blass und schwächlich. Fast schon hinfällig. Ich könnte es gleich mitnehmen«, gab er mit papierener Stimme kund. „Hüte Dich!“, keifte das Leben, „rühre es nicht an oder ich kratze Dir die Augen aus.“ „Ich dachte ja nur und wer weiß, was ihm dann alles erspart bliebe“, verteidigte sich der Tod. „Ich versuche nur meine Pflicht zu tun.“ „Was es im Leben zu bestehen hat, ist allein meine Sache“, erwiderte das Leben.
Derweil hatten sich weitere Gestalten zu ihnen gesellt. Eine leicht bekleidete Schöne, das Glück. Eine hochgeschlossene und etwas verkniffen wirkende ältere Jungfer, das Schicksal. „Das Leben hat Recht, es wird einmal eine ganz besondere Frau. Reich und schön und glücklich“, rief das Glück und verwarf die Hände zum Himmel. „Wenn es denn wahr wird und die Sterne gutstehen, mag das Glück recht haben“, wisperte das Schicksal. „Aber wer weiß das schon? Vielleicht gerät sie in schlechte Gesellschaft oder wird krank.“ „Sei nicht so pessimistisch“, schalt sie das Leben, „sie hat doch ihr ganzes Leben erst noch vor sich.“ „Kann ich gegen die Macht der Sterne und der Umstände was ausrichten“, entgegnete das Schicksal. „Richtig“, flötete das Glück, „ohne Glück geht es nicht. Aber sie wird ein Glückskind sein. Erfolgreich und zufrieden. Aus ihr wird wenigstens ein Genie, eine Philosophin, wenn nicht sogar eine Eisenbahnschaffnerin oder ...“. „Papperlapapp“, schnitt ihr das Leben das Wort ab, „sie wird eine ganz tolle Frau, die ihr Leben zu richten und zu genießen weiß.“ „Wenn da mal bloß nichts dazwischenkommt“, meckerte das Schicksal. „Wie leicht kann was passieren. Ein Sturz vom Fahrrad, ein Ziegelstein von oben ...“. „Ich sag ja, ich könnte sie gleich mitnehmen und ihr damit das alles ersparen“, mischte sich wieder der Tod ein. „Ihr passiert doch nichts, diesem Glückskind“, flüsterte das Glück, „außer einem Gewinn im Lotto oder einem 6-er-Pasch beim Würfeln. Mindestens das, wenn nicht mehr wird ihr zuteilwerden.“ „Schluss jetzt“, rief das Leben die Gestalten zur Ordnung und klatschte dabei in die Hände. „Sie wird all das erleben, was sie erleben muss. Glück und Leid. Liebe und Zufriedenheit. Trauer und Hoffnung. Ihr Leben eben.“ Daraufhin lichteten sich die Nebel und die Gestalten entschwanden.
Adam und Eva erwachten und sahen sich noch immer in der Anschauung des Kindes befangen. Da ein Glück nur selten allein bleibt, fanden sie nur wenig später ein zweites Kind auf der Liebewiese ihres Lebens und nannten diese Tochter Behörnchen. Und wieder öffneten sich ihnen alle Pforten des Paradieses in der Anschauung dieses Prachtstücks. Es roch buchstäblich vor und nach Glück.
Sie gingen also vor Anker und richteten es sich soweit häuslich ein, als es ihr bekannt nur zeitweiliger Aufenthalt geboten erscheinen ließ. Ihr Ziel waren und blieben ja die blauen Berge. Die Möbel ihrer Gemächer waren deshalb zwar einigermaßen gediegen, aber nicht derart, dass man hätte auf die Idee kommen können, sie würden sich auf Dauer einrichten. Vor allem hatten sie insofern jedoch keine Lust sich ständig zu grämen, ob der allfälligen Beschädigungen, welche die Töchter in ihren ersten Jahren dem Mobiliar zufügen würden. So widmeten sie sich also deren Aufzucht.
Viele Jahre und Jahrzehnte später wurde Adam bei Renovierungsarbeiten an seinen Gemächern gewahr, dass er darin noch immer überraschend wenige Dinge mit Dübeln und Schrauben befestigt hatte. Reißzwecken und sonstiges leichtes Befestigungsmaterial waren vorherrschend. Auch sein Bücherregal hatte er nur durch eingeklemmte Holzkeile gesichert. Selbst sein anderes Mobiliar war bei genauerer Betrachtung überwiegend leicht zerlegbar, einfach gestaltet und transportierbar. Das erinnerte ihn schließlich seines unterbrochenen Wegs.
Daraufhin trat Adam vor die Tür und sah wieder die blauen Berge am Horizont.
Soviel an dieser Stelle zu Adam. Man erkennt also leicht, um welche Sorte Mensch es sich bei ihm handelt.
Doch zurück zu den persönlichen Träumen. Es ist doch ausgesprochen nett von den Bergen, dass sie sich nicht so einfach zur bloßen Kulisse reduzieren lassen. So bleibt auch Dir, lieber Leser, der Stachel Deiner anfänglichen Wünsche und Träume im Fleisch Deines bequem gewordenen Lebens erhalten.
Was tun?
Nimm die Herausforderung halt an, greife Deine Träume einfach wieder auf, wenn sie nun schon so lange auf Dich gewartet haben! Es sind doch Deine Wünsche und Träume. Und, ehrlich gesagt, so schwer ist es gar nicht sich zu seinen Träumen und Wünschen zu bekennen. Wer sollte Dich denn daran hindern wollen? Träume also Deinen Traum und versuche ihn und Deine Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen, indem Du sie wahr machst und lebst. Ja, anfangs wirst Du Dir vielleicht selbst etwas komisch vorkommen, wenn Du beginnst auf Deinen Pfad zu den blauen Bergen zurückzukehren, wenn Du beginnst in Deine Vergangenheit zurückzugreifen, um dort an liegengebliebenen Fäden anzuknüpfen. Aber was soll´s? Außer Dir wird niemand wirklich etwas merken. Selbst wenn Du Dein altes Schmusetier aus Kindertagen wieder herausziehen solltest. „Ach, ist ja süß“, wird es heißen und, wenn Du männlichen Geschlechts sein solltest, wird die Damenwelt Dir deswegen zu Füßen liegen, bist Du eine Frau, werden die Männer Dich umso süßer finden. Alles eine Frage der Perspektive. Ansonsten wird Dein neues, altes Leben Dir alsbald wohlbekannt wie ein altes Jackett vorkommen und Du wirst Dich fragen, wie Du jemals von Deinem damals begonnenen Weg zu Deinen wirklichen und wahren Wünschen und Träumen hast abgehen können. Wirkliche Erfüllung heißt doch, dass man sich seinen Lebenstraum, seinen Wunsch erfüllt, dass man darin ganz bei sich ist. Dass Du ganz Du selbst bist. Erst so ist der Mensch ganz Mensch. Und nur der Mensch, der sich selbst ganz ausfüllt, sieht sich, wie er wirklich ist. Dadurch sieht er sich und die anderen, die sich wie er auf den Weg gemacht haben, in neuem Licht. Und dieses neue klare Licht nimmt ihn gefangen und führt ihn zu sich. Und mit jedem Schritt auf diesem Weg wächst die Sicherheit, auf dem rechten Weg zu sein. Und mit der Sicherheit wächst das empfundene Glück, es füllt Dich immer weiter aus, bis Du vor Glückseligkeit laut lachen und singen und tanzen willst. Ja, warum denn nicht! Was außer diesem Glück sollte das Leben sonst lebenswert machen? Dabei spürst Du, dass dieses neue Licht nicht nur hell und rein und klar ist, vielmehr nimmst Du immer mehr wahr, wie es Dich weich und sanft umschmeichelt, Dich berührt. Du fühlst Dich vom Licht an- und aufgenommen. Es umfängt Dich, umhüllt Dich, wird mit Dir eins. Der Blick in dieses Licht wird so zum Kuss. Und dieser Kuss offenbart Dir endlich das wahre Wesen des Lichts: Das Licht ist die Liebe, Liebe ist Licht. Die Liebe leuchtet Dir auf Deinem Weg.
Wohin?
Heim, nachhause.
Für mich wurde nach vielen anderen Anläufen, Irrungen und Wirrungen irgendwann der Jakobsweg zu solch einem Traum. Ein Traumziel. Mein Traumweg. Mein Weg durch meine Träume zu neuen Träumen. In meine Traumwelt, meine Traumzeit. Vielleicht ist der Jakobsweg, ob in der von mir gegangenen Länge oder nur in seinem bekannteren spanischen Teil, dem Camino francés, ja auch für Dich solch ein Traum. Vielleicht ist der Jakobsweg auch nur eine Metapher für die Verheißung eines neuen oder eines anderen, jedenfalls aber eines eigenen Wegs. Warum denn nicht? Mir hat sich mein Jakobsweg ausgesprochen vielfältig gezeigt. Er war mir Weg von hier nach da, Weg vom Kleinen zum Großen, von meinem Ego zu mir, von mir zur Liebe und von der Liebe zu Gott.
Oh, hoppla, jetzt steht es da, das G-Wort.
Ich sehe also keinen Grund, warum Du Deinen Weg zu Deinem Traum auf die eine oder andere Art jetzt nicht angehen solltest. Weshalb solltest Du auch sonst dieses Buch aufgeschlagen haben?
Jetzt? Gleich?
Ja, wann denn sonst? Jetzt ist noch lange nicht der schlechteste Moment, um damit anzufangen. Jetzt ist so gesehen auch nicht anders oder besser oder schlechter als später. Und wenn schon später, warum dann nicht gleich?
Ob das nicht ein bißchen plötzlich sei, meinst Du. Du bist noch gar nicht vorbereitet?
Ja, wer ist das schon! Unverhofft kommt oft, sagt man. Und, was willst Du denn tun, wenn Du auf diese Weise plötzlich vor dem Neuen, dem Unbekannten, vor der Herausforderung stehst? Weglaufen? Dich verstecken? Vor wem und was denn? Vor Deinen eigenen Träumen? Also lass das! Du bist doch kein Kind. Tu, was zu tun ist und geh ihn halt, Deinen Weg.
Also doch bloß noch so ein Weg-Buch. Du kennst schon genügend Literatur über das Suchen des eigenen Weges, sagst Du.
Und, was haben sie Dir gesagt und gebracht, Deine Weg-Bücher? Aber lass gut sein. Egal wie oder was, vergiss das alles erst einmal.
Suchen war nämlich gestern, wir wollen finden!
Seien wir doch ehrlich: Eine Frage bleibt in derlei Weg-Wortgeklingel nämlich meist offen: Weg wohin? Das heißt nun nicht, dass ich meine insoweit alles besser zu wissen. Das heißt schlicht, dass meine Geschichten Dir als Beispiel dienen können oder sollen, damit Du ohne Hokuspokus zurück zu Dir, zu Deinen eigenen Quellen, zu Deinem Weg finden oder vielleicht richtiger, ihn wiederfinden kannst.
Lass Dich halt darauf ein und Du wirst schon selbst sehen!
Und keine Angst: Ich predige dazu nicht die völlige Umkrempelung Deines Lebens, aller Deiner bisherigen Gewohnheiten oder Lebenseinstellungen. Der Weg wahrer Spiritualität ist ja nicht abgehoben oder versponnen. Sich in orangene Gewänder hüllen und mit Glöcklein auf den Straßen umhergehen war schon vorgestern eigentlich ein Witz. Der Kinofilm „Sommer in Orange“ zeigt schön, wie das damals in den 1970er-Jahren war. Ich habe mich fast ausgeschüttet vor Lachen, so gut ist darin das Lebensgefühl der seinerzeitigen „Aussteiger“ getroffen. Ja, ich gebe ja zu, dass ich damals selbst mächtig auf dem Hippie-Trip war. Allerdings, soweit wie jene im Film bin ich denn doch nicht gegangen. Das habe ich anderen überlassen. Manche machten sich bloß auf in die Landkommune, andere über die Türkei, Persien, Afghanistan nach Indien oder Nepal. Paolo Coelho beschreibt das im Roman „Hippie“ teilweise recht treffend, hört aber schon in der Türkei auf. Auch einige meiner Bekannten machten sich so auf den Weg. Die einen landeten dann entweder gleich oder nach ihrem Indien-Trip doch auch in einer Kommune im Allgäu, von anderen habe ich nach ihrem Aufbruch nach Indien nie mehr etwas gehört. Eine dritte Fraktion führte ihr Weg gleich oder später bloß in den Drogensumpf am Bahnhof Zoo des damaligen West-Berlins.
Egal wie, sie alle machten sich irgendwie auf den Weg. Oder Irrweg.
Nö, nö, so is dat heut aber nich mehr.
Heute wollen wir auf unserem Weg nicht etwas oder jemand anderes sein. Im Film „Sommer in Orange“ wurde zu Beginn aus der schwäbischen Brigitte noch „Shakti“ bis am Ende aus Shakti doch wieder Brigitte wurde. Den Umweg können wir uns also glatt sparen. Es genügt vollkommen, wenn wir aus „Ich heute“ - wieder - zu dem werden, was wir ursprünglich, jedenfalls aber eigentlich immer schon waren und sind. Für uns, die wir mit beiden Beinen mitten im Leben stehen, sind solche Rollenspiele also eher ungeeignet, wie mir scheint. Ein Vater, eine Mutter, ist für sein Kind ja auch nur dann ganz Vater, Mutter, wenn er oder sie das mit jeder Faser seines Herzens ist. Zur Selbstdarstellung oder zur Schauspielerei ist da kein Platz. Wollen wir auch gar nicht. Unser Leben ist ja kein Film und wir sind darin keine Schauspieler. Ich bin der Ich und Du bist Du, von den Haarspitzen bis zu den Füßen.
Wirklich?
Wirklich!
Es mag daher sein, dass Du am Ende Deines Wegs zu Dir, Deines eigenen Jakobswegs, Dein Leben grundlegend ändern willst. Das ist im Ansatz vielleicht gar kein schlechter Gedanke, aber ob und inwieweit das für Dich notwendig ist, musst Du dann letztlich schon selbst wissen. Und ich bin mir sicher, Du wirst dann schon das richtige Maß finden.
Zuerst musst Du Dich aber überhaupt mal auf den Weg machen.
Deswegen, erst einmal nein zu allen anderen inzwischen aufgetauchten Fragen und damit zurück zum Anfang. Das alles ist nämlich gar nicht mein eigentliches Anliegen. Mein Anliegen ist bloß Dir zu helfen Deinen Weg zu erkennen, Deinen Traum zu leben. Dabei spreche ich natürlich nicht vom Traum als Star im Film oder im TV aufzutreten. Auch der Wunsch im Lotto zu gewinnen oder die Dame oder den Herrn seines Herzens zu bezirzen und zu gewinnen, ist nicht mein Thema.
Mein Thema bist allein Du.
Dir möchte ich durch meine Geschichten einen Weg zu Dir selbst bahnen
– und damit zu Gott.
Oha! Da steht es nun schon wieder, das G-Wort.
Ja, bahnen ist wohl schon der richtige Ausdruck. Den Weg bahnen wie man den Schnee wegräumt, den Weg freimacht. Ich denke, dass da wohl einiges an Hindernissen, Trümmern und Sprengsätzen auf diesem Weg liegen, die zuerst beiseite geräumt werden müssen. Warum sollte es Dir besser ergehen wie mir?
Und warum zu Gott? Was soll das?
Viele werden den Herrn dem Namen nach aus Kindheit und Schulzeit kennen. Oder, wie ich meine, sein Zerrbild. Hoffentlich klärt sich auch das durch meine Geschichten und Du siehst Gott dann klar und deutlich so wie ich Dich sehe.
Wird das jetzt ein Traktat über Gott, Kirche und Klerus?
Nein! Aber auch gar nicht. Meine Geschichten handeln vielmehr von meiner Begegnung mit Gott und sind insoweit eigentlich eine recht persönliche Angelegenheit, ich weiß. Aber recht betrachtet handeln sie damit bloß von der Unmittelbarkeit dieser Begegnung, so wie sie sich Martin Luther vielleicht einmal vorstellte. Dabei bin ich katholisch, was Luther ursprünglich jedoch auch war. Zudem, was heißt hier schon persönlich? Du und ich reden davon, der und die, jene und andere auch. Die Sache mit Gott ist so gesehen daher ungefähr so individuell wie eine Flasche Bier aus der Großbrauerei oder so persönlich wie ein Gespräch über das Wetter. Oder zwar subjektiv und trotzdem kommun, uns allen gemeinsam. Ja, Dein Weg ist Dein Weg, meiner ist meiner und ob Dein Erlebnis mit – Deinem – Gott unbedingt dasselbe ist wie meines, ich weiß es nicht.
Aber eines weiß ich: Wir alle wollen zu Ihm.
Und das eint uns.
Also kurzum, die Sache mit Gott ist eine eher spirituelle oder transzendentale Sache und deshalb eine Angelegenheit einer anderen Welt. Kirche und Klerus sind dagegen Dinge dieser Welt, die schon deswegen nichts, aber auch rein gar nichts mit Gott zu tun oder etwas Wesentliches über Gott zu sagen haben.
Und wer ist dann dieser Gott, wirst Du fragen.
Je nun, wer von uns weiß das schon so genau? Was wir nicht wissen, können wir aber immerhin glauben. Oder im Grunde unseres Herzens fühlen. Vielleicht wird dann mit zunehmendem Empfinden über die Richtigkeit unseres Wegs aus unserem Glauben allmählich eine immer tiefer erspürte, spirituelle oder metaphysische Gewissheit. Ich sehe Gott insofern manchmal auch eher als eine Art „black box“ für all die mir sonst unverständlichen Geschehnisse in meinem Leben. Und so als Schlüssel für das hinter dem Vorhang der Tausend Dinge dieser Welt verborgen liegende eigentliche Geschehen. Damit meine ich nun aber nicht eine geheime Weltformel oder dergleichen, sondern schlicht das sich in uns, also in Dir und mir, stets und unablässig vollziehende göttliche Gesetz.
Meine Geschichten handeln also auch von Gott, das heißt von meinen Gesprächen mit Gott. Mit meinem Gott, meinem Gewissen, um da keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Wer mag, kann ihn genauso gut auch Buddha, Guru, Allah, Höheres Wesen, Weiser vom Berg, Universum, universelles Licht, Erleuchtung oder sonst wie heißen. Namen sind sowieso nur Schall und Rauch oder maya, Schein, wer das bevorzugt. Bei näherer Betrachtung wird nämlich klar, dass all das bloß unterschiedliche Bezeichnungen für den eigentlichen Kern der Sache sind: Das Große Erwachen, die Erleuchtung, die Erkenntnis, die Offenbarung. Wie schon meine Wortwahl zeigt, ist mir die Beschäftigung mit buddhistischer Unterweisung dabei nicht nur das Schmücken mit fremden Federn. Vielmehr zeigt diese, wie ich meine, nach wie vor und noch immer die Möglichkeiten und Wege zur mystischen Versenkung auf, was bei uns im Abendland spätestens nach den Mystikern des Mittelalters doch etwas aus dem Blick geraten ist. Meine Geschichten erzählen so von der unfasslichen Magie und der dabei zugleich doch alltäglichen Möglichkeit Gott als allumfassender Liebe zu begegnen. Gott als Weg und Ziel. Gott als Weg zu Erleuchtung und Offenbarung und Gott als Erleuchtung und Offenbarung selbst. Genau besehen kürzt diese Sicht das Verfahren der Erkenntnis dann doch erheblich ab, wenn es einem auch nicht die Beschäftigung mit sich selbst erspart. Denn nur wer sich selbst kennt und akzeptiert, kann auch Gott erkennen und akzeptieren. Akzeptieren heißt in dem Fall lieben und sich und Gott nicht zu lieben ist in meinen Augen sowieso schlicht unmöglich. Es sind deshalb eben auch Geschichten, die helfen wollen, den Weg zu sich in sich selbst zu sehen. Und sich dabei in Gott zu erkennen. Oder Gott in sich.
Und damit sind wir wieder zurück beim Thema, den Weg zu sich und seinen Träumen zu finden. Wie schon der Titel des Bands, den Du in Händen hältst, nahelegt, handeln meine Geschichten nicht nur vom Jakobsweg als meinem Weg zu mir und meinen Träumen, sondern natürlich auch von meinem tatsächlichen Jakobsweg, der mich von meiner Haustüre in E. im Ammertal bis nach Santiago de Compostela, also durch Südwestdeutschland, quer durch Frankreich zu den Pyrenäen und über den bekannten Camino francés durch Spanien geführt hat. Das sind summa summarum rund 2700 Kilometer. Diesen Weg bin ich in den Jahren 2016 bis 2018 in drei Etappen gegangen. Ursprünglich wollte ich ihn ja an einem Stück gehen, aber, wie das halt so ist: Zu weit, zu heiß, zu nass, zu steinig, zu sumpfig, selbst zu schwach … und was es nicht alles sonst für Ausreden vor sich selbst gibt. Bei mir war es im ersten Anlauf Fersenweh oder malade au pieds, wie der Franzose sagt. Gegen das Fersenweh halfen auch ein paar Ruhetage nicht wirklich. Im Sommer 2016 habe ich nach sechs Wochen und rund 1200 km deswegen in Le-Puy-en-Velay meine Wanderung unterbrochen und mich entschlossen, den Weg in Etappen zu unterteilen. Andere Umstände erfordern neue Entscheidungen.
Im Mai 2017 habe ich dann als zweite Etappe die Via podiensis von Le-Puy-en-Velay bis zu den Pyrenäen in Angriff genommen. Aber: „Jesus kam nur bis Eboli“ hieß einmal ein Kinofilm, ich kam nur bis Malause. Diesmal war „zu heiß“ angesagt. Ich war in die seinerzeitige Hitzeperiode hineinmarschiert und schon in den Bergen des Massif central gab es schließlich keinen Tag mehr unter 35 Grad. Ab Moissac geht es bis zu den Pyrenäen überwiegend durch tiefgelegenes Land und schon von Moissac bis Malause stieg das Thermometer auf über 40 Grad im Schatten. Im Schatten liegt insofern aber nur das wetteramtliche Thermometer, wohingegen der Weg überwiegend der prallen Sonne ausgesetzt war. Und auf diesem Weg war ich mit Rucksack unterwegs, denn einen auf der Strecke von Le-Puy-en-Velay bis Saint-Jean-Pied-de-Port am Fuß der Pyrenäen möglichen Gepäckservice wollte ich nicht in Anspruch nehmen, da das meiner Sicht eines Jakobspilgers zuwiderlief: Der Pilger trägt sein Bündel wie seine Sündenlast selbst! Außerdem bin ich Schwabe und eine solche Ausgabe hätte mich doch irgendwie gereut (Warum soll ich für etwas bezahlen, was ich selbst erledigen kann, wenn ich doch sowieso auf demselben Weg unterwegs bin?) und mir schon allein darum den Weg irgendwie vergällt. Wind gab es in der Ebene am Kanal entlang von Moissac bis Malause nicht, keinen Hauch. An den Bäumen bewegte sich daher kein Blatt, noch nicht einmal wenn man darüber blies. Die Hitze wurde so buchstäblich sichtbar wie ein Wellenschleier aus heißflüssigem Glas vor dem Gesicht. Jetzt war es nicht nur der Rucksack, der zu tragen war, jetzt kam auch noch die lastende Hitze dazu. Soviel kann man gar nicht trinken, wie man da schwitzt. Leben heißt zwar leiden, was auf Sünder und Pilger besonders zutrifft und als Buße für all die begangenen Sünden hätte ich den einen oder anderen Hitzetag auch klaglos hingenommen. Aber was zuviel ist, ist zuviel. So sündenbeladen bin ich denn doch nicht, habe ich mir schließlich gesagt, als dass ich mir das noch länger antuen müsste. Also habe ich meinen Pilgerweg wieder unterbrochen, diesmal schon nach drei Wochen und rund 400 km. Wenn Jesus, wie gesagt, schon nur bis Eboli kam, so bin ich eben nur bis Moissac gekommen, das heißt eigentlich bis Malause und dann wieder fünfzehn Kilometer zurück nach Moissac, weil es dort einen Bahnhof mit Anschluss an die Welt gibt.
2018 bin ich dann den Rest von Moissac nach St-Jean-Pied-de-Port und von dort über die Pyrenäen den Camino francés bis Santiago de Compostela gegangen. Ungefähr 1200 km dürften das gewesen sein, was ich in starken sechs Wochen geschafft habe.
Meine Geschichten behandeln also vorliegend den Weg von mir daheim in Südwestdeutschland bis Le-Puy-en-Velay. So Gott will, wird mein weiterer Pilgerweg von Le-Puy-en-Velay über Moissac bis Santiago de Compostela in einer Fortsetzung des Bands, den Du, lieber Leser, gerade in Händen hältst, Platz finden
Über meinen Weg von daheim bis Le-Puy-en-Velay berichte ich also hier. Aber keine Angst, ich gebe hier keine herkömmliche Reisebeschreibung zum Besten, sondern schildere insofern allenfalls einzelne Episoden oder Geschehnisse meiner Pilgerreise. Sie sind damit eher der Rahmen für ein Bild, das sich mir dabei als Ergebnis meiner „Meditation mit den Füßen“ dargeboten hat. Wie schon in meinen früheren Geschichten im Band „Göttliche Komödien“ lasse ich dazu wieder die Figur des biblischen Adam zu Wort kommen und erzähle die Geschehnisse, Erlebnisse und Gedanken auf diesem Weg aus dessen Sicht. Es handelt es sich also nicht - jedenfalls nicht nur - um Geschichten, die ich mehr oder weniger selbst erlebt habe, vor allem sind es - zumindest auch - Geschichten, die sich unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände, der handelnden Personen, des Luftdrucks und des Mondstandes so oder so ähnlich zumindest hätten zutragen können. Vielfach ist es ja ohnehin so, dass erfundene Geschichten oft viel wahrscheinlicher und realistischer erscheinen als die Wirklichkeit selbst. Im Grunde ist die Wirklichkeit häufig viel zu phantastisch als dass sie tatsächlich wahr sein könnte. Später heißt es dann beispielsweise von zwei Verliebten, dass es eine Geschichte wie die von Romeo und Julia sei, ohne dass die beiden dabei aber die Realitätsnähe ihres literarischen Vorbilds erreichen würden. Wie oft hatte ich selbst schon ein déjà-vu, wenn ich mich im täglichen Leben in Geschehnissen verstrickt sah, die ich mir so oder so ähnlich früher einmal als Geschichte ausgedacht hatte.
Ja, in welcher Welt lebe ich denn eigentlich?
Eben, in welcher Welt leben wir eigentlich? Ist das tatsächlich die Welt, die wir angeblich täglich schauen, die sich uns tagtäglich zur Anschauung anbietet oder uns zur Anschauung dargeboten wird? Oder sind das nicht bloß Trugbilder, Gekräusel auf der Oberfläche, Wellen auf den ewigen Wogen des Ozeans des Lebens, die kommen und vergehen, während das eigentliche Leben sich erst in den Wogen selbst oder sogar in einer noch tieferen Schicht offenbart? Solche Gedanken oder auch Meditationen sind für mich die eigentliche Essenz meines Jakobswegs. Vielleicht eines jeden Wegs, der bewusst gegangen wird. Meine Reisebeschreibung ist deshalb vielleicht auch eher eine Beschreibung des bewussten Gehens seines Weges, der Reise zu sich selbst
– und damit auch zu Gott.
Allein zu Fuß durch die Gegend zu gehen, eröffnet ständig neue Perspektiven. War man gerade noch im Wald unterwegs, zeigt sich einem gleich danach eine neue und bisher unbekannte Landschaft. War es eben noch kühl, tritt man nun hinaus in hitzeflirrende Wiesen und Felder, geht über Berge und durch Täler, durch scheinbar einförmige Landschaften, dann idyllische Winkel, romantische Dörfer, auf menschenleeren Straßen und Pfaden oder fast urplötzlich durch quirrlige Städte und Orte. Mit Menschen, die drängeln, eilen. Mit Autos, die noch mehr drängeln. Plötzlich kann man nicht mehr einfach geradeaus gehen, man muss auf die Welt um sich herum aufpassen, will man nicht ständig jemanden anrempeln oder gar selbst unters Auto kommen. Wie früher in jenem Leben, bevor man losgegangen ist. Hat man diese Zumutung hinter sich gelassen, erstreckt sich vor einem wieder die quasi als neue Heimat empfundene freie Landschaft. Ist man dann derart zurück in der Landschaft wird das wie eine Heimkehr ins Idyll empfunden.
So ging es jedenfalls mir.
Mein Jakobsweg hat sich mir so als Band gezeigt, das die unterwegs angetroffenen Personen und Ereignisse sowie die mir aufgeschienen anderen Geschichten wie die Perlen eines Rosenkranzes auffädelt und miteinander verbindet. Der Weg selbst war dabei eben wie er halt ist: Lang, schön, beschwerlich, erhebend, idyllisch, steinig, sumpfig, anstrengend, leicht und heiter. Auf einer derart langen Wanderung trifft man davon alle Varianten an. Abwechslungsreich eben, wie das Leben selbst. Den von dieser Meditation mit den Füßen ausgelösten Schwebezustand zwischen begangener Welt, tatsächlich gegangenem und subjektiv erlebtem Weg wollen meine Geschichten ausloten. Dass sich dabei Erlebtes, Empfundenes und Erdachtes zu einer neuen Wirklichkeit verweben, liegt schon fast in der Natur der Sache. Zugleich können so Fäden gesponnen und zu Schnüren und Seilen gedreht werden, bis sich aus den Tauen Hängebrücken über alle Abgründe bauen lassen, um darauf zu ganz neuen, bisher unerreichbaren Zielen gelangen zu können.
Mein Weg, diesen Schwebezustand zu erreichen, ist das Wandern. Irgendwie beten mit den Füßen. Eben das hat mich nach vielen anderen Wanderungen schließlich zum Jakobsweg geführt. Ich dachte, das gäbe über die Wegstrecke hinreichend Gelegenheit zur Begegnung mit Gott. Aber so einfach gestaltete sich das dann auch wieder nicht. Einerseits „reduced to the max“, also nur mit dem Notwendigsten im Rucksack und zu Fuß unterwegs, galt es andererseits jeden Tag neue Anforderungen zu bewältigen, von der zu gehenden Strecke einmal ganz abgesehen. Wo gibt es Wasser, Essen, ein Bett? Wie viele Kilometer liegen zwischen den Herbergen? Welche Herberge? Aber womöglich sind solche Fragen auch nur die Highlights in der sonstigen Gleichförmigkeit der Pilgertage: Gehen, duschen, waschen, essen, schlafen. Kleine Perlen auf der Schnur des Jakobsweg-Rosenkranzes.
Der Weg wird dem Pilger so zum Hier und Jetzt. Und im Hier und Jetzt wird der erlebte Augenblick mental zum Kloster. Statt täglichem „Ora et labora“ eben das Fünferlei des Pilgers: „Gehen, Duschen, Waschen, Essen, Schlafen“. Es herrscht die ewige Wiederkehr des Gleichen. Alles bleibt so wie es ist. Alles wird wie es schon immer war. Die Zeit steht still im Moment. In dieser quasi eingefrorenen Zeit offenbart sich aber zugleich die Magie des reinen Moments. Er birgt nämlich ein Geheimnis, das Geheimnis der Ewigkeit. Deshalb ist das Erkennen des absoluten Moments, der reinen Gegenwart wichtig. Es ist eine Form des Verweilens. In dieser abgeschlossenen Gegenwart kommt der Geist einerseits zur Ruhe und lernt anderseits mangels jeder Veränderung und damit verbundener Ablenkung sich der Situation völlig bewusst und darin präsent zu sein. Er lernt damit Achtsamkeit. Achtsam zu sein bedeutet, ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt zu sein und sich seiner Gefühle, Gedanken und Handlungen in jedem Augenblick ganz und gar bewusst zu sein. Achtsamkeit heißt, sich einerseits selbst zu sehen, aber auch dem äußeren Geschehen, dem Gegenüber, die ganze Aufmerksamkeit darzubringen. Achtsamkeit ohne Änderung der Gegenwart steht aber letztlich auch nur wieder still. Die Achtsamkeit haftet dann selbst am Moment, betrachtet sich selbst und dreht sich letztlich nur noch um sich. Um immer dasselbe, denselben Gedanken, das ewig gleiche Gefühl. So in sich selbst verstrickt führt Achtsamkeit nicht mehr zum Gewahrsein der allumfassenden Welt, sondern bloß wieder zur Upadana, zum Festhalten am Vergänglichen, diesmal zum Anhaften an sich selbst. Zum fortlaufenden déjà-vu. Das ist wie Kurzschluss im Kopf. Immerwährende Gegenwart als bloßer Stillstand ist für den Geist deshalb letztlich nur schwer zu ertragen. Die Gedanken kreisen nur noch um sich selbst ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Erkenntnisgewinn. „Denk Dich nicht so tief hinein, das gibt bloß Depressionen“, sagte mal einer. Vor allem ist derartiger Stillstand eben nicht Leere, nicht bodhi und auch nicht nirvana, sondern allein ewiger Stillstand. Ruhende Zeit. Eingefrorener Schreck. Emotionslose Freude. Angehaltenes Lachen. Stehende Bewegung. Konturloser Nebel.
Der Jakobsweg enthebt uns aber dieser Gefahr. Wir schreiten darauf ständig weiter. Trotz gleichbleibender Abläufe ändern sich tatsächlich die Zeit und der Raum, der Weg, die Gegend, die Menschen. Diese fortlaufende Veränderung unserer Umwelt verändert auch unsere Wahrnehmung. So erkennen wir die dauerhafte Struktur unseres Daseins wie die einer Landschaft, auch wenn die Jahreszeiten und das Wetter deren Erscheinungsbild ständig und vollständig verändern.
So, das reicht nun auch als erstem Blick ins Seelenleben eines Pilgers.
Bei all den Worten vorweg sollte nun aber auch ein Wort zu den diesseitigen, das heißt körperlichen Umständen des Pilgerns nicht fehlen.
Ich sage es gleich, auch trainiert sind mit Rucksack maximal 25, allenfalls 30 Kilometer passabel und kommod machbar, alles darüber wird schnell zur Herausforderung oder sogar zur Plage. Ja, nach einiger Zeit sind auch mehr Kilometer machbar, aber erstens sagte ich kommod und zweitens sind 30 Kilometer auch schon knapp acht Stunden Fußmarsch. Schon deshalb ist, unabhängig von Körpergröße und -gewicht, ein Rucksackgewicht von vielleicht 8 - 10 kg anzustreben. Ohne Tagesbedarf an Essen und Trinken, wobei für Letzteres meiner Ansicht nach nur Wasser in seiner ursprünglichsten und reinsten Art in Betracht kommt. Also so wie es aus dem Wasserhahn oder eventuell einer Quelle läuft. In dieser Form wird Wasser zu dem, was es für den Pilger wirklich darstellt: Ein Elixier, ein wahrer Gesundbrunnen.
Aber zurück zum Gewicht. Es ist wirklich unglaublich, wie sehr jedes weitere Pfund auf einem lasten kann und so schon selbst kürzere Wegstrecken zur Tortur machen kann. Deshalb sollte auch als Mann der Rucksack nicht – wesentlich – schwerer sein. Eher leichter. Ich bin mit einer Größe von 186 cm und einem Lebendgewicht von ca. 85 kg kein Hänfling, man muss das alles jedoch wirklich Tag für Tag mit sich herumschleppen! Also vielleicht maximal 10 % des Körpergewichts als Rucksackgewicht. Wer klug ist, achtet also schon beim Rucksack selbst auf ein möglichst geringes Gewicht. Ultraleicht ist deshalb angesagt. Nicht, dass man das am Rucksack eingesparte Gewicht nun in den Rucksack packen könnte, kann man, muss man aber nicht, denn wenn der Rucksack ein Kilogramm weniger auf die Waage bringt, ist eben die Literflasche Wasser schon kein zusätzliches Gewicht mehr.
Aber zurück zur Tagesstrecke. Jenseits der 40 Kilometer ist von einem spirituell erhebenden Durchschreiten der Gegend zumeist nicht mehr viel übrig, wobei es weniger die Zeit als der rein physische Weg ist, der einen körperlich fordert. Nach mehr als zehn Stunden Fußmarsch mit dem ganzen Gepäck auf dem Rücken geht sogar meine gute Laune auf dem Zahnfleisch. Woraus leicht gefolgert werden kann, dass im Schnitt in der Stunde ungefähr vier Kilometer gegangen werden können, mal etwas mehr, mal etwas weniger. Je nach Tagesform, Gelände, Sonneneinstrahlung, Bewölkungsgrad, Wind und Außentemperatur. Und Wanderlust. Irgendwann zählt ohnehin nur noch das Ankommen und die Vorfreude auf eine erfrischende Dusche, ein passables Essen und ein Bett.
Das heißt nun nicht, dass solche Herausforderungen Begegnungen mit sich oder Gott verunmöglichen. Im Gegenteil. Selbst extrem lange Etappen konnten bei mir den angestrebten Schwebezustand auslösen, der mir ein Gespräch mit Gott ermöglichte. Und, ich gebe es ja zu, auch die demütige Zufriedenheit mit einer halbwegs passablen Unterkunft, selbst wenn sich das Essen auf ein französisches Sandwich beschränkt und die Dusche nicht geht, gehört nach einer anstrengenden Etappe zur Erfahrung meines Jakobswegs. Nach 40 Kilometern oder sogar noch mehr ist nicht mehr die Qualität der Bettmatratze, sondern allein die Bettstatt als solche von Belang. Meine Ansprüche waren insoweit folgerichtig umgekehrt proportional zur gegangenen Strecke, wobei ich aber insgesamt wenig geneigt war bei Sauberkeit und Ungezieferfreiheit Kompromisse einzugehen. Dazu hatte ich mir früher außereuropäisch schon genügend Ungemach eingefangen. Ich gebe auch zu, dass manche von meinen derartigen Gewaltetappen auch jenseits der 50 Kilometer mir nachträglich als besonders nachdrücklich und fast schon erhebend in der Erinnerung geblieben sind. So ist es halt: Aus der Entfernung besehen ist fast alles schön! Aber auch das gehört zu den Erfahrungen meines Jakobswegs. Zuerst muss das konkret Anstehende erlebt oder durchlitten sein, bevor sich daraus eine höhere Einsicht und Erkenntnis entwickeln kann.
Wobei die zu bewältigende Strecke ungeachtet ihrer tatsächlichen Länge zu Beginn der Unternehmung mental ohnehin immer gegen Unendlich geht. Zu Beginn meiner Tour bin ich irgendwann im Elsass an ein Schild gekommen, wonach es nach Santiago „nur“ noch rund 2400 km seien. Diese Strecke schien mir in dem Moment in der herrschenden Nachmittagshitze und nach rund sechs Stunden Marsch nur knapp kürzer als unendlich zu sein. Was vielleicht als Aufmunterung gedacht war, grenzte für mich so schon beinahe an Entmutigung. „Was hast Du Dir da bloß wieder ausgedacht und angetan“, war daher mein Gedanke. Nicht viel anders nehmen sich aber auch des Morgens beispielsweise 28 Kilometer oder sieben Stunden Gehzeit als Tagesetappe aus. Angesichts dessen habe ich schließlich versucht, meine Tagesetappen zwischen 25 und 30, maximal 35 Kilometern zu halten. Was je nach persönlichem Leistungsvermögen aber auch einer Gehzeit von immerhin rund 6 bzw. 9 Stunden entspricht. Da macht das Gehen noch Spaß. Naja, bei 9 Stunden dann vielleicht doch auch schon wieder eher weniger. Vor allem aber ist das Erlebnis, die Füße nach getanem Weg in der Herberge hochlegen zu können, auch bei kürzeren Strecken immer noch und immer wieder einzigartig.
Ist das nun die Quintessenz meines Jakobswegs? Füße hochlegen?
Natürlich nicht. Aber irgendwie doch auch. Nach vollbrachter Tat darf man sich ausruhen und regenerieren. Der Mensch und Pilger ist ja kein Kampfstier in der Arena, der stets aufs Neue gegen das rote Tuch anrennt. Nach bewältigter Herausforderung im täglichen Leben muss man deshalb nicht sofort das nächste Ziel in Angriff nehmen. Das wird vielleicht irgendwann geplant, aber zuerst werden mal die Füße hochgelegt. Das gibt Zeit und Gelegenheit das Vergangene zu rekapitulieren und in diesem Licht neue Herausforderungen und Etappen in Angriff zu nehmen. Tatsächlich bin ich selten so oft abgelegen wie auf meinem Jakobsweg. Eine Ankunft gegen 15 Uhr lässt genügend Zeit zum Duschen, Waschen der Klamotten und deren Trocknung sowie für die telefonische Reservierung der nächsten Herbergen. Und dann? Essen gibt es in den Herbergen in der Regel erst gegen 19 Uhr. Also: Abliegen.
Schön, werden manche nun sagen, aber was hat das alles mit Gott tun?
Denen gebe ich Recht. An sich nichts. Oder vielleicht doch. Die Wege des Herrn sind unergründlich, heißt es. Ebenso vielfältig sind natürlich auch die Motivationen, den Jakobsweg zu gehen. Der oder die eine oder andere wird sich vielleicht beweisen wollen, dass nach abgeschlossener Familienphase noch genügend Eigenständigkeit übrig ist, den Weg ohne Mithilfe des Ehegatten zu bewältigen. Jüngere wollen womöglich ihre schon erreichte Selbständigkeit zeigen. Wieder andere, ob alt oder jung, sehen darin für sich eine eher sportliche Herausforderung. Aber egal warum, den Jakobsweg zu gehen kann sich im Ergebnis immer auch als spirituelles Erlebnis und damit als Gelegenheit zu einer Begegnung mit Gott herausstellen. Kann, nicht muss. Man sollte sich mental und spirituell aber schon darauf einlassen wollen. Wie wenn man mit kleinen Kindern spielt: Wer das nur tut, weil es ihm so aufgetragen war und den dabei die vermeintlich vergeudete Zeit reut, in der er hätte vermeintlich wichtigeres tun können, der spielt gar nicht wirklich mit ihnen und das merken diese unfehlbar. Dauerndes Gequengel als Merkposten ist wie das Gefühl einer als zerrissen erlebten Zeit die Folge dieses Fehlgangs. Schlimmer noch, er vertut die Chance den Kindern wirklich nahe zu kommen, mit ihnen im Spiel eins zu werden. Und stiehlt den Kindern die Gelegenheit mit einem bekannt zu werden. Ob sich also auf einem Weg die Möglichkeit verwirklicht mit sich und Gott eins zu werden, dafür ist dann eben doch jeder selbst verantwortlich.
Ja, und wie und woher weiß ich, wie ich Gott finde?
Das ist nun aber wirklich die einfachste Sache der Welt. Das, was ich da schreibe, ist nämlich nichts anderes als das, was jeder selbst hört oder hören könnte, wenn er denn auf das achten würde, was eigentlich laut aus der Stille tönt. Aus der Stille eines ruhenden Herzens. Aus der ruhenden Stille des frühen Morgens der aufgehenden Großen Östlichen Sonne. Wer achtgibt, hört die Stimme laut und vernehmlich neben, hinter oder mitten in der Stille. Und eben das ist es: Die Stimme in der Stille, die Stimme der Stille. Hörst Du sie erst einmal, werden Deine Fragen beantwortet noch bevor Du sie gestellt hast. Dagegen bleibt die Stille ungestellter Fragen und ungehaltener Unterhaltungen bloß still. So gibt es dann statt Antworten nur Schweigen. Meiner Ansicht nach gehört es sich aber sowieso nicht, sich in Gesellschaft in Schweigen zu hüllen.
Was das nun wieder heißt?
Ich meine, wir sind stets in Gesellschaft. In der Gesellschaft unseres Gottes. Ob wir das wollen oder nicht. Den Unterschied macht bloß die Bereitschaft, das als fait accompli zu akzeptieren. Oder eben nicht. Es ist also unsere, Deine und meine Entscheidung, ob wir uns auf solch ein Gespräch einlassen, uns dafür öffnen. Wie fast immer im Leben ist es auch dabei falsch, die Chancen einer sich bietenden Gelegenheit auszuschlagen und sich hinter Bedenken, ideologischen Vorurteilen, kurz: sich hinter seiner Angst vor dem Ungewissen zu verstecken. Natürlich wirst Du Dich in Deiner Furcht klein und unbedeutend fühlen. Und wer könnte schon als Wicht seine Stimme erheben, um mit Gott sprechen zu wollen? Aber glaube mir, so geht es uns allen!
Also weg mit den Scheuklappen und Hemmungen! Was kann denn schon passieren? Gibt es ihn nicht, ist es eh egal. Gibt es ihn doch, dann hast Du den ersten Schritt jedenfalls schon getan. Vor allem gleich am Anfang: Vergiss den angeblich strafenden Gott. Gott ist Liebe! So sündig kannst Du gar nicht sein, als dass sich Gott von Dir abwenden könnte. Also kannst Du Dich ihm freimütig öffnen. Und in dieser Offenheit liegt Dein Herz bloß und jede Berührung könnte daher schmerzhaft sein. Ja, eigentlich schon, aber es werden anfangs nur Deine eigenen unbeholfenen Berührungen sein, die Dich schmerzhaft zurückzucken lassen. So wirst Du lernen, mit Dir selbst auf eine neue, schmerzfreie Weise umzugehen, vor allem wirst Du so lernen, Deine „wunden“ Punkte zu heilen. Wenn Gott Dich berührt, wirst Du ohnehin nur Glück und Wohlsein empfinden. Und damit wirst Du früher oder später eine neue Sicht auf Dich gewinnen. Und siehst Du Dich erst einmal in diesem neuen Licht, bist Du eindeutig nicht mehr der derselbe wie zuvor. Dein Bewusstsein hat sich geändert und um eine andere Dimension erweitert. Mit dieser neuen Sicht siehst Du nun Dich und die Welt und Du erkennst, dass Deine Verlassenheit, Dein Schmerz, Dein Leiden allein von Dir selbst und anderen gleich unvollkommenen Menschen verursacht wird. Wenn keiner sich dem anderen öffnet und nähert, bleiben zuletzt alle allein. So siehst Du, dass wir, ich mit mir, Du mit Dir, Ihr mit Euch, wir mit uns, der Welt und unserer Seele wie Dummköpfe umgehen. Aber das liegt nun hinter Dir. Du hast Dich in Deiner Empfindsamkeit gesehen. Wie Du unsicher bist, Dich fürchtest, Dich verlassen und allein fühlst. Und andere wie Dich selbst. Das hat Dich Demut gelehrt. Und in dieser Demut entdeckst Du endlich Deine Leidenschaft wieder. Deine Leidenschaft zur Liebe. Zu Dir selbst. Zu den Menschen. Zu Gott. Und diese Liebe trägt Dich nun endlich. Dann beginnst Du zu verstehen. Und Du verstehst, dass Du ja eigentlich kein übler Mensch bist, Du hast bisher bloß nicht verstanden, was eigentlich los war. Mit dieser neuen Sicht siehst Du schließlich die anderen wie Dich selbst. Und Du erkennst, wie sich plötzlich alle Einzelteile zusammenfügen. Und jetzt endlich siehst Du die Liebe in allem und überall. Und das Licht. Und die Balance. Und Du erkennst eine großartige und gewaltige Perfektion in alledem. Du spürst wie die Welt zu Dir spricht und Du erinnerst Dich, dass sie das damals, als Du noch ein Kind warst, schon einmal getan hat. Nun merkst Du, dass Du mit all dem nur dort angekommen bist, wo Du schon einmal warst. Das erfüllt Dich mit Trauer ob der vielen verlorenen Zeit, aber Du begreifst, dass das eben Dein Weg war und dass dieser Weg auf Deiner Pilgerschaft durch Dein Leben zur Erlösung notwendig und nicht zu vermeiden war. So erkennst Du Dich endlich selbst.
Wie ich schon sagte, nur wer sich selbst erkennt, kann Gott erkennen. Wen das nun an die „Bekenntnisse“ des Hl. Augustinus von Hippo erinnert, hat wieder einmal Recht. Erst dann, im Gespräch mit Gott, erfahren wir uns wirklich selbst. Und Gott. Also ich etwas über mich und meinen Gott. Und er etwas über mich – und sich, wenn er das nicht ohnehin schon alles weiß. Im Gespräch mit Gott offenbart sich mir so meine und seine Sicht über die Dinge des Seins, der Welt und des Himmels. Wie auch ihm die meine und seine über sich und mich. Unsere mit der Schaffung nach seinem Ebenbild gewollte Gottgleichheit erscheint so taghell. Und gerade darüber lohnt es sich miteinander zu sprechen. Ist das dann noch mit dem Erlebnis höchsten Glücks und tiefster Erkenntnis gepaart, möchte ich mit dieser Unterhaltung gar nicht mehr aufhören.
Ich finde, mein Gott hat mir unwahrscheinlich viel zu erzählen.
Und ich ihm.
„Schön. Aber, nun sag schon endlich, mein Alter, wer ist denn jetzt dieser Adam?“
Je nun, mein Romanheld, mein Winnetou eben. Mein Mensch im göttlich erschaffenen Urzustand, wobei aber schon bald klar wird, dass dieser Adam schon nach seinen eigenen Worten kein Engel ist und zudem zur Widerborstigkeit neigt. Ohnehin erschien es mir zu verwegen, meine Geschichten in der Ich-Pose zu erzählen.
Warum?
Ich bin ja kein Exhibitionist und heiße auch nicht Karl May, soll heißen, meine Geschichten werden zwar von mir erzählt, insoweit sind es meine Geschichten, was aber nicht bedeutet, ich hätte sie in der Form in allen Einzelheiten auch selbst erlebt. Jedenfalls nicht alle. Erlebt allerdings schon in dem Sinn, dass ich sie beim Ausdenken mental in gewisser Weise selbst durchlebt habe. Tatsächlich sind mir die meisten auf meinem Jakobsweg eingefallen, den ich wirklich und wahrhaft von zuhause bis Santiago de Compostela gegangen bin. Was einem bei einem solchen Unterfangen halt so alles durch den Kopf gehen kann, wenn man allein in Gottes weiter Natur unterwegs ist. Das war sozusagen mein Zeitvertreib nebenher, wenn ich mal nicht auf den Weg aufpassen musste. Und der Weg war lang. Vor allem aber wäre ich nach meinem Empfinden sonst zu sehr im Vordergrund gestanden, hätte zu viel Platz eingenommen, der nicht mir, sondern allein der Begegnung mit Gott gebührt. Also musste Distanz her.
So von mir losgelöst erlauben Dir meine Geschichten als Adams Gedanken vielleicht auch eher eine Identifikation damit. Oder die Neugier darauf. Ich hoffe, dieser Kniff lässt Dich Adams Gefühle und Meditationen so miterleben, nachfühlen, dass Du Dich dann schlussendlich auch selbst öffnen kannst für die Erkenntnis Deiner selbst, für Dein persönliches Erwachen, Deine Erleuchtung, Dein ganz eigenes spirituelles Erlebnis der allumfassenden, universellen Liebe und Einheit in Gott.
Das ist mein Wunsch.
Adam war nun schon seit Tagen unterwegs. Auf Schusters Rappen. Beladen wie ein Esel. Unter dem Gewicht seines Rucksacks hatte er sich denn auch alsbald gefragt, warum er sich bloß selbst zu seinem eigenen Tragtier gemacht habe. Als ob er zum Esel zurückgedummt sei. Und vor allem, warum er denn bloß zu Fuß unterwegs sei.
Nicht, dass Wandern ihm ein Gräuel gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Vielmehr hatte sich Adam nach seinem früheren Freizeitleben als Flieger und Pilot zwangsläufig zum Wanderer gemausert. Seine Schwungfedern waren ihm nämlich umständehalber ausgefallen, genauer gesagt waren sie ihm vom Fliegerarzt gestutzt worden und noch genauer gesagt, hatte er gesundheitsmäßig die Mauser gekriegt, was die Verlängerung seines fliegerärztlichen Tauglichkeitszeugnisses und damit das weitere Fliegen ausschloss, so dass er sich etwas Neues zum Zeitvertreib hatte einfallen lassen müssen. Und was lag da näher als das Gewohnte? Zwar war er vor seiner Fliegerei nicht unbedingt ein Wanderer unter dem Herrn, aber ganz früher, also noch vor der Auto-, Moped-, der davorliegenden Fahrrad- und der noch früheren Tretrollerphase, war er als Bube praktisch nur zu Fuß unterwegs gewesen. Tatsächlich war Gehen wohl mit das erste was er auf dieser Welt gelernt hatte. Das kam ihm dazu das Hirn runter. Und so knüpfte er der Einfachheit halber eben daran an. Back to the roots. Derart wieder bei seinen fußläufigen Wurzeln angekommen, hatte er sich zur Rechtfertigung der neuen Lage gesagt, dass der Mensch schließlich nicht als Vogel zur Welt komme. „Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft“, war denn auch das Motto von Emil Zatopek, einem olympischen Langstreckenläufer der 60-iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Überdies schien ihm sein mentaler Rückgriff mit der Zeit wie ein Jungbrunnen, da er im nun doch schon deutlich fortgeschrittenerem Alter so jeden Schritt auf seinen Wanderungen fast wie neu erlebte. Manchmal schien jeder Schritt ihm alte, vergessen geglaubte Erinnerungen wieder zum Leben zu erwecken und damit neue Einsichten zu ermöglichen. Nicht alles war dabei angenehm, aber ihm war dabei doch stets bewusst, dass alles das ihn selbst ausmachte, er es also selbst war, der da so vor ihm aufschien. Schritt für Schritt ging er also auf seinen Wanderungen vorwärts und dabei zugleich zurück in seine früheren Tage. Manchmal kam er sich dann vor wie Alice im Wunderland, die ebenfalls nur im Rückwärtsgehen vorwärtskam. Seine Jahre lösten sich dabei in seinem Geist auf wie Nebel in den Wirbeln des Windes der Zeit, während zugleich seine früheren Erlebnisse und ihre Spuren in seiner Seele auferstanden wie die Toten nach dem Jüngsten Gericht. Und wie Zombies gewannen sie mal mehr, mal weniger Gewalt über ihn.
Ja, sicher, diese Begegnungen mit sich selbst waren eigentlich nur wie der zweite Aufguss beim Tee, das war Adam schon klar. Nichts Vergangenes lässt sich so einfach als neu erleben. Alt und vergangen ist und bleibt alt und vergangen. Manchmal entdeckt man aber im zweiten Hinsehen eben doch auch etwas Neues, das man bisher so nicht oder gar nicht gesehen hat. Hätten diese Besuche vergangener Zeiten nicht auch diese Bewandtnis, könnte die ganze psychologische Zunft wohl einpacken. Für Adam boten sie also die Möglichkeit sich neu zu entdecken, neu zu erden, neu zu verorten. Aus liegengebliebenen Strängen seines Lebens, die bis ins Jetzt reichten, konnte er dabei neue Stricke winden und so seinem Sein neue oder jedenfalls andere Aspekte und Facetten zufügen, die manchmal alte erklärten und manchmal diese sogar in neuem Licht erscheinen ließen, während andere als minder wichtig erkannt mehr oder weniger in den Hintergrund traten. Das alles erschien ihm schließlich wie ein Glasperlenspiel, das er neu ordnete, ein Geflecht oder Spinnennetz, in dem er die Fäden spann. Zugleich konnte er diese Fäden zu Schnüren und Seilen drehen, bis er sich aus den Tauen Hängebrücken über persönliche und andere Abgründe bauen konnte, um darauf zu ganz neuen, bisher unerreichbaren Gestaden zu gelangen. So schuf er sich mit der Zeit auf seinen Wanderungen quasi neu.
Bei alldem verspürte er langsam aber sicher auch eine völlig neue Kraft, ein neues Zutrauen, ein neues Vertrauen, ein neues Bewusstsein über sich und sein Dasein in dieser Welt in sich aufsteigen, gespeist aus den als unverdorben erkannten Zeiten und Phasen seiner frühesten Jugend. Und in solchen Momenten schien ihm manchmal, dass ihm fast der Atem ausging, er gar nicht tief genug durchatmen könne, um alles das zu fassen, was sich ihm da so plötzlich offenbarte. Zugleich war ihm klar, dass die Jahre auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen waren, er also nicht mehr jener Dreikäsehoch war, der sich ihm im Geiste darbot, sondern dass er auf jene Zeit aus dem Wissen seines heutigen Seins zurückblickte. Andererseits bemerkte er, dass das Wandern selbst ihn geistig beflügelte. Natürlich beanspruchte es ihn auch rein körperlich, zumal er es in der Ebene nur selten unter rund 30 km, im Gebirge, wohin er sich zumeist verstieg, nur selten unter 6 bis 7 Stunden oder mehr gut sein ließ. Diese körperliche Anstrengung beförderte aber zugleich irgendwie seine mentale Einsicht. Und eben dieser Spagat zwischen mentalem und physischem Erleben, zwischen geistigem Höhenflug und körperlicher Ermattung machte für ihn den Reiz und Sinn seiner Wanderung aus. Nicht nur, aber doch auch.
Und auf einer seiner früheren Wanderungen hatte er sich irgendwann entschlossen, endlich auch diesen neuen, wenngleich an sich alten Weg zu gehen. Zwar war er inzwischen schon viele ihm unbekannte und daher neue Wege gegangen, aber dieser hatte schon von seiner Anmutung her einen ganz besonderen Reiz auf ihn ausgeübt. Wie eine Art Morgenlandfahrt war er ihm erschienen, selbst wenn dieses Morgenland von seinem Zuhause aus im Südwesten und nicht wie sonst üblich im Osten lag. Aber das zeigt nur einmal mehr die Relativität von Zeit und Raum. Auch bei Hermann Hesses Morgenlandfahrt ist die Richtung der Wanderer schließlich nicht so ganz eindeutig. Und Adam war ein ausgemachter Hesse-Fan, zumal dieser als Schwabe wie er selbst ja nicht ganz unrecht sein konnte. Nicht zuletzt ist der Weg nach Osten weit, sehr weit, und auch schon aus politischen und kriegerischen Gründen mindestens beschwerlich, wenn nicht unmöglich. Jerusalem liegt daher zwar im Osten, das von ihm angesteuerte Santiago de Compostela als abendländisches Jerusalem lag somit wenigstens ideell in der richtigen Richtung. Auf diese Weise konnte Adam nach Südwesten gehen und trotzdem wie gewünscht im mentalen Osten ankommen. Und überhaupt, was soll´s: Überall ist irgendwie auch Osten, jedenfalls solange die Erde eine Kugel ist. Weshalb sollte man sich daher nicht auch im Westen von der aufgehenden Großen Östlichen Sonne beeindrucken lassen können? Und der Anblick eines Sonnenuntergangs am Cabo Finisterre, wo alles Land hinter und vor einem nur der schier endlose Ozean liegt, hat ebenso seinen ganz eigenen Reiz.
Adam zog also nach Westen in sein Morgenland. Nicht zuletzt war der Weg dorthin lang. So müsse er nicht täglich neu darüber sinnieren, was er am nächsten Tag unternehmen solle, war seine denkfaule Überlegung. Man tut einfach dasselbe wie am vorangegangenen Tag: Gehen. Der Weg war auch nicht unbedingt anspruchsvoll, was die Anforderungen der einzelnen Etappen anging, angesichts seiner schieren Länge jedoch eben doch. Gerade diese Länge aber war es, die Adam verlockend erschien. Natürlich auch um sich selbst zu beweisen, dass er dazu noch nicht zu alt war. Alt waren die anderen, nicht er! Bestärkt in dieser Ansicht sah er sich, als ein alter Bekannter ihm beim Wiedersehen bekundete, dass er in den vergangenen 20 Jahren nicht einen Tag gealtert sei. Naja!
Viele Schritte vorwärts und zugleich zurück. So wanderte Adam also in die Welt hinaus und zugleich in sich hinein. Die Spannung dieses quasi unendlichen Spagats rief ihn zu sich. Nun, vielleicht nicht unendlich, aber eben doch von seiner Haustüre bis Santiago de Compostela, was mit rund 2700 Kilometern als Pilgerreise zu Fuß der Unendlichkeit ziemlich nahekommt. Und so hatte er schließlich sein Bündel geschultert und war losgezogen.
Derart hatte er also das Wandern für sich entdeckt und zu seiner neuen Leidenschaft erkoren. Das Wandern war somit Adams neue Lust. Andererseits konnte und wollte er sein bisheriges Leben mit überwiegend motorgetriebener Mobilität an Land und in der Luft ebenso nicht leugnen. Was Gelegenheit gibt, sich mit Adams diesbezüglichem Dreifaltigkeits-Credo zu beschäftigen: Nämlich sich nie weiter als 50 Meter vom fahrbaren Untersatz zu entfernen. Das war sein unverrückbares Motto gewesen. Jeder Weg vom Auto weg sei nämlich mit dem Fluch der Verdreifachung belegt. Stelle man zum Beispiel nach 50 Metern fest, etwas im Auto vergessen zu haben, seien die ersten 50 Meter vergebens gewesen, man müsse nämlich wieder zurück. 50 Meter hin und wieder zurück seien schon 100. Und erst nach weiteren 50 Metern sei man wieder da, wo man schon gewesen war. Das war somit sein Credo und 50 Meter deswegen die äußerste Grenze einer ihm zumutbar erscheinenden Entfernung von seinem fahrbaren Untersatz.
Abgesehen davon hatte er sich die meiste Zeit seines Lebens lang geplagt, gerackert und geschuftet. Von den ersten Lohnzahlungen hatte er sich sein geliebtes VW-Campingbusle zugelegt. Im Laufe der Jahre natürlich in verschiedenen Ausführungen. Und mit dem hatte er bislang die damit erreichbare Welt erkundet, soweit ihm der Sinn danach gestanden hatte. Jede Last hatte es anstandslos aufgenommen, seien es Möbel, seine Kinder oder andere vergleichbar sperrige Güter gewesen und wohin auch immer transportiert. Das Busle stand jetzt aber daheim, während er die ganze Last seines Wanderhausstands selber trug. Dort saß er hoch auf dem Kutschbock und fuhr in die Welt hinein. Jetzt war er Pilger und Esel zugleich. Manchmal mehr Pilger, manchmal eher Esel. Je nach Tagesform.
Dabei hatte sein erstes Ziel noch nicht einmal auf der Strecke gelegen, sondern war streng genommen sogar ein Umweg. Angesichts seines langen Marsches wollte er sich nämlich vorher noch einmal aus heimischer Produktion stärken. Sein erstes Ziel war daher die örtliche Metzgerei, wo er sich zwei LKW, das heißt für nicht Ortsansässige zwei Weckle (Brötchen, Semmeln, Schrippen) mit Leberkäs, hochdeutsch Fleischkäse, belegt, also eben Leberkäsweckle, als Wegzehrung kaufte oder kaufen wollte. Dazu musste er schon am Start den Weg verlassen und zweihundert Meter in die Gegenrichtung gehen. Weil er dort mit seinem recht großen Rucksack erschien und entsprechendes Aufsehen erregte, entspann sich aufgrund seiner Antwort auf die Frage nach seinem Wanderziel sogleich eine angeregte Diskussion über die Länge des Wegs und der Tagesetappen, die Übernachtungsmöglichkeiten, die spirituelle Dimension seines Vorhabens und die Dauer seiner Wanderung. In all dies warf eine Kundin die Bemerkung, dass die Zeiten wohl doch schlecht seien, wenn es noch nicht einmal mehr fürs Benzin oder eine Fahrkarte für eine so lange Strecke reiche. Seine LKW wurden danach sogar noch mit Essiggurken belegt, die Bezahlung aber abgelehnt. Er habe es ja noch so weit. Adam wunderte und fragte sich, ob der heilige Jakobus denn jetzt schon anfing sein Werk an ihm zu verrichten, wie das in seiner Lektüre so oft berichtet worden war.
So zog Adam los.
Er kam aber nicht weit. Schon auf dem Weg zum nächsten Dorf kam ihm eine wildfremde Frau im besten Alter beschwingt entgegen. Nach gegenseitigem Grüßen wollte sie wissen, wo er denn mit seinem gewaltigen Rucksack hin wolle. Adam antwortete ihr wahrheitsgemäß. Sie sähe aber gar keine Muschel an ihm, erwiderte sie. Adam drehte sich also um und gab ihr seine Rückseite zum Besten, wo er am Rucksack eine kleine Muschel befestigt hatte. Die hatte ihm sein Enkel geschenkt und dafür das fast unmenschliche Opfer erbracht, die ursprünglich darin enthaltene Bonbonmasse komplett auszuschlecken. Ja gut, es war natürlich keine Jakobsmuschel, aber eine Muschel immerhin. Das gab ihr den Rest. Daraufhin sprudelte es aus der Frau wie ein jungfräulicher Quell, dass auch sie schon kleine Teilstücke des Jakobswegs gegangen sei, aber irgendwie Angst hätte vor so einer gewaltigen Strecke, sie ihn ob seines hehren und weiten Ziels bewundere und zugleich beneide, da sie aus privaten und anderen Gründen derzeit gehindert sei, es ihm gleich zu tun, dabei würde sie am liebsten statt zum Einkaufen gleich mit ihm auf Tour gehen, aber sie sei wegen der Arbeit insoweit auf die kurzen Ferien angewiesen und den Job einfach hinschmeißen könne sie ja auch nicht, selbst wenn sie manchmal große Lust dazu hätte, damit sie wie er ungebunden und frei in die Welt hinaus gehen könne, was sie für sich als ihre wahre Bestimmung erkannt habe, nur müsse das halt bis zu ihrem Ruhestand warten, was sie jedoch nicht hindere auch jetzt schon möglichst frei und bewusst zu leben. Dabei strahlten ihre Augen Adam auf jene eine Weise so an, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. Ihre Bewunderung strich ihm wie ein warmer Lufthauch über sein Gesicht und schien ihn bald schon gänzlich zu umhüllen. Im Strahlen ihres Blicks fühlte sich Adam wie eine auf Hochglanz polierte Statuette auf einer Spieluhr und gleich der konnte er nur noch glänzen und funkeln und sich im Licht ihrer Bewunderung im Kreis drehen. Dabei blühte sie in seinen Augen immer mehr auf und er sah, dass sie eigentlich sehr nett und adrett und fesch war. Mit ihren hennaroten, halblangen Haaren, die ein junggebliebenes, weiches, hübsches Gesicht umrahmten, stand sie so vor ihm, wobei sie in ihren Jeans und mit ihrer leichten Bluse eine ausgesprochen gute Figur abgab. So gab ein Wort das andere und die Zeit verstrich unbemerkt, wie sie das in solchen Fällen ja gerne tut. Einen solchen Ansturm hatte Adam denn doch nicht erwartet. Am frühen Morgen! Gerade einmal zwanzig Minuten nach seinem Aufbruch und noch in Sichtweite seines Heims schon gar nicht. Ihr munteres Geschäcker wollte gar nicht enden und nahm stets neue Wendungen und Adam war schon versucht …, da drang ihm der Gedanke an seine erst kurz überstandene Krebsoperation und deren verdrießliche Folgen durch die Nebel seines Verlangens, was in ihm sogleich alle Begehrlichkeit ersterben ließ. Wollen täte er ja schon, bloß können konnte er nicht mehr, wurde ihm bewusst. So nahm er denn, um aus dem Treibsand des gefühligen Geplauders freizukommen, etliches Holz aus dem Feuer, worauf das Gespräch allmählich wieder in herkömmlicheres und unverfänglicheres Fahrwasser glitt. Das Strahlen in den Augen der Frau blieb davon unberührt, schien ihm. Aber es war, wie Adam mit tiefem Bedauern feststellte, nun wie durch einen dünnen Schleier gedämpft. Den Grund für seinen Rückzug wollte er trotzdem nicht preisgeben, so extrovertiert war er denn doch nicht. Adam verwies schließlich auf die bevorstehenden fünfundvierzig Kilometer seiner heutigen Tagesetappe und wollte damit den Abschied einläuten. Das löste aber nur wieder einen neuen Schub an Bewunderung aus und das Eingeständnis, dass sie das wohl nie schaffen könnte. Adam versagte sich nun aber neue Drehungen und Pirouetten auf seinem Podest, so dass sie ihm nach weiteren Worten des Bedauerns, dass sie ihm nicht folgen und es ihm gleichtun könne „Ultreia“ wünschte, ihn umarmte und auf beide Wangen küsste. Darauf schlenderte sie beschwingt mit ihrem Einkaufskorb weiter.
Adam nahm seinen Weg ebenso wieder auf, seine Verwunderung aber blieb. Damit hatte er denn doch nicht gerechnet. So hatte er sich das Pilgerdasein noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausgemalt. In seinen Pilgerführern war dazu auch nichts geschrieben gewesen. Und davon hatte er alles gelesen, was ihm dazu in die Finger gefallen war.
Er hieß ja auch nicht Harold Frey aus dem Roman „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Frey“ von Rachel Joyce. Einen Brief einwerfen wollen und stattdessen einfach zu einer unwahrscheinlichen Pilgerreise aufzubrechen war seine Sache nämlich aber schon gar nicht. Bei aller gebotenen Spontanität, doch so eine Unternehmung gehörte seiner Ansicht nach gründlich geplant. Schließlich wollte er nicht nur bloß mal zum Brotholen aus dem Haus. Also hatte er schon etliche Zeit vorher begonnen, sich mit dem Weg mental und praktisch zu beschäftigen. Die Praxis nannte er Trainingslager und wanderte dazu durch Täler und über Berge, wo immer sich das anbot. Blasen an den Füßen oder Schwächeanfälle waren nämlich so ziemlich das Letzte, was er auf seinem Weg brauchte. Bekam er dann aber auch nicht.
Natürlich plante er auch diese Trainingswanderungen in gehöriger Weise, was jedoch trotzdem dann und wann nicht verhinderte, dass er vom rechten Weg abkam und er sich im Abseits wiederfand. Nichts gegen ein nettes Abseits, wenn es denn einigermaßen auf dem Weg oder wenigstens in dessen Nähe liegt. Ein Abseits völlig abseits des geplanten Wegs ist jedoch mindestens lästig, wenn nicht nervig, vor allem, wenn nach einer langen Wanderung die irrig gegangene Strecke mit müden Füßen wieder zurückgegangen werden muss. Auch hier schien Adam wieder sein altes Dreifaltigkeitscredo auf. So erfuhr er schon in seinen Trainingslagern, dass auch die schönste Planung an fehlender Wegkennzeichnung oder Wegweisung scheitern und wenn schon nicht scheitern, so doch zu erheblichen Umwegen führen kann. Was soll´s, sagte er sich dann, der Weg sei ja das Ziel.
Nur sag das mal deinen müden Füßen!
Um derlei Missgeschick auf seinem jetzigen Weg zu vermeiden, hatte er also schon vorher alle erreichbaren Wanderführer, Karten und sonstige Literatur konsultiert. Paulo Coelhos „Auf dem Jakobsweg“ kam ihm dabei mit einer Reisebeschreibung á la Carlos Castaneda in die Finger. Dass es sich bei dieser Beschreibung eher um eine Reise in die Innenwelt des Autors handelte, gab er in der Geschichte zwar klandestin kund, nur half das konkret eigentlich auch nicht weiter. Adam kannte die Geschichten von Castaneda schon seit Jahren. Allerdings wollte er nicht nach Mexiko. Der Rest war ganz schön abgedreht, wie man so sagt. Aber man kann ja nie wissen. Also versuchte Adam sich daraus einen Reim zu machen und markierte jedenfalls einige interessant erscheinende Wegpunkte aus Coelhos Roman auf seinen Karten.
Die klassischen Wanderführer waren da dann doch von anderem Kaliber. Wegbeschreibung en gros und en detail, comme il faut. So wünscht man sich das. Jedenfalls aber waren sich alle Führer über die einzuschlagende Richtung einig. Derlei Wegweisung schien ihm für sein Vorhaben dann doch eher brauchbar und er steckte damit auf seinen Karten den ihm genehmsten Weg mit entsprechenden Tagesetappen ab. Worüber sich alle Wanderführer aber ausschwiegen war das Abkommen vom Kurs, das Abseits und der Umweg und vor allem gezielte Hinweise, wo derartige Fallen lauern könnten und wie sie zuverlässig zu umgehen wären. Nun ja, erkannte Adam, dazu gäbe es wohl derart viele Möglichkeiten, dass eine ganze Bibliothek nicht ausreichen würde, sie alle zu fassen. Das bliebe dann also ihm überlassen, sich dann und wann in die Irre zu begeben. Und wieder auf den rechten Weg zurück zu finden. Dieser Gedanke schien ihm dann wie die vorweggenommene Quintessenz seiner Morgenlandfahrt.
Mit derlei Feinheiten des Wegs hielt sich Hape Kerkeling in seiner Reisebeschreibung „Ich bin dann mal weg“ erst gar nicht auf. Er hielt es anscheinend eher wie Harold Frey. Bin dann mal weg, Brief einwerfen. Nicht ganz, denn zumindest hatte er neue Wanderschuhe, die ihm nicht passten und daher Blasen an den Füßen verursachten. Auch eine sich selbst aufblasende Isomatte hatte er dabei. Wozu, wird nicht so recht klar, da er stets in Herbergen oder Hostals und dergleichen übernachtete. Hat sie dann auch verschenkt, muss man sagen. Viele Leute hat er jedenfalls getroffen.
Dieser Umstand machte Adam anfangs schon eher etwas zu schaffen, denn er sah sich eigentlich mehr als bekennenden Individualisten. So hatte er bisher seine Trainingstouren auch weitgehend als Alleingänger absolviert. Das schien ihm die einzig mögliche Art zu sein, seinen jeweils anstehenden Weg in der gebotenen meditativen Klarheit zu durchschreiten. Natürlich war ihm einsichtig, dass nun auf diesem Weg viele andere ebenfalls unterwegs sein würden. Ob sie aber auch auf seinem Weg gehen würden, sei noch längst nicht ausgemacht, tröstete er sich. Bei früheren Wanderungen waren zu Beginn oft ebenfalls ganze Heerscharen mit ihm auf demselben Wanderweg unterwegs gewesen, nicht aber auf seinem Weg, wie er feststellen durfte. Damals hatte er so sein Idyll tatsächlich im Abseits entdeckt. Vielleicht hatte es aber auch ihn gefunden. Oder ihn dorthin geführt. Das war ihm auch heute noch nicht so ganz klar. Jedenfalls hatte er dort im Idyll seinen Weg gefunden. Oder der Weg ihn. Wie sich dann zeigte, waren seine Befürchtungen aber gänzlich verfehlt, zumindest auf seiner ersten Wegstrecke nach Le-Puy-en-Velay. Bis auf zwei Ausnahmen war er nämlich auf der gesamten Strecke mit sich und dem Weg allein. Die Welt hätte um ihn herum untergehen können und es wäre niemand dagewesen, ihm davon zu berichten. Nach Le-Puy sah es dann schon anders aus. Schon der Weg aus der Stadt glich eher einem Volkswandertag. Selbst wenn er ein Wegzeichen verfehlt hätte, hätte es genügt, nach anderen Pilgern oder Rucksackträgern Ausschau zu halten, um den rechten Weg zu finden. Das galt zumindest bis Conques. Danach ließ der Andrang nach.
Das gibt Gelegenheit Adams geplanten Weg kurz zu skizzieren. Von sich zuhause in E., zwischen Tübingen und Herrenberg gelegen, wollte er über Horb, das Kinzig- und Elzachtal nach Freiburg und von dort über Fessenheim nach Thann am Südrand der Vogesen gehen. Danach sollte sein Weg über Belfort durch die Franche Comté ins Burgund nach Beaune und danach über Cluny nach Le-Puy-en-Velay am Ostrand des Massif-Central mitten in Frankreich führen. Anschließend wollte er über die Berge quer durch das Aubrac nach Conques und dann nach Moissac im Südwesten des Massif-Central marschieren. Von dort wollte er durch die Ebene an das westliche Ende der Pyrenäen nach Saint-Jeans-Pieds-du-Port und dann über die Berge nach Roncesvalles auf die spanische Seite der Pyrenäen gehen. Danach waren Pamplona, Logroño und Burgos die nächsten Stationen. Anschließend sollte sein Weg über León nach Santiago de Compostela führen.
Wegen der Länge seines Wegs hatte er seine Unternehmung an das Ende seines Arbeitslebens gelegt. So war er nicht durch die häufigen und langen Arbeitstage bzw. die wenigen und dafür umso kürzeren Urlaubstage gebunden. Zudem ergab sein Unternehmen so auch einen schönen Abschluss der langen Plackerei, hatte er gedacht. Aber er hatte wohl zu kurz gedacht. Noch mehr Plackerei wurde ihm zuteil, wie er feststellen musste. Weniger als Wanderer, denn als sein eigener Esel. Das war natürlich nicht das Ziel seiner Idee gewesen. Er war ja schließlich kein Masochist. Vielmehr sah er seine Unternehmung schlicht als Abschluss eines Lebensabschnitts und als Übertritt in sein neues Leben. Seine Wandlung vom Angehörigen der werktätigen Bevölkerung zum Pensionär stand also an. Allerdings glich dieser Übertritt nach seiner Planung weniger einem sonntäglichen Hinaustreten vors Haus, sondern mehr dem Langen Marsch von Mao Tse-Tung. Und nach seinen Planungen war „lang“ nicht übertrieben. 2700 Kilometer in rund hundert Tagen.
Das war der Plan.
So war denn der Tag des Aufbruchs gekommen. Des Morgens hatte er sich noch aus seinem Arbeitsleben verabschieden lassen, dabei aber gleich auf seinen gepackten Rucksack sowie den auf ihn wartenden langen Marsch verwiesen, deswegen um die gebotene Kürze der notwendigen Ansprachen und Amtshandlungen gebeten und sich anschließend mit seinem Bündel auf den Weg gemacht.
Damit ist klar, der Kurs ging Richtung Südwest. Von daheim über Seebronn und das Kloster Liebfrauenhöhe nach Horb als erstem Etappenziel. Schlappe 45 km ohne Umwege. Aber die machte Adam dann in Horb. Da er nicht wusste, wo der örtliche Campingplatz lag, führte seine Unkenntnis dazu, dass er Horb nicht nur durchquerte, sondern zu allem Überfluss auch noch fast halb umrundete. Am Ende der Tagesetappe stellte das seine Ausdauer vor deutliche Probleme. Nicht zuletzt wurden so aus den geplanten rund 45 km mehr als 50 km. Gottlob war er zum Training zuvor auch solche Strecken gegangen. Allerdings ohne seinen jetzigen Rucksack – und der spielte gewichtsmäßig nun eben doch in einer ganz anderen Liga als sein sonstiger Wanderrucksack. Auch wenn er ihn dabei trainingshalber mit allerhand Unnötigem und mehreren Wasserflaschen vollgestopft hatte.
Die von ihm eingeschlagene Richtung hatte an dem Tag zudem ihre Tücken, wie er alsbald erkennen musste. Es herrschte nämlich ein strahlend blauer Himmel, so dass die Sonne Adam trotz eingestreuter Waldstrecken von morgens bis abends gleichmäßig von links beschien. Obwohl er sonst auf Sonne mit schneller Bräune reagierte, blieb ihm jetzt ein linksseitiger Sonnenbrand am Halsausschnitt seines T-Shirts nicht erspart. Wegen des Trägers seines Rucksacks war das aber mindestens lästig, wenn nicht sogar schmerzhaft, weil der nun darauf herumscheuerte. Irgendwelches Sonnenöl hatte er wegen seiner sonstigen Sonnenresistenz erst gar nicht mitgenommen. Besaß er deswegen auch schon gar nicht. Gottseidank war er wohl väterlicherseits mit der Gabe der schnellen Bräunung ausgestattet worden. In dem Familienzweig hatte sich anscheinend ein sonnengewohnter Römer in der Ahnengalerie eingenistet. Das hatte ihm schon viele sinnlose Ausgaben für Sonnencremes erspart, wofür er als Schwabe ausgesprochen dankbar war. Auch die ursprünglich dunklen, fast schwarzen, wenngleich glatten Haare und ein gewisses, irgendwie südliches Aussehen waren wohl der römischen Hinterlassenschaft zu verdanken. Jedenfalls wurde Adam in jüngeren Jahren bei seinen Ausflügen in südliche Länder regelmäßig schon nach wenigen Tagen als Einheimischer eingeordnet. Sogar in Marokko interessierte sich schon nach wenigen Tagen niemand mehr für ihn, während andere Touristen neben ihm ständig von den allgegenwärtigen Bettlern und selbsternannten Fremdenführern oder Guides belagert wurden. Das reichte bis nach Indien, wo er regelmäßig auf Hindi angesprochen wurde und sein Nichtverstehen im ersten Anlauf wenig Glauben fand. Umso größer war jeweils das Erstaunen, wenn er auf „schwänglisch“, also dem ihm allein möglichen schwäbisch gefärbten Englisch über seine Herkunft aufklärte. Sogar nachdem sich schon der Schnee des Kilimandscharos auf seinem Haupt ausgebreitet hatte, weigerte sich anfangs noch ein Kioskverkäufer an der Amalfiküste anzuerkennen, dass Adam nach seinem beim Eintritt freudig geschmetterten „Buon giorno“ sich des Italienischen nicht mächtig zeigte. Vor weiterem Sonnenbrand und dem Scheuern des Rucksackriemens schützte er sich dann mit dem aufgestellten Kragen eines mitgenommenen kurzärmligen Hemds, das er an den nächsten Tagen trug. Das Hemd war eigentlich dafür gedacht, bei entsprechender Gelegenheit, also im Restaurant oder anderen sogenannten besseren Häusern über seinem Merino-T-Shirt getragen zu werden, erfüllte jetzt aber auch so seinen Zweck. Auf dem Horber Campingplatz angekommen schaffte es Adam nach dem Zeltaufbau noch unter die Dusche, von seinem Abendessen im Campingplatz-Restaurant nahm er aber erschöpfungshalber fast nur das Weißbier zu sich und legte sich schon am frühen Abend auf seiner Isomatte im Ultraleicht-Schlafsack schlafen. In der Nacht erwachte er einmal kurz und vernahm leichtes Getröpfel auf seinem Zelt. Ultra-leicht, ultra-praktisch, regendicht, kam ihm dazu in den Sinn. Ein Kontrollblick mit der Taschenlampe, die er am Zeltfirst hängen hatte, zeigte aber Wassertropfen am Zeltdach. Kondensierte Atemluft, tröstete er sich, knipste das Licht aus und schlief weiter.
Auch der nächste Tag war wieder sonnig und heiß. Über Loßburg und entlang der jungen Kinzig nach Alpirsbach sollte es gehen. Nochmal eine Etappe von 50 km hatte er sich damit vorgenommen. Aber, auch Christus kam nur bis Eboli. So hieß ein Kinofilm, den er vor vielen Jahren einmal gesehen hatte. Er kam bis Leinstetten. „Refugio“, leuchtete ihm am frühen Nachmittag an einem Gebäude neben der Kirche ein Schild entgegen. Derart eingeladen, klopfte Adam an und siehe, es ward ihm aufgetan. Die örtliche Kirchengemeinde hatte das Erdgeschoss des ehemaligen Pfarrhauses zur Pilgerherberge gemacht. Adam kam das jetzt sehr entgegen, konnte er so seine Tagesetappe doch auf bloße 25 km verkürzen. Nicht zuletzt begann es kurz darauf zu regnen, so dass er auch den folgenden Regentag bequem und im Trockenen aussitzen konnte. Hatte er schon bisher auf seinem Weg niemand getroffen, so hatte er auch hier das Refugio für sich alleine.
Über Loßburg wanderte Adam anschließend nach Alpirsbach. Das waren somit zwar auch wieder knapp 30 km, aber es war bewölkt und frisch, die Wanderung also das reine Vergnügen. Das galt insbesondere ab Loßburg an der jungen Kinzig entlang durch den Wald bis zum Campingplatz kurz vor Alpirsbach. Der Platzwart empfing ihn mit einer Flasche Bier der örtlichen Brauerei. Adam erzählte ihm dabei von seinem Vorhaben. Nach dem Duschen erschien der Mann an Adams Zelt und brachte ihm eine frisch selbstgeräucherte Forelle mit Brot. Das sei seine Gabe für Adams Weg, weshalb er auch jegliche Bezahlung ablehnte. Und Adam sah St Jakobus seine Arbeit tun.
Die Neugier auf seinen Weg und die Antworten, die er ihm geben würde, waren so Adam anfangs Ansporn und Versprechen zugleich. In allen Büchern, die er vorher zum Thema gelesen hatte, war von davon die Rede. Adam war davon so fasziniert gewesen, dass in ihm der Wunsch, den Weg zu gehen, erwacht war. Allerdings merkte Adam recht schnell, dass jedenfalls der von ihm bisher begangene Weg einer von der schweigsameren Art zu sein schien. Er antwortete auf nichts, noch nicht einmal im Notfall. Der Weg war deshalb vor allem lang und sein Rucksack schwer. Schon seine ersten Etappen durch die heimischen Gefilde konnten sich so arg in die Länge ziehen. Das galt besonders gegen deren Ende hin. Ihm schien sogar, dass sein Weg spätestens nach der Mitte der für den Tag geplanten Strecke immer noch länger wurde. Daran zeigte sich ihm die Relativität der Raum- oder Wegzeit in aller Klarheit. Auch Albert Einstein war Schwabe, weshalb sich ihm diese Einsicht wohl mühelos erschlossen hatte. Die Kenntnis über die Relativität der Dinge und Daseinszustände ist Schwaben sozusagen in die Wiege gelegt. „Hosch du dei Nas en meim Hintera, ham mer boide a Nas em Hintera, aber i be relativ besser dra“, heißt es im Schwäbischen insoweit. Zugleich wurde Adam, was andere wohl schon längst wussten, nun ebenfalls klar, dass bei einer Wegstrecke von beispielsweise 35 Kilometern Halbzeit immer erst bei Kilometer 33 ist. Oft wurde ihm sein Weg daher so lang, dass er einfach vor seinem geplanten Etappenziel Schluss machte. Dann schlug er eben an passender Stelle sein Ultraleicht-Tarptent-Zelt auf. Fünf Minuten aufbauen und fertig. Isomatte rein, Schlafsack drauf und Gute Nacht.
Das sagt sich nun so, als sei Adam ein rechter und kerniger Naturbursch. Alles weniger als das. War Adams Vater noch auf dem Bauernhof aufgewachsen, konnte davon bei Adam keine Rede sein. Kühe waren für ihn schon als Kind vor allem groß. Für Pferde war der Hof seiner Großeltern zu klein gewesen, das heißt, gearbeitet wurde mit Kühen oder allenfalls Ochsen. Pferdbauern brauchten für das Futter der Pferde entsprechend große Wiesenflächen und waren schon deswegen eher Großagrarier. Davon konnte bei der Landwirtschaft von Adams Großeltern väterlicherseits nun wirklich keine Rede sein. Es hatte mit der üblichen anderen Erwerbstätigkeit gerade so hingereicht, den ältesten verblieben Sohn, Adams Vater, etwas lernen zu lassen. Die anderen mussten selbst sehen, wo sie blieben, oder waren sowieso schon im Kindsbett geblieben oder im Krieg danach gefallen. Auch mütterlicherseits war die landwirtschaftliche Natur zwar nicht weit entfernt, jedoch war schon der Opa, obwohl selbst bloß dem Haus eines Schuhmachers entstammend, nicht zuletzt durch seine Verbindung mit Oma, die einer eher großagrarischen ostpreußischen Familie entstammte, als Gartenbaulehrer mehr bürgerlicher Natur. Adam selbst konnte zwar ohne weiteres kräftig zupacken, ein Hänfling war er jedenfalls nicht, aber beruflich hatte er sich den Geisteswissenschaften verschrieben. Er war Jurist – und auch sonst von mäßigem Verstand, wie man mit Ludwig Thoma so sagt. Mit anderen Worten: Viehzeugs, sei es groß oder klein, gehörte eigentlich nicht zu Adams Welt. Das war aber das Erste, an was er sich jetzt gewöhnen musste. Krabbeltiere überall. Trotz Tarptent mit umlaufendem Netz. Na schön, dachte Adam, dann war das halt wie früher, vor den Zeiten des VW-Campingbusles, als er noch mit dem Zelt Urlaub machte. Back to the roots. Andererseits war eben das seinerzeit aber zumindest auch schon Anlass für die Anschaffung seines ersten Campingbusles gewesen. Ameisen, Käfer, Mücken, Gekreuch und Gefleuch im Zelt allüberall. Entscheidend war jedoch, dass jedes Mal, wenn Adam, der damals noch mit seinem VW-Käfer unterwegs war, sein Zelt aufbauen wollte, es zu regnen begann. Und das nicht nur einmal. Er hätte die Wüste bewässern und fruchtbar machen können, so zuverlässig begann es zu regnen, sobald er anfing sein Zelt aufzustellen. Meist kam er deshalb nur bis zum Aufbau des Innenzelts, das regendichte Außenzelt wurde dagegen regelmäßig ein Opfer des Regens. Er schlief dann statt im Zelt auf der Rückbank seines VW-Käfers. Adam maß schon damals einmetersechsundachtzig. Jeder, auch von geringerer Größe, sah daher die Notwendigkeit der Beschaffung eines Campingbusses mit ausreichender Liegefläche widerspruchslos ein.
Später übertrug sich das Regenphänomen auf seinen kleinen Holzkohlegrill. Egal wie oder wo, sobald die Holzkohle soweit war, dass er mit dem Grillen hätte beginnen können, begann es zu regnen. Das geschah mit einer dermaßen widerwärtigen Regelmäßigkeit, dass er in Diensten der Aktion „Brot für die Welt“ alle Trockengebiete des Planeten hätte fruchtbar machen können. Einmal hatte er ihn auf seiner Terrasse gerade auf Betriebstemperatur, da zog über ihm eine Wolke auf und es regnete. Die geplante Grillparty hatte damit ihr Ende erreicht. Später wurde ihm von einem Bekannten berichtet, dass nur ein paar Straßen weiter am anderen Ortsende den ganzen Tag die Sonne geschienen habe.
Nicht zuletzt war ein VW-Bus damals für Hippies aller Couleur sowieso hip, der letzte Schrei, das must-have. Passenderweise hatte Adam seinerzeit Haare bis über die Schultern hinab und einen Vollbart. Unten ausgestellte Jeans und eng taillierte Hemden waren sowieso obligatorisch. Dazu trug er sommers seine Brettlessandalen, auch Holzklöpfer genannt. Das sind jene schlichten Sandalen aus einem Holzbrett mit knapp geformtem Fußbett als Sohle und einem einfachen Lederriemen quer über die Zehen für den Halt. Bei jedem Schritt schlugen die Bretter gegen die Fußsohlen, was zu dem besagten klatschenden Geräusch führte, ähnlich den heutigen Flip-Flops, nur lauter. Für Regen oder Winter gab es die hohen Wildlederstiefel, Boots genannt, mit weicher Gummisohle, und die Parka. So schien Adam die Anschaffung eines solchen Gefährts nur standesgemäß. Im Verbund mit der Beengtheit der Käferrückbank hatte Adam damit durchaus triftige Gründe, sich von seinem ersten Gehalt eine derartige Hippielaube zuzulegen. In der Rückschau entfremdete ihn das aber auch wieder der erfahrbaren Natur, da Gekreuch und Gefleuch im Campingbus schon per se nicht stattfand. Gegen unerwünschte Ameisen und dergleichen half Backpulver.
Mit seiner jetzigen Wanderung war Adam nun also sogar noch vor seine Käferzeiten zurückgegangen. Denn in dieser Frühzeit war er auch oft zu Fuß unterwegs, wenn auch nicht mit dem Zelt, sondern von einer Juhe zu nächsten oder sonstigen Unterkünften. Allerdings beschränkten sich dabei seine Wege zu Fuß meist auf die Strecken von einer Autostoppstelle zur nächsten. Wenn er sich überhaupt die Mühe machte zu möglicherweise strategisch besser gelegenen Stellen zu gehen. Das war jetzt natürlich ganz anders. Diesmal war der ja Fuß-Weg sein Ziel. Mit Sack und Pack auf dem Rücken. Und nicht zuletzt mit über vierzig Jahren mehr in den Knochen und auf der Seele. Vierzig Jahre und eine in der Zeit verloren gegangene Freundin beziehungsweise späteres Eheweib. Nicht zu vergessen die vielen Sünden. Wobei ihm die Last dieser Jahre und Sünden momentan bedeutend geringer erschien als das Gewicht seines Rucksacks. Die Last des verloren gegangenen Eheweibs wog da schon schwerer. Das ist aber eine ganz andere Geschichte. Zwei wunderbare Töchter, Ahörnchen und Behörnchen, zwei Schwiegersöhne, Y. als erstgeborenen Enkel sowie A., la jolie, als zweite Kindeskindin von seiner Erstgeborenen waren so das Licht und die Freude seiner Tage.
Bei schönem, aber auch heißem Wetter erreichte Adam an den folgenden Tagen über Schiltach, Wolfach, Landwasser, Elzach und Waldkirch schließlich Freiburg. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass herkömmlich schönes Wetter im Sommer für Pilger und Wanderer eher schlechtes Wetter ist, weil zumeist zu heiß. Ein bedeckter Himmel oder auch ein blauer Himmel, jedoch mit einer hinreichend großen Anzahl von Schönwetterwolken für den notwendigen Schatten, eine leichte kühlende Brise bei nicht wesentlich mehr als 20 Grad ist schon eher den Ansprüchen des Pilgers angemessen. Das hatte Adam auf seinem Weg schnell begriffen.
Ein stabiles Hochdruckgebiet sorgte also für heiße und windstille Tage. Schon die Strecke über den Schwarzwald nach Freiburg und weiter ins Elsass wurde so zur Prüfung, die Adam nur mit Mühe bestand. Eingedenk von Kerkelings Beschwerden und dem Leiden der Hauptdarstellerin im Film „Der große Trip“ hatte Adam seine neuen Wanderstiefel fürs Flach- und Normalland rechtzeitig beschafft und auf mehr als 200 km eingelaufen. Dass Stiefel bei Hitze aber anscheinend schrumpfen, hatte er jedoch nicht bedacht. Und eigentlich auch nicht gewusst. Möglicherweise gingen aber auch seine Füße im Laufe des Tages bloß auf wie ein Hefeteig. Wer weiß das alles schon so genau? Sei es nun die Hitze oder schwitzende Füße, jedenfalls war festzustellen, dass ihn die Stiefel drückten. Was soll´s, er hatte ja Sandalen dabei. Also Stiefel aus und Sandalen an. Aber auch das war nur kurzfristig eine Erleichterung. In den Tiefen seines Rucksacks hatte er noch Flipflops, also raus aus den Sandalen, Socken aus und Flipflops an. Das war jetzt aber ganz untauglich, wie er schnell bemerkte. Er hatte nämlich außer Acht gelassen, dass das Gelände für Sandalen wenig und für Flipflops überhaupt nicht geeignet war. Also wieder in die Stiefel. Und zurück. Danach barfuß. Es half alles nichts. Bis er erkannte, dass er in normalen, dünnen Herrensocken für den Stadt-, Salon- und Bürogebrauch unterwegs war. In Freiburg beschaffte er sich bequeme Links-Rechts-Wandersocken und ging anschließend in seinen Stiefeln wie auf Wolken. Solche Socken hatten ihm seine Töchter zwar extra für seine Wanderung geschenkt, er hatte sie aber daheim im Dunkel seiner Sockenschublade aus den Augen verloren. Aus den Augen aus dem Sinn. So wurde er zum Opfer seiner eigenen Vergesslichkeit. Alzheimer forte, schalt er sich und nahm das erlittene Fußdrücken als die ihm dafür zukommende Buße hin.
Auf seiner Wandersockenwolke fand Adam dann zwar am Münsterplatz in Freiburg die blauen Jakobsmuscheln, kurz darauf verließ ihn diese Wegweisung aber auch schon wieder. Nachdem er mit seinem zunehmend schwerer werdenden Rucksack fast zwei Stunden lang erfolglos danach gesucht hatte, gab er auf und marschierte schnurstracks zurück zum Bahnhof. Mit dem Zug fuhr er bis Schallstadt und lies damit das Gewirr der Stadtstraßen hinter sich. Jakobus würde ihm dies nachsehen, war er sich sicher, da er in den zwei Stunden erfolgloser Sucherei auch in Schallstadt angekommen wäre.
Kaum hatte er sich in den Zug gesetzt, betrachtete ihn eine recht adrette und fesche ältere Dame vom Nebensitz aus interessiert. Ob sie sich zu ihm setzen dürfe, fragte sie alsbald.
„Gerne“, erwiderte Adam und verwies auf die leere Sitzbank ihm gegenüber.
Wegen seiner Muschel am Rucksack habe sie ihn angesprochen, sagte sie dann. „Sie pilgern doch auf dem Jakobsweg?“
Adam bejaht dies und erläuterte ihr sein woher und wohin und wie lange er schon unterwegs sei.
Sie sei vor einiger Zeit noch mit ihrem Mann den Kinzigtäler Jakobsweg gegangen, gab die Dame daraufhin an. Das habe sie sehr beglückt. Nun sei ihr Mann aber schon vor Jahren gestorben und allein traue sie sich sowas nicht zu. Sie beugte sich zu Adam herüber und sagte leise, dass sie inzwischen auch ein paar Jahre älter geworden sei.
Für Adam war dieses Geständnis wie eine geheime Offenbarung, die er aber mit Verweis auf ihr blühendes Aussehen zurückwies.
Sie bedankte sich für das Kompliment, lehnte sich wieder zurück und fuhr fort, ihm von ihren damaligen Erlebnissen und Gefühlen zu erzählen und wie gerne sie sich ihm deswegen anschließen würde.
Adam erwiderte, sie sei doch recht gut beieinander und ihm gegenüber schon fast noch ein junger Hüpfer.
Sie lachte und meinte, sie sei nun doch auch schon über die sechzig hinaus.
Seines Wissens gebe es zudem auch organisierte Wanderungen auf dem Jakobsweg, da könne sie sich doch anschließen, merkte Adam an. So gab ein Wort das andere. Damit verging die Zeit wie im Flug und nach 15 Minuten musste Adam aussteigen. Sie wünschte ihm noch „Buen camino“ und viel Glück und schon stand Adam auf dem Bahnsteig. Bald war er auf dem rechten Weg nach Bad Kissingen und Bremgarten, von wo aus es weiter nach Fessenheim gehen sollte. Den sonst üblichen Schlenker nach Norden ersparte sich Adam.
Im Nachhinein schien ihm die Zugfahrt mit der netten Dame fast stundenlang.
Der Weg nach Fessenheim wurde dann fußmäßig und auch sonst fast zum Vergnügen. Allerdings brannte die Sonne in der stehenden Luft im Rheintal dermaßen, dass die Versorgung mit Trinkwasser angesichts seiner 1-Liter-Aluflasche alsbald zum Problem geriet. Überall gibt es zwar an Straßen und Wegen Tankstellen mit Benzin und Diesel und dergleichen mehr, aber Wasserstellen für Wanderer und Pilger nur selten. Dabei ist Wasser, schönes, klares, frisches und kühles Wasser für Pilger und Wanderer ein wahres Wunderelixier. Es labt Müde und Beladene und letzteres sind Pilger oder Wanderer ja per se. Es erquickt sie, gibt ihnen neue Kraft und die Hoffnung auf mehr desselben bei ihrer Ankunft in der Herberge, womöglich sogar so viel, dass man zumindest die Füße darin erfrischen oder in leicht gewärmten Zustand es sich sogar in der Dusche von Kopf bis Fuß über die Haut laufen lassen kann. Und schon ist dann aus dem ausgelaugten Wrack wieder ein Mensch geworden. Ein wahres Teufelszeug. Das Wasser. Und die Dusche.
Schon kurz nach Bremgarten war Adams Wasservorrat daher erschöpft. In Hermann Hesses Morgenlandfahrt gab´s in Bremgarten noch Wasserjungfrauen, Brunnen und Wein in solchen Strömen, dass man damit sogar die Fische im Fluss erfrischen konnte.
Nichts davon!
Durst und Dürre war angesagt. Da saß er dann nach dem Grenzübertritt nach Frankreich zwar im Schatten an der Schleuse und das Wasser rauschte nur so unter ihm hindurch, er selber hatte von dem Segen aber rein gar nichts. Der Getränkeautomat im Besucherzentrum des dortigen Usine war natürlich kaputt. Aber bis zum Refuge parosial in Fessenheim, wo er nächtigen wollte, war es dann gottlob auch nicht mehr allzu weit. Und so schnell verdurstet andererseits auch wieder keiner, auch wenn sich ihm sonst in der Stadt ab und an dieser Eindruck aufdrängte, wenn er die Leute dort mit ihren Wasserflaschen promenieren sah. Wie am Abend zuvor verabredet meldete er sich im Schatten der Kirche telefonisch und wurde kurz darauf auch schon die restlichen hundert Meter mit dem Auto zur Herberge gefahren, die er wieder für sich alleine hatte.
Tags darauf war es früh am Morgen bald wieder gleich heiß. Und kein Windhauch ging. Die Blätter an den Bäumen bewegten sich noch nicht einmal, wenn man sie anblies. Die Hitze stand über dem Weg wie festgezurrt und es bewegte sich nur das Landschaftsbild vor dem Horizont, wie wenn man durch einen Wellenschleier aus flüssigem Glas sehen würde. Schon allein das Schultern des Rucksacks führte so zu Schweißausbrüchen, so dass Adams Merino-T-Shirt bald wieder so nass wie nach der abendlichen Wäsche war. Auch wenn er an seiner Wasserflasche nur nippte, leer war sie trotzdem ruckzuck. Und damit begann das Elend. Das heißt, Adam begann, um an einen Schluck Wasser zu gelangen, in der nächsten menschlichen Ansiedlung die Reste seines Schulfranzösisch hervorzukramen und Eingeborene landestypisch anzusprechen, stieß dabei aber auf völliges Unverständnis. Erst als er seinen Wunsch nach Wasser auf Deutsch, das heißt eigentlich sogar auf Schwäbisch äußerte, wurde ihm Gehör und Wasser zuteil. Tatsächlich sprechen nämlich die meisten Ortsansässigen elsässisch, ein badisches Deutsch im Extrem, Alemannisch halt, was er als Schwabe jedoch durchaus verstand. Andererseits war auch den Elsässern das Schwäbische nicht unverständlich. Das war dann tatsächlich auch eines der ersten und wenigen Male, wo ihm sein schwäbisches Idiom außerhalb seiner engeren Heimat eine Hilfe und kein Hindernis war. Aber selbst mit anschließend gefüllter Wasserflasche blieb es dabei: Der einzigste Wind, der ihm Kühlung verschaffte, war der Wind seiner eigenen Gehgeschwindigkeit. Und so schritt er trotz der Affenhitze tüchtig aus. In Ensisheim fand er allerdings nichts zum Übernachten, weshalb er weiter nach Pulversheim musste. Die zusätzlichen Kilometer lohnten sich aber, da das Hotel, das er mangels einer Pilgerherberge nahm, recht günstig und trotzdem gut war. Auch am Essen gab es nichts zu mäkeln.
Am nächsten Tag in Cernay war es dann soweit: Er kam vom Kurs ab. Nicht aufgepasst, schlecht ausgeschildert, egal wie, jedenfalls war urplötzlich weit und breit kein Muschelzeichen mehr zu finden. Inzwischen hatte er aber mitbekommen, dass der Weg regelmäßig an den Kirchen vorbeiführt. Also ging er dorthin. Unweit einer Kirche entdeckte er schließlich statt des erhofften Muschelzeichens einen Eingeborenen, der seinen Wagen wusch. Im Näherkommen zeigte sich zwar, dass das Spiel der französischen Fußballmannschaft bei der Europameisterschaft am vorigen Abend ihn einiges an Contenance gekostet hatte, auf die Frage nach dem Weg erwiderte er aber, dass das von hier aus schwer zu erklären sei, er jedoch nachher ohnehin in Richtung Thann müsse, so dass er ihn dann auf dem Weg absetzen könne. Gesagt, getan. Kurz danach an einem Supermarkt, wo Adam seine Wasser- und anderen Vorräte ergänzen konnte, sprach ihn ein anderer Franzose auf seine Muschel am Rucksack und auf seine Compostelle an. La Compostelle ist in Frankreich sowohl die Bezeichnung für den Weg nach Santiago als auch für die Wanderung selbst. Adam verwies auf Thann als sein heutiges Etappenziel. Nach Thann sei er hier etwas abseitig, entgegnete der Eingeborene, aber er könne ihn nachher gerne mit dem Auto dorthin mitnehmen. Damit war er verschwunden. Adam kaufte ein, was er einzukaufen hatte: Zwei große Flaschen Wasser und ein Käsebrot. Vor dem Laden verzehrte er das Käsebrot und trank die erste Flasche Wasser leer. Da fuhr der vorherige Franzose vor, öffnete die Autotür und forderte ihn auf einzusteigen. Zweihundert Meter oberhalb der Pilgerherberge in Thann entließ er ihn.In der schönen Herberge, wo er ein Vierer-Zimmer für sich allein hatte, empfahl ihm ein Elsässer, der den Weg nach Le-Puy-en-Velay im Frühjahr gegangen war und nun seiner Frau zeigen wollte, wo er genächtigt hatte, eine Übernachtung bei den Nonnen im Kloster Bellemagny. Dorthin ging er also am nächsten Morgen und wich damit von seinem Plan ab, der ihn zu einem Campingplatz abseits des Pilgerwegs an einem See geführt hätte. Das wäre für sein weiteres Etappenziel Belfort zwar kürzer gewesen, die Worte des Elsässers im Ohr, wollte sich Adam das Kloster dann aber doch nicht entgehen lassen. Soviel Spontanität musste trotz seines ausgeklügelten Etappenplans dann doch möglich sein.
Der Weg dorthin war als solcher nach einem anfänglichen Anstieg zwar einfach, weil zumeist relativ eben und gut ausgeschildert, die herrschende Hitze machte ihn aber gleichwohl zur Prüfung. Die Steigungen zu Beginn konnte er noch in der Frische des frühen Morgens abspulen, später wurde aber die Wegstrecke in der Ebene in der mittäglichen Hitze zur Tortur. Das galt umso mehr, als die Strecke immerhin rund 35 km lang war. Von außen machte das barocke Kloster in Bellemagny einen recht passablen Eindruck. Im Empfangsraum eines Neubaus wurde er auf seine Frage nach der Herberge auf eine kleine Pforte in der Mauer gleich links neben dem Kirchenportal verwiesen. Nach der Hitze des Tages wurde ihm dort von der Äbtissin auf seine Bitte: „Avez-vous du l´eau pour mois, si vous plait“, zuerst einmal großer Krug Wasser auf den Tisch gestellt. Frisches kühles Nass, das Lebenselixier des Pilgers! Unter den wohlwollenden Augen der Äbtissin gönnte sich Adam davon etliche Gläser bis er schließlich wieder verhandlungsfähig war. Im weiteren Gespräch wies ihn die Oberin dann darauf hin, dass Bellemagny kein eigentliches Kloster, sondern nur ein „couvent“ sei, da die Nonnen weder die Messe lesen noch die Sakramente spenden dürften. Im Inneren des Klosters konnte er sodann aber schnell feststellen, dass es sich bei den Nonnen jedenfalls aber um vollkommen verarmte Kirchenmäuse handelte. Adams Kammer war schlicht und alt, aber ebenso wie das Bett ordentlich und sauber. Dusche und Klo gab es in leicht verlottertem Zustand über den Flur für die ganze Etage, was aber auch kein Problem war, da er der einzige Pilger war. Beim Abendessen traf er auf andere Gäste des Klosters, die ebenfalls keinen Zugang zum Refektorium der Nonnen hatten und daher so wie er im eigentlich noblen, wenn auch ältlichen Gästeraum unter gestreng aus barocken Rahmen blickenden Mönchen in Öl speisen mussten.
Der nächste Morgen war schon früh ebenso heiß wie die vorigen Tage und der Weg nach Belfort wurde so zur nicht nur sportlichen Herausforderung. Selbst im Wald war es fast unerträglich und der Rucksack, ein amerikanisches Ultraleicht-Modell übrigens, wurde mit jedem Kilometer noch schwerer, obwohl der Wasserstand in seiner Flasche zügig abnahm. Dazu führte der Weg bergauf und bergab, mal im Wald, mal in offener Feldflur. Auf dem Campingplatz in Belfort entschloss sich Adam daher dringend Ballast abzuwerfen. War er in seinen Planungen noch von einem Rucksackgewicht von maximal 9 bis 10 kg ausgegangen, lasteten ihm gefühlte 15 kg auf den Schultern. Der Campingplatzbetreiber hatte sogar einen passenden Karton für die Retoure. Zudem verstand er etwas deutsch, insbesondere aber dessen Tochter, die, wie sich herausstellte, nahe Adams Heimatort studierte und sogar ein paar Brocken Schwäbisch konnte. Beide verwiesen ihn darauf, dass es auf seiner Strecke mit Deutsch zur Verständigung ab jetzt wohl zu Ende sei, da er nun in urfranzösische Gegenden käme. So schnürte Adam also sein erstes Paket mit den inzwischen als verzichtbar erkannten Dingen, noch nicht wissend, dass es nicht das letzte sein sollte. Am nächsten Morgen brachte er es zur Post und damit auf den Weg nach Hause, was jedoch zuerst nicht problemlos von statten gehen wollte. Der Karton war nämlich ein Karton für Toner für Drucker oder Kopierer, deren Ausfuhr aus Frankreich anscheinend jedoch nicht erlaubt war. So verstand Adam jedenfalls den Postbeamten. Mühsam überzeugte er ihn mit den ihm verbliebenen Resten seines Schulfranzösisch, dass nur alte Kleidung im Paket sei. So machten sie schließlich den Kartonaufdruck mittels postamtlichen Klebers und Papiers unkenntlich, so dass dem Versand schließlich nichts mehr entgegenstand. Derart erleichtert konnte er sich dann auf den Weg nach Villers-sur-Saulnot und damit zur dortigen Pilgerherberge machen, die er frohgemut, wenn auch reichlich erschöpft erreichte, zumal es sowieso keinen Campingplatz in der Nähe gab. Dazwischen hatten ihn Eingeborene auf seine in der Tageshitze geäußerte Bitte: „Avez-vous du l´eau pour mois, si vous plait“, mit dem notwendigen Nass versorgt, da es Brunnen, andere Wasserstellen oder gar Einkaufsläden weit und breit nicht gab. Jedenfalls nicht an oder neben dem Weg. Beim Einzug in das Dorf erkundigte er sich bei der ersten sichtbaren Person nach der Herberge. Und siehe da, es war die Herbergsmutter und er hatte damit am ersten Haus im Ort sein Tagesziel erreicht. Im Pilgerführer wird die dortige Herberge als urig beschrieben. Und so sah sie im Aufenthaltsraum auch aus. Später sah er, dass der weißbärtige Mann, der ihm vor dem Dorf aus einem verbeulten Auto heraus zugewinkt hatte, der Herbergsvater war. Der Duschraum ließ in ihm dann aber recht schnell die Erkenntnis reifen, dass sein Entschluss, ein Zelt mitzunehmen, so verkehrt nicht war. Verkehrt war allein sein amerikanisches Ultraleichtzelt, wie sich tags darauf in Villersexel herausstellte. Verkehrt war im Moment nur, dass er nach dem maroden Waschraum nun auch dem Schlafraum nicht über den Weg trauen wollte. Die Betten machten ja einen ordentlichen und sauberen Eindruck. Das Bett ließ er angesichts des Zustands des Waschkabinetts ungenutzt und schlief auf dem Boden auf seiner Isomatte in seinem Schlafsack, den er vorsichtshalber noch in seinen seidenen Herbergsschlafsack gestopft hatte. Ohnehin war er an dem Tag der einzige Pilger in der Herberge. Misslicherweise waren andere Pilger, die er später traf, ebenfalls vom Zustand der Herberge enttäuscht. Das ist sogar doppelt misslich, weil sie etappenmäßig eigentlich günstig gelegen ist und es weit und breit keine Alternative gibt. Jedenfalls damals nicht. Bis auf das Zelt. Aber darauf ist gleich noch zurückzukommen.
Der Weg nach Villersexel ist eigentlich nicht weiter erwähnenswert, ein Weg halt wie viele andere auch, und über einige Vorkommnisse dortselbst wird noch zu berichten sein.
Schwierigkeiten gab es also auf Adams Weg durchaus. Als größtes Problem kristallisierte sich mit der Zeit die Konversation mit den Ortsansässigen heraus. Was half es denn schon, wenn er sich angesichts seines unleugbar schwäbischen Idioms eines seinen Möglichkeiten entsprechenden Hochdeutschs befleißigte, wenn seine Gegenüber davon nichts, aber auch rein gar nichts verstanden? Spätestens nach Belfort war er in den französischen Stammlanden angekommen und deutsch war den Ortsansässigen schlichtweg völlig fremd. Was blieb, war die Rückbesinnung auf seine Schulzeit und seine damals erlangten Französischkenntnisse. Besser gesagt, seine Versuche solche Kenntnisse zu erlangen. Denn schon seinerzeit war Französisch nicht unbedingt seine Stärke, wobei die Frage nach seinen Stärken in der Schule hier nichts zur Sache tut. Da schweigt des Sängers Höflichkeit besser. Nur lag das ja nun eben auch schon mehr als 45 Jahre zurück. In der Zwischenzeit war ihm Französisch eher selten, wenn nicht überhaupt nie über die Lippen gekommen. Das war ein Fehler, wie er nun einsehen musste, aber wer weiß schon immer alles im Voraus. Deswegen unterrichten wir das ja, wird dem die versammelte Lehrerschaft entgegenhalten. Aber nun war es halt wie es war und es gäbe auf der Welt keine Geheimnisse mehr, wüsste man alles. Vor allem hatte der Zahn der Zeit vor seinem Schulfranzösisch ebenfalls nicht Halt gemacht, welches folglich nun eher einer Ruinenlandschaft glich. Bei Bedarf, also eigentlich ständig, wühlte Adam daher in den Schuttbergen seines französischen Wortschatzes. Bei seinen archäologischen Erkundungen musste er aber fast regelmäßig feststellen, dass die Teile, die er entdeckte, entweder nicht das waren, wonach sie aussahen, was dann erst recht zu Verständigungsschwierigkeiten führte oder grammatikalisch nicht recht zusammenpassten, jedenfalls aber insgesamt für eine richtige Unterhaltung völlig ungenügend waren. Daher verkürzte er seine Mitteilungen an die Außenwelt auf ein Minimum. Ein einfacher Sprachführer für Touristen, den er in weiser Voraussicht trotz des zusätzlichen Gewichts mitgenommen hatte, unterstützte ihn dabei. Als weitere Hilfe stellte sich das eine oder andere Glas Rotwein beim Abendessen in den Herbergen heraus, welche verschlossen geglaubte Kammern seines Vokabelgedächtnisses öffneten, den Fluss seiner Erinnerung beförderten und damit auch Adams Zunge lösten. So wurden Unterhaltungen vereinzelt zumindest in einfacher Form möglich. Vereinzelt schon deswegen, weil Adam nach einer langen Tagesetappe in der Sommerhitze einen Krug kühlen Wassers meistens dem angebotenen Roten vorzog. Unterhaltungsmäßig war dieser Puritanismus daher zwar eher kontraproduktiv, den Durst überwiegend mit Wein löschen zu wollen, wäre aber für seine Wanderung am nächsten Tag mindestens ebenso unzuträglich gewesen.
Ein besonderes Problem war, sich abends telefonisch bei den Herbergen der nächsten Tage anzumelden. Adams Strategie dazu war einfach. Er legte sich zurecht, was er sagen und was er für den Fall der Zusage hören wollte. Alles andere überging er mit „je ne comprend pas“, bis gegebenenfalls die Absage nicht mehr zu verleugnen war. „Je regrette, mais mon français est très rudimentaire“, war denn auch seine Standardfloskel.
Mit der Zeit wurde sein Französisch unter Zurhilfenahme seines schwäbischen Idioms allmählich jedoch besser: Frankreich: France, France-oise, die Französin. Schwäbisches Pferd: Gaul, französische Stute: Gaul-oise. Gîte: Herberge, Gitanne: Annes Herberge. Die Franzosen drehen nämlich manchmal auch die Wörter im Satz: Also nicht nächste Woche, sondern Woche nächste: la semaine prochaine. Tun daher die Füße weh, sind sie schon im Schwäbischen „malad“. Aber nicht deutschtümlich „Oh malad“, sondern eben umgedreht „malad oh“. Dieses „oh“ klingt dann in französischen Ohren nach „au“, das heißt übersetzt an oder am. Nun sollte man eben noch sagen, wo es weh tut. Dazu muss man halt wissen, dass die Füße die „pieds“ sind. „Malad oh pje“, das versteht der Franzose einwandfrei als „malade au pieds“ und schon wird ein Stuhl gebracht. Bei „malad oh Dätz“, für Nichtschwaben ist der Dätz der Kopf, weiß der Franzose mit dem z zwar nichts anzufangen, interpretiert Dät aber richtig als „tête“, und bringt Aspirin fürs Kopfweh. Bestellt man einen Kaffee, kriegt man einen Mokka, der einen üblicherweise fast zum Herzkasper treibt. Dann deutet man mit dem Finger auf die Kaffeetasse und verlangt einen schwäbischen „Läperleskaffee“, also ein mit Milch auf Trinkstärke herabgesetztes und nach Kaffee schmeckendes Heißgetränk, das einen nach dessen Genuss aber am Leben lässt. Ungeachtet der merkwürdigen Aussprache versteht der Ober das Lä-per-les-kaffee einwandfrei als „Lait pour le café“ und schon kriegt man eine Kanne Milch.
Dazu muss man wissen, dass in früheren Jahrhunderten die Franzosen auf ihrem Weg nach Moskau oder sonst wohin vielfach durch Adams schwäbische Heimat gezogen und teilweise auch länger geblieben sind, weshalb sich, abgesehen von den erwähnten Beispielen, eine Reihe von französischen Worten und Redewendungen im Schwäbischen erhalten haben. „Mach keine Fissimatenten“ als Ausdruck dafür, keine ungehörigen Anstalten zu unternehmen, geht so zurück auf die Aufforderung „Visite ma tente“, also „Komm in mein Zelt“ französischer Offiziere an hiesige Maiden. Wie man sieht, wird manchmal auch insofern der Blick zurück hilfreich, jedenfalls fremdsprachlich.
Am Morgen inmitten der Natur aufzuwachen war für Adam zumeist ein wahres Vergnügen. Wenn die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Von seinem geliebten Campingbusle kannte er das ja eigentlich. Nur jetzt im Zelt war er sozusagen eben nochmal einen Schritt näher am Busen der Natur. Dass selbige an ihrem Busen aber auch derart viele Krabbeltiere nährt, war trotzdem ungewohnt und mindestens lästig. Zudem hielt sich das Vergnügen anfangs nach dem Aufwachen bloß bis zum Versuch, sich aus dem Schlafsack zu schälen. Dass ein Mensch an derart vielen Stellen Muskelkater haben kann, hatte sich Adam noch nicht einmal in seinen kühnsten Alpträumen vorstellen können. Trotz seiner ausführlichen Trainingslager. Fast könnte man sagen, dass er bis dahin noch nicht einmal wusste, dass ein Mensch überhaupt an derart vielen Stellen Muskeln hat. Aber, wach ist wach und was muss das muss, vor allem, wenn man mal muss. Tritt ins Freie, Freund, und wenn Du schon mal da bist, kannst Du auch gleich austreten, hörte er den Ruf der Natur.
Manchmal ging dieser Ruf aber im gleichmäßigen Rauschen des Regens, der auf sein Zelt prasselte, fast unter. Aufstehen und rausgehen oder liegenbleiben, das war dann die Frage. Der Muskelkater flüsterte ihm dann wie ein kleines rotes Teufelchen ein, dass es wohl besser sei liegen zu bleiben bis der Regen aufhört. Die Versuchung im Trockenen und in der Wärme des Schlafsacks zu bleiben, ist da schon recht groß. Zumal es Adam ja auch nicht eilig hatte, was den Drang zum Ziel angeht. Ein anderer Drang stand da eher im Vordergrund. Der Ruf der Natur blieb damit unüberhörbar und drängte ihn trotz der Aussicht, seinen Abtritt im Regen verrichten zu müssen und so später mit durchnässtem Rücken frühstücken zu sollen, zum Austritt.
Trotz des an sich anzustrebenden literarischen Leseflusses muss hier aber der historischen Wahrheit willen unterbrochen werden. Richtig ist nämlich allein, dass Adam tatsächlich mit Zelt loszog. Ultraleicht. Amerikanisches Modell. Super, bei schönem Wetter. Schon bei den ersten zaghaften Regentropfen musste Adam aber feststellen, dass Regenwetter für das amerikanische Ultraleichtzelt anscheinend nicht im Anforderungsprofil steht. Hatte er anfangs Feuchtigkeit am Zeltdach noch als kondensierte Atemluft abgetan, so wurde er beim ersten richtigen Regen eines Besseren belehrt. In Nullkommanichts rannen Wassertropfen an den Nähten entlang und sammelten sich am Tiefpunkt. Statt von dort aber, wie im Prospekt versprochen, durch das Netz zwischen Zelt und Bodenwanne wieder ins Freie zu entweichen, erwiesen sich die Tropfen in Adams Zelt insoweit aber von einer besonderen Widerwärtigkeit. Wenn sie nicht schon gleich von oben direkt in die wasserdichte Bodenwanne tropften, rannen sie weiter unten über jedweden Weg, den sie finden konnten, dorthinein. Und Wasser ist wie das Elend: Es findet immer einen Weg ins traute Heim. Im Gegensatz zum Zeltdach war die Wanne nun aber tatsächlich wasserdicht, so dass Wasser, das dort hineingeriet, auch darin blieb und alles durchnässte. Offensichtlich waren die Nähte am Zelt undicht und ließen das Wasser mehr oder weniger ungehindert durch. Deren Abdichtung hätte gewichtsmäßig wohl das Prädikat „Ultra“ gekostet und das Zelt zur bloßen Light-Variante gemacht, so dass der Hersteller anscheinend darauf verzichtet hatte.
Auf dem Campingplatz in Villersexel nahm das Elend schließlich seinen letzten Anlauf. Hatten sich bis dahin nur einzelne Tropfen in Adams Zelt verirrt, die er noch als Kondenswasser oder als irregeleiteten Regen abtun konnte, so war es damit bei dem nächtlichen Gewitterguss endgültig vorüber. Adam war noch selig und müde nach langer Wanderstrecke bei gleichförmigem Getröpfel eingeschlafen. Irgendwann des Nachts kam er nach einem Donnerschlag zu sich. Er hörte den Regen auf sein Zelt prasseln, freute sich über sein trockenes Refugium und … griff mit der Hand ins Nasse. Schlagartig war er wach. Seine am Zeltfirst aufgehängte Taschenlampe brachte die Wahrheit ans Licht: Auf seiner Isomatte lag er wie auf einer Hallig inmitten eines Ozeans aus Wasser. Seine Wäsche, der Rucksack, einfach alles im Zelt ein Opfer der Flut. Angewidert von derlei Ungemach gab sich Adam mit seiner Lage auf der trockenen Insel seiner Isomatte zufrieden, knipste das Licht wieder aus, verschob den Rest des Nachdenkens und die Möglichkeit, sich deswegen zu ärgern, auf den morgigen Tag und schlief weiter.
Nachzudenken gab es dann aber wenig. Seine Habseligkeiten waren bis auf die Wanderstiefel und die Socken, die er außerhalb in der Zeltapsis abgestellt hatte, schlicht durch und durch nass. Sein Merino-T-Shirt hatte er anbehalten und seine Hosen lagen gottlob oben auf dem Rucksack und ragten so über den Wasserspiegel hinaus, so dass er wenigstens seine Blöße bedecken konnte. Auswringen war also angesagt. Dadurch war dann zwar die Hauptwasserfracht weg, nass und schwer war das ganze Zeug aber immer noch. Ein anderer Camper, ein Handwerker aus Bayern auf Montage, vernahm Adams heftiges und lautes Fluchen und kam schließlich mit zwei Bautrocknern zur Hilfe. Nach zwei Stunden war sein Hab und Gut jedenfalls soweit abgetrocknet, dass er sich wenigstens wieder auf den Weg machen konnte.
Schon am Ortsausgang von Villersexel erwischte ihn jedoch gleich wieder ein neuer Regenguss. In weiser Voraussicht hatte er seine Regenjacke schon an- und das Cape über den Rucksack gezogen. Aber der elende Regenschirm war bei dem Trocknungsmanöver irgendwo in den Tiefen des Rucksacks versunken. Geschickter Weise konnte er alsbald in einem Torbogen unterstehen und wurde so bloß halb nass. Während er dort nach dem verflixten Regenschirm nestelte, wurde ihm bewusst, dass ihn der neuerliche Regenguss ob seines Trotzes zurecht ereilt hatte. Aus lauter Zorn über das amerikanische Ultraleicht-Gelump von Zelt war er nach der Bautrocknersession und der damit verlorenen Zeit einfach bloß verärgert losgestürmt. Ein Blick zum Himmel hätte ihn vielleicht vor dem Guss bewahrt, er aber hatte sich mit stierem Blick zu Boden und verhärtetem Seelenkostüm einfach bloß vom Ort seiner vermeintlichen Niederlage entfernt. Und als persönliche Niederlage hatte er sein Missgeschick schon empfunden. Denn seine ganze Planung über die weiteren Etappen und Übernachtungen war damit von jetzt auf gleich in Frage gestellt und schon fast zur Makulatur geworden. Klar und unmissverständlich war ihm so nämlich vor Augen geführt worden, dass seine ganze Planerei vergebliche Liebesmüh war. An Schlechtwetter hatte er natürlich gedacht, aber doch nicht so. Wer rechnet schon mit einem undichten Zelt? Er konnte nun ja nicht täglich den Wetterbericht studieren, ob eine Nächtigung im Zelt denn eventuell möglich sein würde.
Zudem kannte er ja die Zuverlässigkeit von Wettervorhersagen aus seinem früheren Leben als Pilot. Hätte er da jedes Mal auf den Wetterbericht gehört, wäre er damals schon zum Fußgänger geworden: Die besten Flugtage wären ungenützt verstrichen, während er an anderen Tagen ins gröbste Schlamassel und Schlechtwetter eingeflogen wäre. Meteorolügen eben. Vor einigen Jahren war er mit Freunden in einer Cessna 172 zu einem Flug um die iberische Halbinsel aufgebrochen und dabei auch nach Santiago de Compostela gekommen. Am Morgen vor dem Weiterflug nach Lissabon musste neben dem Flugplan noch das Wetter gemacht werden. Das schien umso dringlicher als das Gewölk schon auf dem Weg zum Flugplatz in Santiago einen mindestens zwielichtigen, wenn nicht schon bedrohlichen Eindruck gemacht hatte. Im Wetterbüro studierte der diensthabende Meteorologe ausführlich seine Unterlagen und Satellitenbilder am Computermonitor und kam schließlich zu dem Schluss, dass der Flug vor der anrückenden Front noch möglich sei. Sie müssten aber gleich starten, weil spätestens in ein, zwei Stunden durch Regen und absinkende Wolkenuntergrenzen die Sichtminima für ihren Flug nicht mehr gegeben seien. Derweil hatte es draußen aber schon dermaßen zu regnen angefangen, dass das Wasser in Sturzbächen an den Fenstern herablief und sie aus dem Wetterbüro nicht einmal mehr ihr Flugzeug auf dem Vorfeld erkennen konnten.
Zwei Tage brauchte er jetzt, um seine Sachen richtig zu trocknen. Die deutsch-schweizerischen Herbergseltern in Les Gambes bei Filain, seiner nächsten Station, hatten insoweit ein Einsehen und gewährten ihm neben Obdach auch die Möglichkeit seine Utensilien auch am Folgetag unter dem großen Vordach ihres Bauernhofs zu trocknen. Versüßt wurde ihm der verlängerte Zwischenstopp durch einen Apfelkuchen, der schon allein einen längeren Aufenthalt gerechtfertigt hätte. Damit war nun aber auch das Urteil über das Zelt gesprochen. Zwei Tage später ging es am nächsten Postamt, an dem er vorbeikam, zusammen mit der Isomatte zurück nach Hause. Das war zwar seiner Freiheit übernachten zu können, wo er wollte, ab-, der zu tragenden Last aber zuträglich, indem ihm zusammen mit anderen nicht mehr erforderlichen Gegenständen weitere rund anderthalb Kilo von den Schultern genommen waren. Und diese Erleichterung wog den Verlust an Freiheit durchaus auf, wie er anschließend tagtäglich feststellen konnte. So musste er sich jetzt zwar stets um ein Nachtquartier kümmern, hatte dafür aber auch meist ein ordentliches Bett zum Schlafen. Und das war gegenüber der schon aus Gewichtsgründen ziemlich dünnen Isomatte und dem harten Untergrund im Zelt von nicht geringem Vorteil: Denn lass Dich nicht täuschen, auch wenn die Wiese in der Abendsonne weich und kommod aussieht, tatsächlich ist sie hart und der Bequemlichkeit nur wenig zuträglich. Ist sie es nicht, ist sie weich und wahrscheinlich sumpfig und schon deswegen zur Nächtigung eher nicht geeignet.
An solchen Regentagen, wie dem heutigen, erschien ihm der Weg auf seiner Tagesetappe noch länger als sonst. Und das nicht nur dem Ende zu, sondern bereits von Anfang an. Ein Wandertag im Regen setzt so die schon angesprochene Relativität der Wegzeit, wenn schon nicht vollständig, so doch ursprünglich und von Anfang an außer Kraft oder kehrt sie sogar um. Dann dehnt sich nämlich nichts dem Ende zu, vielmehr dehnt sich alles und zwar schon mit den ersten Tropfen. Ist anfangs die Zeit noch mit ausführlichen Fragen über den voraussichtlichen Beginn des eigentlichen Regens und die eventuelle Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen ausgefüllt und damit die Zeit bis zum Regen in der Schau voraus noch relativ lang, so verdichtet sie sich mit zunehmender Intensität des Getröpfels, wobei die zuvor mit derartigen Gedanken ausgefüllte Zeit als verloren und vergeudet begriffen wird. Das gilt jedenfalls ab dem Zeitpunkt, wo die Nässe ihren Weg über das ungeschützte Haupt und den Hals in die weiteren Bereiche darunter findet. Spätestens ab da ist die Zeit stets viel zu kurz, um noch angemessene Gegenmaßnahmen zu treffen. Die besondere Widerwärtigkeit des Wetters liegt dabei nämlich vielfach darin, nicht allmählich vom Getröpfel zum Regen überzugehen, sondern praktisch ohne Vorwarnung schon als Guss zu starten. Das gilt besonders in dem Fall, dass man mit seinen Vorbereitungen im Verzug oder das Regenzeug im Rucksack nicht obenauf, sondern irgendwo in dessen tieferen Regionen verstaut ist. So sieht man zwar zumeist, dass sich was zusammenbraut, bis man aber erkennt, dass es dringlich wird, ist dann oft eh schon alles zu spät. Adam hatte sich deshalb aus misslicher Erfahrung angewöhnt, sein Rucksackcape und seinen Regenschirm in einer Außentasche des Rucksacks und seine Regenjacke in der Innentasche obenauf zu deponieren. Alles an seinem Platz. So tat er sich beim Suchen, vor allem aber beim schnellen Finden bedeutend leichter. Bei seinem Regenschirm hatte er diese weise Voraussicht aber nach dem ganzen Ungemach auf dem Campingplatz in Villersexel ganz offensichtlich fehlen lassen.
Eingedenk solcher Überlegungen wartete Adam in seinem Torbogen den gröbsten Regen ab und machte sich dann beschirmt erneut auf den Weg. Nun stimmten Takt und Timing wieder. Noch bevor es jeweils anfing zu regnen, zeigte sich ihm eine Unterstellmöglichkeit. Einmal sogar mitten im Wald. Kaum dass es zu tröpfeln begonnen hatte, sah er voraus am Weg eine Jagdhütte mit Dachüberstand, wo er den Regen über die nächsten zwei Stunden auf einem Holzstoß aussitzen konnte. Sogar für ein Nickerchen nach der miserablen Nacht reicht es. Vor dem danach folgenden Regen war er gerade in einem Dorf angekommen. Die Kirche war zwar geschlossen, er konnte sich aber rechtzeitig in einem Carport unterstellen. Beim nächsten Mal erreichte er das kurz voraus liegende Dorf wegen des unvermittelt einsetzenden Regens zwar nicht mehr, eine Strohremise bot ihm aber Unterschlupf. So kam er dank der Fürsorge von Jakobus eigentlich fast trocken durch den übrigen Tag bis Filain.
Soviel zur Unterbrechung.
Zu bemerken ist bloß noch, dass Adam das Zelt aus besagten Gründen danach faktisch zwar alsbald zurückgeschickt hat, es aber trotzdem hier und da in der Erzählung wieder auftaucht. Das ist nun jedoch keine spukhafte Wiederkehr oder mangelnde erzählerische Konsequenz, sondern dem Umstand geschuldet, dass hier kein Reisebericht erstattet wird. Die Dinge des äußeren Lebens vollziehen sich stets auf dem Zeitpfeil in exakter Reihenfolge, die Dinge des inneren Lebens, des Geistes und der Seele sind daran jedoch nicht gebunden und ereignen sich, wann, wo und wie sie wollen. So geschehen hier Ereignisse und Begegnungen mit Personen oder Umständen eben nicht zwangsläufig an konkreten Orten zu fortlaufender Zeit in gegebener Folge, sondern ordnen sich vor dem inneren Horizont auch mal völlig neu. Das nennt sich dann wohl erzählerische Freiheit oder auch Dramatik.
Nun ist aber genug mit Unterbrechung.
Ein Marsch im Regen und die Pausen des Unterstellens beförderten verblüffender Weise Adams Denkvermögen. Nicht nur die Frage des rechtzeitigen Rüstens, vor allem der Weg im Regen selbst regte seine Gedankentätigkeit an, die dabei schon fast eigentümliche Kapriolen schlug.
So kam ihm auch in den Sinn, dass sich ein Weg im Regen vollständig anders verhält als früher eine Jeans. In seinen Jugendjahren gab es nämlich bei Jeans noch kein preshrink oder bleeching. Eine Bluejeans war damals schlicht blau, wie der Name sagt. Indigoblau. Und zwar überall gleich. Die helleren Stellen an den Hosentaschenrändern, auf den Oberschenkeln und am Hinterteil erhielt sie erst durch den Gebrauch. Außerdem war sie beim Kauf trotz eigentlich richtiger Größe immer relativ zu groß und zu weit. Dieses Übermaß verlor sie erst durch den Gebrauch oder richtiger durch die Wäsche nach dem Gebrauch: Die Jeans ging ein. Und das musste sie auch, um die richtige Passform zu erlangen. Wer also den Anschein einer neuen Jeans vermeiden wollte, hätte die neue und ungebrauchte Jeans erst einmal waschen müssen. Keine Mutter aus dem Kreis von Adams Freunden hätte sich damals aber für ein derart widersinniges Treiben hergegeben. Adams Mutter schon zweimal nicht. Eine neue und damit saubere Hose zu waschen, so ein Quatsch! Als ob sie sonst nichts zu tun habe! Das kam also nicht infrage. Und die blaue Farbe auf der Haut ging ja beim Waschen wieder weg. Außerdem wäre die Jeans durch das Einlaufen bei der normalen Wäsche bloß insgesamt kleiner geworden, das aber überall gleich. Gepasst hätte sie damit noch immer nicht, vor allem nicht richtig. Auch die helleren Stellen auf den Oberschenkeln waren so nicht zu erreichen. Sie wäre durch die Wäsche nur insgesamt heller geworden, weil ausgefärbt. Um eine perfekte Jeans zu bekommen half deshalb nur eins: Heißes Wasser in die Badewanne, die neuen Jeans anziehen und rein in die Wanne. Und dann mit Scheuerpulver und Wurzelbürste die Hose an den notwendigen Stellen bearbeiten. Wenn das Wasser kalt war, war auch die Hose fertig. Und hatte nach dem Trocknen eine Passform, die wie angegossen saß. Gürtel? Blödsinn! Die Jeans sitzt jetzt wie eine zweite Haut. Gürtel und Hosenträger sind was für Leute mit Schmerbäuchen. Für die Alten halt, aber doch nicht für uns. Die Alten trugen eh keine Jeans oder Nietenhosen, wie sie von denen verächtlich genannt wurden. Die trugen ihre Einheitsschnitthosen. Mit Bügelfalte. Oder nach längerem Gebrauch mit ohne Bügelfalte. Aber stets mit Hosenträger oder die Fescheren mit Gürtel. Aber wir, die Jungen, wir doch nicht. Wir trugen Bluejeans. Mit ohne Gürtel!
Im Gegensatz zur Bluejeans weitete sich Adams Weg aber anscheinend bei Nässe, das heißt er wurde bei Regen länger. So schien es ihm jedenfalls. An solchen Tagen schrumpfte ihm in seiner Vorstellung selbst Mao-Tse-Tung´s Langer Marsch im Vergleich zu seiner eigenen Wegstrecke zu einem Spaziergang und seine Wanderung grenzte sonach eher an Selbstkasteiung als an ein seelisch erhebendes Durchschreiten der Natur. Da er sich aber keiner Schuld bewusst war, schien ihm derlei Ungemach doppelt ungerecht. In seinem Selbstmitleid sah sich Adam dann von aller Gnade ausgeschlossen. Und da er keine Lust hatte, sich deswegen weder vor sich selbst noch vor jemand anderen zu rechtfertigen, trottete er halt gesenkten Hauptes schlicht weiter auf seinem Weg, zumal er sich das alles selbst so ausgesucht hatte, und dachte vorsichtshalber gar nichts, da er sich dabei sonst wohl in Verwünschungen, Flüchen und Selbstanklagen ergangen wäre. Sein gesenktes Haupt war dabei jedoch weniger ein Zeichen der Demut als der Versuch, eindringendes Wasser auf dem Weg über Gesicht und Hals zu vermeiden. Dagegen half oft auch sein Regenschirm nicht dauerhaft, jedenfalls nicht, wenn der Regen waagrecht kam. Statt mit einem unförmigen Regenponcho hatte er sich nämlich damit und einer Regenjacke sowie einem Regencape für den Rucksack ausgestattet. Die Idee war zwar an sich gut, aber gegen Regenschauer half auf die Dauer trotzdem nur Unterstellen. Dort im Unterstand traf er später vereinzelt auch Ponchoträger, die darunter vom eigenen Schweiß aber meist nässer schienen als darüber. So gesehen war Adam mit seinem Schirm gar nicht so übel dran. Zuzugeben ist jedoch, dass im Wald oder im schwierigen Gelände, wo man gerne die Hände für die Wanderstöcke gebraucht hätte, der Regenschirm eher hinderlich war. Anderseits war im Wald, im Unterholz oder im Gestrüpp für den Regenschirm ohnehin kein Platz, so dass sich das Problem so meist von selbst erledigte. Im Unterholz oder Gestrüpp wäre aber auch mit einem Poncho nicht viel anzufangen gewesen, wollte man ihn nicht an Ästen, Dornen oder anderen Widerhaken zerfetzen. Adams Anorak aus stabilem Klimatex-Stoff mit Kapuze half in solchen Fällen.
Von erhabenen Gefühlen beim Durchschreiten der Natur war an solchen Regentagen also regelmäßig keine Spur. Allerdings blieben auch die erwähnten geistigen Kapriolen nicht aus. Allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz weigerten sich nämlich während der Kapriole anscheinend Teile von Adams Bewusstsein, derlei Unzulänglichkeiten mit seiner aktuellen Befindlichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Manchmal war die Kapriole so sogar sein Normalzustand. Selbst wenn der Regen waagrecht kam, nahm er das dann hin, obwohl das seine Strategie zur Regenjacke, kombiniert mit einem Regenschirm, ziemlich gründlich unterminierte. Er war dann halt nass wie ein Hund und zwar von oben bis unten.
An einem solchen Tag waagrechten Regens zwischen Conques und Livinhac-le-Haut war Adam nicht nur nass, sondern klatschnass, durch und durch. Sogar im Rucksack war trotz Cape und Regenschirm alles außerhalb der üblichen Plastiktüten nass, wie Adam in der Herberge in Livinhac feststellen musste. Gleichwohl war er während seines Marschs im Regen von einem fast eigentümlichen Gefühl der Überlegenheit oder Unanfechtbarkeit getragen. Dabei hatte er in weiser Voraussicht gleich den direkten Weg zur Chapelle Saint-Roch über die Landstraße eingeschlagen. Den Umweg des in den Führern ausgewiesenen Wegs über Noailhac und bestenfalls versumpfte und schmierige Trampelpfade brauchte er nun wirklich nicht. Im Abwarten des Endes des Regens inspizierte er in der Kapelle seine Wäsche. Alles völlig durchnässt, stellte er fest. Nun gut, weiter wie auf die Haut sei noch niemand nass geworden, erst wenn der Regen tiefer treffe, laufe etwas grundsätzlich falsch, tröstete er sich. Soweit war es aber offensichtlich nicht. So wechselte er in der Kapelle wenigstens seine nassen Socken, um beim Weitergehen wegen aufgeweichter Fußhaut nicht in die Bredouille zu kommen. Inzwischen war eine Pilgerin angekommen und hatte sich einen Platz weiter vorne in der Kapelle ausgesucht. Nachdem sie dort ihre Sachen versorgt hatte, fing sie an zu singen. Anfangs war es nur ein Wispern oder Flüstern, das aus verschiedenen Richtungen zu kommen schien. Adam schob es daher zuerst den Mauerseglern oder Schwalben zu, die auch in der Kapelle Zuflucht gesucht hatten. Schließlich füllte aber ihr Gesang die Kapelle, ohne dabei aufdringlich oder laut zu wirken. Ihre Stimme schwebte vielmehr im Raum, mal deutlich inmitten, mal leichthin in die Ecken laufend, dann wieder fast den Boden berührend, um von dort sich erneut nach oben ins Gewölbe zu den Vögeln auf den Gesimsen zu verflüchtigen. Esoterisch oder keltisch oder wie auch immer, ihr Gesang nahm Adam völlig gefangen. Nass wie ein begossener Pudel lauschte er diesen Klängen und vergaß dabei seine nassen Klamotten und den Regen, der draußen wieder eingesetzt hatte. Bis er begriff, dass sie zu singen aufgehört hatte, war sie auch schon aus der Kapellenpforte hinaus.
Soviel zu diesem Vorgriff auf den Weg hinter Le-Puy-en-Velay, aber der oft waagrecht kommende Regen über den ganzen Tag auf dem Weg von Villersexel nach Filain macht eben auch insoweit jede zeitliche Grenze fließend. An solchen Tagen stellte er weder sich noch dem Weg irgendwelche Fragen. Nicht zuletzt neigte der Wanderpfad dann häufig auch recht schnell zur Versumpfung und es erforderte allein schon deswegen einer gehörigen Portion an Achtsamkeit, um darauf nicht auszurutschen oder in verborgenen Wasserlöchern zu stranden. Frage: Warum verfüllt der Franzose solche Wasserlöcher nicht mit Kies oder Dreck? Antwort: Er wartet stattdessen, bis die Pilger das Wasserloch mit ihren Stiefeln leergeschöpft haben. Das Credo der Wanderführer über unbefestigte, angeblich fußfreundliche Wiesen- oder Waldpfade war unter diesen Bedingungen für Adam erst recht nicht nachzuvollziehen. Schon unter normalen Bedingungen hatte er inzwischen die Segnungen des befestigten Weges gegenüber den sonstigen Pfaden mit Wurzelfallen, Stolpersteinen und durch hohes Gras verdeckten Wasserlöchern zu schätzen gelernt. Das hatte wohl schon die Römer bewegt und zum Straßenbau und damit zur infrastrukturellen Zivilisation getrieben.
Solche Regentage heißen nun jedoch nicht, dass Adams Pilgerschaft vom Monsun geprägt gewesen wäre. Im Gegenteil. Hätte er sich an solchen Tagen aber gefragt, was er denn eigentlich hier soll, hätte er sich wohl nur selbst mit unflätigen Antworten bedacht. Fragen an den Weg kamen ihm so noch nicht einmal in den Sinn. Antworten gab ihm der Weg bislang ohnehin keine, ob mit oder ohne Frage. Es war anscheinend der schweigsamste und verschwiegenste Weg überhaupt.
Beladen wie ein Esel zog Adam auf seinem Weg also dahin. Der Weg war ihm bisher trotzdem schon richtiggehend zu- und fast ans Herz gewachsen, bildete ihm fast schon eine neue Heimat, sein Zuhause. Klar, es waren stets neue Kilometer, neue Gegenden, eben ein neuer Weg, der sich mit jedem Schritt vor ihm auftat. Zugleich war es für ihn aber doch auch irgendwie immer der gleiche Weg, eben sein Weg.
War ihm anfangs noch überwiegend das Wetter hold, so hatte es nun aber zu regnen angefangen, zwar nicht ständig oder übermäßig heftig, aber doch so oft und ausdauernd, dass es zum Nasswerden jederzeit reichte. Schließlich hatte er buchstäblich keinen trockenen Faden mehr am Leib. Zu allem Elend führte ihn der Weg nun auch noch an einer Straße entlang. Nicht, dass sie besonders stark befahren gewesen wäre, aber jedes vorbeikommende Auto spritzte ihn nun auch noch von der Seite her nass.
Ein Lastwagenfahrer nahm seine ihm anscheinend obliegende Spritzpflicht besonders genau und duschte ihn von oben bis unten ab. Adams Seelenkostüm war auf diese Weise mehr als hinreichend strapaziert. Es gelang ihm schließlich aber trotzdem seinen aufwallenden Zorn ob des ihm so widerfahrenden Ungemachs hinunter zu schlucken. Schlimmer geht’s eh nimmer, dachte er. Aber es ging schlimmer. Schlimmer geht immer! Er passierte gerade eine Wasserpfütze von der annähernden Größe eines Weihers, da näherte sich ein Auto, noch nicht einmal besonders groß, ein Mittelklassewagen. Aber, statt dass es nach rechts zur Straßenmitte hin auswich, was der fehlende Verkehr ohne weiteres zugelassen hätte, blieb es stur auf seiner Spur. Die führte es aber genau mitten in die Pfütze. Adam bekam also die volle Schlammpackung ab. Das brachte das Fass dann doch zum Überlaufen. „Gotteshimmelheilandsjenseitskruzefixallmachtssakramentleckmichamarschaberau“, brach es schwäbisch aus ihm heraus, „dr Blitz soll di treffa, du Schôfseggel, du trauriger!“
Völlig ungerührt davon fuhr das Auto weiter. Adam war noch mit einer genaueren Schadensaufnahme an sich selbst befasst, da hörte er einen Knall, ein Krachen und ein Knirschen. Er blickte auf und sah das verfluchte Auto hundert Meter weiter im Straßengraben liegen. Das hast du nun davon, war sein erster hämischer Gedanke. Trotzdem ging er los nachzuschauen, was denn passiert sei. Als er sich dem Fahrzeug näherte, sah er, dass das Auto bis auf die Front fast unbeschädigt war, es aber aus dem Motorraum herausdampfte. Kühler kaputt, konstatierte er. Die Türen waren zu. Im Auto sah er niemanden. Auch daneben war niemand. Verwundert blickte er um sich. Vielleicht zwanzig Meter weiter in der Wiese neben der Straße lehnte eine Person an einem Baumstamm. Adam ging auf sie zu. Im Näherkommen erkannte er einen vollbärtigen jungen Mann von vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig Jahren, mit langen, dunkelblonden, fast braunen, nur ganz leicht gewellten und bis über die Schultern reichenden Haaren, die er mittig gescheitelt trug. Angetan war er mit einem naturweißen, grobgewirkten Baumwollkittel mit dunkelblauen Stickereien an Kragen, Halsausschnitt und Ärmelmanschetten über einer ebensolchen weiten Hose, welche nur bis knapp oberhalb der Knöchel reichte. An den sonst nackten Füßen hatte er einfache Sandalen aus Leder, ähnlich den bekannten Badelatschen oder Flipflops. Über die Schulter gehängt trug er eine einfache buntgestreifte Inkatasche. So stand er da, an den Baum gelehnt und drehte sich sorgfältig eine Zigarette aus seinem Tabakbeutel, was anscheinend seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Jedenfalls schien er Adam nicht zu bemerken.
Als Adam näherkam, wunderte er sich noch über das trockene Outfit des Jünglings und sah dann dessen sonnengebräunte, fast bronzene Hautfarbe auf einem edlen, klar geschnittenen, offenen und sympathischen Gesicht. Irgendwie erinnerte ihn das an das Aussehen eines blaugewandeten Tuareg, den er vor Jahren einmal im Süden Marokkos in einer Oase am Rand der großen Wüste kennengelernt hatte. Aber was heißt da Wüste? An jenem Tag wollte er durch die Wüste bis in eine Oase fahren. Das gestaltete sich aber kurz vor dem Ziel als recht schwierig, weil die Wüste unter Wasser stand. Genauer gesagt führte die Piste durch ein Wadi, das auf einer Breite von vielleicht 20 Meter knietief überflutet war. Anscheinend hatte es in den Bergen geregnet. Er war das nicht, entschuldigte er sich vor sich selbst, da er seinen kleinen Holzkohlegrill zwar dabei, ihn aber seit Tagen nicht benutzt hatte. Rundrum war alles knochentrocken, aber die Furt war eben nicht passierbar. An ein Durchkommen war so nicht zu denken, zumal ein Schweizer mit seinem alten Citroënlieferwagen, jener mit der Wellblechkarosserie, bereits mit ertrunkenem Motor im Wasser stand. Darauf wollte es Adam mit seinem T3-VW-Busle denn doch nicht ankommen lassen. Andererseits hatte er tags zuvor gehört, dass gerade an dem Tag Tuaregs mit einer Kamelkarawane aus dem Süden in der Oase ankommen sollten. Dieses Schauspiel wollte er sich nicht entgehen lassen, wenn er denn schon mal in der Gegend war. Aber schon der Schweizer saß mitten in der Furt fest und war weder mit vereinten Kräften noch mit dem Abschleppseil von der Stelle zu bewegen. Da es sonst nichts zu tun gab, machte es sich Adam auf seinem Klappstuhl am Ufer gemütlich, betrachtete den Stand der Flut und wartete auf den Ablauf der Wasser. Später am Abend kam er dann doch noch in der Oase an und traf besagten blaugewandeten Tuareg.
Indem Adam sich weiter näherte, hob der Langhaarige nun den Kopf und blickte auf. Mit braunen Augen unter schmalen Brauen, die ihn kurz ansahen, ihn anscheinend erkennend ansahen und deren Blick ihn seltsam berührte. Adam nahm an, dass er in dem Wagen gesessen habe, grüßte den jungen Mann landestypisch mit „Bonjour“ und fragte, was denn passiert sei und ob er verletzt sei. Der blickte ihn aber nur verständnislos an.
„Na da, la voiture la bas, das Auto da unten,“ sagte Adam und zeigt auf das Unglücksfahrzeug. „Un accident, ein Unfall. Waren Sie in dem Auto?“
„Moi, ich“, erwiderte der junge Mann fragend. „Mais non, aber nein. Ich dachte, Du seist mit dem Auto unterwegs gewesen und wundere mich gerade, dass Du beladen wie ein Esel mit Sack und Pack zu Fuß daherkommst.“
„Nein, nein“, protestierte Adam. Er sei an der Straße entlang gegangen und habe dann den Unfall bemerkt.
„Ach ja, richtig“, bemerkte da der Langhaarige. „warst nicht Du es, der dem Fahrzeug gewünscht hat, dass es der Blitz treffen möge? So ist es denn wohl geschehen. Und da liegt das Auto nun halt im Straßengraben.“
Adam kam diese Antwort reichlich merkwürdig vor. Seine Verwünschung war ihm noch durchaus gegenwärtig, woher der Jüngling davon aber etwas wissen konnte, war ihm dennoch schleierhaft. Zwar hatte er es dabei nicht an der nötigen Lautstärke fehlen lassen, die, wie er wusste, durchaus auch ohne Mikrophon eine vollbesetzte Festhalle füllen konnte, aber selbst, wenn der Jüngling im Auto gesessen wäre, hätte er seine Tirade wohl nur schwerlich hören können. Desungeachtet überraschte ihn die wohlklingende Stimme des Langhaarigen. Voll und fast tief, ein ordentlicher Bariton, wie ihm schien. Dabei war der Jüngling von der Statur her mit einer Größe von vielleicht 1,75 m und wohl nicht wesentlich mehr als 70 kg eher schmächtig, naja, schmächtig halt im Vergleich zu Adam, zwar kein Hungerhaken, aber doch schlank, sogar fast sehr schlank. Aus der Körperfülle konnte seine Stimmlage also nicht kommen, das stand jedenfalls fest. Dabei war seine Stimme gleichwohl fast sanft, weich, trotzdem aber sehr männlich. In ihrer Weichheit war sie ungemein freundlich, ja einladend, auffordernd, fast schmeichelnd, in ihrer Männlichkeit andererseits aber auch bestimmt und gewiss, ohne irgendwie abweisend oder beherrschend zu sein. Adam war verblüfft ob dieser Fülle von Eindrücken.
Derweil ging er wieder näher an das Auto heran, sah hinein, es war aber nach wie vor leer, die Türen und Fenster geschlossen. Adam blickte ratlos zu dem jungen Mann, der weiter gelangweilt an seinem Baumstamm lehnte und inzwischen seine Selbstgedrehte rauchte. Er suchte noch die Umgebung ab, jedoch da war sonst niemand.
„Da ist sonst niemand“, rief er dem Raucher zu und breitet die Arme aus. Der zuckte mit den Achseln, sagte nichts und rauchte weiter. Adam ging auf ihn zu und wiederholte, il y a personne.
„Ah oui, j´ai compris. Jaja, ich hab´s verstanden. Da ist sonst niemand. Na und, was soll´s?“, erwiderte der.
„Aber irgendwer muss doch das Auto gefahren haben“, insistierte Adam.
„Also ich war es nicht. Du anscheinend auch nicht. Ich weiß darum nicht, was Du deswegen so ein Tamtam machst. Natürlich, irgendwer wird das Auto gefahren haben. Und jetzt ist der nicht da. Na und? Es war schon oft jemand nicht da, wo er hätte sein sollen. Trotzdem ist die Welt nicht untergegangen.“
Adam erwiderte darauf nichts. Was hätte er da auch sagen sollen? Wo er denn herkäme, fragte er schließlich den jungen Mann.
Von dort, antwortete der, hob dabei leicht den Kopf und zeigte mit dem Kinn in die Richtung, aus der Adam kam.
„Ach was“, bemerkte Adam erstaunt, „da komme ich auch her. Ich gehe schon seit Stunden an dieser Straße entlang, aber mir ist dabei sonst niemand aufgefallen.“
Er sei auch erst wenig oberhalb darauf gestoßen, gab der Jüngling zurück.
Ob er hier aus der Nähe sei, wollte Adam daraufhin wissen.
„Eigentlich nicht.“
Adam verwies auf dessen rudimentäre Ausrüstung, was doch eine Herkunft oder zumindest ein Ziel in der Nähe nahelege.
„Du beobachtest scharf, schließt aber zu kurz“, antwortete der Langhaarige. „Tatsächlich komme ich von weit und will noch weit. Aber das gehört erst mal nicht hierher. Und wo kommst Du her? Von hier bist Du jedenfalls auch nicht.“
Adam gab daraufhin an, wo er herkäme und seit wann er schon unterwegs sei. Sein heutiges Ziel sei eine Herberge in Les Gambes bei Filain, das seien wohl nur noch ein paar Kilometer. Gottseidank habe es aufgehört zu regnen, so dass die Strecke dorthin bloß noch ein Klacks sei.
Noch bevor er weiter etwas sagen konnte, fragte ihn der Langhaarige, ob er sich ihm für heute anschließen dürfe.
Ja natürlich, gerne, gab Adam zur Antwort und schulterte seinen Rucksack mit seinem üblichen Ojeoje-Wehklagen.
Was denn das für ein Gejammer sei, wollte der Langhaarige da wissen.
„La vie est dure et mon sac à dos est lourd“, stöhnte Adam. Das Leben sei hart und der Rucksack schwer, soviel Französisch durfte dann doch sein.
„Ja, wenn das so ist. Dann gehen wir halt mal los“, schlug der Langhaarige vor, er selbst wolle nach Filain, das sei rund fünf Kilometer vor Adams Ziel.
„Und was ist mit dem Auto“, wollte Adam wissen.
„Du und Dein Auto. Was soll schon damit sein? Es liegt halt im Straßengraben. Dir und mir gehört es ja nicht. Und sonst ist niemand da, wie Du selbst festgestellt hast. Soll sich darum kümmern, wer mag. Also, gehen wir los, damit wir noch vor der Nacht ankommen.“
Das Angebot des Langhaarigen, ihm auch eine zu drehen, lehnt Adam dankend ab. Er sei Nichtraucher und auch sonst ein glücklicher Mensch.
So gingen sie schließlich miteinander von diesem seltsamen Ort fort und ein Wort gab das andere. Ob er in Filain daheim sei oder wohin er sonst gehe, fragte Adam den Jüngling.
„Ach weißt Du, ich nehme mir manchmal die Zeit jemanden auf seinem Weg zu begleiten. Am liebsten Jakobspilger. So gesehen sammele ich Pilger wie andere Pilze. Mich fasziniert, wie sie jeweils sich und ihren Weg sehen. Dabei sollte man doch meinen, dass so ein Weg für alle derselbe sei. Aber nichts weniger als das. Und heute habe ich nun Dich getroffen. Schon dass Du Dir Santiago de Compostela als direktes Ziel vorgenommen hast, ist beeindruckend. Und zudem auch so weit weg. Ich schätze, Du wirst dafür drei oder vier Monate auf Pilgerschaft sein. Die meisten, die ich hier in Frankreich treffe, sind allenfalls für zwei oder drei Wochen unterwegs. Und hier in diesem Eck sind es sowieso nur einzelne, die den Weg gehen. Wenn, dann trifft man eine größere Schar von Pilgern erst auf der Via Podiensis von Le-Puy-en-Velay bis zu den Pyrenäen. Dass einer ein solch fernes Ziel dann auch noch alleine angeht, schien mir doch zu verführerisch. Darum habe ich mich an den Baum gestellt.“
Woher er denn wisse, dass er nach Santiago wolle, wollte Adam daraufhin wissen, bisher habe er davon noch gar nichts gesagt.
„Na hör mal“, erwiderte der Langhaarige, „wir sind hier auf dem Jakobsweg unterwegs. Mit Deinem Riesenrucksack siehst Du nicht gerade aus, wie einer der bloß mal zum Zigarettenholen geschwind aus dem Haus ist. Zudem hast Du da doch eine Muschel an Deinem Rucksack hängen oder irre ich mich?“
„Auch Sie beobachten anscheinend genau“, gab Adam zurück, „aber Sie haben recht. Ich will nach Santiago. Im Südwesten von Deutschland, von meiner Haustüre in E. bin ich losgezogen. Das liegt bei T. oder etwas südlich von Stuttgart.“
„Die Gegend kenne ich sogar. Da wohnst Du quasi in der Diaspora. Katholisch gesehen. Lauter Protestanten, Evangelikale und noch strenger Gläubige rundherum. Auch Hermann Hesse stammte doch aus der Gegend, wenn ich mich nicht irre. Du musst Dich übrigens nicht mit Deinem Französisch abquälen, ich spreche ganz gut deutsch“, gab der Langhaarige bekannt.
„Ach was“, gab Adam zurück, „und das sagen Sie mir erst jetzt und lassen mich stundenlang auf Französisch radebrechen.“
„Naja, so lang und so schlecht war es denn auch wieder nicht. Außerdem kannte ich Dich vorhin noch nicht. Jetzt ist das wieder anders. Wir gehen ja schon eine ganze Weile miteinander. Da sind wir doch schon fast alte Bekannte.“
Adam ließ das erst einmal unkommentiert so stehen.
Nachdem sie ein ganzes Stück weitergewandert waren, wollte Adam schließlich wissen, wie er denn eigentlich heiße, er habe den Namen wohl vergessen oder überhaupt vergessen danach zu fragen.
„Lach nicht, aber meine Eltern waren sehr christlich und haben mich auf den Namen Giosuè getauft, was sogar bei uns in Italien reichlich ungewöhnlich ist“, erwiderte der Langhaarige.
„Ach, Sie sind Italiener?“
„Naja, irgendwie ja, aber eigentlich doch nicht. Das ist jedoch eine ganz lange Geschichte. Aber Adam, hör mal, willst Du mich nicht auch endlich duzen. Wir sind jetzt schon fast eine Stunde miteinander unterwegs und Du siezt mich noch wie zu Beginn. Wir sind doch nicht bei Dir im Büro. Dort magst Du ja zurecht auf Distanz geachtet haben. Aber doch nicht hier unter uns Pilgern auf dem Jakobsweg.“
Adam staunte über die Kenntnis des Langhaarigen über seinen früheren Umgang mit den Bürokollegen. Noch mehr wunderte ihn, dass der seinen Namen kannte, da er sich sicher war, ihn dem Langhaarigen gegenüber bisher noch nicht erwähnt zu haben. „Hoi, (was auf Schwäbisch ungefähr einem „Hi“ entspricht) Giosuè, freut mich Deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich heiße Adam, aber das weißt Du ja schon. Bloß woher, frage ich mich, ich habe meinen Namen nämlich bisher noch gar nicht erwähnt.“
„Ach, hast Du nicht?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Aber Du heißt doch Adam?“
„Ja, natürlich. Hab ich ja eben gesagt.“
Na, dann sei ja alles in Butter, gab Giosuè zurück und ignorierte Adams fragenden Gesichtsausdruck. „Deine Eltern waren wohl auch recht bibelfest?“
Das wohl wieder eher weniger, erwiderte Adam, so genau wisse er das aber gar nicht.
„Was heißt das nun wieder?“
Das heiße, dass er das nicht wisse. Es gebe da ohnehin viel, was er nicht wisse, aber vielleicht wissen sollte. Nur habe er nie danach gefragt, antwortete Adam.
Was ihn denn am Fragen gehindert habe, wollte Giosuè daraufhin wissen.
Das wisse er eigentlich auch nicht, antwortete Adam.
Und mit dieser Antwort log er, denn ihm war wohl bewusst, dass er das wusste. Er hatte nämlich seine innere Beziehung zu seinen Eltern gekappt. Schon vor vielen, vielen Jahren. Es war und ist eine alte und damit lange Geschichte. Letztlich hatte er sich aus enttäuschter Liebe schon früh von ihnen zurückgezogen. Hatte Mauern um sich herum errichtet mit Schildwachen an allen Toren und Eingängen. Hatte dergestalt dann weder seine Eltern noch sonst jemand gefühlsmäßig an sich herangelassen. Und das schon in früher Kindheit, wenn er sich recht erinnerte. Wie oft war er damals voll der Liebe auf seine Eltern zugegangen? Wie oft war sein Wunsch nach Nähe aber ignoriert oder sogar brüsk zurückgewiesen worden? Wie oft hatte er sich unverstanden oder, schlimmer noch, falsch verstanden gesehen. Wie oft hatte er nach einem Fehler auf Nachsicht gehofft, zumal wenn er seine Verfehlung selbst gebeichtet hatte. Nichts war es damit. Die übliche Tracht Prügel blieb ihm so regelmäßig nicht erspart. Warum bloß wurde ihm stets Unwille oder sogar böser Wille unterstellt? Klar, manche seiner Späße oder Streiche waren gern auch einmal grenzwertig, böswillig war er aber nicht. Manchmal waren es aus seiner Sicht auch nur widrige Umstände, die ein Missgeschick auslösten. Und dafür konnte er ja nichts! Gleichwohl war Unverständnis die Regel und zog dann eben die übliche Tracht nach sich.
Bedauerlicherweise war schon in Adams frühen Kindertagen festzustellen, dass alles, was filigraner war wie eine Eisenbahnschiene oder ein Pflasterstein, unter seinen Händen buchstäblich zerbröseln und einem schnellen Untergang entgegen gehen konnte. Nicht, dass er ein Berserker im Wesen oder von Gestalt gewesen wäre. Im Gegenteil war er als Kind eher schmächtig und schlank, wenn nicht sogar mager. Trotzdem zerbrachen die Dinge, die er anfasste, fast regelmäßig wie Krokant in seinen Händen.
So hatte Adams drei Jahre älterer Bruder vor seiner Einschulung einen Metallbaukasten zum Geburtstag geschenkt bekommen. Mit dem konnte man sagenhafte Dinge zusammenbauen. Aus Streben, Winkeleisen, Blechen, Rädern, Achsen, Schrauben, Muttern und Bindfäden wurden dann Autos, Kräne, Bagger, Flugzeuge. Auch Adam versuchte sich trotz des Widerstands seines Bruders daran. Er sei dafür zu klein, war dessen Ausrede, um den Kasten für sich alleine behalten zu können. Dabei war Adam immerhin bereits vier, also fast schon groß. Jedenfalls nach seinem Empfinden. Die Konstruktion solcherlei Dinge war weder einfach noch ihm ohne weiteres einsichtig. Im Grunde war es für Adam fast aussichtslos. Ein Ungemach folgte daher auch hier dem anderen. Vor allem aber gingen die Schrauben auf der einen Seite mal so rum auf oder zu, dann wieder war mit dem gleichen Dreh an anderen Stellen gar nichts zu erreichen. So wollte dann das eine Mal die Mutter partout nicht auf die Schraube, während sie sich ein andermal dabei immer fester anzog. Und nach fest kam ab! Das war dann aber noch der leichtere Fall. Manchmal saßen die Schrauben auch so fest, dass an ein Lösen gar nicht mehr zu denken war. Zumal die Aluminium-Muttern von seinen bisherigen Versuchen dann schon rund geschliffen waren oder die kleinen Messingschrauben keinen Schlitz mehr hatten. Der Baukasten und vor allem die Dekonstruktion seiner Werke wurden für Adam so zum kompletten Desaster. Auseinander musste das Zeugs nämlich. Jedenfalls nach Adams Beschluss. Somit half das eine oder andere Mal am Ende nur noch rohe Gewalt. Mit den Bruchstücken seines Metallbaukastens rannte Adams Bruder dann heulend zum Vater. Mit der allfälligen Tracht Prügel versuchte der dann Adam von seiner Zerstörungswut zu heilen. Dabei fühlte sich Adam durchaus erneut nur unschuldig verfolgt, da nicht er, sondern die widerspenstigen Schrauben, die scheinbar ohne System mal so und mal so rum auf oder zu gingen, für das Elend verantwortlich waren.
Oder beispielsweise Laubsägearbeiten.
Sind diese sonst für Kinder aller Alter ein Quell heiteren Vergnügens, arteten sie für Adam damals regelmäßig zu einem heroischen Kampf mit den Widerwärtigkeiten des Materials aus. So waren insbesondere die gewöhnlichen Sägeblättchen ein wahrer Fluch. Die sägten zwar meistens noch einigermaßen geradeaus, kaum war aber einer Kurve zu folgen, flitsch, und ab war das Ding. Neues Blättchen, flitsch, ab. Manchmal überstanden die elenden Sägeblättchen noch nicht einmal das Einspannen. Gut. Oder eben auch nicht, weil es vor einem neuen Sägeblatt jedes Mal eine Reihe erzieherischer Kopfnüsse gab mit dem Ziel, ihn angesichts seiner bekannten Zerstörungswut zu sorgsamerem Umgang mit den empfindlichen und damals vor allem teuren Sägeblättchen anzuhalten. Derweil sägte sein älterer Bruder eifrig alle Figuren leichter Hand aus. Weshalb anscheinend immer er die schlechten Sägeblättchen bekam, war ihm einerseits ein großes Rätsel, aber anderseits als Tatsache sichere Gewissheit. Adam bekam dann irgendwann die dickeren und stabileren Sägeblätter, die angeblich vorwärts, rückwärts und im Kreis oder sogar seitwärts sägen konnten. Sie gingen tatsächlich durch das Sperrholz wie durch Butter. Schön. Dafür saß die Säge dann blitzartig im Unterlagebrettchen fest. Wollte Adam sie dort durch vorsichtiges Hantieren oder Schwenken der Säge wieder lösen, flitsch, und ab war das Sägeblatt. Kopfnuss. Neues Sägeblatt. Pflitsch. Kopfnuss. Warf Adam dann irgendwann die blöde Säge wutschnaubend ins Eck, gab es eine Kopfnuss für seine Ungeduld. Oder für seine Unbeherrschtheit. Oder für beides. Ein wahrer Kopfnusshagel.
Aber das waren ja noch Spielereien. Adam konnte so etwas hinnehmen wie Regen. Ein andermal ein paar Jahre später war er mit der neuen langen Hose trotz gegenteiligen Geheißes nach draußen spielen gegangen. Fangerles war irgendwann angesagt, wie sonst auch immer. Und irgendwann stolperte er dabei und schlug aufs Knie. Das blutende Knie wäre ja nicht die Rede wert gewesen, das heilte schließlich von selbst, wenn nicht darüber ein Loch in der neuen Hose gewesen wäre. Adam stauchte nach dem Stein, der ihn zu Fall gebracht hatte, erreichte damit aber gar rein nichts, außer dass der Schuh an der Spitze jetzt auch ein Loch hatte. Derart lädiert kam Adam heim. Er war ja selber zerknirscht wegen seines Unglücks. Seinen Beteuerungen, dass allein der blöde Stein an dem Verhängnis schuld sei, wurde wie immer kein Glauben geschenkt. Nicht aufgepasst habe er. Außerdem habe man ihn geheißen, mit der neuen Hose nicht nach draußen zu gehen. Und nun kam er so wieder nach Hause! Nicht, dass Adam gehofft hatte mit seinem blutenden Knie irgendwie Eindruck schinden zu können, aber gedacht, dass er damit schon genug gestraft sei, das hatte er sehr wohl. Aber falsch gedacht! Die Tracht mit dem Stock war unvermeidlich.
Das alles und noch viel mehr ging Adam nach seiner vorherigen Lüge Giosuè gegenüber durch den Kopf. Und mit diesen Erinnerungen begann das Gefühl dieses Zwiespalts des Unverstandenseins, der Einsamkeit, der Leere und der Kälte Adam wieder und immer mehr gefangen zu nehmen und schnürte ihm schließlich buchstäblich den Atem ab. Erzählt hatte er davon derweil noch nichts. Er war ja kein Exhibitionist. Da spürte er, wie Giosuè ihn sanft am Unterarm berührte.
„Lass gut sein, Du bist damit nicht allein. Das passiert so vielen. Es ist wirklich schade, aber es passiert. So viel verlorene Liebe, so viel verlorenes Glück! So viel vergeudete Zeit ohne Zuneigung, ohne Heil. Es ist ein Jammer. Trotzdem bist Du offensichtlich nicht völlig verhärtet, wenn ich das so sagen darf. Anscheinend ist es Dir doch gelungen, Dir Deine andere Seite zu bewahren, wofür ich den Herrn preise. Und Deine Liebe für Deine Töchter scheint mir davon doch ziemlich ungetrübt.“
„Woher weißt Du von meinen Töchtern“, wollte Adam daraufhin wissen.
„Du hast doch Töchter?“
„Ja. Zwei. Aber ich habe sie bisher ganz sicher noch nicht erwähnt.“
„Na, dann wurde das aber auch Zeit. Erst mit Kindern lebt der Mensch wirklich“, bemerkte der Langhaarige und schob so Adams Einwand beiseite.
Die Zeit und der Weg vergingen wie im Flug und schon früh am Nachmittag war Adam mit Giosuè kurz vor seinem Tagesziel angekommen. Giosuè verabschiedete sich in Filain. Ob sie morgen wieder zusammen gingen, wollte Adam noch wissen. Giosuè hob im Weitergehen aber nur lässig den rechten Arm, ließ ihn wieder fallen und zweigte in eine Gasse unterhalb der Kirche ab.
Adam genoss später seine schöne Unterkunft in Les Gambes und den wunderbaren Apfelkuchen, der ihm nach dem Abendessen als Dessert gereicht wurde.
Von Gy aus machte sich Adam mit E. und U., einem südtiroler Ehepaar, die er unterwegs getroffen hatte, nach dem Frühstück auf den Weg zum Zisterzienserkloster Abbaye d'Acey. Telefonisch war ihnen am Abend zuvor zwar gesagt worden, dass noch eine Pfadfindergruppe die Schlafplätze belege, sie sollten aber kommen, das werde sich regeln lassen.
Es war prächtiges Wetter so früh am Morgen, was versprach, ein herrlicher Wandertag zu werden. Adam genoss die morgendliche Frische, die Klarheit des Lichts der frühen östlichen Sonne, die Luft war wie Sekt und er verspürte unvermittelt die Leichtigkeit des Seins. Trotz seines schweren Rucksacks wurde ihm zum ersten Mal auf seinem Weg wieder dieser eine, dieser fast schwebende Daseinszustand bewusst. Er erinnerte sich natürlich an frühere derartige Erlebnisse und freute sich so unbeschwert des Lebens.
„Na“, vernahm er irgendwann, „wie geht´s?“
Verwundert blickte Adam um sich, sah aber niemand.
„Stell Dich nicht dümmer als Du bist. Ich bin´s.“
„Oh Gott“, seufzte Adam tief auf, „wie habe ich auf Dich gehofft. Den ganzen Weg lang. Ich dachte schon, ich sei vom wahren Weg abgekommen. Endlich! Mir geht das Herz auf. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe mit Dir zu reden. Aber irgendwie konnte ich Dich nicht erreichen. Oder Du hast mich nicht gehört.“
„Jetzt sei so gut. Nicht erreicht! Da lachen ja die Hühner. Wir sind doch nicht im Büro, wo das Telefon auch mal ins Leere schellt. Nicht gehört? Wie werde ich Dich nicht hören? Du hast mich nicht gehört! Hör Dir doch bloß selber zu. Ich, ich, ich. Deine Worte wimmeln vor lauter Ichs. Womöglich hörst Du in der Echokammer Deines Hirns ja nur noch Dich selbst. Womöglich ist vor lauter Ich auch Dein Herz verstopft. Aber heute, heute hörst Du endlich mich. Und das ist schön. Ich sprach nämlich ständig mit Dir auf Deinem Weg, aber Du warst in Deiner Selbstdarstellung eines Pilgers so auf Dich fixiert, dass Du außer Dir selbst fast nichts mehr um Dich herum wahrgenommen hast. Narzissmus oder Eitelkeit nennt man so was, glaube ich. Aber es ist gut, dass Du nun wieder bei den Leuten und im Leben ankommst, im Hier und Jetzt. In diesem Moment, in dieser Luft, an diesem schönen und frischen Morgen. Ich begrüße Dich also und freue mich, dass Du den Weg bis hierher tatsächlich geschafft hast.“
Adam berichtete daraufhin Gott, dem Herrn, über seine bisherigen vergeblichen Bemühungen mit ihm in Verbindung zu treten. Dieser unterbrach ihn jedoch sofort barsch und wies ihn auf sein Wort „Bemühung“ hin und machte ihn darauf aufmerksam, dass es zum Gespräch mit ihm keiner „Bemühung“ und keiner „Verbindung“, sondern schlicht eines offenen Herzens bedürfe. Daran habe er, Adam, es aber bisher fehlen lassen. Diese taube Phase seiner Pilgerschaft sei ja jetzt jedoch wohl überwunden und vorüber.
Aus Adam brach sodann all sein aufgestautes Pilgererleben wie ein Vulkan oder eine Sturzflut hervor. Als er in seinen Erzählungen schließlich auch auf Giosuè zu sprechen kam, schien ihm allerdings, dass Gott, der Herr, dabei seltsam einsilbig wurde.
Was er denn an seinem Weggefährten auszusetzen habe, wollte der wissen.
Eigentlich nichts, erwiderte Adam, aber er sei ihm andererseits doch in gewisser Weise fremd, unheimlich fast. Er wisse nämlich Dinge über ihn, die er ihm zuvor sicher nicht erzählt habe. Insofern erinnere ihn Giosuè an den Radfahrer, den er einmal auf dem Ponale-Weg getroffen habe. Der habe auch alles von ihm gewusst. Im Gespräch habe der ihm dann sogar die Freundschaft angeboten, aber später sei irgendwie doch nichts daraus geworden. Er frage sich nun, ob Giosuè vielleicht jener Radfahrer sei, halt in anderer Aufmachung. Gesagt habe er darüber nichts, aber sein Bescheidwissen sei geradezu typisch. Und eben fast unheimlich.
Er glaube nicht, dass es der Radfahrer sei, erwiderte Gott, der Herr, aber man wisse ja nie.
„Das sagst ausgerechnet Du, der Du angeblich alles weißt“, gab Adam erstaunt zurück.
Gott, der Herr, ignorierte Adams Einwand. „Sprechen wir lieber über Dich und Deine bisherige Pilgerschaft“.
Derweil war Adam weitergezogen und es ward allmählich Nachmittag. In der Zwiesprache mit Gott, dem Herrn, sah Adam dann seine bisherige Wallfahrt in gänzlich neuem Licht. Die empfundene Schweigsamkeit seines bisherigen Wegs wandelte sich ihm so tatsächlich zum Redefluss, wie es Giosuè schon gesagt hatte, und er schwelgte nun in der Erinnerung an die Fülle der empfangenen Botschaften und Begegnungen.
„Na, siehst Du. Und, ist Dir jetzt wohler“, wollte Gott, der Herr, schließlich wissen.
„Wenn Du schon so fragst, irgendwie auch nicht. Aber indem ich Dir davon erzähle, wird mir langsam klar, dass viele meiner Eindrücke oder Gedanken bisher wohl bloß Spiegelungen der Vergangenheit waren. Ich repetiere da anscheinend dauernd nur Geschehnisse und Erfahrungen von früher. Ich sehe, dass sie für mich wichtig waren, dass sich mich auch geprägt haben, sonst könnten sie mir wohl nicht so präsent sein. Zugleich wird mir dabei aber auch bewusst, dass viele trotz allem mich, mein eigentliches Wesen, meine Seele, unberührt gelassen haben. Und mir wird dabei allmählich klar, nicht das erlittene Ungemach mein wirkliches Sein ausmacht, es war und ist allein der ruhige und stete Fluss meines eigentlichen Wesens, meiner Seele, der mich im Grunde bestimmt, immer bestimmt hat. Aber irgendwie gewannen die Erlebnisse der äußeren Welt wohl irgendwann immer mehr Gewalt über mich und begannen mich schließlich auch im Inneren zu dominieren. So konnten sie meine Sicht auf die Welt verändern und bestimmen und meine Seele in den Hintergrund drängen. Bis ich sie schon fast verloren hatte. Deine Frage zeigt mir jetzt, es ist nicht allein das Verstehen oder Erkennen früherer Ereignisse und Gefühle, die es zu sehen gilt, es ist das Erkennen und Verstehen des ruhigen und steten Flusses der Seele als Grundlage meines Seins. Die Ereignisse der äußeren Welt erscheinen dann wie die Wirbel, Strudel und Spritzer des Wassers in einem Wildbach, das tosend über Steine stürzt. In tieferen Gumpen oder flachen Stellen beruhigen sich die Turbulenzen und abgelöste Tropfen fallen zurück in den Fluss und werden wieder Teil des stetig strömenden Wassers des Seelengrunds.“
„Du trägst die Haare heute aber schön, will sagen, das hast Du schön gesagt“, erwiderte darauf Gott, der Herr, vergnügt, „ich hätte Dir das auch nicht besser erklären können. Trotz aller Widrigkeiten der Vergangenheit, durch Deinen Krebs und die jetzigen Anstrengungen der Pilgerschaft – oder vielleicht sogar deswegen – ist Dein inneres und wahres Denken und Empfinden anscheinend weder untergegangen noch eingerostet. Oder durch Deine Rekapitulation sogar wieder entrostet, aufgefrischt und neu eingefettet worden. Dein Weg durchs Leben und auch jetzt nach Santiago de Compostela ist und war also wohl doch nicht vergeblich, sondern entpuppt sich als das was er ist: Als spiritueller Jungbrunnen. Das ist schön und es freut mich, Dich geistig, körperlich und seelisch so quicklebendig anzutreffen.“
Quicklebendig sei wohl wieder anders, protestierte Adam. Nach nun schon knapp 30 km in der heutigen Hitze könne bei ihm davon nicht mehr die Rede sein. Ihn gelüste es im Moment nur mehr nach frischem Wasser für seine Flasche, einer Dusche und nach einem Bett.
Er verstehe nicht, warum er sich schon wieder derart undankbar zeige, versetzte Gott, der Herr, daraufhin. Regen sei ihm nicht recht, Sonne auch nicht, dabei sei doch beides der Segen der Erde.
Ja, schon, gab Adam zurück, er habe da ja recht, bloß sei er, Adam, nicht die Erde, sondern bloß ein Pilger auf selbiger. Bis zum endgültigen ‚Da mihi animas, cetera tolle‘ sei ja hoffentlich noch einige Zeit. Ja, er habe das ja eigentlich so gewollt, allerdings habe er auf seiner Wanderung inzwischen einen Himmel mit 4 bis 6/8 Schönwetterwolken bei einer leichten und erfrischenden Brise und maximal 20 Grad schätzen gelernt. Wenn der Weg dann noch einigermaßen eben und leicht begehbar durch Schatten oder sogar durch Wald führe, sei das für einen armen Pilger fast schon wie ein Gottesgeschenk. Im Moment sei es aber bloß heiß und der Weg nehme scheinbar kein Ende.
„Ich weiß nicht, was Du willst, geh halt da vorne um den Weiher herum und folge links dem Weg durch die Felder, dann siehst Du hinten schon den Wald mit einem schönen Forstweg und danach stehst Du auch schon alsbald vor der Abtei rechts vom Weg“, gab Gott, der Herr, zurück.
Na also, geht doch, murmelte Adam ob so der erhaltenen Wegweisung, nahm angesichts des prophezeiten nahen Ziels einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche und schritt mit frischer Kraft tüchtig aus. E. und U., die ja mit Adam unterwegs waren, gestanden ihm später in Abbaye d'Acey, dass er rund eine Stunde vor ihrer Ankunft im Kloster unvermittelt mit seinen Wanderstöcken fast losgestürmt sei, zack, zack, zack, und sie schier nicht mehr hätten mithalten können.
Gott, der Herr, ging über Adams Gemurmel hinweg und erinnerte ihn daran, dass sie sich über das Erleben der Seele schon früher einmal unterhalten hätten, nur vielleicht noch nicht in der wahren Dimension der Frage, wie sie sich jetzt darstelle. Er wolle hier aber doch noch auf den Zwiespalt zwischen der steten Wesenheit der Seele und dem Erleben der Welt hinweisen. Das schmälere Adams Erkenntnis in keiner Weise. Vielmehr ergänze sie sie. Im Empfinden des grundlegenden Gutseins und der allumfassenden Liebe einerseits und des erlittenen Ungemachs in der Welt andererseits werde dieser Zwiespalt jedoch für viele zum Elend, zur schreienden Anklage, zum Leiden an sich selbst und der Welt. Das Wahrnehmen dieses Zwiespalts als leerem Raum zwischen dem grundlegenden Gutsein der Seele und dem Erleben der Welt mit all ihren Abgründen lasse die Trennung der beiden Seiten für diese Elenden als scheinbar unüberwindlich erscheinen. Diese Leere ohne Halt und Orientierung werde dann zum beklagten Leiden in und an der Welt. Die einen sähen sich so hineingeworfen in eine Welt und ein Leben, das sie nicht als ihr eigenes empfänden und das ihnen daher fremd gegenüberstehe. Andere sähen sich klein und hässlich, während um sie herum die Dinge der Welt sie groß und bedrohlich wie berghohe Riesen anstarrten. Und noch andere sähen sich allein und verlassen unter einem fahlen Himmel in der leeren Wüste einer hohlen und sinnentleerten Welt. Die Zahl derer, die daran zerbrächen, sei unüberschaubar und das mache ihn unsäglich traurig, da die Welt in ihrer ganzen Buntheit, ihrer Lebenslust und ihrer Fröhlichkeit doch auch für diese Unglücklichen nur einen Gedanken entfernt läge. Weniger als ein Fingerschnippen, einen Lidschlag bloß. Und trotzdem scheinbar unerreichbar fern wie eine andere Galaxie oder eine andere Dimension.
Adam erwiderte darauf, dass er mit solchem Leiden nichts, aber auch gar nichts am Hut habe. Das sei wohl eher denen beschert, die sich nicht entscheiden könnten, wo sie hingehörten oder die sich in der Betrachtung ihres eigenen Bauchnabels verloren hätten und diesen nun als Nabel der Welt begriffen. Derart des Blicks in die Welt beraubt sei denen auch die Orientierung verloren gegangen und irrten nun in ihrem Bauchnabel sinnlos umher, der für sie wohl die ganze Welt darstelle.
Ob er da den Armen, die so umherirrten, nicht doch Unrecht tue, wollte Gott, der Herr, darauf wissen. Vielleicht seien sie bei ihrer Suche nach dem Grund ihres Seins eben bloß in ihrem Bauchnabel gestrandet. Dort liege ja körperlich gesehen ihre ursprüngliche Verbindung zur Welt außerhalb ihres eigenen ungeborenen Daseins.
Ja schon, erwiderte Adam, aber diese pseudo-biologische Sicht greife seiner Ansicht nach eben zu kurz. Wenn schon körperliche Sicht, dann aber auch ganz. Dann sei der Bauchnabel aber nicht das Ende des eigenen Seins, sondern in Wahrheit der Beginn der Nabelschnur zur Welt. Zur Mutter, zu deren Sein in der Welt und damit zum Urgrund des eigenen Seins. Wer sich wahrhaft selbst suche, dürfe und könne daher bei seiner Suche nicht am eigenen Bauchnabel aufhören. Das vermeintliche Ende des eigenen Ichs oder Seins zeige damit doch eindeutig über den Bauchnabel hinaus. Der Bauchnabel sei dann doch allenfalls das Zentrum des eigenen Seins, des eigenen Leibs. An den Begrenzungen des eigenen Körpers zu denken aufzuhören sei also falsch, zumal die Nabelschnur dabei unschwer zumindest auch als eigen zu begreifen sei. Wer in seiner Suche nach sich selbst, nach dem Grund des eigenen Seins denn schon zurück bis zum Bauchnabel gehe, finde so unschwer den Weg in die Welt außerhalb des eigenen Seins, finde sich selbst inmitten der Welt um ihn herum. Das Bild eines durch die Welt wandernden Bauchnabels sei fast schon so skurril wie ein Sketch von Monty Pyton. Wie man da die Orientierung verlieren könne, sei im rätselhaft. Ohnehin habe er den Bauchnabel auch nur als Gleichnis benutzt für das Kreisen um sich selbst. Was den Zwiespalt zwischen grundlegendem Gutsein und sinnentleerter Ödnis angehe, sehe er sich selbst eher wie den Koloss von Rhodos, der mit den Beinen die Hafeneinfahrt überspannt habe. Unter sich die strömenden Wasser des Lebens und mit einem Bein auf dem Ufer des allgegenwärtigen und immerwährenden Elends, mit dem anderem auf dem festen Fels des grundlegenden Gutseins der Seele. Aber dabei sei ihm bewusst, es sei er, der da im Glanz der Sonne stehe, mit dem Haupt weit über diesen Niederungen und im Geist dem Himmel nah.
Ob er da nicht der Hybris und der Hoffart unterliege, entgegnete Gott, der Herr.
Nein, antwortete Adam, in der Betrachtung erlittenen Leids werde nämlich selbst dieses zur Offenbarung des Glücks, des Friedens und der unendlichen Liebe des Universums. Leid zeige sich erst im Widerspruch zum Grundempfinden des Gutseins. Ohne diesen Widerspruch wäre die erlittene Pein das eigentliche Sein und daher ohne Leid. Erlittenes Leid weise damit unfehlbar den Weg zur Quelle des eigentlichen Seins, zur Seele. Das heiße nun ja nicht, dass mehr Leid den Weg zur Quelle beschleunige. Das sei ja das Elend der Welt, dass viele an diesen Irrweg glaubten. Nein, wir sind doch keine Lachse, die so zu ihrer Quelle gelangen. Leben sei eben untrennbar auch mit Leiden verbunden, nicht mehr und nicht weniger. Er sehe das Leiden spirituell inzwischen als Unbill wie Regen oder steile Anstiege auf seinem Jakobsweg. Wolle er zum Ziel, müsse er eben auch da durch. Im Regen suche man eben einen Unterstand auf oder hole seinen Regenschirm heraus, im Anstieg mühe man sich halt redlich, wissend, dass noch kein Anstieg endlos gewesen sei oder direkt in den Himmel geführt habe. „Und damit zu Dir. Nur das ist der Sinn der Betrachtung des Leids. Oh mein Gott, wie hast Du mir gefehlt. Schon durch diese kurze Zwiesprache mit Dir eröffnen sich mir endlich die Antworten, die ich bisher vergeblich von meinem Weg erhofft habe.“
„Was heißt hier kurz? Wenn ich das recht sehe, machst Du in Deiner Erkenntnis schlicht da weiter, wo wir das letzte Mal unser Gespräch aufgehört haben. Indem Du nun so weit in Dich hineingehorcht hast, zeigt das nur einmal mehr, dass weder Du noch der Rest der Welt vom Leid verschont bleibt. Das Leid und das Elend sind immer und überall. Es freut mich aber ganz besonders, dass Du nicht in der Betrachtung dieses Leids der Welt verharrst. In der Betrachtung des Leids zu verharren, heißt ja, den ewigen Fluss des grundlegenden Glücks aus dem Blick zu verlieren, ihn letztlich zu vergessen. Die Unglücklichen, die diesen Weg gehen, werden so zu Gefangenen ihrer selbst und damit des Leids. Ihr Horizont reduziert sich immer mehr auf sie selbst bis zur Größe ihres eigenen Bauchnabels, den sie in ihrer Betrachtung schließlich für den Nabel der Welt halten, wie Du sagst. Für die Freuden des Lebens und das Mitgefühl anderer werden sie so unempfänglich und versinken schließlich ganz in sich und in ihrem eigenen Leid. Wie vom Blick der Medusa getroffen, erstarrt ihr Innerstes buchstäblich zu Stein, ohne Bewegung, ohne Wärme und ohne Liebe. In dieser Erstarrung scheint die Zeit und das Leben dann stillzustehen. Das momentan empfundene Leiden dehnt sich durch den Stillstand ins Unendliche und Unermessliche. Es nimmt schließlich vollständig gefangen. Das Leben wird dann zum bloßen Erdulden des Leidens. Das Wissen um die Freuden des Lebens und die Hoffnung auf ein besseres Morgen stirbt und es bleibt nur die kalte Leere der eigenen Verzweiflung. Depression nennt sich das dann. Ich denke, Deine mentale Erkundung dieser Gefilde genügt jetzt aber auch. Es ist immer wichtig und richtig auch das Gelände am anderen Ufer zu kennen, was aber nicht heißt, dort auch wohnen zu wollen oder zu sollen. Dein Pilgerweg soll Dich ja nach Santiago als dem himmlischen Jerusalem führen und nicht in die Wüste und Abgründe innerer Zerwürfnisse. Aber Du siehst das völlig richtig, nicht das Leid ist das Ziel der Erkenntnis, es ist allenfalls notwendige Zwischenstation auf dem Weg zum Erkennen des immerwährenden Flusses des Glücks als dem Gegenstück des Leids der Welt. Das Leid ist nur die tönerne Hohlform, in welche das glühende Erz der Lebensfreude und des Glücks gegossen wird. Erst wer die Hohlform erkennt und zerschlägt, erblickt die glänzende und vollendete Skulptur des Lebensglücks, Du Hosentaschenkoloss. Übrigens, Dein Handy läutet.“
Am Telefon teilte Adam dann ein Bruder der Abtei mit, dass die Pfadfinder schon gepackte hätten und am Abend nach der Vesper abreisen würden, sie also kommen könnten. Aber da hatte Adam die Abtei bereits im Blick.
In der Abtei angekommen, soff Adam gefühlt zuerst die halbe Wasserleitung leer, zumal das Wasser frisch, kühl und wohlschmeckend aus dem Hahn floss. Derart erquickt belegte er ein Bett im großen Schlafsaal, der ihm nach dem Auszug der Pfadfinder offensichtlich allein zur Verfügung stand, während die beiden Südtiroler ein fast schon intimes 6er-Zimmer belegten. Sie waren anscheinend nach dem Abzug der Pfadfinder auch hier wieder einmal die einzigen Pilger, die unterwegs waren. Nach dem Duschen und dem üblichen Wäschewaschen, als er gerade aus dem restlichen Baguette und übrig gebliebenem Käse ein frugales Vesper anrichten wollte, erschien eiligen Schrittes ein Mönch mit einem Korb, gefüllt mit Wurst, Schinken, Käse, Tomaten, Brot und einer halben Flasche Rotwein, aus abteieigenem Anbau, wie er betonte. Für ein Gespräch hatte er jedoch keine Zeit, da er zur Abendandacht müsse und er sonst zu spät käme, sagte er. Adam ließ den Korb daher unberührt auf dem Tisch stehen, rief die Südtiroler und sie folgten dem Mönch in die Abteikirche.
Dort erschienen schon bald ein rundes Dutzend Mönche in andächtiger Formation, nahmen im Altarraum Platz und begannen die Vesper. Dazu stimmten sie in den teils romanisch, teils gotischen Gewölben des Kirchenschiffs gregorianisch anmutende Gesänge an, die Adam schon bald gänzlich gefangen nahmen und ihn im Geiste in völlig andere Gefilde entführten. Das Mauerwerk aus unverputzten Kalksteinen erinnerte ihn an das Bild „Halleluja“ von Hans-Werner Sahm, in dem ein Mönch neben der Vierung auf einer oben in einem Gewölbebogen befestigten Schaukel hin- und herschwingt. Die Gesänge öffneten also Adams Herz – bis sich ihm ein anderer Andachtsgast mitsingend näherte. War er anfangs nur irritiert, was ihn denn plötzlich ablenke, wurde ihm der Grund schnell klar: Der Mensch hatte einen Mundgeruch, der sogar Attilla mitsamt seinen Hunnenhorden in die Flucht geschlagen hätte. Auch Adam zog die Flucht vor. Dabei konnte er beobachten, wie sich um den zwischen den anderen Gläubigen in der Kirche weitergehenden und dabei psalmodierenden Mann fortlaufend ein menschenleerer Bereich bildete, in dem er wie in einer Blase unterwegs war.
Noch bevor Adam am nächsten Morgen die Herberge in der Abbaye d'Acey verließ, wusste er, dass er draußen Giosuè antreffen würde. Und so war es auch. Der Langhaarige lehnte in seinem gewohnten Habit im Schatten an einer Hausmauer und drehte sich seine übliche Zigarette.
„Rauchen schadet Deiner Gesundheit“, begrüßte ihn Adam.
„Geräuchertes hält länger“, gab der ungerührt zurück.
„Wo kommst Du her und woher wusstest Du, dass Du mich hier und jetzt treffen würdest“, wollte Adam wissen.
„Ist mal wieder Inquisition?“
„Ach was, aber ich wundere mich, weil wir uns nun doch schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen haben.“
„Du und Deine Fragen! Im Hier und Jetzt bin ich da, das ist alles. Nenn es Zufall, vielleicht hat uns aber auch das Universum hier wieder zusammengeführt. Vielleicht wolltest Du mir etwas sagen und das hat mich hierhergeführt.“ Derweil hatte sich Giosuè seine Kippe angezündet und schmauchte drauf los. „Was ist, willst Du Wurzeln schlagen oder gehen wir los?“
Adam setzte sich darauf in Bewegung und sie gingen den Weg an den Häusern entlang und schließlich aus dem kleinen Flecken rund um die Abtei hinaus. War schon der Weg durch den Ort von seltsamer Ruhe und Friedlichkeit geprägt, nahm Adam nun die sonnenbeschienene leicht gewellte Landschaft mit ihren sanften Hügeln, ebenmäßigen Feldern und eingestreuten Hecken und Bäumen gefangen. Darüber ein Himmel wie gemalt. Die flach einfallenden Sonnenstrahlen des frischen Morgens machten daraus ein Gemälde von unglaublicher Tiefe. Ein Strom immerwährender Liebe und tiefsten Glücks rührte ihn an und zu Tränen. Verstohlen wischte sich Adam die Augen.
Giosuè neben ihm breitete in dem Moment die Arme aus und rief mit seltsam anmutender Stimme: „Vater, Gott, ich danke Dir für diesen Morgen. Ich danke Dir für das Licht dieser einmaligen Sonne. Ich danke Dir, dass Du mich diesen Tag erleben lässt. Und ich danke Dir für das heutige Wiedersehen mit Adam. Und ich bedanke mich für all das auch für Adam, dem es wohl gerade die Sprache verschlagen hat.“
Während Adam noch ganz davon gefangen war, wie Giosuès Stimme eben den ganzen Himmel zu füllen schien, stieß der ihn lachend mit dem Ellbogen an die Seite. „Ein herrlicher Tag heute. Zum Helden zeugen. Bist Du griesgrämig?“
„Nein“, erwiderte Adam und gestand seinen Tränenstau.
„Ja und“, gab Giosuè zurück, „dann lass sie halt fließen. Sie werden Dir den Blick und das Herz säubern. Mit klarer Sicht und reinem Herzen wirst auch Du diese unwahrscheinliche Klarheit, Heiterkeit und Leichtigkeit des Seins an diesem Morgen empfinden.“
Es sei ja nicht so, dass er das nicht empfinde. Im Gegenteil, es überwältige ihn derart, dass die Übermacht dieses Gefühls ihn wie eine Zitrone auspresse. Im Zugriff dieses Gefühls fühle er sich nur noch wie ein nasser Lappen, der gerade ausgewrungen wird. Daher seine Tränen. Es ginge ihm im Moment vielmehr wie damals am Tag seiner ersten Begegnung mit Gott, dem Herrn. Adam erzählt Giosuè daraufhin von dem Erlebnis seiner allerersten Begegnung mit Gott, dem Herrn, in der diesseitigen Welt. Auch damals habe ihn ein ähnlicher Morgen zu Tränen gerührt bis er schließlich in einem Idyll hoch oben am Berg nach einem weiteren Sturzbach von Tränen von Gott, dem Herrn, angesprochen worden sei.
„Endlich. Ich dachte schon, Du willst mir diese Geschichte nie erzählen. Ich habe Dir schon früher gesagt, wie sehr mich das interessiert. Also mach hin, erzähle.“
Und Adam erzählte.
Er sei wandern gewesen. Das Fellhorn rauf, über den Grat bis hin zum Söllereck und von dort über einen alten und inzwischen aufgegebenen Wanderweg, der nur mehr ein Stolperpfad gewesen sei, wieder runter ins Tal. So sei sein Plan gewesen. „Der Tag war herrlich. Auch die Wanderung. Sogar der Stolperpfad hatte sein Gutes, da der Rest der wandernden Menschheit vor dem Söllereck den breiten neuen Weg ins Tal nahm. Ich hatte so den steinigen, steilen und schmalen Pfad für mich. Der war zwar teilweise etwas zugewachsen, weggespült oder auch einfach verfallen, aber doch meistens als Trampelpfad noch erkennbar. Und er führte zu wirklich netten Stellen. Idyllisch eben. Dort setzte ich mich schließlich auf einen Stein und labte mich an meiner Wasserflasche. So mit mir und der Natur allein in meinem Idyll oben am Berg trieb es mir unvermittelt vor Glück oder warum auch immer die Tränen in die Augen. ‚Dicht am Wasser gebaut heute‘, ging es mir gedanklich durch den Kopf. Bereits desselben Morgens auf meiner Fahrt von Pfronten zum Fellhorn hatte ich nämlich schon bei Grän mit meinem Campingbusle anhalten müssen, da ich vor lauter Tränen die Straße nicht mehr gesehen hatte. Der Song „Melancholy Man“ von den Moody Blues hatte mir zugesetzt. Wie fast immer, wenn ich den Song höre, aber an dem Tag war es extra schlimm. Ich kam mir wieder mal vor, als sprächen die Moody Blues als Gurus geradewegs und nur zu mir. Es war aber nicht ein Gefühl des Leidens, innerer Zerrissenheit oder des Abgetrenntseins, sondern ganz im Gegenteil ein Gefühl des tiefsten Glücks, des Einsseins mit mir und der Welt und des Mitgefühls mit wem oder was auch immer, das ich empfand. Der Morgen war frisch, die Landschaft schön, von der morgendlichen Sonne verzaubert und es war herrlich hier zu sein. Im Empfinden dieses Glücks und mit „Melancholy Man“ im Ohr öffnete sich mein Herz soweit bis sich meine Tränen des Glücks und der schmerzlichen Empfindsamkeit Bahn brachen. Also hatte ich anhalten und den Sturzbach durchlassen müssen.
Durch den Aufstieg aufs Fellhorn und das anschließende Gewusel der Touristen auf dem Grat war ich dort gar nicht recht zu mir gekommen, sondern inmitten der Menschen fast unberührt durch die herrliche Natur gestapft, wie mir jetzt in meinem Idyll bewusst wurde. Ich durchlebte so einerseits das Glück meines Wanderwegs als Überfluss an Zufriedenheit und Glück und zugleich doch auch als Sehnen nach … Ja, nach was suchte ich denn? Hier im Idyll? Mit nur Vogelgezwitscher, Grillengezirp, Blätterrauschen und sonstiger Stille um mich herum. Was focht mich an? Es war nämlich nicht der Wanderpfad, den ich suchte. Der war ja hinreichend erkennbar. Dumme Frage, wurde mir klar. Aber Glück oder Sehnen, die Tränen flossen wie am Morgen. Ich versuchte mich also auf meinem Stein anfangs noch zu ermahnen: Wer wird denn schon, was ist denn, du wirst doch nicht. Aber es half alles nichts. Schließlich gab ich nach. Der Damm brach und ich begann zu flennen wie ein Schlosshund. So fand ich in meinem Idyll zurück zu meinem wirklichen Weg. Es dauerte zwar ungefähr einen Eimer an vergossenen Tränen bis ich mir eingestand, eingestehen konnte, was ich wirklich suchte: Ich suchte den Weg zu Gott. Seit Tagen, Wochen, Jahren schon, wenn ich ehrlich bin. Das war mein wirkliches Sehnen. Und das stand mir jetzt klar vor meinen tränenumflorten Augen. Ich heulte also weiter und litt an meiner unerfüllten Suche wie ein Hund, bis ich schließlich gedanklich ausrief: „Oh Gott, wo bist Du denn?“
„Ich bin doch da“, vernahm ich darauf.
Ich war überrascht. Es waren nämlich nicht Worte, wie sie sich mir im Geist bildeten, wenn ich mich bisher in Gedanken mit sonst wem unterhielt. Es waren auch nicht Worte, die ich wie gesprochen gedanklich vernahm. Es war irgendwie völlig anders. Es waren Worte, die in mir einfach laut und vernehmlich gegenwärtig wurden. Die in mir klangen. Die sich in mir formten, ohne eigentlich gesprochen oder tatsächlich hörbar zu sein. Die aber umso klarer und nicht zu überhören oder misszuverstehen waren. Eine Antwort, die keine Zweifel erlaubte und mich zugleich mit einer Überfülle an Liebe und Glück überflutete. Ich hatte diese Antwort nicht erwartet und musste ob dieser simplen Ansage mit tränennassem Gesicht lauthals auflachen. Nicht, weil mir das lächerlich vorgekommen wäre, ich lachte, weil die Antwort so einfach, so klar, so überzeugend war, dass mir im Augenblick die Antwort auf alle meine Fragen offenbar wurde.
„Ich bin doch da!“
Mein Lachen war ein Lachen des Erkennens, ein Lachen der lauteren Erkenntnis. Die überwältigende Liebe, die in den Worten gelegen hatte, umfing mich und begann mich zu tragen. Eine Welle unwahrscheinlichen Glücks breitete sich in mir aus und wusch meine Tränen hinweg. Ich fühlte mich eins mit mir und der Welt, dem Weg, dem Stein, auf dem ich saß
– und mit Gott.
Und ich fühlte mich gut. Mehr als gut. Das Gefühl schmerzlicher Sehnsucht war weg. Mein Zagen und meine Ungewissheit von vorhin waren wie weggewischt. Stattdessen nahm ein neues, unbekanntes Gefühl von mir Besitz. Es überzog mich, füllte mich aus bis in den letzten Winkel: Glückseligkeit, allumfassende Liebe, fundamentale Sicherheit. Unwiderstehliche und unzweifelhafte Gewissheit. Gewissheit der wirklichen Begegnung mit Gott. Ich war mir so unvermittelt sicher, am Ende meiner Suche angekommen zu sein.
„Ich bin doch da!“
Erfüllt von Glück und Liebe, schwebte ich in der Leichtigkeit des Seins. Bienengesumm, Hummelgebrumm, Vogelgezwitscher, der Duft meiner sonnenbeschienenen Blumenwiese, der mir schwallweise warm über das Gesicht strich, das Gefühl allumfassender Liebe und mein Empfinden vollkommenen Glücks im Bergidyll raubten mir jetzt fast den Atem. Tief durchatmen half.
Schließlich machte ich mich wieder auf den Weg ins Tal. Frisch wie eine Blume mit neuer Kraft und der Gewissheit über die zuteil gewordene Offenbarung. Erfüllt von andauerndem Glücksgefühl und zugleich der Mattigkeit einer langen und schönen Wanderung erreichte ich schließlich wieder mein geliebtes Campingbusle auf dem Parkplatz am Fuße des Fellhorns und fuhr mit dem Minstrel Song und „Everywhere, love is all around“ von den Moody Blues im Ohr in die Welt hinein.
So war das“, schloss Adam.
„Ich beglückwünsche Dich. Ich habe es ja schon gesagt, Du erstaunst mich immer mehr. Schlappt mit unschuldiger Miene daher und unterhält sich nebenbei mit Gott, wie wenn das nichts wäre. Ich bin wirklich froh, Dich getroffen zu haben und dankbar, dass Du mir gestattest, Deinen Weg mit Dir zu teilen. Tatsächlich habe ich auf meinem Weg schon einige getroffen, die mir ebenfalls von Stimmen berichtet haben, die sie zu dem Einen oder Anderen aufgefordert hätten. Die Befolgung der Stimmen hat sie dann aber fast regelmäßig arg in die Bredouille gebracht. Dein Fall liegt jedoch da irgendwie anders. Aber hast Du ihn, Gott, den Herrn, auch wirklich gesehen?“
„Ja, aber nicht bei der Gelegenheit“, erwiderte Adam. Das geschehe nur in seiner Anderswelt, in seiner Traumzeit. Dort lebe er als biblischer Adam im Garten Eden und unterhalte sich schon seit seiner Erschaffung im Paradies mit Gott, dem Herrn. Das sei jedoch eine ganz andere Geschichte.
„Eine andere Geschichte! Ich glaub, ich spinne! Du sprichst mit ihm, Du siehst ihn und Du meinst, das sei bloß eine andere Geschichte. Du bist und bleibst ein ausgemachter Witzbold. Ich kenne Heerscharen von Leuten, die inständig hoffen ihren angebeteten Gott wenigstens irgendwie vernehmen zu können. In der vermeintlichen Zwiesprache ihrer Gebete hören sie aber letztlich nur sich selbst. Du aber sagst, Du unterhältst Dich mit ihm sogar von Angesicht zu Angesicht. Sag, wie machst Du das?“
Da sei gar nichts Besonderes daran. Manchmal im Garten Eden unterhalte er sich ganz normal mit Gott, dem Herrn. Er spreche da mit ihm, so wie mit einem Nachbarn. Sozusagen über den Gartenzaun hinweg. So wie er sich jetzt mit ihm unterhalte. Er habe ihn da auch schon in seinem Himmel besucht. Mit Anbetung, wie er das früher einmal gelernt habe, habe das aber nichts zu tun. Ihn anzubeten falle ihm auch nicht im Schlaf ein. Schließlich habe Gott, der Herr, ihn nach seinem Ebenbild geschaffen, nicht als unterworfener Knecht. Er unterhalte sich mit ihm vielmehr wie mit einem Freund, eben einem mit ihm befreundeten Gott. Das sei eigentlich alles. Aber leider schaffe er diesen Sprung ins Paradies, in seinen Garten Eden nur selten. Deswegen rede er tatsächlich viel zu wenig mit ihm. Das vermisse er am meisten. Aber mal sei er von den Dingen des täglichen Lebens zu sehr in Anspruch genommen, um mental in seine Anderswelt zu gelangen, mal sei er dazu gefühlsmäßig sonst außer Stande. Nicht in der rechten Stimmung. Zu sehr Mensch und Knecht in der Welt, als dass er sich mit Gott, dem Herrn, unterhalten könnte. Zu weit vom göttlichen Wesen weg. Es bedürfe dazu nämlich eines gewissen inneren Schwebezustands, der es ihm erlaube mit Gott, dem Herrn, zu sprechen. Darum sei er ja auf Pilgerschaft gegangen, um diesen Zustand auf seinem Weg wieder zu finden und vielleicht auch stetiger aufrecht zu erhalten, wenigstens aber öfter zu erleben. Bislang sei der Weg aber vor allem lang und der Rucksack schwer gewesen.
„Gewesen“, insistierte Giosuè fragend, ob er denn wieder mit Gott gesprochen habe.
„Ja, gestern“, antwortet Adam lapidar.
„Ich krieg die Krise. ‚Ja, gestern‘, sagt der so einfach. Du bist wirklich ein Spaßvogel. Du hast gestern mit Gott gesprochen? Und jetzt sprichst Du mit mir. Ich glaub, ich mach mir bald ins Hemd. Also wirklich.“
„Jetzt halt aber mal die Luft an. Ich bin nicht ‚Der, der mit Gott spricht‘. Ich bin bloß Adam, ein Pilger auf dem Jakobsweg nach Santiago. Du bist mir ein viel größeres Rätsel.“
„Ich? Warum sollte ich Dir ein Rätsel sein?“
„Weil Du mir auf meine Fragen stets ausweichst, mir nicht wirklich sagst, wer Du bist, woher Du kommst und wohin Du gehst. Und weil Du mich an einen Radfahrer erinnerst, den ich einmal auf dem Ponale-Weg getroffen habe. Der war mindestens genauso rätselhaft.“
„Ich? Ein Radfahrer? Jetzt sei so gut! Sehe ich so aus? Außerdem habe ich Dir das doch schon alles erzählt. Ich wandere und wandele in und durch diese Welt. Ich treffe Leute wie Dich und spreche mit ihnen. Oder sie sprechen mit mir. So wie wir beide. Sie hören mich und ich höre sie. Wir unterhalten uns. Wenn wir uns denn treffen. Wenn es der Zufall denn so will. Oder das Universum uns aufeinandertreffen lässt. Oder uns zusammenführt. Uns wie von einer Art Schwerkraft gegenseitig angezogen haben.“
„Du redest grad wie er.“
„Wie wer?“
„Na, wie Gott, der Herr. Der hat mir auch einmal was von der Macht des Universums erzählt. Bloß nahm das Gespräch dann eine ganz andere Wendung. Aber was weißt Du davon? Von der Macht und der Liebe des Universums?“
„Adam“, begann Giosuè, „ich bin nun selbst doch auch schon seit einiger Zeit unterwegs. Da hört und sieht man so allerhand. Auch ich suche die Begegnung mit Gott. Nicht zuletzt deswegen bin ich ebenso wie Du auf Wallfahrt. Und schon waltet das Universum und führt uns zusammen. Nun, einige Zeit hat das vielleicht schon gedauert, aber, das musst Du zugeben, bis zu unserem Zusammentreffen warst Du wohl eher auf Wanderschaft als auf Wallfahrt. Seelisch, spirituell gesehen. Aber als Du die Wende geschafft hattest, zack, wie von Magneten angezogen, trafen wir uns. Jetzt geh nicht schon wieder in Abwehrhaltung. Natürlich hörst Du von mir Dinge, die Du glaubtest nur alleine zu kennen. Schon das dürfte aber ein elementarer Trugschluss von einsamer Größe sein. Du bist nämlich keineswegs allein. Ich kenne da einige wie Dich und glaube mir, ich kenne viele. Und um sie kennenzulernen bedarf es nun wirklich nicht viel. Im Licht der Liebe des Universums sind wir eh alle durchscheinend wie Pergament. Ich bin ein großer Anhänger der Kraft und der Liebe des Universums, musst Du wissen. Sie erlaubt mir Leute wie Dich zu treffen. Mich mit ihnen zu unterhalten, uns auszutauschen, Dinge zu vernehmen, die zuvor ungehört und oft unerhört waren. Sieh in Dich und Du wirst dann auch mich erkennen als den, der ich bin. Vertraue auf die Kraft und die Liebe des Universums. Und Dein Gefühl. So fremd bin ich Dir nämlich gar nicht. Ich verrate Dir da gar nichts Neues, schon Dein Gott hat Dich das ja sehen lassen, wie wir im Licht der Liebe des Universums erkennen, dass wir uns tief in unserem Innersten alle gleichen. Weil wir im Grunde mit unserer Seele alle ein Teil des göttlichen Wesens sind. Unsere Wallfahrt dient doch wohl auch dem Zweck, uns insoweit selbst zu sehen. Und den anderen in uns zu erkennen. Zu sehen, dass wir alle und alles um uns herum eins sind. Also, ich freue mich schon jetzt auf unsere Unterhaltungen. Und bis Santiago ist es ja noch einiges hin.“
Bei diesen Worten warf Giosuè erst seine Arme weit auseinander, als wollte er die Welt umarmen, und klatschte dann laut in die Hände. Adam empfand dieses Klatschen aber wie eine gigantische Explosion, eine Explosion, die zwar nicht unbedingt laut, dafür aber durch und durch spürbar war. Er sah ihre Druckwelle durch die Landschaft eilen und dahinter die Welt von Staub und Zwielicht befreit in hellem und klarem Licht wie neu erschaffen erstrahlen.
Der Weg führte Adam über Mont Roland, wo jedoch die Pilgerherberge im Kloster geschlossen war, nach Sampans. In der dortigen Gîte bestand die Hausfrau darauf, die Wäsche von Adam und den beiden Südtirolern einmal richtig in der Maschine zu waschen. Adam erschrak darob, hatte er doch fast täglich sein Gewand samt Unterwäsche und Socken gewaschen, und fragte, ob er denn so schlecht rieche. Papperlapapp, erwiderte die tapfere Hausfrau, das nun weniger, aber die Wäsche sei bei ihr im Preis inbegriffen, da sie wisse, dass nach all der Handwäsche einmal eine Wäsche mit der Maschine jedenfalls nicht schaden könne und das zudem den Feierabend ihrer Pilgergäste erleichtere. Für sie sei die Wäsche doch bloß ein Klacks. Adam versuchte noch, wenigstens seine Merino-T-Shirts ihrem Zugriff zu entwinden, aber nichts da. Am Morgen war alles frisch gewaschen, duftend und ordentlich zusammen gelegt vor ihren Zimmern abgelegt. Und auch Merino hatte nicht gelitten.
„Nachdem wir heute genügend Zeit für ein Gespräch haben: Was ist denn das für eine Geschichte mit dem Radfahrer?“ Damit kam Giosuè am nächsten Morgen auf eine ihm anscheinend wie eine Gräte im Hals steckende Frage zurück, während sie am Ufer der Saône entlang nach Saint-Jean-de-Losne unterwegs waren. So gedrängt erzählte Adam von seiner Begegnung bei einer Wanderung auf dem Ponale-Weg.
An einem schönen Herbsttag sei er auf der Via Ponale von Molina di Ledro her nach Riva del Garda gewandert. Schön gemütlich bergab, den frühen Morgen nutzend. Die Luft sei frisch und prickelnd wie Sekt gewesen, so wie sie es nach kalter Nacht auch sein solle. Die Sonne habe von einem blankgeputzten Himmel geschienen. Er habe sich deswegen schon über seinen Entschluss, auf der Via Ponale statt auf den Cima d´Oro zu gehen, ärgern wollen, dann aber gesehen, wie im Westen trotz der frühen Morgenstunde bereits die ersten Wolken über die Berge hochgekommen seien. „Bis Riva wird’s reichen, habe ich gedacht und bin tüchtig ausgeschritten. Es dauerte nicht lange, da kam mir schon der erste Mountainbiker entgegen. Ich betrachte diese zwar nicht als Landplage, mir wurde aber nach weiteren Radlern schnell klar, dass andere wohl auch auf die Idee gekommen waren, den Tag zu nutzen, zumal für den nächsten Tag erneut Regen angesagt war. Die Gegend ist ohnehin ein Mountainbiker-Eldorado, aber an dem Tag war anscheinend alles unterwegs, was sich noch einigermaßen auf dem Rad halten konnte. Zwischen zwanzig und achtzig schienen alle mit dem Rad den Berg hoch zu wollen. Allmählich fiel mir auf, dass die Radler mit jedem neuen Pulk, der mir entgegenkam, immer älter wurden. Ich selbst fühlte mich dagegen wie im Jungbrunnen, obwohl ich, wie ich zugeben muss, eigentlich auch nicht mehr so ganz taufrisch bin. Wenn das so weiter ginge, werde der nächste Mountainbiker wohl schon als vom Tod gezeichneter Greis daherkommen, war ich am Sinnieren. Was sag ich, dachte ich, als ich den nächsten Radler bergauf keuchen sah. In seinem schwarzen Dress sah er noch hagerer aus wie er wohl eh schon war. Sein Atem pfiff derart, dass ich fast meinte, ihn vor seinem Auftauchen bereits gehört zu haben. Und tatsächlich hing er eher auf seinem Fahrrad als er darauf saß. Im Näherkommen des Radlers fiel mir auf, dass sein Gesicht unter dem im Vergleich zur doch recht kleinen Statur des hageren Mannes beinahe übergroßen Helm gar nicht zu erkennen war.
Als wir auf gleicher Höhe waren, wollte ich eben zu einem Gruß ansetzen, da stieg der Radler auch schon vor mir vom Rad. Oder besser, er fiel fast davon runter. Ich machte, um dem Mann zur Hilfe zu kommen, einen schnellen Schritt auf diesen zu, aber da hatte der mit schon fast wieder jugendlichem Schwung sein Rad zu Seite gestellt und kam auf mich zu. Sein voriges Ächzen und Keuchen war wie weggeblasen. Der Mann stand jetzt im Schatten, weshalb ich sein Gesicht wieder nicht sehen konnte. Zugleich meinte ich aber eine plötzlich Kühle zu spüren. Auch still war es geworden. Von dem vorhin noch laut tosenden Bach war ebenfalls nichts mehr zu hören. Nicht einmal andere Radler kamen noch vorbei.
„Ja, und? Ich bin´s“, sagte der Mann mit seltsam papierener Stimme. „Setzen wir uns und unterhalten uns ein wenig“, sprach er weiter und zeigte auf die Mauer am Wegrand.
Ich fror und alle Haare hatten sich mir aufgestellt. Mir schwindelte, mir wurde fast schwarz vor Augen und ich fühlte wie alle Kraft mir entfloh. „Warum heute und grad jetzt“, erwiderte ich, „eben noch habe ich mich wie im Jungbrunnen gefühlt und jetzt Du.“
„Ach, hab Dich nicht“, gab der Mann zurück, „besser im vollen Saft fallen als langsam aber sicher verdorren. Lieber zehn Jahre als Löwe, denn hundert als Schaf, so sagt man doch.“ Als der Mann sah, wie ich bei seinen Worten bleich wurde, hüstelte er: „Jungbrunnen! Dass ich nicht lache. Blass und bleich wie Du aussiehst könnte man meinen, ich sei grad noch rechtzeitig gekommen. Hochmut kommt eben doch vor dem Fall. Aber ich bitte Dich, ich komme nicht Deinetwegen. Du kannst Dich also wieder einkriegen. Tief durchatmen hilft. Nimm einen Schluck Wasser. Und wenn Du mir dann auch was davon abgeben würdest, wäre ich Dir ausgesprochen dankbar. Die Radlerei den Berg hinauf ist eine wahre Schinderei, sag ich Dir.“
Ich tat wie geheißen, gab dann auch ihm meine Wasserflasche, und meine Lebensgeister meldeten sich langsam wieder zurück, während er trank. Auf der Mauer sitzend, fragte ich, wieso er denn als Radler verkleidet daher käme.
„Wie denn sonst“, gab der Mann zurück. „Für ein Auto ist der Weg zu schmal, zu steil und zu schlecht. Zu Fuß komme ich zu spät. Oder soll ich mich etwa in meinem Alter wegen Deinen antiquierten Vorstellungen wieder wie früher mit schwarzem Kapuzenumhang auf einen Rappen setzen und im wilden Ritt den Berg rauf galoppieren? Der arme Gaul auf diesem elend steinigen und steilen Weg. Du hast Ideen. Tsstsstss. Außerdem, ich sagte es schon, zu Dir will ich gar nicht. Meine Kundschaft ist mit dem Rad eben vorbei. Man muss mit der Zeit gehen. Wenn der in seinem Alter noch mit dem Rad unterwegs ist, werde ich das wohl auch noch hinbekommen. Freut mich übrigens, dass es Dir wieder besser geht, wie man sieht“.
„Warum besser“, gab ich unsicher zurück.
„Naja, vorhin warst Du ja reichlich blass. Und jetzt hast Du doch wieder etwas Farbe um die Nase. Dann darfst Du Dich auch so fühlen. Nimmst Du immer noch diese Tabletten wegen Deiner Prostatageschichte?“
Woher er von meiner Prostatageschichte wisse, wollte ich darauf wissen.
„Na sag mal, Du stellst Fragen. Das wäre das Erste, was ich nicht von Dir wüsste. Wir kennen uns schon lange, auch wenn Du bisher nicht darauf geachtet hast. Im Grunde war ich schon vor Deiner Hebamme bei Dir. Aber lassen wir das. Ich freue mich, dass wir uns heute und hier endlich begegnen. Ist doch schön hier?“
Nachdem ich das bestätigt hatte, insistierte der Radler: „Ich möchte fast wetten, dass diese leidige Geschichte inzwischen ebenfalls besser geworden ist. Frag gelegentlich mal Deinen Urologen und sag mir dann Bescheid. Würde mich schon auch interessieren. Ich glaube das zwar nicht, aber, wie gesagt, wundern würde mich das gar nicht. Bloß, wenn ich Dir das raten darf, Du tätest wohl gut daran, endlich mal eine genauere Untersuchung zuzulassen. Dich einfach auf den Fuß zu stellen, Du seist vollständig gekommen und wolltest auch vollständig wieder gehen als könne Dir nichts passieren, scheint mir reichlich naiv und gefährlich.“
Wie ich ihm denn Bescheid sagen solle, wollte ich wissen, ich könne schließlich nicht ständig hier auf der Mauer sitzen.
„Jetzt sag bloß“, erwiderte der Mann und lachte dabei, was sich anhörte wie raschelndes Pergamentpapier. „Wo Du bist, bin ich auch nicht fern. Das sollte Dir jetzt doch eigentlich klar sein. Zudem komme ich Dir täglich näher, während, wenn ich das mal so sagen darf, sich Deine Hebamme immer weiter entfernt. Wie Freunde sich halt mit der Zeit näherkommen. Wir sind doch Freunde? Und als Dein Freund würde ich mich eben gerne ab und zu mit Dir unterhalten. Wann immer Du willst. Worüber Du willst. Jeder braucht auch mal einen freundschaftlichen Rat. Sprich einfach mit mir. Wenn Du dabei den rechten Ton triffst, werde ich Dir antworten. Außerdem, Dein Glück möchte ich auch mal haben. Ist doch wahr. So wie Dich hab ich noch keinen sein Konto überziehen sehen. Erst hagelst Du vom 3. Stock auf den Plattenboden, dann lässt Du Dir den Kopf mit einem Spaten malträtieren. Bei manch anderem hätte bis hierher jedes einzelne Vorkommnis allein schon genügt, dass ich zum Einsatz komme. Nicht so bei Dir. Später gehst Du bei ablaufendem Wasser an der Nordsee im Priel schwimmen und kommst zwei oder drei Kilometer ablandig tatsächlich noch ans Ufer. Noch nie was von Ebbe gehört, Du Landei? Das andere Mal schwimmst Du an der Costa Brava raus aufs Meer in die nächste Bucht, glaubst, Du seist ein ganz toller Hecht, wie schnell Du das schaffst, und vergisst nebenher die Strömung, die Dich hingetragen hat, gegen die Du aber wieder zurück musst. Selten hat man jemanden so viel Wasser schlucken sehen. Und was ist? Nichts! Du schleppst Dich nach Stunden zurück an den Strand und säufst Dir nach all dem Salzwasser abends dann mit spanischem Bier fast die Gurgel ab. Aber damit nicht genug. Deine Autofahrerei. Wenn ich bloß daran denke! Jedenfalls anfangs. Als ob ein alter Käfer, der nur noch auf dreieinhalb Töpfen läuft, ein Rennwagen wäre. Und später, der eine Start mit dem Motorflugzeug! Mein Gott! Wie kann man so blöd sein? Du als Fluglehrer! Schon mit Dir allein hätte ich wahrlich alle Hände voll zu tun. Und dann bist Du mir auch noch mit Deiner Tochter gekommen.“
„Was ist mit meiner Tochter? Du, ich warne Dich. Lass die Finger von ihr.“
„Ach, Du warnst mich? Ist ja mal ganz was Neues“, kicherte der Mann, was sich aber eher anhörte wie ein trockenes Hüsteln. „Aber lass gut sein. Wir haben das damals schon ausgemacht“.
„Was damals ausgemacht?“ Ich war irritiert.
„Na, schon vergessen wie sie im Alter von vielleicht einem Jahr bei eurer Spielerei viel gelacht, dann aber plötzlich zu lachen und atmen aufgehört hat und nach einer durchlittenen Ewigkeiten leblos, bleich und blau angelaufen vor Dir auf dem Boden lag, nachdem Deine ersten Wiederbelebungsversuche erfolglos geblieben waren. Dein Weib hattest Du schon geheißen, den Notarzt zu rufen und sie dann nach draußen geschickt, ihm den Weg zu weisen. Ich habe Dein Gejammer noch genau im Ohr: Oh Gott, lass sie leben, nimm mein Leben. Oder Teufel, nimm meine Seele, aber lass sie leben. Und? Habe ich mich bisher etwa nicht daran gehalten?“
Jetzt wurde ich ganz blass, kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, ich fühlte mich wie im Schraubstock und das Atmen fiel mir schwer. „Du? Du bist …?“
„Na und? Ich sagte doch, ich bin´s. Wer denn sonst? Was dachtest Du denn? Tsstsstss“. Derweil hatte sich die vorher noch dünne, papierne Stimme des Männleins neben mir auf der Mauer in meinen Ohren in ein volles, dumpfes Dröhnen und Grollen verwandelt, das sich anhörte und aussah wie ein abgrundtiefes Loch, in dem sich feuriges Licht und totale Finsternis spiralig drehten.
„Nanana, was soll denn das“, bemerkt der Mann, jetzt wieder mit seiner Papierstimme. „Hab Dich nicht so. Du bist noch nicht dran. Der Chef wird schon wissen, was er mit Dir vorhat, wenn er Dich Dein Konto so dermaßen überziehen lässt. Aber Ihr seid ja wohl auch so miteinander“, sagte der Mann unter seinem Helm und rieb seine beiden behandschuhten Zeigefinger aneinander. „Und jetzt schau nicht so bedröppelt. Ich bin bloß sein Knecht. Ich hol mir nichts, was mir nicht gehört. Und wann Du dran bist, ist wohl noch längst nicht ausgemacht, scheint mir. Bis dahin tue ich bloß meine Pflicht und trenne, was nicht mehr zusammen sein soll oder will. Wen das und wann trifft, ist nicht meine Entscheidung. Aber solange Er wie bisher anscheinend einen Narren an Dir gefressen hat, bist Du wohl dieser Sorge ledig. Derweil magst Du von mir aus gerne in Deinem Jungbrunnen plantschen. Mich freut es, wenn es Dir gut geht. Dein Glück ist meins. Deiner Phantasie tut es jedenfalls gut. Hört am helllichten Tag Dröhnen und Grollen, dabei ist es hier still wie in der Kirche. Und damit auch das klar ist: Ich bin nicht der, wo Du grad denkst. Den gibt es nicht. Das hat Er Dir aber auch schon gesagt, wenn ich recht im Bilde bin. Ich bin bloß der Übergang, die Brücke zwischen dem Hier und Jetzt und dem Danach. Oder besser der Helfer am Übergang. Vielleicht so was wie ein Fährmann, wenn man sich statt der Brücke ein Boot am Flussufer vorstellt. Nicht mehr und nicht weniger. Und damit bin ich auch voll ausgelastet. Da bräuchte es Dich mit Deinen Extras erst gar nicht. Ich komm da ganz auf fremdes Terrain, wenn ich Dir auch noch die Kindsmagd machen muss. Das ist schon fast zunft- und gewerkschaftswidrig. Naja, was soll´s? Ich tu, was man mich heißt. So als Helfer ist zur Abwechslung auch mal ganz nett und was anderes gegenüber meinem sonstigen Abhol- oder Fährmannseinerlei. Apropos Kindsmagd. Ich helfe ja gern, aber übertreibe es nicht, wenn ich das mal sagen darf. Pass halt selbst besser auf Dich auf. Ich könnte als Kindsmagd ja auch mal zu spät kommen. Oder grad was anderes zu tun haben. Dann ist es aus mit helfen und aufpassen und ich stehe nur noch als Helfer am Übergang neben Dir. Das solltest Du unbedingt vermeiden. Mach´s mir halt nicht so schwer. Nur so als guter Rat unter Freunden. Wir sind doch Freunde? Aber genug geplaudert, ich glaube, ich werde da oben gebraucht. Ich hab´s mir ja gleich gedacht. In dem Alter mit dem Mountainbike so einen Berg hoch. Tsstsstss. Das ist doch aber auch Gott versucht.“
Damit stand der Mann von der Mauer auf, schwang sich auf sein Rad und strampelte los. Er dreht noch mal seinen behelmten Kopf um, nickte mir zu und sagte: „Also, danke für das Plauderstündchen und das Wasser. See you later.“
„Alligator“, rief ich ihm nach, aber das hörte der wohl schon nicht mehr, so blitzartig war er weg. Das Gesicht des Mannes hatte ich auch diesmal nicht erkennen können. Dafür hörte ich jetzt wieder das Rauschen des Baches und aus dem Tal kämpften sich neue Radlerhorden keuchend den Schotterweg herauf.
„So ist das gewesen mit dem Radfahrer“, endete Adam.
„Na hör mal“, antwortet der Langhaarige, „und Du dachtest die ganze Zeit ich sei der. Ich wusste nicht, dass Du nicht schwarz und weiß unterscheiden kannst. Mein Gewand ist, wie Du vielleicht bemerkst, aus naturbelassener und ungefärbter Baumwolle aus biologischem Anbau.“
„Nicht die Kutte macht den Mönch, selbst wenn er damit als Öko-Apostel daherkommt.“
„Öko-Apostel“, unterbrach ihn Giosuè lachend, „das ist gut. Sehr gut sogar. Apostel, ich könnt mir ins Hemd machen. Aber sprich bitte weiter.“
„Also, nicht Dein Habit erinnerte mich an den Radfahrer, Dein rätselhaftes Wesen ist es. So wie Du wusste auch der Radfahrer Dinge über mich, obwohl wir uns vorher noch nie begegnet waren. Aber inzwischen denke ich, Du hast wohl doch nichts mit ihm gemein. Das meinte übrigens gestern auch Gott, der Herr, als ich ihm von Dir und meiner Befürchtung erzählt habe.“
„Du hast mit Gott über mich gesprochen?“
„Ja, schon.“
„Ich werd´ verrückt! Gestern? Und was sagte er?“
Eben, dass Du wohl doch nicht der Radler seist, sonst sei er, was ihn angehe, jedoch recht einsilbig gewesen, erwiderte Adam und blickte zu Giosuè. Adam meinte in dessen Gesicht ein Lächeln aufziehen zu sehen, aber der wandte sich grad in dem Moment ab, zog sein Schnupftuch heraus und schnäuzte sich herzhaft.
„Und Du hast den Radler nie mehr wieder getroffen“, wollte Giosuè daraufhin wissen.
„Nö“, gab Adam einsilbig zurück. Er habe sich damals zwar als Freund anheischig gemacht, sei dann aber nie wieder aufgetaucht.
So direkt sei das vielleicht auch nicht gemeint gewesen, meinte Giosuè daraufhin. Für gewöhnlich melde sich Charon seines Wissens bei jedem auch nur einmal und zwar am Ende seines Erdenwallens. Wenn er sich Adam also schon zu Lebzeiten gezeigt und sogar als Freund angeboten habe, könne das wohl nur heißen, dass er ihm da ein ganz eigenes Verhältnis einräume. Das erkläre, dass er für Adam anscheinend sogar in die Rolle eines Aufpassers oder der Kindsmagd geschlüpft sei. Dem alten Griesgram habe er soviel Selbstlosigkeit gar nicht zugetraut. Das verwundere ihn zwar im Prinzip, bei ihm, Adam, wundere ihn allmählich aber gar nichts mehr.
Was er damit sagen wolle und was er denn davon wisse, wollte Adam nun wissen. „Kennst Du ihn etwa auch?“
„Na hör mal“, gab sich Giosuè erstaunt, „wir reden doch wohl vom Tod und wer kennt den nicht. Jedenfalls vom Hörensagen oder Ausdenken, denn wer ihn wirklich kennenlernt, erzählt uns anderen für gewöhnlich nichts mehr davon. Du bist daher der erste Mensch, den ich treffe, der ihn offenbar getroffen hat und auch noch davon erzählen kann. Adam, Adam, mir scheint Du bist hier der Unheimliche, der Rätselhafte, nicht ich.“
So vergingen die Tage und schon bald kamen Adam und ein südtiroler Ehepaar, Taizé näher, wo diese ihre Wallfahrt im dortigen christlichen Zentrum mit einer Einkehrwoche abschließen wollten. In Saint-Désert übernachteten sie nochmals gemeinsam in einem von Nonnen aus Mosambik geführten katholischen Couvent. Sie kamen im Gästehaus unter, das nagelneu renoviert war. Der Schlafsaal hatte gerade einmal zwölf Betten, was aber kein Problem war, weil sie darin zu dritt allein waren.
Am nächsten Morgen war es bedeckt, nicht unbedingt kühl, aber es regnete zumindest nicht, also bestes Wanderwetter. Sie gingen nicht den eigentlichen Jakobsweg, sondern den kürzeren Voie-verte, ein schöner und geteerter Weg auf der ehemaligen Trasse einer aufgelassenen Schmalspureisenbahn, von der vereinzelt noch Bahnhöfe, Bahnsteige und Bahnwärterhäuschen geblieben waren. So kamen sie leicht und zügig voran, da Eisenbahnen üblicherweise keine größeren Steigungen und Gefälle mögen. Auch die letzten verirrten Regentropfen verzogen sich schließlich. Das Wegstück führte sie schön im Schatten unter Bäumen entlang, was erfreulich war, da es inzwischen aufgeklart hatte und die Sonne im Freien mal wieder eine mächtige Hitze verbreitete. Bei Cormatin kam schließlich der Abschied. Adam hatte sich dort eine Unterkunft bestellt, während E. und U. noch fünf Kilometer weiter nach Taizé gehen mussten. So wie sich getroffen hatten, so unkompliziert trennten sich nun ihre Wege wieder. Küsschen hier, Küsschen da, einige Umarmungen, U. steckte Adam noch ein kleines Geschenk zu, das sie in ein abgerissenes Stück Papier vom Brot, das sie unterwegs zu Mittag gegessen hatten, gewickelt hatte. Er dürfe es aber erst am Abend auspacken, hatte sie noch gesagt, dann waren die beiden weitergezogen und Adam war wie zu Beginn seiner Pilgerschaft wieder mit sich allein. Gleich am Ortseingang fand er seine Herberge, ein veritables Hotel, wie er verwundert feststellte. Beim Einchecken wurde ihm erläutert, dass Pilger mit Pilgerpass einen günstigeren, sprich pilgerüblichen Herbergspreis erhielten. Beim Abendessen in einer nahe gelegenen Brasserie wickelte er das Präsent aus: ein wunderschöner Anstecker von blauer Emaille auf Messing mit goldfarbener stilisierter Jakobsmuschel darauf, wie sie ihn schon den ganzen Weg begleitet und geleitet hatte. Adam war bewegt und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre im mitten im Restaurant in Tränen ausgebrochen. Behalte eine steife Oberlippe, kam ihm der Ausspruch von Teefax aus „Asterix bei den Briten“ in den Sinn. Selten war ihm ein Comicspruch so hilfreich!
Er holte das dann später im Bett nach. Nicht, dass er sich auf einmal allein gefühlt hätte, das vielleicht auch, es war jedoch eher das Gefühl des Glücks derart liebe Leute getroffen zu haben. Die geben ohne zu nehmen oder zu fordern. Aber es war auch das Gefühl, wieder einmal nicht zur rechten Zeit das Richtige getan zu haben. In der Rückschau wurde ihm klar, dass ihm der kommende Abschied eigentlich erst kurz vor Cormatin richtig bewusst geworden war. Davor hatte er wie immer nur irgendwie in den Tag hineingelebt, ohne gestern und morgen. Im Hier und Jetzt eben. Hatte sein Glück der Begleitung durch die Südtiroler halt hingenommen wie Sonnenschein im Frühling, ohne sich dessen besonders bewusst zu werden, wie er nun mit sich haderte. Und was hatte er ihnen gegeben? Er wusste es nicht. Jedenfalls war ihm zuvor der Gedanke an ein Abschiedsgeschenk noch nicht einmal in den Sinn gekommen. Deppdeppdeppidiotimquadrat, schalt er sich. Immer dasselbe. Nach der langen Tagestour schlief Adam in seinem komfortablen und dabei für ihn als Pilger mit Credencial sogar günstigen Hotelzimmer in Cormatin mit diesen Gedanken trotzdem schon bald ein.
Tags darauf wollte Adam über Cluny nach Sainte-Cécile gehen. Nach einem frühen Frühstück trat er in den Hof des Hotels hinaus. Und wer lehnte im Schatten am Torbogen?
Giosuè. In seiner üblichen Montur. Adam begrüßte ihn und wie selbstverständlich traten sie zusammen durch das Tor hinaus und gingen zurück zum Jakobsweg, der knapp einen Kilometer neben Cormatin verlief. Dort ging es in Fortsetzung des Voie-verte eben und meist schnurgeradeaus nach Cluny. Dabei kamen sie auf ihrem Weg schon bald unterhalb an Taizé vorbei, von dem man oben an der Hangkante etliche Gebäude sehen konnte. In Gedanken dankte er den beiden Südtirolern für die gemeinsame Zeit und hoffte inständig, dass sie seine gedankliche Botschaft in ihrer geistigen Einkehr empfangen möchten. Er erzählte Giosuè von den beiden, die seit gestern Abend dort oben in Taizé weilten und mit einer Andachtswoche ihre Wallfahrt abschlössen.
So eine Woche der Einkehr sei noch lange nicht das Schlechteste, meinte Giosuè darauf und fragte, ob er sowas auch irgendwann vorhabe.
Er könne sich das nicht vorstellen, erwiderte Adam, dafür sei er nicht fromm genug.
Nicht fromm genug, gab Giosuè zurück und lachte, spricht anscheinend ständig mit Gott, dem Tod oder dem Teufel und meint trotzdem, er sei nicht fromm genug. „Du erliegst da wohl einem Irrglauben, einer Fehleinschätzung in Bezug auf Dich selbst und in Bezug auf Gott. Andacht heißt ja nicht Frömmelei. Keiner verlangt von Dir, dass Du dabei mit einem Kerzenstumpf in der Hand psalmodierend in den Kreuzgängen umhergehst. Vielmehr kannst Du da in Ruhe innere Einkehr halten und Dich zudem mit anderen austauschen“. So sehe jedenfalls er den Sinn einer solchen Exerzitienwoche.
Das sei trotzdem nichts für ihn, meinte Adam. Er sei für gewöhnlich strenger Individualist und sich oft schon selbst zu viel. Außerdem halte er seine Exerzitien lieber im Freien ab. Das sei ja nicht zuletzt auch der Grund für seine Wallfahrt. Er bete da lieber mit den Füßen. Im Übrigen rede er auch nicht ständig mit Gott, dem Herrn, eigentlich sogar viel zu wenig. Das mache ihm eher zu schaffen. Aber heute mache ihm noch mehr zu schaffen, dass er den gestrigen Abschied mehr oder weniger verpennt habe. All die Tage mit den Südtirolern seien ihm wie selbstverständlich vorgekommen. An das absehbare Ende ihrer gemeinsamen Pilgerzeit habe er gar nicht gedacht, sondern bloß so in den Tag hineingelebt. Schließlich sei er gestern vom Moment des Abschieds schon fast überrascht worden. So ginge es ihm aber leider häufig.
„Da muss ich Dir von einer früheren Begebenheit gleichen Kalibers erzählen“. In einem seiner abendlichen Gespräche mit Gott, dem Herrn, fuhr Adam fort, habe er über seine Unfähigkeit, Offensichtliches als solches zu erkennen, geklagt, weshalb er häufig außerstande sei, zur rechten Zeit angemessen zu reagieren oder die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. „Erst heute ging es mir wieder so“, habe er Gott, dem Herrn, erzählt. Der Tag habe mit einem strahlenden Morgen begonnen und er habe sich über das Blau des Himmels, die Strahlen der Sonne und die linde Luft gefreut. Er habe deshalb dann sogar das Fenster im Büro offengelassen, um so trotzdem an diesem schönen Morgen teilhaben zu können. Die Sonne sei dabei direkt auf seinen Schreibtisch geschienen. Das sei doppelt schön gewesen. Einerseits habe er die Sonne genießen und anderseits so seine Akten sogar ohne Sehhilfe lesen können. Weshalb die Buchstaben bei trübem Licht anscheinend kleiner seien, wisse auch nur Gott allein, seufzte er. Auf dem Bildschirm seines Computers sei allerdings wegen der überbordenden Helligkeit fast nichts mehr zu erkennen gewesen. Die an sich naheliegende Idee, mit Hilfe der Jalousie für Abdunkelung zu sorgen, sei ihm aber noch nicht einmal im Ansatz gekommen. Vielmehr habe er dieses Ungemach angesichts seiner Freude über den frischen Morgen halt hingenommen wie Regenwetter. Lediglich die Unvollkommenheit der Welt sei ihm deutlich aufschienen: Herrsche einmal ausreichend Helligkeit zum Lesen, sehe er am PC nichts. Sei es für den PC dunkel genug, müsse er zum Lesen wieder die Lesebrille aufsetzen. So habe er sich halt irgendwie beholfen, während die Sonne langsam weiter am Firmament aufgestiegen sei. Die frische Kühle des Morgens sei somit zunehmend einer lähmenden Hitze gewichen. Wegen der morgendlichen Kühle habe er einen Pullover angezogen gehabt. Zur Unvollkommenheit der Helligkeit sei daher der Umstand hinzugetreten, dass er zu schwitzen begonnen habe wie ein Schweinebraten. Der Einfall, sich des Pullovers zu entledigen, wäre ihm in dem Moment aber wahrscheinlich noch nicht einmal unter Androhung von Waffengewalt in den Sinn gekommen. Vielmehr habe er nur die regelmäßigen Gänge über den kühlen Flur ins Postzimmer als wohltuend empfunden. Schließlich sei er völlig durchgeschwitzt gewesen. Erst in dieser Not sei er auf den Pullover als Schuldigen gekommen. Bis dahin habe er bloß damit gehadert, dass die dem Lesen förderliche Helligkeit nicht nur der Arbeit am Bildschirm abträglich sei, sondern als ungebetenen Gast auch noch eine unwahrscheinliche Hitze mitbringe. Das meine er mit seiner Unfähigkeit auf Offensichtliches angemessen zu reagieren. Da sei es nur ein verschwitztes Obergewand gewesen, ärgerlich sei es aber vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Wie oft habe es schon Situationen gegeben, wo er entsprechende Signale von Eva, seinem Ex-Weib, oder seiner anderen Mitmenschen erst gar nicht wahrgenommen habe. Allein mit Blick auf seine Töchter, Trost der Mühsal und des Trübsinns seiner Tage, wolle er gar nicht daran denken, wie oft er ihnen gegenüber nicht angemessen reagiert habe. Häufig sei er dann mitten in der Nacht aufgewacht, wenn ihm im Schlaf bewusst geworden war, was in der Situation eigentlich Sache gewesen ist und er dabei wie ein Holzkopf tumb und taub nichts wahrgenommen und auf nichts reagiert habe. Und das sei dann noch schnell. Manchmal vergingen dafür ganze Tage, Wochen oder Jahre, bis es ihm wie Schuppen von den Augen falle. Nicht, dass er solche Dinge irgendwie abblocke oder ignoriere oder sonst nicht an sich heranlasse. Das sei es gar nicht. Aber, wenn es da etwas zu erkennen gäbe, komme die Erkenntnis wohl erst gar nicht bis zu ihm, so dass sich schon deswegen die Frage des Nichtheranlassens gar nicht stelle. Sein Kopf, sein Bewusstsein sei in solchen Momenten irgendwie zu weit von den Ohren, den Augen und seinem Empfinden weg. Die entsprechenden Eindrücke verlören oder verirrten sich dann wohl auf ihrem langen Marsch bis zu seinem Bewusstsein. Ginge ihm dann irgendwann doch ein Licht auf, sei es regelmäßig zu spät, um irgendwie noch mit Anstand reagieren zu können. Was gäbe es in solchen Fällen auch Wochen, Monate oder Jahre später dazu noch zu sagen? Er schäme sich dann ob seiner Holzköpfigkeit. Manchmal hasse er sich deswegen, wenn ihm klar werde, wie er so Erwartungen und Bedürfnisse anderer schmählich enttäusche. Sein verschwitztes Obergewand sei da nur ein exemplarisches Beispiel dieser Tatsache.
Erst jüngst sei es wieder geschehen. Beim Gang zum Briefkasten habe er seinen Nachbarn beim Streichen der Säulen im Wintergarten, sprich Palmenhaus, angetroffen. Man habe sich munter unterhalten, wobei der Nachbar noch lachend gesagt habe, er wolle ja sehen wie lange es dauern werde, bis der Erste in die noch nasse Farbe fasse. Gemeinsam habe man darüber gelacht. Nur wenig später habe der Nachbar geklingelt und um den Akkuschrauber gebeten. Kein Problem. Er sei also vom Frühstück aufgestanden und habe das Werkzeug hinausgebracht. Im weiteren Gespräch habe er sich dann lässig mit der Hand an den frisch lackierten Pfosten gestützt.
„Adam“, habe Gott, der Herr, darauf angehoben, „was soll ich dazu sagen? Verzögerte Empathie oder Wahrnehmung. Du siehst ja selbst, was Sache ist. Kann es denn sein, dass Dein Kopf zu weit von Deinen Füßen entfernt ist, Dein Bewusstsein irgendwie nicht die rechte Bodenhaftung hat? Du nicht im Hier und Jetzt zuhause bist?“
„Fang Du mir jetzt bloß nicht auch noch an mit fehlender Bodenhaftung“, habe er resigniert erwidert. „Deswegen hat mich schon Behörnchen, meine Zweitgeborene, ausgelacht“.
Was das denn für eine Geschichte sei, habe Gott, der Herr, daraufhin wissen wollen.
Er habe ihm dann erzählt, wie seine Tochter einst des Winters in H. im Schwarzwald weilte. Die Wiederherstellung ihrer Seele sei angesagt gewesen. Nachdem er sie dort dazu schon in Obhut gegeben hatte, war nun endlich Besuchstag. Er sei also hingefahren und dann mit seiner Tochter spazieren gegangen. Ihr Weg habe sie schließlich aus den besiedelten Bereichen hinaus in die Natur geführt. Mit anderen Worten: Der Weg war weder geräumt noch gestreut. Miteinander im Gespräch vertieft war das aber doch eher nebensächlich.
Wie die Unterhaltung darauf kam, wusste später keiner mehr. Jedenfalls machte ich, erzählte Adam, gerade die Widrigkeiten des Wegs zum Sinnbild meiner Ausführungen zu den Widrigkeiten, die auf dem Weg des Lebens zu bestehen seien. Weit holte ich in meiner Argumentation aus, zog in der erhabenen Höhe meiner Gedanken einen weiten Kreis, um zielgenau vor den Füßen meiner Tochter wieder zur Landung anzusetzen. Auch wenn im Leben das Geläuf einmal eher rutschig sei, komme es dabei doch stets darauf an, das eigene Gleichgewicht zu wahren und ausbalanciert und fest auf seinen eigenen zwei Füßen zu stehen. Das erfordere zwar ein gewisses Maß an Achtsamkeit und des Gewahrseins, aber das sei ohnehin unumgänglich. Der Untergrund, auf dem es zu Laufen gelte, sei eh immer ungewiss und bevor man sich auf den Weg mache sowieso unbekannt. Achtsamkeit und Gewahrsein sei daher auf dem Weg zum Bäcker genauso angesagt wie auf dem Weg der Seele zum Heil. In beiden Fällen könne man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass sich alle an die Räum- und Streupflicht hielten. Auch nicht jeder Weg der Seele sei ein breiter und kommoder. Desto wichtiger sei es also stets im eigenen Gleichgewicht zu sein. Seelisch und im Leben. Die Seele und das Ich glichen insofern einem Wellenreiter. Wer auf der Welle des Lebens reite und das Gleichgewicht halte, sei obenauf. Wer dabei dann noch Pirouetten drehen könne, dem liege die Welt zu Füßen. Wer aber versuche auf der Welle zu reiten, dabei jedoch das Gleichgewicht verlöre, der ginge dann eben unter und werde von der Welle davon gespült. Jeder sei aber darin geübt im Gleichgewicht auf seinen Füßen zu stehen. Das sei das Erbe von zigtausenden Jahren der Evolution. Also nichts Besonderes. Seit Kindsbeinen sei man aufrecht auf den Beinen unterwegs. Kaum sei der Mensch geboren, bemühe er sich auf die Beine zu kommen. Wichtig sei es also, auch auf widrigem Geläuf achtsam den Untergrund mental in den Fußsohlen zu spüren und ausbalanciert aufrecht zu bleiben. So habe er gesprochen. Derweil er aber gedanklich seine Kreise in großer Höhe gezogen habe, sei ihm selbst der Kontakt zu der ihn unmittelbar umgebenden Umwelt verloren gegangen. Kurz gesagt: Der Weg sei zur Schleifez, zur Eisfläche entartet. Indem er die Glätte des abschüssigen Wegs nicht bemerkte, habe er weiter seine Füße mit der Ferse zuerst aufgesetzt. Das hätte er aber nicht tun sollen. Durch die geringe Auflagefläche seiner Absatzhinterkante, verlor er die notwenige Reibung auf dem Geläuf, der er auf dem Glatteis jedoch bedurft hätte. Mangels Halts machte sich deshalb sein erster Fuß nach vorn davon. Sein zweiter Fuß versuchte das blitzartig auszugleichen, unterlag aber demselben Umstand. Nachdem der Untergrund so seinen beiden Füßen die Bodenhaftung verweigerte und diese sich nach vorn und oben davon machten, sei er mit seinem Hinterteil der Schwerkraft gefolgt. Wie zur Bestätigung seiner vorherigen Worte schlug es ihn also ärschlings vor den Füßen seiner Tochter hin. Und Behörnchen habe angesichts dieser Aufhebung von geistigem Höhenflug und schlichter Schwerkraft lauthals und aus reinster Seele gelacht.
Das sei die Begebenheit mit der fehlenden Bodenhaftung gewesen.
Wenn das Lachen zur Heilung der Seele Deiner Tochter beigetragen habe, dürfe er sich glücklich schätzen, dass es ihn seinerzeit zur rechten Zeit hingeschlagen habe, habe Gott, der Herr, auf seine Erzählung erwidert, dann sei sein Timing doch perfekt gewesen. Das Universum wisse eben immer, was es wann zu tuen gelte.
Er habe zugeben müssen, dass er das so noch nicht gesehen hätte, und habe Gott, dem Herrn, für die Erhellung gedankt und sich auf den Weg heim in sein Paradies gemacht. An der Pforte von Gottes Himmelreich, gerade als er nochmals zurückgeblickt habe, sei er aber mit der Schulter am Türpfosten angestoßen.
„Hoppla“, habe ihm Gott, der Herr, nachgerufen, „is‘ was Doc? Schon wieder nicht im Hier und Jetzt?“
„Nein, aber die Pforte Deines Himmelreichs ist zu schmal, besonders am Rand.“
„Die Tür ins Himmelreich ist nur für Sünder, Eitle und Hoffärtige schmal, für Gerechte und Demütige aber weit und offen“, habe Gott, der Herr, darauf mit Stentorstimme laut dozierte.
Das möge ja sein für die, wo rein wollten, er wolle aber raus, sei seine Antwort gewesen, während er sich seine schmerzende Schulter gerieben habe.
„Naja, wenn Du es so siehst, wirst Du wohl recht haben“, habe Gott, der Herr, gelacht und ihm empfohlen, beim nächsten Heimweg die Mitte der Pforte anzupeilen. Das habe ihm selbst von Fall zu Fall nach dem Skatabend auch schon geholfen.“
Damit schloss Adam seine Erzählung.
„Ihr seid schon zwei rechte Spaßvögel, Du und Dein Gott“, lachte Giosuè. Er wisse da in der Tat nicht recht, ob Adam mit derlei Geschichten in einer Andachtswoche am richtigen Ort wäre. Sein Verhältnis zu seinem Gott sei ja schon recht eigenwillig. Möglicherweise würde er damit die anderen Teilnehmer bloß verschrecken. Oder sie angesichts seines ungewöhnlichen und ungewohnt selbstbewussten Umgangs mit seinem Gott sogar beunruhigen. Ihm selbst sei das jedoch sehr sympathisch, endlich mal nicht das gewohnte kindische Kind-Vater-Verhältnis. Für gewöhnliche Sterbliche könne derlei jedoch leicht auch überheblich, hoffärtig und eitel klingen. Nicht viele könnten sich wohl von der ihnen anerzogenen Vorstellung eines Gottes soweit lösen, dass sie einen sich selbst erschaffen habenden Gott akzeptieren könnten. Zwar sei die Vorstellung der von Gott geschaffenen Welt auch den anderen geläufig, die Sicht, dass er damit die Welt und also auch jeden Einzelnen und die Welt als Teil seiner selbst geschaffen habe und diese somit irgendwie auch Gott seien, jedoch eher nicht. Diese Erfahrung und Einsicht einer allumfassenden Einheit sei seines Wissens den meisten Gläubigen im Abendland ziemlich fremd. Ebenso fremd sei ihnen wohl auch die Erkenntnis vom subjektiven und transzendentalen Erleben Gottes, da sich mit derlei Mystik nicht mehr viele abgäben. Von da bis zur Ablehnung solcher Gedanken als Häresie und Gotteslästerung sei es dann leider oftmals nicht weit. Er habe jedoch Glück, weil Scheiterhaufen inzwischen gottseidank aus der Mode gekommen seien. Aber je länger sie sich unterhielten, desto mehr verstehe und liebe er Adams besonderes Verhältnis zu seinem Gott, das mache die Unterhaltung mit ihm ausgesprochen kurzweilig. Gleichwohl sehe er in ihm aber eher einen eigentlich tiefgläubigen und dabei schon fast zu ernsten und vor allem vielleicht mit sich zu strengen Menschen.
Adam schwieg ob dieser Rede. Zugleich erkannte er, wie tief Giosuè ihn anscheinend durchschaute und verstand. Andererseits wunderte er sich einmal mehr darüber, woher der seine Sicht derart gut kannte, denn darüber hatten sie so eingehend noch gar nicht miteinander gesprochen.
„Oh, oh, oh“, spöttelte Giosuè, „jetzt grübelt er wieder.“ Ob er das mit der verspäteten Empathie denn selber glaube, wollte er dann wissen. „Ich glaube, Du bist in solchen Fällen schlicht Opfer Deiner eigenen Kiss-Strategie, Deiner Kopf-in-Sand-stecken-Strategie, will sagen, Du gehst solchen Dingen, seien es Entscheidungen, Abschiedsmomente, Momente der Nähe oder auch bloß der Notwendigkeit, Tatsachen ungeschminkt zur Kenntnis zu nehmen, einfach am liebsten aus dem Weg. Das wird von Dir dann halt nett bemäntelt mit verspäteter Empathie und so. Den Kopf in den Sand zu stecken gleicht aber Kindern, die glauben, wenn sie die Augen schließen oder die Hände davorhalten, sei das Gegenüber, das Unheimliche, das Nichtgewollte nicht mehr da. ‚Mama, mach das weg, ich will das nicht‘. Aber Du bist kein Kindskopf. Naja, manchmal wohl schon. Aber jetzt mach sie halt endlich mal auf, Deine Augen. Sei erwachsen, sei ein Mann! Das hätte ich Dir vielleicht schon damals sagen sollen, als Du mir mit Deinem verschwitzten Obergewand gekommen bist“, schloss Giosuè.
Was er damit sagen wolle, erwiderte Adam.
„Womit?“
Dass er das habe schon damals sagen sollen, als er ihm die Geschichte seines fortwährend zu späten Erkennens erzählt habe. Wieso er? Er habe sie damals Gott, dem Herrn, erzählt, ihm erst gerade eben. Was er, Giosuè, denn mit seinem damaligen Obergewand zu tun habe?
„Habe ich das gesagt?“
„Ja, hast Du.“
Dann habe er sich wohl falsch ausgedrückt, ruderte Giosuè zurück, „oder Du hast mich falsch verstanden. Aber das musste endlich mal gesagt sein. Und wenn Dir das damals Dein Gott nicht gesagt hat, dann sage ich es jetzt halt. Ist im Endeffekt auch egal, wer wann was sagt, solange das Notwendige zur rechten Zeit gesagt wird. Und mir hast Du ja erst gerade eben Deine Geschichte erzählt, so dass jetzt halt wieder die rechte Zeit war. Ich hoffe, Du bist mir wegen meines offenen Worts nicht böse?“
„Nein, bin ich nicht“, erwiderte Adam, schwieg sodann und sah vor sich auf den Weg. Was hätte er auch sagen sollen?
Hätte er aber den Blick gehoben, hätte er gesehen, wie Giosuè anfing zu lächeln. So spürte er nur, wie ihm zunehmend leichter ums Herz wurde, was er jedoch darauf schob, dass zwischen den Bäumen die ersten Häuser von Cluny und die Gebäude des ehemaligen Klosters hervortraten, er also sein heutiges Zwischenziel erreicht hatte.
Bis Cluny ging Adam also weiter auf dem Voie-verte. In der Stadt verlor er aber die Wegweisung durch die Jakobsmuschel. Daher ging er auf einen älteren Herrn zu, um ihn nach dem Weg zu fragen. Schnell ergab sich, dass der Mann Italiener war, aber lange Jahre in Esslingen gearbeitet hatte und daher sogar schwäbisch sprach. So gab ein Wort das andere. Er sei aber auch nur auf Besuch hier. Mangels Ortskenntnis konnte er Adam somit nicht weiterhelfen und verwies ihn an die Touristeninformation. Adam war zwar schon dort gewesen, da sie neben den Resten der ehemaligen Kathedrale lag, die er vorhin noch angesehen hatte, trotzdem war der Rat richtig, da dort der Jakobsweg von der Hauptstraße abzweigte, was er vorhin übersehen hatte.
Adam schwankte erneut zwischen dem Gefühl des Alleinseins, da er die Mithilfe der Südtiroler bei der Suche nach der Wegweisung vermisste, und dem Gefühl neuer Stärke und alter Selbständigkeit, weil er nun auch so den Weg gefunden hatte. Im Hochgefühl dieser Sicherheit ging er steil bergauf und aus der Stadt hinaus. Der Weg anschließend war halt wie er war. Wechselnd wie das Wetter, das ihn ständig zwang seine Regenkluft anzulegen und kurz darauf wieder auszuziehen, wollte er nicht im eigenen Schweiß ertrinken. Einesteils ging der Weg idyllisch an Bachläufen und kleinen Dörfern und einzelnen Gehöften vorbei, mal durch den Wald auf schmalen Trampelpfaden oder durch Wiesen und Felder, anderseits aber auch an relativ stark befahrenen Straßen entlang. Nach einem letzten Anstieg in Sainte-Cécile angekommen, irrte er zuerst in der Nachmittagshitze durch das Dorf bis er den an einen Zaun genagelten, auf einem DIN A4-Blatt in einer Plastikhülle handgemalten Wegweiser zu seiner Gîte fand. Die Épicerie und die Boulangerie waren anscheinend schon seit längerer Zeit geschlossen und so hoffte er, dass er in seiner Herberge ein Abendessen bekäme. Dem war zwar nicht so, im Dorf gab es aber ein Restaurant, das ihm auf Anmeldung durch seine Herbergseltern ein Menu vom Feinsten servierte. Im Übrigen hatte er in der Gîte das ganze komfortable Untergeschoss für sich. Im Garten konnte er auf bereitstehenden Liegestühlen die milde Abendsonne genießen, während der Hausherr Mirabellen erntete und ihn zur Verkostung aufforderte. Auf die Frage nach dem Übernachtungspreis wurde Adam auf eine Sparbüchse im Esszimmer und das System Donativo verwiesen.
Tags darauf ging es zuerst steil über die Autobahn hinweg bergauf und später in langen Serpentinen durch den Wald aufwärts, was bei der alsbald einsetzenden Hitze deswegen aber trotzdem die reinste Erholung war. Die Wegstrecken im Freien auf den Feldwegen und meist verkehrsleeren Landstraßen waren zwar gut zu gehen, lagen jedoch überwiegend ungeschützt in der Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel brannte. So wurde der Durst trotz der großen Anderthalbliterplastikflasche, die er den Herbergseltern in Les Gambes abgeschwatzt hatte, wieder zu seinem ungebetenen Begleiter. Frisches Wasser gab es auf dem Weg nicht, da die Gegend, durch die ihn der Weg führte, ausgesprochen dünn besiedelt war und, wo es doch Häuser gab, machte niemand auf. Öffentliche Trinkwasserbrunnen gab es gar nicht. Auch die Friedhöfe, sonst oft eine Möglichkeit zum Wasserfassen, waren wasserlos. So konnte Adam nur einzelne Schlucke aus seiner Wasserflasche solange im Mund wälzen, bis sich das Wasser in den Schleimhäuten verflüchtigt hatte. Im Bauch kam jedenfalls nichts an, hatte er den Eindruck.
Das erinnerte ihn an einen früheren Ausflug in die Wüste im Süden Marrokkos. War in den Höhen des Atlasgebirges das Verhältnis von Mensch zur herrschenden Luftfeuchtigkeit noch normal, so änderte sich das mit jedem Meter, den er nach Süden abwärts zur Wüste fuhr. Zunehmend hatte er da den Eindruck, dass ihm jedwede Feuchtigkeit aus dem Körper gesogen wurde. Seine Lippen platzen deswegen trotz dicker Cremeschicht auf. Die Wüstenluft war in der Tageshitze schlicht derart knochentrocken, dass jeder Tropfen Schweiß oder Körperflüssigkeit sofort auf der Haut verdunstete. In der Hitze musste Adam deshalb sogar frösteln. Dabei konnte er gar nicht so viel Wasser trinken, wie er über seinen Schweiß verlor. Auch wenn er eine seiner Anderthalblitercocacolaflaschen aus dem Kühlschrank seines Campingbusles zum Trinken ansetzte, hatte er den Eindruck, dass schon mindestens ein Liter Wasser durch seine Kehle geflossen war, bis er endlich spürte, dass erste zaghafte Tropfen seine Speiseröhre und den Magen benetzten. Später lernte Adam, dass die Berber nicht wegen der kalten Nächte auch tagsüber Pullover und Jacken trugen, vielmehr schufen sie sich damit eine Verdunstungssperre, ein körpernahes, feuchtes Mikroklima, welches die starke Verdunstung gegenüber der trockenen Wüstenluft minderte. So ging auch er anschließend eingemummelt wie auf einer Gebirgstour durch die Wüstengegend.
Nur half ihm diese Einsicht momentan auch nicht weiter, da nicht eine überhöhte Verdunstungsrate, sondern schlicht ein Mangel an Wasser seinen Weg zur Prüfung machte. An ein erhebendes Durchschreiten der Landschaft war angesichts solcher Umstände gar nicht zu denken. Vielmehr war sein Denken wie schon in der Rheinebene völlig vom Gedanken an den nächsten Schluck Wasser gefangen. Und er sah, dass so manchmal auch die hehrsten Absichten und Vorsätze an den Mauern widriger Umstände scheitern können. Wie Jesus und andere Propheten ihre wochenlangen Prüfungszeiten in den Wüsten ohne Wasser hatten über- und bestehen können, erschloss sich ihm daher nicht. Zu allem Überfluss verlief der Weg seiner heutigen Etappe nach Cenves alsbald nur noch durchs freie Feld oder über offene und glühende Landstraßen, die, wenn auch ohne wesentlichen Verkehr, trotzdem nicht weniger heiß waren. Da endlich hatte Jakobus ein Einsehen. Plötzlich gab es Brunnen mit Jakobsmuscheln am Weg, die munter vor sich hinplätscherten. Trinkwasser oder nicht, Adam tat was getan sein musste – und hatte davon auch später keine Beschwerden. Beschwerlich war eher das Auffinden der Herberge. Er sah zwar, dass es das Haus am jenseitigen Hügel sein musste, fand den Weg dorthin aber erst nach etlichen Umwegen. In seiner Gîte gab es dann eine herrliche Dusche, kaltes Wasser und ein weiches Bett.
Vor dem Wäschewaschen konnte er dem Herbergsvater noch beim Einkochen von Cassis zusehen. Dabei unterhielten sie sich noch über die rechte Art Cassis zu machen. Er war dann gerade beim Wäscheaufhängen im Garten, da hörte er aus der zum Garten offenen Küchentüre einen Knall. Auf dem Rückweg in sein Gemach, der ihn durch die Küche führte, durfte er den Patron inmitten eines mittleren Chaos betrachten. Am Patron und an den weißen Schränken und Wänden lief überall rot der frisch eingekochte Träublessaft herab. Eine Cassis-Explosion in weiß und rot.
Eine Flasche sei ihm nach dem Abfüllen, als er sie gerade habe wegstellen wollte, in der Hand geplatzt, wurde ihm erläutert.
Ob er verletzt sei, fragte Adam. Angesichts des allgegenwärtigen Cassis war das nicht ohne weiteres zu erkennen. Adam nahm den verdadderten Patron deshalb mit ans Spülbecken, wo sie schnell sahen, dass die Hand nichts abbekommen hatten. Das Chaos an den Wänden und Fronten der Einbauküche aber blieb. Zusammen wurden sie dann mit dem Aufwischen des überall klebenden Cassis gerade noch fertig, bevor die Hausfrau heimkam.
Das gemeinsame Abendessen war dann mit Cassis des letzten Jahrgangs als Aperitif nur gut und die Portion dem Hunger des Pilgers angemessen ausführlich.
Der nächste Tag glich wettermäßig dem vorherigen. In weiser Voraussicht hatte Adam vor seinem Aufbruch nach Gros-Bois außer der schweizerischen Anderthalbliter-Plastikflasche zusätzlich auch noch seine alte Fluglehrer-Aluflasche, die er früher einmal von seinen Flugschülern geschenkt bekommen hatte, gefüllt. Trotzdem waren seine Wasservorräte schon bald erschöpft. Die Flaschen hatten wohl doch ein Loch. Gottlob erreichte er irgendwann Ouroux, nachdem er zuvor schon in Les Cassagnes statt des Wegs durch Wald und Flur den kürzeren Weg auf der Landstraße über La Tallebarde in der Hoffnung eingeschlagen hatte, dort auf Wasser zu treffen. Irrtum! Die Landstraße war zwar wenig befahren und ohne größere Steigungen, aber dafür in der prallen Sonne. So schleppte er seine sterblichen Überreste eben über den glühenden Asphalt. „Brennend heißer Wüstensand“ ging ihm da unversehens die Eingangszeile des Songs „So schön war die Zeit“ von Freddy Quinn aus seinen Kindertagen durch den Kopf. „Heißer Sand“ von Conny Francis, genau so alt, kam ihm gleich hinterher durchs Hirn. In seiner zweiten oder dritten Klasse in der örtlichen Volksschule, so hießen damals die heutigen Grund- und Hauptschulen, waren das wahre Gassenhauer, die sie, also eben alle, die er kannte, unentwegt rauf und runter sangen. Allerdings löschte dieser musikalische Ausflug in seine Kinderzeit Adams Durst auch nicht, wenngleich er die Zeit seines Durst-Leidenswegs durch die Ablenkung verkürzte. In Ouroux, da wäre er auf dem längeren Weg auch hingekommen, traf er gleich am Ortseingang endlich auf eine geöffnete Brasserie, wo der Wirt ihm auch seine Wasserflaschen füllte. Im Garten des noch im Tal gelegenen Lokals soff er vor dem abschließenden Anstieg zur Herberge Gros-Bois zwei Flaschen sauren Sprudel leer, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Die Kohlensäure entwich ihm später in einem fast nicht endend wollenden Rülpser, der das Gefüge des Universums hätte erschüttern können.
In der Herberge Gros-Bois konnte er sich einmal mehr sein Bett in einem der Schlafsäle aussuchen. Die Unterkünfte lagen in einem Seitengebäude eines kleinen barocken Schlößchens. Das Herrenhaus, in dem er Abendessen und Frühstück zu sich nahm, war nett renoviert. Er habe das Anwesen mit zwei früheren Freunden erworben, die aber später wieder aus dem Projekt ausgestiegen seien, erzählte ihm der Patron. Nun betreibe er die Herberge allein und richte die übrigen Gebäude, soweit die Einkünfte aus dem Betrieb ihm das eben erlaubten. Später erschien noch eine ökumenische Pilgergruppe von zwölf Personen aus Offenburg, die sich auf die anderen Schlafsäle verteilten.
Kurz vor dem Abendessen kam noch ein einzelner Pilger an, den Adam, bereits frisch geduscht im Hof sitzend, mit besonderem Interesse kommen sah, da er außer einer Wasserflasche und einer kleinen Tasche am Gürtel kein weiteres Gepäck dabeihatte. Der Mann schritt durch den Hof und setzte sich unweit auf einen Stuhl. Adam sprach ihn daraufhin neugierig an und fragte, ob er sein Gepäck per Shuttle befördern lasse.
Nein, war die Antwort, er wolle sich nicht mit derart irdischen Dingen belasten. Er habe daher nur seine Wasserflasche und ein paar andere Utensilien wie Zahnbürste und dergleichen in seiner Gürteltasche dabei. Für alles andere auf seinem Weg sorge Jakobus. Seife hatte Jakobus aber anscheinend nicht im Programm, musste Adam mit der Nase feststellen und nahm daher Abstand. Der Mann erinnerte ihn dabei an den Piloten einer 2-Mot, den er einmal auf einem Flug in die Ägäis in Brindisi auf dem Tower getroffen hatte. Der Pilot erledigte gerade die Formalitäten für seinen Weiterflug, während daneben eine adrette Frau und zwei Kindern warteten. Sie seien auf dem Rückflug von einem zweiwöchigen Ausflug in die Ägäis, wie er kundtat. Alldieweil die Frau und die Kinder nett und sauber aussahen und dufteten, machte der Pilot demgegenüber einen eher stark mitgenommenen Eindruck. Mit seinen speckigen Haaren und seiner dreckigen Kleidung stank er zudem wie ein Iltis, als ob es auf seinem ganzen Flug keine Dusche und keine Seife gegeben hätte. Abendessen und Frühstück konnte er inmitten der Pilgergruppe einnehmen, so dass er dabei dem neuen Iltis nicht näher zu kommen brauchte. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen wollte sich die Pilgergruppe noch zu einem Gottesdienst versammeln, was sie mithilfe einer mitgenommenen evangelischen Pfarrerin auch konnte. Adam war aber katholischer als der Papst, weshalb er die Einladung, an der Andacht teilzunehmen, unter Hinweis auf seine lange Tagesetappe dankend ablehnte. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, eine evangelische Andacht! So machte er sich in der Früh wieder auf den Weg.
Gleich hinter der Herberge lehnte im Wald der Langhaarige wieder einmal an einem Baum und drehte sich seine übliche Kippe. Im trockenen Wald sei das aber heikel, belehrte ihn Adam. Er habe schon gedacht, er sei gar nicht mehr unterwegs, da sie sich schon lange nicht mehr gesehen hätten.
„Was werde ich nicht mehr unterwegs sein“, gab der zurück, steckte seine Frischgedrehte in den Tabakbeutel zurück und den in seine Inkatasche. Ein paar Tage seien gerade einmal vergangen. Lange sei ganz anders. Er habe sich inzwischen anderen Dingen gewidmet. Das sei jetzt erledigt und da sei er eben wieder hierhin hergekommen. „Und wo willst Du heute hin?“
Er wolle über den Col de Crie und den Mont-St-Rigaud nach Propières. Da habe er sich in einer Gîte ein Bett reserviert.
„Na, dann mal los“, gab Giosuè das Startkommando.
Unweit ging es sogleich steil durch den Wald bergauf. Insgesamt nahm das Bergauf und -ab nun deutlich zu, schließlich begannen hier bereits die ersten Ausläufer des Massif-Central, einer großen gebirgigen Region mitten in Frankreich. So waren heute auch Höhen von rund tausend Meter zu überwinden. Gottlob führte der Weg zumeist durch dichten Wald. Adam hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass Frankreich auch in der Mitte derart dicht bewaldet ist. So gingen sie miteinander schweigend und schnaufend bergan durch den Wald. Bei ihrer ersten Rast fragte der Langhaarige, was denn das für Geschichten von seinen Gesprächen mit Gott in Adams Anderswelt seien, von denen er erzählt habe. Er habe das nicht vergessen. Vielmehr sei er nach wie vor gespannt zu hören, was es denn damit auf sich habe.
Adam gab kund, dass das irgendwie nicht im Hier und Jetzt geschehe. Das geschehe vielmehr nur in seiner Anderswelt, seiner Traumzeit. In die gelange er aber leider viel zu selten. Dazu bedürfe er eines gewissen geistigen Schwebezustands, den er manchmal beim Gehen erreiche. Das habe ihn ja auch zu seiner Pilgerschaft verführt, da er so hinreichend ausführlich Gelegenheit zum Gehen habe. Manchmal erreiche er ihn auch so, beim Dösen oder im Liegen oder Sitzen. Je nachdem. Dort sehe er sich dann in der Rolle des biblischen Adam oder wie auch immer. Jedenfalls befinde er sich dann im Garten Eden und seine Gespräche mit Gott, dem Herrn, seien dann irgendwie so wie mit einem Nachbarn über den Gartenzaun weg.
„Adam, Du faszinierst mich immer mehr. Aber erzähl, was sprecht da so ihr miteinander“, forderte ihn Giosuè auf.
„Naja, was man so redet. Dies und das.“
„Jetzt mach´s nicht so spannend.“
So gedrängt erzählte Adam, einmal hätten sie in seiner Anderswelt nach dem Tod von Abel miteinander gesprochen. Da sei er vor das Angesicht Gottes, des Herrn, getreten und habe sein Leid geklagt: Abel liege erschlagen in seinem Blut tot im Feld. Kain sei es gewesen. Kain habe seinen eigenen Bruder erschlagen. Er finde keinen klaren Gedanken. Sein Sohn Abel sei erschlagen und tot. Sein Sohn Kain sei der Mörder. Sein eigen Fleisch und Blut erschlage sich gegenseitig, sei Opfer und Mörder zugleich. Er leide mit dem toten Abel und verzweifle an Kain. Wie habe Kain seinen eigenen Bruder Abel erschlagen können? Was habe ihn da bloß angefochten? „Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nur, dass Abel tot ist. Mein Sohn Abel. Tot. Ich leide daran tiefste Trauer und Verzweiflung. Wäre es irgendwer, der den Abel erschlagen hat, ich könnte ihn wenigstens aus tiefstem Herzen hassen. Ich möchte am liebsten meiner Wut und meiner Empörung mit einem Knüppel Luft verschaffen. Den Mörder meines Sohnes damit behandeln. Das könnte, wenn schon nicht meine Trauer, so doch wenigstens mein Rachegelüst und meine Wut mildern. Aber kann ich das? Der Mörder meines Sohnes ist doch mein Sohn! Mir Armem ist noch nicht einmal der Trost der Rache gegeben. Ich würde meinen Sohn erschlagen, der meinen Sohn erschlagen hat! Was muss ich als Vater denn noch alles aushalten? Oh Gott, hilf mir“, sei es aus ihm herausgebrochen.
Gott, der Herr, sei daraufhin an ihn herangetreten und habe seinen Arm um seine Schultern gelegt. „Adam“, habe er milde erwidert, „mich schmerzt das alles wie Dich. Es tut mir unendlich leid, was da geschehen ist. Ich leide mit Dir. Ich leide wie Du. In gewisser Weise sind es ja auch meine Söhne, mein Fleisch und Blut. Aber bedenke: Du bist nicht Kain und Du bist auch nicht verantwortlich für dessen Tat. Du bist auch nicht Abel und erleidest nicht dessen Schicksal. Abel ist tot und leidet nicht mehr. Es macht daher keinen Sinn, wenn Du Dich an Abels Stelle siehst. Ich weiß, Du wolltest lieber an seiner statt erschlagen sein. Wäre das aber besser? Für Abel ja, aber auch für Kain? Soll Kain dann nicht Bruder-, sondern Vatermörder sein? Es geschehen eben Dinge auf dieser Welt, die weder Du noch ich beeinflussen und letztlich auch nicht verhindern können.“
„Wie kannst gerade Du sagen, dass auf der Welt unabhängig von Deinem Willen Dinge geschehen, der Du diese Welt geschaffen hast und allmächtig und allwissend bist?“
„Adam, wenn Du so weiterredest bin ich noch an all dem schuld. Weil ich nicht eingegriffen und die Mordtat verhindert habe. Aber Du sagst es völlig richtig. Es geschehen Dinge in Deiner Welt, die sind unabhängig von meinem Willen. Es ist nämlich Deine Welt, nicht meine. Macht sie Euch untertan, hatte ich Euch geheißen, als ich sie Euch gab. Wäre es Dir denn lieber, wenn Du stets aufs Neue erfahren müsstest, dass Du nicht Herr Deiner Welt bist? Dass Deine Freiheit und Dein Wille unter dem allgegenwärtigen Vorbehalt meines „nihil obstat“ steht? Dass Du quasi unmündig bist wie ein Kind? Ist es das, was Du willst?“
„Nein, natürlich nicht. Aber wie kannst Du es zulassen, dass sich Deine Geschöpfe gegen Deinen Willen erheben und sich gegen Dein Gebot des ‚Du sollst nicht töten‘ versündigen?“
„Adam, ich habe Dich nach meinem Ebenbild geschaffen und Dir ein Paradies gegeben. Nimm es, sei fruchtbar und mach Dir die Welt untertan, habe ich Dir aufgetragen. Es ist daher Deine Welt. Ich erlebe sie mit Dir durch Dich, aber es ist Deine Welt. Ich bin auch nicht der Hüter Deiner Welt. Du kennst die Gebote und kannst Dich an sie halten. Oder auch nicht. Du bist frei. Wie ich. Die Untat von Kain ist eine Sünde an Abel, Dir und Eva und auch an mir, seinem und Deinem Gott, aber soll ich bei jedem Sündenfall den Erzengel Gabriel mit dem Flammenschwert zu den Delinquenten, zu Dir und Deinesgleichen schicken? Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib. Auch das ist eines meiner Gebote. Das ist natürlich zur Tat von Kain in keiner Weise vergleichbar, aber sollte ich etwa, wenn trotzdem einer von Euch mit der Nachbarin im Lotterbett liegt, jedes Mal Gabriel losschicken? Da hätten Gabriel und ich viel zu tun! Außerdem dürfte das weder dem Buhlen noch der Nachbarin recht sein, während mich allein der Gehörnte preist. Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut. Soll auch da Gabriel den Augiasstall stets mit Feuer und Schwert ausmisten? Und gilt das auch für soziale Randgruppen? Sind die nicht nach diversen Veröffentlichungen einiger Denker, zumindest halten sie sich wohl selbst dafür, von der asozialen Gesellschaft quasi zum Diebstahl gezwungen? Kommt Gabriel also auch über diese? Der Bestohlene wird mich loben, der Dieb verfluchen. Und wenn wir schon dabei sind: Gilt das auch für Deine oberen Zehntausend? Haben die sich ihr Vermögen immer und nur durch ehrliche Arbeit erworben? Ist es dann nicht gerecht, wenn die Benachteiligten sich des Reichtums derer bemächtigen, die sich ihr Vermögen durch die Benachteiligung der anderen zusammengerafft haben? Die Revolutionäre Deiner Welt haben sich ja eben das zum Credo erhoben und rechtfertigen damit Raub, Mord und Totschlag. Und auf welcher Seite soll Gabriel dann da einschreiten? Ist es das, was Du willst? Kurzum, es ist und bleibt Deine, Eure Welt. Ihr alle kennt meine Gebote. Und diese sind klar, eindeutig und unmissverständlich. Ich habe Euch diese Welt als Euer Paradies gegeben. Sorgt also selbst für Ordnung in Eurer Welt! Ich mische mich da nicht ein. Aber, Adam, höre, auch ich trauere um Abel und leide mit Dir und Deinem Weib Eva, dennoch leide ich auch mit Kain, der nun mit dem unauslöschlichen Makel des Brudermords leben muss. Jedoch, Du bist nicht nur der Vater Deiner Söhne, sondern auch Vater aller Väter. So wie Deine Söhne Sinnbild aller Bauern und aller Hirten sind. Sieh die Geschichte doch mal so:
Ein Nomade zieht mit seiner Herde übers Land, wie er das seit Anbeginn getan hat. Da kommt urplötzlich ein Bauer daher, gräbt die Erde um und bestellt auf dem offenen Land einen Acker und verbietet dem Hirten den Durchzug mit seinem Vieh. Warum? Weil er dort ein Feld angelegt hat, das von der Herde des Hirten zertrampelt und verwüstet würde. Der Acker des Bauern, sein täglich Brot, wäre damit zerstört und der Hunger ungebetener Gast an seinem Tisch. Der Hirte braucht den freien Zug, der Bauer den ungestörten Wuchs seiner Pflanzen. Der Bauer hindert den Hirten. Der Hirte glaubt aber das ältere Recht zu haben. Der Streit ist damit vorprogrammiert und unausweichlich. Viele Wildwestfilme drehen sich um dieses Thema, wenn es nicht gerade gegen die Indianer geht. Farmer gegen Rancher und andersherum. Oder Jäger und Sammler gegen die Hirten und beide gegen den Bauern. Oder Bauern und Hirten gegen Jäger und Sammler. Wer dem Bauern über dessen im Schweiße seines Angesichts bestelltes Feld zieht und verwüstet, sei es auf der Jagd, beim Sammeln oder mit der Herde, wird daher kaum auf dessen Verständnis hoffen können. Wer auch noch die Früchte seines Feldes aberntet oder absammelt, wird ganz sicher dessen Trotz und Zorn erwarten dürfen. Wer ist aber nun der Bösewicht, der Bauer oder der Hirte oder die Jäger und Sammler? Auch der Hirte versucht ja nur seiner Herde Futter und Weide zu verschaffen. Schafft er das nicht, leidet seine Herde Not und er und die seinen Hunger. Ist also der Bauer der geborene Mörder, der dem Hirten dessen Recht auf freien Zug mit seiner Herde raubt? Auch der Bauer versucht nur durch die Arbeit seiner Hände die Erde fruchtbar zu machen und von der Ernte sich, seine Familie und andere zu ernähren. Tut der Bauer nicht, was der Bauer tun muss, ist Hunger und Not allenthalben.
Sieh also Kain und Abel. Ihr Schicksal und Fluch ist so gesehen unausweichlich. Bin ich nun unbarmherzig, weil all diese Dinge von mir geschaffen worden sind? Aber, Adam, wie hätte ich es denn sonst machen sollen? Die beiden waren doch frei in ihren Entscheidungen, so wie Du auch. Sie hätten sich also bei etwas gutem Willen ohne weiteres rechtzeitig einigen können. Die Herde wird dann eben in der Zeit der Wachstumsruhe durchgetrieben. Und der Bauer profitiert sogar vom verbleibenden Dung der Tiere. Aber jeder sieht nur seine momentane Sicht, sein vermeintliches Recht. Jeder sieht auch nur seinen unmittelbaren Vorteil, das gemeinsame Interesse der gegenseitigen Befruchtung und des gemeinsamen Vorteils im Laufe der Zeit sieht keiner. Ist solche gedankliche Kurzsichtigkeit oder Verblendung meine Schuld? Sie waren doch beide auch mit der Gabe der Vernunft versehen. Ist es dann wirklich noch meine Schuld, wenn aus blödsinniger Verkennung der Tatsachen und der Umstände einer zum gedanklichen Kurzschluss kommt und glaubt, durch eine solche Gewalttat seine Situation auf Kosten des anderen verbessern zu können?
Adam, als Ebenbild meiner selbst habe ich Dich geschaffen. Frei und mit Verstand und Liebe beseelt. Macht Euch die Welt untertan, mit Verstand und Liebe zu den Dingen und den anderen Geschöpfen, die ich in euer Paradies gesetzt habe. Seid fruchtbar und mehret Euch, mit Liebe zu Euch selbst und zu Euren Mitgeschöpfen. Ihr seid doch weder Schaf unter Schafen noch Wolf unter Wölfen, aber auch nicht Wolf unter Schafen oder Schaf unter Wölfen. Dein Paradies, Deine Welt ist Dir und Deinen Nachkommen gegeben als Euer Himmel auf Erden. Als Menschen seid Ihr mir zum Ebenbild geschaffen und damit mir gleich. Du und Deine Nachkommen in Eurer Welt und ich in meinem Himmel. Wir, Du und ich, Deine Nachkommen und ich, Deine Welt und mein Himmel, wir sind so gesehen eins. Aber Du bist Du und ich bin ich. Abel ist Abel und Kain ist Kain. Bin ich der Hüter meines Bruders, hat Kain mich frech gefragt, als ich mich nach dem Verbleib seines Bruders erkundigt habe. Adam, bin ich Dein Hüter, bin ich der Hüter Deiner Nachkommen und aller Menschen? Bin ich der Hüter Deiner Welt? Jetzt? Und in alle Ewigkeit? Willst Du das? Wenn nicht, dann ist und bleibt es Deine Welt und die Deiner Nachkommen. Sorgt also selbst für Ordnung!“
„Oh Herr“, erwiderte Adam, „ich höre Deine Worte, aber mein Herz ist voll der Bitternis und der Trauer. Abel ist tot und Kain ist als sein Mörder ein Sünder gegen Dein Gesetz und deswegen in alle Ewigkeit von Dir verflucht. Ich habe also zwei Söhne verloren. Wie soll ich und mein Weib Eva da weiterleben?“
„Adam, mein angeblicher Fluch über Kain beschränkt sich doch darauf, dass er ruhelos über die Erde ziehen soll. Jeder Hirte wie Abel kennt das. Das ist nichts Neues. Solange Kain als Bauer die Dreifelderwirtschaft noch nicht erfunden hat, wird ihm eh nichts anderes übrigbleiben als stets neues Land urbar zu machen, will er nicht seinen Acker auslaugen und elend hungers zugrunde gehen. Adam, ich liebe Dich und Deine Nachkommen wie mich selbst. Wie sollte ich da einen von Euch in alle Ewigkeit verfluchen? Ich weiß, Du wirst mir jetzt erwidern, dass es so im Buch der Bücher geschrieben stünde. Aber, Adam, so wenig ich Euer Hüter bin, so wenig bin ich der Zensor Eurer Schreiberlinge. In dem Buch stehen Geschichten über Dich und mich, über Gott und die Welt. Es sind Lach- und Sachgeschichten und Geschichten zum Nachdenken. Auch wenn es teilweise argen Schund dabei hat, wenn ich das mal so sagen darf, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Denke die Geschichten nach und erzähle sie nach, wie Du sie siehst. Und schon hast Du eine neue Geschichte über Dich und mich, über Gott und die Welt. Und auch diese Geschichte werde ich nicht zensieren. Ich bin auch nicht der Hüter Eurer Geschichten. Adam, es ist Deine Welt, Dein Garten Eden, Dein Paradies. Und es sind auch Deine Geschichten. So wie die Geschichte von Kain und Abel.“
Daraufhin dankte ich Gott, dem Herrn, dass er mich geschaffen hatte, auch wenn ich noch nicht wusste, wie ich das alles meinem Weib Eva beibringen sollte, schloss Adam.
„Adam, Adam, je mehr Du mir erzählst, desto mehr wirst Du mir zum Rätsel", sagte da Giosuè. "Dir gegenüber bin ich ein aufgeschlagenes Buch, eine wandelnde Litfaßsäule.“
Und dann habe er da noch so eine Geschichte, fuhr Adam fort.
„Na, jetzt ist der Damm aber gebrochen“, antwortete Giosuè, „mach also hin. Erzähle.“
Eines Tages sei er in einem Gespräch mit Gott, dem Herrn, auch auf seine Rolle als Vater zu sprechen gekommen, holte Adam aus. Dabei habe er es nicht vermieden darauf hinzuweisen, dass er zwar als Urvater des Menschengeschlechts zu gelten habe, dafür aber erdenklich schlecht vorbereitet gewesen sei. Ihm einfach so ein Weib ins Paradies zu setzen, ohne ihn auch nur zu fragen und ihn dann mit den Folgen allein zu lassen, sei schon ein starkes Stück gewesen. Er gebe ja zu, dass die Sache mit Eva als solche schon ihren besonderen Reiz habe, da wolle er sich gar nicht beschweren, nur habe er, Gott, der Herr, ihn vorher auch entsprechend aufklären können, habe er zu Gott, dem Herrn, gesagt, erzählte Adam.
Ach, habe Gott, der Herr, erwidert und gesprochen, dass er anscheinend auch ohne Aufklärung im Umgang mit Eva ausreichend im Bilde gewesen sei. Zwei Söhne in kurzer Folge, das zeige doch, dass jedes Wort insoweit ein verschwendetes Wort gewesen wäre.
Es gehe ihm dabei gar nicht um den Umgang mit Eva, habe er entgegnet, allerdings sei die Sache mit Eva selbst ein ganz eigenes Kapitel, über das sie gelegentlich auch mal reden müssten. Im Moment gehe es um die Erziehung der Söhne. Es habe ihm da eigentlich jede Erfahrung und Anleitung gefehlt, nachdem er, Gott, der Herr, es für richtig gefunden habe, ihn schon fertig erschaffen ins Paradies zu stellen. Ein Existentialist würde sagen, er sei buchstäblich da hineingeworfen worden. Aber er könne und wolle sich insoweit ja gar nicht beschweren. Nur könne jeder andere nach ihm sich für seine Rolle als Vater an seinem eigenen Vater als Vorbild orientieren, nur ihm sei das so ja verwehrt. Und Gott als Vorbild für die eigene Vaterrolle, na, er wisse ja nicht …
Was er damit andeuten wolle, habe Gott, der Herr, daraufhin etwas angesäuert wissen wollen.
Naja, er sei manchmal eben doch recht jähzornig und ungehalten. Er denke da beispielsweise an die Sintflut oder derartige Strafexpeditionen seinerseits. Wenn er als Gott, der Herr, meine, mit dem von ihm geschaffenen Menschengeschlecht umgehen zu können wie er wolle, sei das eine Sache, die jedoch auch mal beredet werden müsse, für ihn sei das für den Umgang mit seinen Söhnen aber weder beispielgebend noch nachahmenswert. Liebe und Vertrauen seien für ihn die einzig maßgebenden Richtpunkte seiner Beziehung zu seinen Söhnen. Warum er sich stets in der Rolle des strafenden Gottes gefalle, das wisse wohl nur er allein. Das wolle er damit sagen, sei seine Antwort gewesen, gab Adam kund.
„Adam, Du fluchst mich, Deinen Gott, mit dem Mund, mit dem Du nachher wieder betest“, habe Gott, der Herr, ihn deswegen gescholten.
„Ach, schon wieder die ewig alte Gottesnummer. Aber lassen wir das“, habe er zurückgegeben. Bloß eine Antwort auf seine eigentliche Frage habe Gott, der Herr, ihm damit allerdings auch nicht gegeben. Wie er da seine Verantwortung als Vater schultern können solle, sei ihm nach wie vor völlig unklar. Er habe sich auch schon bei der Volkshochschule nach einer Selbsthilfegruppe erkundigen wollen, aber Volkshochschulen gebe es noch gar nicht und eine Selbsthilfegruppe sei mangels anderer Väter auch nicht in Sicht. Betrachte er sich aber ihn, Gott, den Herrn, als mögliches Vorbild für seinen Umgang mit seinen Kindern, sei ihm klar, dass er so nicht mit seinen Söhnen umgehen wolle. Es sei zwar bisweilen eine mehr als mühsame Sache, aber so sei es dann halt. Die Tunichtgute seien zuweilen tatsächlich nur schwer zu bändigen. Zu anderen Zeiten sei es aber doch ein rechtes Glück, die Kinder zu haben, fuhr Adam fort zu erzählen.
Was er mit seinen dauernden Anspielungen sagen wolle, habe Gott, der Herr, darauf gefragt. „Ob er daraus eine gewisse Auflehnung oder gar antiautoritäre Haltung ablesen dürfe?“
„Du weißt schon, was ich meine“, habe er Gott, dem Herrn, geantwortet. „Ich käme nie auf die Idee auch nur die Hand gegen einen meiner Söhne zu erheben. Du aber heißt Deinen Propheten Abraham seinen Sohn Isaak zu opfern. Nun, über Deinen Umgang mit Deinem Knecht Abraham will ich nicht urteilen, aber weißt Du eigentlich, was Du damit in der Seele des kleinen Isaak angerichtet hast? Der Knabe vertraut seinem Vater und Du prüfst den Gehorsam Deines Knechts Abraham auf Kosten von dessen Sohn. Wie muss sich der Knabe von seinem Vater verraten und verloren von jedem Vertrauen auf dem Schindklotz vorgekommen sein? Hast Du darüber schon mal nachgedacht? Wenn schon zu Beginn der Zeit mit dem Vertrauen der Kinder in ihre Väter derart Schindluder getrieben wird, wie soll da jemals ein grundlegendes Vertrauen wachsen und das Gute in der Welt Fuß fassen? Und überhaupt, was ist dann aus dem Knaben Isaak geworden? Und aus dessen Kindern? Ich weiß es nicht, aber nix rechtes, denke ich“, habe er ihm gesagt.
Gott habe hierauf auf das Opfer seines eigenen Sohnes verwiesen, was er aber nicht habe gelten lassen. Jesus habe sich als Erwachsener aus eigenem Entschluss geopfert. Das sei grundsätzlich anders zu beurteilen als die Zwangslage des Knaben Isaak. Ihm gehe es aber nicht um freiwillige Opfer, sondern um die Verantwortung des Vaters und das Vertrauen der Kinder in ihre Väter. Den eigenen Sohn opfern zu sollen und so zum bloßen Objekt eines vermeintlichen Treuebeweises gegenüber seinem Gott zu degradieren sei als solches schon mehr als verwerflich, als Gott das auch noch von seinem Knecht zu fordern, sprenge aber eigentlich jede Vorstellung. Ausgerechnet diesen Rabenvater auch noch als Stammvater der Völker in allen Religionen zu verewigen, sei geradezu gotteslästerlich, verwerflich und verantwortungslos, habe er schließlich Gott, dem Herrn, wutentbrannt entgegen geschleudert.
„Adam, jetzt sei so gut. Du zeihst Deinen Gott der Gottlosigkeit! Versündige Dich nicht! Ich werde doch als Gott meine Geschöpfe noch auf ihre Treue und Glaubensfestigkeit prüfen dürfen“, sei dessen Antwort gewesen.
An sich schon, habe er erwidert, aber dann solle er, Gott, der Herr, auch den auserkorenen Prüfling und nicht dessen Sohn prüfen oder gar diesen als unschuldiges Opferlamm in seiner Prüfung missbrauchen. „Was hat denn in Gottes Namen der Knabe Isaak mit der Prüfung seines Vaters Abraham zu schaffen?“
„Adam, Du fluchst mit Deinen Worten Deinen Gott.“
So, sind wir also schon wieder soweit, habe er darauf geantwortet. „Immer wenn es für Dich argumentativ eng wird, kommst Du mir wieder als Gott. Eine Antwort habe ich trotzdem noch nicht gehört. Und außerdem, Du hast mich als Dein Ebenbild geschaffen. Nicht als Knecht. Und, ich sehe das doch richtig, dass Abraham mir nachfolgt. Als Nachfahre ist er dann auch von meinem Fleisch.“
„Ach jelenei“, habe Gott, der Herr, ihn unterbrochen. „Sehe ich da verletzten Stolz, dass Du nicht als Stammvater der Völker in die Schriften eingegangen bist. Wenn es weiter nichts ist. Ein Fingerschnippen von mir und in allen Büchern der Welt wirst Du als Stammvater der Menschheit geführt“, sei Gott, der Herr, spöttelnd fortgefahren.
„Red´ kein Blech oder noch besser, lass mich lieber ausreden. Als mein Nachfahre ist auch er Dein Ebenbild. Die Prüfung Deines Ebenbilds oder des Nachfahren Deines Ebenbilds auf Treue spricht aber eher gegen Dich selbst. Hast Du denn so wenig Vertrauen in Deine eigenen Geschöpfe? Ja, ich weiß, wir sind frei und damit auch frei zur Sünde, aber das heißt ja noch lange nicht, dass wir jede sich bietende Gelegenheit zur Schandtat nützten. Es könnte ja auch sein, dass wir als Deine Ebenbilder ganz selbstverständlich Deinen Geboten folgen. Deine Prüfungswut ist deshalb unangebracht. Wir wissen auch so, was wir Dir und uns selbst schuldig sind. Auch ohne Deine ewige Prüfungsmanie“, habe er ihm erwidert.
Gott, dem Herrn, habe es wohl zuerst die Sprache ob dieser Anwürfe verschlagen. Nachdem er diese aber wieder gefunden hatte, habe er angehoben und laut und zornig zu ihm gesprochen: „Du gottloser Wicht! Was fluchst Du mich dauernd durch Deinen Mund? Es ist ja löblich, dass Du Dir Gedanken über Deine Vaterrolle und Deinen Umgang mit Deinen Söhnen machst. Wart aber doch erst mal ab, wie sich das alles entwickelt. Spätestens, wenn sie in die Pubertät kommen und Dir trotzen, Dir Widerworte geben von früh bis spät und alles Mögliche tun, bloß nicht das, was Du sie geheißen hast, unterhalten wir uns wieder! Ich bin in derlei Dingen ja auch nicht ganz unberührt geblieben. Habe ich nicht schon gesehen, dass sich selbst die von mir geschaffenen Engel von mir abgewandt haben? Warum sollte ich jetzt gerade in Dich und Deine Brut größeres Vertrauen haben?“
„Ist das jetzt verletzter Schöpferstolz oder der Frust aus unerwiderter Liebe? Erst den Allmächtigen und Allwissenden geben und dann noch nicht einmal ein paar Engel machen können, die hinterher auch einigermaßen spuren! Du machst mir Spaß. Und außerdem, was gehen mich Deine missratenen Engel an“, habe er entgegnet. „Bin ich geschaffen nach Deinem Ebenbild oder nicht? Und wenn ja, was soll Dein Misstrauen? Pass halt besser auf, was Du als Engel erschaffst! Ich bin jedenfalls kein Engel!“
„Womit Du auch wieder Recht hast“, habe Gott, der Herr, erwidert, sonst aber nichts mehr gesagt. Wahrscheinlich sei er froh gewesen, so einigermaßen unbeschadet aus der Diskussion heraus gekommen zu sein, da er ihn argumentativ wohl doch schon richtig im Schwitzkasten gehabt habe, erklärte Adam.
Während Adams Erzählung waren sie weitergegangen und an einer schönen Raststelle angekommen. Als Adam geendet hatte, schlug sich Giosuè auf seinem Baumstumpf, den er sich als Sitzplatz ausgesucht hatte, lachend auf die Schenkel und konnte sich fast nicht mehr einkriegen.
„So redet ihr miteinander?“, wollte er schließlich wissen.
„Ja, wie denn sonst“, gab Adam zurück.
„Ich kenne da einige, die würden das ohne zu zögern als blasphemisch ansehen. Ein paar andere hätten Dich noch vor nicht allzu langer Zeit dafür ohne weiteres auf den nächstbesten Scheiterhaufen geworfen. Aber mir gefällt es. Ausgesprochen erfrischend“, erwiderte Giosuè. „Aber bist Du sicher, dass Jesus sich aus eigenem Entschluss geopfert hat? Könnte nicht doch sein, dass auch er auf Geheiß so gehandelt hat.
Wer ihn das geheißen habe könnte, wollte Adam wissen.
„Ja nun, sein Vater halt.“
„Und was soll er damit bezweckt haben?“
„Dass er hinwegnimmt die Sünden der Welt.“
„Komisches Opfer. Ein Opfer auf Geheiß. Ein fremdbestimmtes Opfer. So wie Isaak oder andere Opferlämmer. Ich dachte, wir sind über die Zeiten solcher Blutopfer weg. Und wenn ja, dann glaube ich nicht, dass Gott, der Herr, das wirklich von Jesus als seinem eingeborenen Sohn verlangt hätte. So ist er nicht. So kenne ich ihn nicht. Er soll zwar nach der Schrift manchmal ein richtiger Zorngiebel und fast schon Widerling sein, mir gegenüber ist er aber immer einfühlsam, mir freundschaftlich zugeneigt und ausgesprochen liebevoll. So empfinde ich das jedenfalls. Zudem wäre damit das Opfer wohl auch jeglichen inneren Werts beraubt. Opfer auf Kosten anderer sind ja immer wohlfeil“, redete sich Adam in Zorn. „Wenn er was opfern will, dann soll er das halt selbst tun. Also etwas von sich selbst geben, das macht doch wohl überhaupt erst den Sinn eines Opfers aus.“
„Und wer sagt, dass er das nicht getan hat?“
„Was willst Du damit sagen“, entgegnete Adam.
„Vielleicht hat er sich ja selbst geopfert. Oder einen Teil von sich. Das will ich sagen.“
„Verstehe ich nicht! Oder doch. Du meinst, Gott, der Herr, und Jesus sind …“
„Ja, warum denn nicht. Schon mal was von Heiliger Dreifaltigkeit gehört? Du behauptest doch immer katholischer als der Papst zu sein, dann müsste Dir das doch ein offenes Geheimnis sein. In dem Fall sind Gott und Jesus ein und derselbe. Und schon entspricht das Opfer Deinen Vorstellungen. Auch mir scheint, es könnte Dir nichts schaden, Deine Gedanken wirklich zu Ende zu denken. Schau die Dinge hinter den Buchstaben, nicht die Worte. Auch das Buch der Bücher ist voll der Worte. Wie sagte Dir Dein Gott: Es sind Lach- und Sachgeschichten mit allerlei Schund dazwischen, aber die wesentlichen Worte sind wahr. Schau die Dinge hinter diesen Worten, nicht die Worte selbst. Sieh die Idee, den Gedanken hinter den Worten. Bewahre Dir dann diese Idee und verwerfe die Worte. Das ist die wahre Offenbarung. Aber wem sag ich das, Du weißt es doch: Gott liebt Euch. Und dafür ist ihm kein Opfer zu groß. Und Dich liebt er anscheinend besonders, wenn ich das so sagen darf. Warum weiß ich nicht. Aber anscheinend seid Ihr beide auf derselben Wellenlänge und zudem dieselben Spaßvögel. Also wirklich, wenn ich Dich mit Deiner Unschuldsmiene da auf Deinem Baumstamm hier mitten im Wald sitzen sehe, könnte ich mir grad ins Hemd machen. Du bist ein Schelm, ein ganz durchtriebener Schalk … und fast schon ein Philosoph. Je länger ich Dich kenne und Dir zuhöre, desto mehr will ich Dich weiter kennenlernen und Dir zuhören, umso mehr liebe ich Dich. Da geht es mir anscheinend wie Deinem Gott.“
„Naja, jetzt übertreibst Du aber. Spaßvögel! Ich versuche bloß, mir meinen Humor zu wahren. Die Welt ist trübsinnig genug. Ohne den Witz im allgegenwärtigen Trübsal und Elend zu sehen, wäre sie wohl unerträglich. Aber, warum sagst Du: Gott liebt Euch? Warum Euch? Dich etwa nicht?“.
„Habe ich das gesagt?“.
„Ja, hast Du“.
„Dann habe ich mich wohl falsch ausgedrückt. Du bist manchmal ein richtiger Scharfmerker, ein gedanklicher Haarspalter. Da liegt es auch mir schon fast auf der Zunge Dich zu fragen, ob Du heute mal wieder Deinen scharfsinnigen Tag hast“, antwortete Giosuè.
Später an einer Wegkreuzung am Mont St-Rigaud entdeckte Adam einen Wegweiser zu einer Quelle. Die lag zwar etwas abseits vom Jakobsweg, erfrischte ihn aber mit kühlem Nass, dem zudem heilsame Wirkung zugeschrieben wurde. Das wundersame Pilgerelixier aus der Quelle heilte jedenfalls Adam sofort von seinen schreckenserfüllten Visionen einer von einer unbarmherzigen Sonne durchglühten Welt, die jeden Tropfen Wasser selbst aus verschlossenen Trinkflaschen verdunsten lässt.
Sattgetrunken und mit frisch gefüllter Flasche war der weitere Weg von diesem Hochpunkt von knapp 1000 Metern nun bergab fast schon ein Hochgenuss.
Adam war auf seinem Jakobsweg gut vorangekommen. In Propières hatte er bei zwei rustikalen, doch sehr netten älteren Damen in der idyllisch, aber vom Pilgerweg etwas abseits gelegenen Gîte „La Musardière“ genächtigt. Empfangen hatten sie ihn im Garten hinter dem Haus mit einer kühlen Flasche Bier, womit sie bei ihm sofort alle Barrieren überwunden und ihn komplett für sie eingenommen hatten. Das nagelneue Zimmer mit Duschbad, das bequeme Bett – und alles ganz für ihn allein – sowie ein vorzügliches und reichliches Abendessen vom Grill im Garten mit Nachbarn, die anscheinend eingeladen waren, um auch einmal einen Pilger zu sehen, hatten schließlich nach seiner Tagestour wieder einen Menschen aus ihm gemacht. Am nächsten Morgen wurde er sogar wieder mit dem Auto zurück auf den Jakobsweg gefahren. Was will man mehr?
Über den Col des Echarmeaux und Le Cergne marschierte er über Berg und Tal zu einem weiteren Etappenziel, einer Pension in Pouilly-sous-Charlieu am Ufer der Loire. Unterwegs erreichte ihn eine Nachricht, wonach seine Mutter wegen Wassers in der Lunge ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Ein Rückruf ergab, dass es ihr bereits wieder besser ging. Alte ostpreußische Rasse, sehr widerstandsfähig, praktisch unkaputtbar, ging ihm dazu durch den Kopf. Trotzdem widmete er ihr auf der weiteren Etappe jeden Atemzug, auf dass er ihr wohltue. Da sie immerhin schon 93 Jahre alt war, konnte dieser Wunsch jedenfalls nicht schaden.
Bis Pouilly-sous-Charlieu zeigte der Sommer, was er kann, wenn man ihn denn lässt: Es war heiß, selbst im Wald, und kein Lufthauch regte sich. Dazuhin ging es im Gelände anfangs stetig bergauf und bergab. Ab Le Cergne hörte das auf, es ging überwiegend bergab und Adam kam im Tal der Loire an. Das besserte die Verhältnisse aber keineswegs, da es in der Niederung nun zunehmend auch noch dämpfig und schwül wurde. Und so sank der Wasserspiegel in Adams Trinkflasche wieder einmal mit erschreckender Geschwindigkeit. Das Sport- und Picknickgelände vor Pouilly-sous-Charlieu war wassermäßig jedoch eine komplette Enttäuschung, da sämtliche erreichbaren Wasserhähne abgeschraubt oder verplombt waren. Also zog Adam in weiter Umrundung der Anlagen auf glühender Straße schließlich im Ort ein und erreichte nach einem Schlussanstieg endlich seine Pension in schöner Halbhöhenlage. Sehr nett oben am Hang und zwischen hohen Bäumen schattig gelegen. Mit einer älteren, überaus freundlichen und angenehmen Wirtin. Und mit Aircondition. Davon machte Adam sogleich ausführlich Gebrauch um endlich wieder eine normale Betriebstemperatur zu erreichen – bis es ihm zu kalt wurde und er das Gerät ausschaltete. Das schien ihm die Eigenheit aller Aircondition-Anlagen zu sein. Vor Jahren war er beruflich in Bombay gewesen. Auch dort war ihm aufgefallen, dass zumindest indische Klimaanlagen den Raum entweder auf Kühlschranktemperatur herunterkühlen – oder defekt sind. Den Moment des Heraustretens ins Freie hatte er jedoch immer genossen: Wie wenn er aus der Kälte in einen wohlig angewärmten Mantel schlüpft. Nach einem frühen Frühstück am nächsten Morgen konnte er sich im Ort mit Brot und allem anderen für sein Mittagessen versorgen.
So kam er schon bald an die Loire, die hier zwar noch nichts von ihrer späteren Größe erkennen ließ, aber trotzdem die übliche und begehrte Begegnung von Wasser und Land bot. Nach der Brücke wurde es sowieso Zeit, die vorhin erworbenen Vorräte endlich richtig zu verstauen, weshalb Adam den Weg verließ und in Briennon die Kirche ansteuerte, da er dort Schatten und eine Sitzgelegenheit erhoffte. So war es denn auch. Zwar war er erst wenige Kilometer gegangen, gleichwohl gönnte er sich jetzt vorweg schon einmal das eben gekaufte Zitronenküchlein. So unter den Bäumen war es ruhig, friedlich, kühl und angenehm. Adam legte seinen Rucksack als Kopfkissen zurecht und sich selbst längs auf die Bank und betrachtete den Himmel über den Bäumen. Er genoss den stillen Ort mit leisem Blätterrauschen und dem zaghaften Gezwitscher einiger vorlauter Vögel.
„Permettez-vous“, sprach ihn ein älterer Herr an, den er gar nicht hatte kommen hören und der so plötzlich vor ihm stand. Adam richtete sich halb erschrocken auf und machte Platz auf der Sitzbank.
„Merci“, bedankte sich der Mann und setzte sich zu ihm.
Erst jetzt kam Adam dazu den Mann näher zu betrachten. Schon vorhin im ersten Aufblicken war er ihm irgendwie bekannt vorgekommen und seine Verwunderung nahm jetzt noch zu. Der Mann war groß, schlank und schon etwas älter, wie seine grauen, fast schon weißen Haare, die er halblang wie die früheren Beatles zu Zeiten ihrer „Magical mystery Tour“ trug, und sein weißer Schnurrbart zeigten. Andererseits war er ihm in seinen Bewegungen eben noch wie von eher jugendlichem Schwung vorgekommen. Ein spitzbübisches, fast spöttisches, aber sympathisches und einnehmendes Lächeln zeigte sich auf seinem offenen, sonnengebräunten und von deutlichen Lachfalten durchzogenen und derart fast schon wieder jungem Gesicht, das den Schnee auf dem Kilimandscharo seines Hauptes gründlich Lügen strafte. So gesehen gab Adam dem Mann allenfalls 50, maximal 55 Jahre, ihm gegenüber also eigentlich beinahe ein Jungspund. Bekleidet war er mit Jeans und einem pinkfarbenen T-Shirt, was ihm erst noch gut stand, da er einen allenfalls nur leichten Bauchansatz zeigte. Die nackten Füße steckten in schlichten Sandalen. Nach längerem Schweigen wollte der Mann schließlich wissen, ob Adam auf der Compostelle unterwegs sei und verwies dazu auf den Rucksack.
Adam bejahte seine Frage und erklärte, wo und wie er hergekommen sei und wo und auf welchen Stationen er hinwolle.
Der Mann nahm das aufmerksam blickend und nickend, aber schweigend zur Kenntnis. Einige Zeit später sagte er, dass er auch viel wandere, einmal sei er sogar ebenfalls die Compostelle gegangen.
Wie weit er denn gepilgert sei, wollte Adam darauf wissen.
So um die 2700 Kilometer seien es wohl gewesen, so richtig ausgemessen habe das eigentlich gar nie. Er sei halt solange gegangen bis er in Santiago de Compostela angekommen sei.
Dieses System kam Adam irgendwie bekannt vor. Er richtete sich dann doch gänzlich auf und meinte, dass es von hier aus auf dem üblichen Weg allenfalls 1500 bis 1600 Kilometer bis Santiago seien. Auf welchem Weg er denn gegangen sei.
Die ganz normale Compostelle sei er gegangen, aber eben nicht von hier aus. Das habe er auch gar nicht behauptet, entgegnete der Mann und grinste.
Noch so ein Geheimniskrämer, ging es Adam durch den Kopf. Er war ihm zwar gleich irgendwie bekannt vorgekommen, aber er hatte weder mit Giosuè noch mit dem Radfahrer eine Ähnlichkeit, wobei er das Angesicht des Radfahrers auch gar nicht gesehen hatte. Auch sonstige Erinnerungserforschung brachte ihn nicht weiter, so dass Adam den Mann schlussendlich keiner ihm bekannten Person zuordnen konnte. Das diffuse Gefühl der Bekanntheit blieb aber.
Wo er denn her komme und auf seinem Weg überall durchgekommen sei, wollte der Mann schließlich wissen.
Adam erläuterte ihm daher seine bisherige Strecke, wobei er jedoch nur ein paar größere Orte mit Namen zu benennen wusste. Seine alte Krankheit: Er vergaß schnell, sobald er wusste, dass er eine aktuelle Kenntnis künftig würde nicht mehr brauchen können oder, wo er bei Bedarf das Gesuchte nachschlagen konnte. Durchschrittene Orte und Wege waren so ein Fall der ersten Art. Ein Fall der zweiten Art waren früher §§-Nummern gewesen. Schon während seines Jurastudiums konnte er sich diese fast nie merken, er wusste ja was drinstand und wenn er den Wortlaut brauchte, konnte er sie nachschlagen. Nur such mal im Gesetzbuch einen Paragraphen, dessen Nummer du nicht weißt! Aber da kam ihm dann sein systematisches und optisches Gedächtnis zur Hilfe: Zum Beispiel Bürgerliches Gesetzbuch, Familienrecht, Eheliches Güterrecht, ziemlich weit hinten, rechte Seite oben, und schon nach wenig blättern war die Vorschrift gefunden. Seine bisherigen Etappen hätte er jetzt in seinen alten Pilgerführern nachschlagen können, aber die hatte er ja, nachdem die Strecke bewältigt war, zur Gewichtseinsparung nach Hause geschickt. Und nun? Er beschränkte sich also in seiner Schilderung auf die Hauptorte seines Wegs und tat den Rest ab als Wege, wie es sie überall gäbe. Es habe ja stets die vorzügliche Wegweisung durch die Jakobsmuschel gegeben und so sei er halt solange gegangen bis er an seinem jeweiligen Etappenziel angekommen sei. Derart sei er nun doch auch schon fast 800 Kilometer gepilgert. Und wie er sich so reden hörte, kam ihm auch das bekannt vor. Hatte der Mann sich gerade nicht ähnlich geäußert?
„Welcome to the club,“ lachte der, noch bevor Adam weiter nachdenken konnte. Ihm gehe es andauernd ebenso. Für Nebensächlichkeiten wie Ortsnamen und dergleichen habe er absolut keinen Sinn. Noch nie gehabt. Auch Namen seien ihm meist Schall und Rauch. Gesichter behalte er aber meist recht gut. Das heiße aber nicht, dass er einen gegangenen Weg, darauf angetroffene Begebenheiten, die durchquerten Ortschaften oder Personen, denen er begegnet sei, vergesse. Das bleibe ihm vielmehr auch später noch gegenwärtige Wirklichkeit. Er denke manchmal, das sei womöglich der Nachteil vom Leben im Hier und Jetzt. Das Vergangene sei vorbei und nur noch in der Erinnerung existent. Das Zukünftige sei noch nicht da und schon deshalb irrelevant. Das Vergangene sei für das Kommende wie für das Jetzt ohnehin nur von beschränkter oder sogar keiner Aussagekraft. Das sei wie bei den Lottozahlen. Auch wenn beispielsweise die 13 erst vergangene Woche gezogen worden sei, habe das für die mathematische Wahrscheinlichkeit, ob die Zahl diese Woche erneut kommen würde, nicht den geringsten Einfluss. Der Zufall wisse von der vergangenen Ziehung rein gar nichts. Ein neues Spiel, ein neues Glück. Die Karten würden im Leben eben ständig neu gemischt. Abgesehen von gewissen eher psychologischen Einflüssen habe die Vergangenheit für die Gegenwart und erst recht für die Zukunft deshalb seiner Ansicht nach wohl nur wenig bis keinen Einfluss. Daher zähle für ihn der Moment, das Erleben im Augenblick. Nur das sei reale, tatsächliche und wahrnehmbare Wirklichkeit. Auch der gelungene letzte Schritt vorhin helfe nicht weiter, wenn sich dem Fuß danach eine Wurzel, ein Wasserloch oder anderes Hindernis in den Weg werfe. Das gelte genauso für den schönen befestigten Waldweg, den der Blick fünf Schritte voraus sehe. Für den Weg davor sage das überhaupt nichts. Das sei seine Erkenntnis, die er auf der Compostelle gewonnen habe. Nur der momentane Schritt zähle. Findet er festen Grund, versinkt er im Sumpf oder bleibt er an widerwärtigen Wurzeln hängen? Das bedeute für ihn jedoch nicht, dass es die Zukunft oder den Weg voraus gar nicht gebe, aber beides sei von der Gegenwart aus gesehen vielleicht eher wie eine Wolke. In deren Nebel bilde sich der Vorsatz etwas zu tun. Erst im Moment, im Augenblick der Tat materialisiere sich die Zukunft, werde aus dem Nebel zu aktuell tragendender Wirklichkeit. Der zu tuende Schritt finde dann festen Grund, ein Wasserloch oder eine widerwärtige Wurzel. Sofort danach verflüchtige sich das eben erlebte Jetzt im Geist aber auch schon wieder als bloße Erinnerung. Ein gegangener Schritt werde so wieder zum Nebel. Tatsächlich gebe es daher eigentlich nichts, an dem man sich wirklich festhalten könne – außer am Moment, am Augenblick. Und der lohne das Festhalten nicht, da er mit dessen unmittelbarer Wahrnehmung und folglich noch vor dem Entschluss des Festhaltenwollens ja bereits wieder vergangen sei. Das sei für ihn fast wie ein Blick in die Quantenwelt. Unbeobachtet sei das Quant hier und da und zwar gleichzeitig. Nehme man es in den Blick, sei es fixiert an einem Ort, dafür wisse man jetzt nichts über seine Geschwindigkeit. Entlasse man es aus dem Blick, sei es blitzartig weg, dafür wisse man nicht mehr wo. Wie im Lied vom Überzieher: Seh ich hin zu dem Ding, ist er da, wo er vorher hing, seh ich weg von dem Fleck, ist der Überzieher weg. Damit sei für ihn auch das Elend des Anhaftens am Moment geklärt. Überhaupt erscheine ihm Anhaften wie ein Siemens-Lufthaken. Einen Haken in der Luft als habhaftem Substrat festschrauben zu wollen, gleiche der Idee vom trockenen Wasser. Tee gäbe es ja auch getrocknet. Für Pilger sei diese Vorstellung durchaus verführerisch, da sich so doch einiges an Gewicht für die sonst notwendige Trinkflasche einsparen ließe. Teebeutel und ein paar Löffel trockenes Wasser in die Tasse, anrühren, fertig. Anhaften sei also zwar faktisch unmöglich, im alltäglichen Gebrauch im Gegensatz dazu aber umgekehrt proportional weit verbreitet. Das Resultat sei, dass das Anhaften bei ungemein vielen ähnlich wie die Magnetflusslinien der Erde oder der Sonne nach vermeintlicher Stabilität am Anfang infolge der der Drehung des Systems zunehmend zu Verdrehungen, Verknotungen und Überlagerungen der darin gefangenen Lebenskraft führe, bis sich die aufgestaute Energie in wahren Explosionen und gegenseitiger Auslöschung löse. Angstattacken, Amokläufe oder Erstarrung in der Depression seien die eine Folge, extreme Befreiung, Losgelöstheit, extrovertierte Zuwendung die andere. Lebensenergie gleiche seiner Ansicht nach einem stetig strömenden Fluss. Diesen Fluss anhalten zu wollen sei unmöglich, er könne nur gestaut werden. Jeder Stau sei jedoch eine Anhäufung der Energie des Flusses, deshalb mache man das ja. Wie die Urbarmachung der Erde für den Ackerbau. Auch diese staue die Energie der Erde. Nur sei Mutter Erde geduldiger. Gebe sie ihre Energie unverdrossen und allmählich, solange sie bearbeitet werde, sei jeder Fluss stets wild und warte nur auf eine passende Gelegenheit sein wahres Wesen und seine Kraft zu zeigen. Hinter der Staumauer sei er ein friedlicher See, aber wehe, die Mauer zerbreche. Dann werde der See zum reißenden Wirbel, zeige als Fluss wieder seine wahre Gestalt und entfessele seine ursprüngliche Kraft, die hinter der Mauer im scheinbar harmlosen Stausee nicht verschwunden war, sondern nur geschlummert habe. Adams Fluss in der Heimat trage das noch in seinem alten keltischen Namen: Neckar, der wilde, schnelle, böse Fluss. Anhaften führe also bloß zu einem solchen Zeit- und Energiestau, ohne damit konkret das gewünschte Ziel erreichen zu können. Die anhaftenden Personen klammerten sich dabei an Objekte, Ansichten oder ihre eigenen Meinungen und würden sich dadurch doch bloß an einzelne Bilder des leidvollen Kreislaufs eines fortwährenden Werdens und Vergehens wie an Fetische ketten. Das mag bei Kindern mit ihren Schmusetieren und Puppen noch angehen und süß sein, bei den Großen sei das entweder kindisch oder nur unter schärfster Kontrolle ein noch akzeptables Verhalten. Weil die Erscheinungen des Augenblicks vergänglich und damit unbefriedigend seien, erschaffe man sich mit Anhaften daher bloß zusätzliches Leid, wenn man nicht loslassen könne. Noch besser sei es, man fange erst gar nicht mit dem Anhaften an. So komme zum stets und ohnehin schon vorhandenen Leid auch noch der Schmerz der Enttäuschung hinzu, das Objekt der Begierde in Wahrheit noch nicht einmal ansatzweise festhalten zu können. So jemand komme ihm vor wie jemand, der ein einzelnes Bild eines ganzen Films genau betrachten wolle und auf diese Weise den Spielfilm als Ganzes verpasse. Seines Wissens sei es sowieso noch niemandem gelungen, sich beispielsweise eine momentan empfundene Lust als Dauerzustand zu erhalten. Dauerlust. Das wär´s! So ähnlich wie ein Dauerlutscher. Was bleibe, sei dann allenfalls ein Zustand der Wiederholung und damit im Ergebnis ein Zustand der Abgeschmacktheit, wie der ausgelutschte Kaugummi, den man vor dem Einschlafen noch auf dem Bettpfosten deponiert hat. Auch das Anhaften an festen Gewohnheiten sei so ein Fall oder der Glaube, durch das Ausüben bestimmter Rituale eine spirituelle Weiterentwicklung oder gar Erleuchtung erreichen zu können. Kerze anzünden und psalmodieren und schon erleuchte einen der Heilige Geist. Praktisch wäre das vielleicht schon, ihm sei es aber noch nie so gegangen und dabei sei er im Grunde sogar ein arges Gewohnheitstier. Nicht viel besser stehe es mit der verbreiteten Annahme, der Mensch habe einen festen, unveränderlichen Wesenskern, ein Ich. Wenn er sich selbst betrachte, so habe er sich bis zum heutigen Tag eigentlich fortlaufend gewandelt. Natürlich seien gewisse Strukturen und Eigenheiten relativ konstant geblieben, aber trotzdem fühle er sich heute nach all seinen Wandlungen und Häutungen jetzt viel wohler als früher. Er habe nicht den Eindruck dabei etwas verloren als vielmehr alles gewonnen zu haben. Aber das sei seine ganz persönliche Ansicht. Und damit stehe er in gewisser Weise im Widerspruch zur 4. Upadana des Buddhismus. Er sehe zwar die fortlaufende Entwicklung seines Ichs, hafte also gerade nicht an der Meinung eines unveränderlichen Wesens, trotzdem sehe er sich insoweit auch nicht als Amöbe, die sich ständig beliebig umformen könne. Vielmehr begreife er sich hierbei eher als ein dreifaltiges Wesen, das aus Körper, Geist und Gefühlen bestehe. Ein Mensch eben. Bei näherer Betrachtung habe er Geist und Gefühl jedoch als ein und dasselbe erkannt, das Eine als bewusste Vernunft, das Andere als eher unbewussten oder noch nicht richtig verstandenen Gedanken, der in seiner Unbestimmtheit zwar sein Gemüt beschäftigt, das Licht seiner Vernunft aber noch scheut. Diese Sicht habe ihn neben Geist und Körper zu einer Art Über-Ich geführt, das ihm nun erst wirklich den Blick auf sich selbst erlaube. Seither sehe er auch eine ganz andere Dimension in sich, nämlich seine Seele als den immerwährenden Grundton im Konzert seines Seins. Ihr komme seiner Meinung nach noch am ehesten das Attribut der Unveränderlichkeit zu. Allerdings sehe er auch insofern eine gewisse Wandlung in der Zeit im Sinne eines Fortschreitens auf ein unveränderliches Ziel. Wie das Gehen auf dem Jakobsweg. Der Weg ändere sich mit jedem Schritt, das Ziel bleibe jedoch gleich. Im Grunde sei daher auch seine Seele kein unveränderliches Wesen, da sie sich ja mit ihm wandle. Ob dann das unveränderliche Ziel der Übeltäter im Sinne der 4. Upadana sei? Andererseits sehe er jedoch, dass dieses Ziel weder Teil seiner selbst noch seiner Seele sei. Das Ziel sei vielmehr der Endpunkt seines Wegs mit all seinen Wandlungen und Veränderungen des Seins. Und der Weg habe eigentlich nur den einen Zweck, nämlich der Einswerdung mit seiner Seele. So gesehen sei das Ziel eher ein Shangri-La, ein Sehnsuchtsort, eine Art Nirwana. Mit dieser Einswerdung werde die Seele am Ende des Wegs wieder frei, könne sich aus dem Kreislauf der Wiederkehr lösen und auf ihrem Weg der Engelwerdung die nächste Stufe beginnen. Dorthin sei ihm seine Seele ein Kompass, der ihn führe. Wohin? Nach Hause, wie Novalis das sage. Zu Gott. So sehe er sein Leben als stete Fortentwicklung hin zur göttlichen Erleuchtung. Ist aber die Seele Bestandteil seiner Persönlichkeit? Vielleicht. Einerseits könnte er ohne diesen Kompass wohl nur schwer sein Ziel finden. Auf der anderen Seite denke er, dass Gott so in jedem Einzelnen anwesend sei. Um ihm den Weg zu weisen, wenn man das erst einmal empfunden und erkannt habe. Und drittens? Indem er Gott als Kern seiner Seele erkenne, sehe er Gott zugleich aber auch als Teil seiner selbst, erkenne er sich als Inkarnation Gottes, der sich stets und immer aufs Neue in jedem fühlenden Wesen verwirkliche. Dieses Bewusstsein hebe ihn über seine tägliche Mühsal hinaus und erlaube ihm so einen Blick sowohl auf sich als Mensch als auch als spirituelles Wesen. Diese erhabene Sicht zeige ihm sich selbst, wie er als Pilger auf seinem Weg durch diese Welt wandele und dabei sich dabei zugleich fortwährend in einem unaufhörlichen Prozess verwandele. Mit der Einswerdung mit seiner Seele werde er zwar nicht selbst zu dieser, vielmehr werde er auf seinem spirituellen Weg nur zu einem kleinen Teil der Seele, zu einem Erlebnis, das sie auf ihrem eigenen Weg hin zu einem gottgleichen, engelhaften Wesen in ihrer Erinnerung bewahrt. Vielleicht erliege er damit aber auch nur wieder der 2. Upadana, wonach das Anhaften an Ansichten und Meinungen zu einem falschen Weltbild führt, zumal der Buddha in der „Lehrrede von den Kennzeichen der Nicht-Seele“ dargelegt habe, dass kein Bestandteil einer Person die Merkmale einer festen Seele aufweise. Allerdings meine er inzwischen erkannt zu haben, dass auch die Seele in dem Sinn weder fest noch unveränderlich sei. Er denke, auch sie verändere sich mit jedem Schritt hin zum Ziel. Sei sie anfangs nur Kompass, offenbare sie mit jeder Annäherung zum Ziel immer mehr ihre göttliche Natur bis sie im Moment der Erleuchtung ihr wahres Wesen als Inkarnation Gottes offenbare.
Noch so ein Buddhist oder fernöstlicher Guru, wunderte sich Adam. Ob ihn St. Jakob womöglich dazu führen wollte? Als der Mann geendet hatte, wollte Adam wissen, ob sie sich irgendwie kennen würden, er komme ihm nämlich irgendwie bekannt vor, wisse aber nicht woher. Außerdem kenne er sich in seiner Heimat, zumindest was den Neckar angehe, offensichtlich recht gut aus.
Das sei keine große Kunst, schließlich sei er dort daheim, antwortete der Mann. Hier sei er gerade nur auf der Durchreise. Und da habe er Adam mit seinem großen Rucksack gesehen. Das habe ihn dann doch neugierig gemacht.
In dem Moment durchbrach ein lautes Gerassel ihre Unterhaltung. Adam schaute sich um, erkannte aber nichts, was einen solchen Krach hätte machen können. Seltsam war jedoch, dass er anstelle des Kirchgartens um sich herum unter einem schönen weißblauen Himmel eine liebliche Landschaft mit Feldern, Bäumen, Hecken und voller bunter Blumen im Licht einer noch tiefstehenden morgendlichen Sonne sah, welche die Konturen hervorhob und dem Bild eine unwahrscheinliche Tiefe gab. Das erinnerte ihn irgendwie an eine frühere Pilgeretappe mit Giosuè. Ein tiefer gongartiger Ton erfüllte ihn – bis der sich wandelte und explosionsartig dieses Bild auslöschte.
Adam schrak auf und da lag er allein auf der Bank. Mit dem Kopf auf seinem Rucksack war er wohl eingeschlummert. Zehn Glockenschläge vom Kirchturm mahnten ihn, dass es nun aber auch wirklich an der Zeit sei, den heutigen Weg weiterzugehen.